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Full text of "Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 14.1919-20 Princeton"

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INTERNATIONALE 

MONATSSCHRIFT 

FÜR WISSENSCHAFT, KUNST UND TECHNIK 

BEGRÜNDET VON FRIEDRICH ALTHOFF 
HERAUSGEGEBEN VON MAX CORNICELIUS 

BAND XIV • 1920 



VERLAG UND DRUCK B. G. TEUBNER IN LEIPZIG UND BERLIN 


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INHALTSVERZEICHNIS. 

I. Mitarbeiter. 


Spalte 


Abb, Wilhelm, Geh. Regierungsrat, 
Berlin, 

Persönliche Erinnerungen an Frie¬ 
drich Althoff.687 

Arnim, Hans v., ord. Univ.-Prof., Dr„ 
Frankfurt a. M., 

Die Platonbiographie Ulrichs von 
Wilamowitz. 1 


Aronstein, Philipp, Oberlehrer, Prof., 

Dr., Berlin, 

George Meredith in seinen Briefen. 29 
Babinger, Franz, Dr., Würzburg, 

Die Zukunft der morgenländischen 
Studien in Deutschland .... 385 
Below, G. von, ord. Univ.-Prof., Dr., 
Freiburg i. Br., 

Zur Wiedereröffnung des literar. 
Austausches zwischen Amerika 

und Deutschland.288 

Biese, Alfred, Gymnasialdirektor,Prof., 

Dr., Frankfurt a. M., 

Jean Paul im Lichte des Humors. 426 
Braun, Fritz, Oberlehrer, Prof., 
Deutsch-Eylau, 

Ewald Banse, Die Türkei ... 173 
—, Hans v. Kiesling, Damaskus. . . 761 
Curtius, Ernst, Robert, ord. Univ.- 
Prof., Dr., Marburg, 

Französische Kulturkämpfe . . . 549 
Dal man, Gustaf, ord. Univ.-Prof., Dr. 

D. Dr., Greifswald, 

Das zweite Jahr des Nordischen 
Instituts der Universität Greifswald 277 
E b e 1 i n g, A., Oberingenieur, Dr., Char- 
\ lottenburg, 

August Raps.755 

Eißfeldt, Otto, Privatdozent a. d. Uni¬ 
versität Berlin, Prof., Dr., 

Julius Wellhausen. 193. 325 


Spalte 

Goldbeck, Emst, Gymnasialdirektor, 

Dr., Berlin, 

Paul Stäckel zum Gedächtnis . . 439 
Gradmann, Robert, ord. Univ.-Prof., 

Dr., Erlangen, 

Die Erdkunde und ihre Nachbar¬ 
wissenschaften .603 

Gunkel, Hermann, ord. Univ.-Prof., 

D. Dr., Halle a. d. S., 

Eine hebräische Meistererzählung 73.155 
H., J., Der Friedensvertrag von Ver¬ 


sailles .480 

—, Lepsius, Der Todesgang des arme¬ 
nischen Volkes.761 


Hansen, Adolph, ord. Univ.-Prof., Dr., 
Gießen, 

Goethes Arbeiten zur Morphologie 229 
Hashagen, Justus, ord. Univ.-Prof., 

Köln, 

Neue Veröffentlichungen über die 
Vorgeschichte des Weltkrieges 305. 410 
Hüben er, Gustav, Privatdozent a. d. 
Universität, Dr., Göttingen, 

Samuel Butler der Jüngere . . . 557 
Klemperer, Victor, Privatdozent a. d. 
Universität, Dr., München, 

Das französische Universitätswesen 47 
Kornemann, Ernst, ord. Univ.-Prof., 

Dr., Breslau, 

Philipp II. und Alexander der Große 111 
—, Die Anfänge der römischen Republik 481 
Krüger, F., Professor an der Techni¬ 
schen Hochschule, Dr., Danzig. 

Die Stellung der physikalisch-ma¬ 
thematischen Wissenschaften an 
den deutschen Technischen Hoch¬ 
schulen .525 

Laquer, B., Sanitätsrat, Wiesbaden, 

Carl H. Beckers „Kulturpolitische 


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Inhaltsverzeichnis 


VI 


[ Spalte 

Aufgaben des Reiches“. Eine amt¬ 
liche Denkschrift.281 

■ Mannhart, Hans, Bibliothekar des 
Deutsch. Ausland-Inst., Dr., Stuttgart, 

Die Zukunft unserer Auslandkunde 641 
Michaelis, Paul .Oberlehr., Dr., Berlin, 

Charles de Villers.133 

Mulert, H., ord. Univ.-Prof., Kiel, 

Walter Köhler, Die Geisteswelt Ul¬ 
rich Zwinglis.479 

Murko.M., ord. Univ.-Prof., Dr., Leip¬ 
zig, Die ethnographischen Verhält¬ 
nisse Rußlands. 577. 674 

N'iedner, Felix, Prof., Dr., Berlin, 

Könige und Skalden in der Heims- 

kringla. 245. 337 

R., H., Wilhelm Erbt, Die deutsche Er¬ 
ziehung . 759 j 

Rosbund,Max, Realschuldirektor z. D., 

Erfurt, 

Die Ostmark. Eine Landeskunde 
des deutschen Nordostens von Prof. 

Fritz Braun.649 

Salomon, Felix, Univ.-Prof., Dr., Leip¬ 
zig. 

Lloyd George vor 1914 .... 97 

—, Lord Morleys „Erinnerungen“ . . 503 


Spalte 

; Spitzer, Leo, Privatdozent an der 
Universität, Dr., Bonn, 

Barbusse und Duhamel .... 595 
Thiele, Gunnar, Oberlehrer, Dr., Kö¬ 
penick, 

Die Anfänge des preußischen Kul¬ 
tusministeriums.289 

i Walzel, Oskar, ord. Prof. a. d. Tech¬ 
nischen Hochschule, Dresden, 

Tragik nach Schopenhauer und von 

heute.734 

Wechßler, Eduard, ord. Univ.-Prof., 

Dr., Berlin, 

E. R. Curtius, Die literarischen Weg¬ 
bereiter des neuen Frankreich . . 169 
Werner, Ernst, Prof., Heidelberg, 

Das Lektorat und die Ausbildung 


der Neuphilologen.625 

Wolff, Max J„ Prof., Dr. jur„ Berlin, 

Karl Vosslers „Dante“.209 

—, Lope de Vega.449 


Wulff, 0., Kustos am Kaiser-Friedrich- 
Museum, Professor an der Universi¬ 
tät, Dr., Berlin, 

\ v Neue Aufgaben der öffentlichen 
' ^ Kunstpflege.710 


II. Abhandlungen und Mitteilungen. 


Althoff, Persönliche Erinnerungen an 
Friedrich. Von Wilhelm Abb . . 687 
Amerika und Deutschland, Zur Wie¬ 
dereröffnung des literarischen Aus¬ 
tausches zwisdien. Von G.vonBelow 288 
Auslandkunde, Die Zukunft unserer. 


Von Hans Mannhart.641 

Banse, Ewald. Die Türkei. Von Fritz 

Braun.173 

Barbusse und Duhamel. Von Leo 

Spitzer.595 

Beckers. Carl, H., „Kulturpolitische Auf¬ 
gaben des Reiches“. Von B. Laquer 281 

Butler, Samuel, der Jüngere. Von 

Gustav Hübener.557 

Curtius, Die literarischen Wegbereiter 
des neuen Frankreich. Von Eduard 

Wechßler.169 

\ ..Dante", Karl Vosslers. Von Max J. 

; Wolff.209 

i Duhamel, Barbusse und. Von Leo 

- Spitzer.595 

Erbt, Wilhelm. Die deutsche Erziehung. 

Von H. R.759 


Erdkunde, Die, und ihre Nachbarwis¬ 
senschaften. Von Robert Gradmann. 603 
Ethnographischen, Die, Verhältnisse 
Rußlands. Von M. Murko . . 577. 674 

Französische, Das, Universitätswesen. 

Victor Klemperer.47 

Französische Kulturkämpfe. Von Ernst 

Robert Curtius.549 

Friedensvertrag, Der, von Versailles. 

Von J. H.480 

Goethes Arbeiten zur Morphologie. 

Von Adolph Hansen.229 

Heimskringla, Könige und Skalden in 
der. Von Felix Niedner. . . 245. 337 

Jean Paul im Lichte des Humors. Von 

Alfred Biese.426 

Kiesling, Hans von. Damaskus. Von 
Fritz Braun.761 


Köhler, Walter, Die Geisteswelt Ulrich 
Zwinglis. Von H. Mulert .... 479 
Kultusministeriums, Die Anfänge des 
preußischen. Von Gunnar Thiele . 289 
Kunstpflege, Neue Aufgaben der öffent¬ 
lichen. Von O. Wulff.710 



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Inhaltsverzeichnis 




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vra 


Spalte 

Lektorat, Das, und die Ausbildung der 
Neuphilologen. Von Ernst Werner. 625 
Lepsius, J. Der Todesgang des arme¬ 
nischen Volkes. Von J. H.761 

Lloyd George vor 1914. Von Felix 

Salomon.97 

Lope de Vega. Von Max J. Wolff . 449 
Mausbach, Naturrecht und Völkerrecht. 89 
Meistererzählung, Eine hebräische. Von 

Hermann Gunkel.73. 155 

Meredith in seinen Briefen. Von Phi¬ 
lipp Aronstein.29 

Morgenländischen Studien in Deutsch¬ 
land, Die Zukunft der. Von Franz 

Babinger. 385 

Morleys, Lord, „Erinnerungen“. Von 

Felix Salomon.503 

Nordischen Instituts der Universität 
Greifswald, Das zweite Jahr des. Von 

Gustaf Dalman.277 

Ostmark, Die. Eine Landeskunde des 
deutschen Nordostens von F. Braun. 

Von M. Rosbund.649 

Philipp II. und Alexander der Große. 

Von Emst Kornemann.111 

Physikalisch - mathematischen Wissen¬ 
schaften, Die Stellung der, an den 
deutschen Technischen Hochschulen. 

Von F. Krüger.525 

Platonbiographie, Die, Ulrichs v. Wila- 
mowitz. Von Hans v. Arnim. . . 1 

Preußischen Kultusministeriums, Die 
Anfänge des. Von Gunnar Thiele . 289 
Raps, August. Von A. Ebeling. . . 755 
Republik, Die Anfänge der römischen. 

Von Ernst Kornemann.481 


Spalte 

Rußlands, Die ethnographischen Ver¬ 
hältnisse. Von M. Murko . . 577. 674 

Sägmüller, J. B. Der apostolische Stuhl 
und der Wiederaufbau des Völker¬ 
rechts und Völkerfriedens .... 365 
Stäckel, Paul, zum Gedächtnis- Von 

Emst Goldbeck.439 

Technischen Hochschulen, Die Stel¬ 
lung der physikalisch - mathemati¬ 
schen Wissenschaften an den deut¬ 
schen .525 

Tragik nach Schopenhauer und von 
heute. Von Oskar Walzel .... 734 
Universitätswesen, Das französische. 

Von Victor Klemperer.47 

Villers, Charles de. Von Paul Michaelis 133 
Vosslers, Karl, „Dante“. Von Max J. 

Wolff.209 

Wellhausen, Julius. Von Otto Eiß- 

feldt.. 193. 325 

Weltkrieges, Neue Veröffentlichungen 
zur Vorgeschichte des. Von Justus 

Hashagen. 305. 410 

Zeitschriften- und Bücherschau. 
Ästhetik und allgemeine Kunstwis¬ 
senschaft (M.-F.) 93. Aus englischen 
Zeitschriften (Albert Ludwig) 761. 

Neue Literatur zur Geschichte des 
Altertums (Emst Kornemann) 463. 

573. Deutsche Kunst des 15. und 
16. Jahrhunderts (Dr. Grete Ring) 261. 
Pädagogik (H. R.) 367. Philosophie 
(K. Oe.) 177. Theologie (H. Mulert) 

649. 


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INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT 

FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK 


14. JAHRGANG 


HEFT 1 


OKTOBER 1919 


Die Platonbiographie Ulrichs v. Wilamowitz. 

Von Hans v. Arnim. 


Das Verständnis Platons wie der 
griechischen Philosophen überhaupt 
kann nur durch Zusammenwirken phi¬ 
lologisch-historischer mit philosophi¬ 
scher Forschung erschlossen werden. 
Aber schwer ist es, die Aufgabe, die 
dem Philologen, gegen die, welche dem 
Philosophen gestellt ist, abzugrenzen. 
Wilamowitz’ „Platon" will nur die phi¬ 
lologische Aufgabe lösen, „Platon, 
den Menschen und seine Werke 
den Lesern nahezubringen" — nicht 
den Fachgelehrten, sondern dem wei¬ 
teren Leserkreise. Er will eine Bio¬ 
graphie Platons geben, welche zeigt, 
„wie dieser Mensch geworden ist, was 
er gewollt, gedacht, gewirkt hat“. Die 
Einordnung dagegen der Gedanken 
Platons in die Entwicklung der mensch¬ 
lichen Erkenntnis, die Bloßlegung der 
Fäden, die sie mit älteren und jünge¬ 
ren Denkern verbinden, die Prüfung 
der platonischen Lehre auf ihren 
Wahrheitsgehalt sieht Wilamowitz als 
Aufgabe des Philosophen an. Als Philo¬ 
logen interessiert ihn die Lehre Pla¬ 
tons nur um des Menschen, nicht der 
Mensch um seiner Lehre willen. Die 
Werke Platons, jedes für sich genom¬ 
men. insofern es dem liebevollen Be¬ 
trachter etwas Persönliches enthüllt 
und den Seelenzustand Platons zur Zeit 
der Abfassung offenbart, sind ihm 
wichtiger als die Frage, ob sich die in 
ihnen vorgetragenen Gedanken zu 
einem System zusammenschließen. 


Wenn Platons Dialoge philosophische 
Gedanken in künstlerischer Form dar¬ 
stellen, so ist ihm die Form wichtiger 
als der Inhalt, und jene Altersschrif¬ 
ten Platons, die streng fachwissen¬ 
schaftlich sind und die dramatische 
Form kaum noch äußerlich wahren, z. B. 
„Parmenides“ und „Sophistes“, werden 
grundsätzlich nicht so eingehend be¬ 
handelt wie literarisch eindrucksvollere 
Werke. Die praktische Seite der plato¬ 
nischen Philosophie, d. h. ihr Streben, 
den einzelnen sowohl wie Staat und 
Gesellschaft besser und glückseliger zu 
machen, ist dem Biographen und Ge¬ 
schichtsforscher naturgemäß wichtiger 
als die logischen, ontologischen und er¬ 
kenntnistheoretischen Untersuchungen. 
Was wir über Platons äußere Erleb¬ 
nisse wissen, wird nicht, wie in den 
meisten Büchern über ihn, in einem be¬ 
sonderen biographischen Kapitel von 
der Behandlung der Schriften abgeson¬ 
dert und zusammengefaßt, weil das 
ganze Werk Biographie ist und auch 
in der Besprechung der Schriften und 
Lehren nur Biographie sein will. Der 
erste Band ist rein darstellend. Er ver¬ 
zichtet auf Begründung und auf Quel¬ 
lenbelege, so daß nirgends griechische 
Lettern erscheinen; er setzt sich fast 
nirgends mit den Ansichten der Mit¬ 
forscher auseinander; er enthält keine 
Untersuchungen, sondern nur Ergeb¬ 
nisse. Wo dem Verfasser in einzelnen 
Fällen Begründung seiner Darstellung 

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3 


Hans v. Arnim, Die Platonbiographie Ulrichs v. Wilamowitz 


nötig schien, hat er sie in Exkursen ge¬ 
geben, die in einem zweiten Bande zu¬ 
sammengefaßt sind. 

Voraussetzung für die Einbeziehung 
der Schriften in den Zusammen¬ 
hang biographischer Darstellung ist die 
Kenntnis ihrer zeitlichen Folge. 
Diese hat, wie bekannt, seit Schleier¬ 
macher und K. F. Hermann einen 
Hauptgegenstand der deutschen Plato- 
forsdiung gebildet. Trotz immer erneu¬ 
ter Versuche wollte es nicht gelingen, 
eine bestimmte Ansicht über die Zeit¬ 
folge zu allgemeiner Anerkennung zu 
bringen. Ohne diese aber konnte man 
nicht zum Verständnis der philosophi¬ 
schen Entwicklung Platons, zur Ein¬ 
ordnung dieser in die Gesamtentwick¬ 
lung der griechischen Philosophie und 
zu einer abschließenden Darstellung 
und geschichtlichen Würdigung der 
platonischen Philosophie gelangen. Wi¬ 
lamowitz hält die „platonische Frage“, 
d. h. die Frage nach Echtheit und 
Reihenfolge der erhaltenen Dialoge für 
gelöst. „Über die Echtheit ist fast völ¬ 
lige Einhelligkeit erreicht —; die Prü¬ 
fung von Sprache und Stil hat es in 
den letzten Jahren auch erreicht, daß 
die Dialoge gruppenweise in eine ganz 
feste Ordnung gebracht sind, und diese 
relative Chronologie wird durch die 
Verbindung mit den vier Epochenjah¬ 
ren, dem Tode des Sokrates und den 
drei Reisen, in eine absolute umge¬ 
setzt, die nur geringen Verschiebungen 
Raum läßt.“ In diesen Worten ist an¬ 
erkannt, daß die Untersuchung von 
Sprache und Stil für die Ermittlung der 
Zeitfolge der Dialoge entscheidende Be¬ 
deutung gewonnen und zu endgültigen 
Ergebnissen geführt hat. Alle Forscher, 
die sich an diesen sprachlichen Unter¬ 
suchungen zur Chronologie der platoni¬ 
schen Schriften beteiligt haben, wer¬ 
den dieses Zeugnis eipes so angesehe¬ 


nen und unvoreingenommenen Beur¬ 
teilers mit Genugtuung begrüßen, nicht 
zum wenigsten der Verfasser dieses 
Aufsatzes, der auf Grund der Stilbeob¬ 
achtung die Schriften nicht nur, wie 
seine Vorgänger, auf drei große Haupt¬ 
gruppen verteilt, sondern durchweg 
und bis ins einzelne in eine feste Ord¬ 
nung gebracht hat, die bis auf wenige, 
nicht sehr erhebliche Abweichungen 
auch von Wilamowitz befolgt wird. 
Ich halte diesen Grundbau der Platon¬ 
biographie von Wilamowitz für fest 
und unerschütterlich, was nicht aus¬ 
schließt, daß künftig noch manche Ver¬ 
suche, ihn zu erschüttern, unternom¬ 
men werden. 

Aber wichtiger als die äußere Zeit¬ 
folge ist ihre Deutung. Der Platz, den 
jeder einzelne Dialog in dieser Folge 
einnimmt, ist von der größten Bedeu¬ 
tung für das Verständnis des Dialoges 
selbst. Erst wenn wir wissen, welche 
früheren Schriften der Philosoph in je¬ 
der einzelnen Schrift als seinen Lesern 
bekannt voraussetzt, werden wir ihren 
Sinn und ihre Absicht voll erfassen; 
und erst wenn wir so jedes einzelne 
Werk als Glied der ganzen Reihe ver¬ 
standen haben, werden wir auch um¬ 
gekehrt das ganze platonische Schrift¬ 
tum aus den einzelnen Schriften als 
Gesamtwerk verstehen. Die Deutung 
der SchriftenfoLge in diesem Sinne ist 
m. E. auch in Wilamowitz’ Platonbuch 
noch nicht in allen Punkten endgültig 
erreicht. Einige Bedenken, die mir ge¬ 
blieben sind, werden im folgenden be¬ 
sprochen. 

In den Schriften der reifen Mannes¬ 
jahre Platons (im „Menon", „Kratylos“, 
„Symposion“, „Phaidon“ und in der „Re¬ 
publik“) steht im Mittelpunkt die Ideen¬ 
lehre, die durch die Lehre von der 
Anamnesis mit der diesen Schriften zu¬ 
grundeliegenden Auffassung vom We- 


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Hans v. Arnim, Die Platonbiographie Ulrichs v. Wilamowitz 


6 


sen der Seele verknüpft ist. Die Haupt¬ 
frage für die Deutung der ganzen 
Schriftenreihe ist ohne Zweifel, wie sich 
zu dieser mittleren Gruppe, die den 
Höhepunkt der platonischen Schrift¬ 
stellerei darstellt, die ihr zeitlich vor¬ 
aufgehende Gruppe der frühen Schrif¬ 
ten und die ihr nachfolgende der Al¬ 
tersschriften verhält. Von den Alters¬ 
schriften will ich hier nicht handeln. 
Ich stimme Wilamowitz zu, wenn er 
die Ansicht ablehnt, Platon habe in sei¬ 
ner Altersperiode jene Hauptlehren sei¬ 
ner Philosophie stark umgebildet oder 
gar aufgegeben. Unsere Übereinstim¬ 
mung in der Datierung des „Phaidros" 
führt zur gleichen Beurteilung auch 
dieser Frage. Dagegen hege ich Be¬ 
denken gegen seine Auffassung der 
frühen Schriftenreihe bis zum „Gor- 
gias“ und der in ihr ausgedrückten 
Entwicklung Platons als Mensch, 
Schriftsteller und Philosoph. Obgleich 
gerade hier bezüglich der Zeitfolge 
(von dem späteren Ansätze des „Euthy- 
demos“ durch Wilamowitz abgesehen) 
zwischen uns eine Übereinstimmung be¬ 
steht, die mir um so erfreulicher ist, 
als gerade hier die Ansichten anderer 
Forscher am meisten auseinandergin¬ 
gen, ist doch unsere Deutung dieser 
Reihe bezüglich ihres Verhältnisses zur 
Mittelgruppe durchaus verschieden. 
Während ich in dieser Schriftenreihe 
eine zielbewußte methodische Vorbe¬ 
reitung auf die Hauptwerke der Mit¬ 
telgruppe sehe, nimmt Wilamowitz an, 
daß Platon, als er diese frühen Schrif¬ 
ten verfaßte, die Grundlehre seiner spä¬ 
teren Philosophie noch nicht konzipiert 
hatte, daß sie also ohne Beziehung auf 
diese Grundlehre geschrieben sind. 

Drei Dialoge sind nach Wilamowitz 
noch bei Lebzeiten des Sokrates ge¬ 
schrieben: „Ion“, „Hippias d. kl.“, „Prota- 
goras“. Er behandelt sie unter der Über¬ 


schrift „Jugendübermut“, weil er in 
ihnen persönliche Satiren ohne ern¬ 
sten philosophischen Gehalt sieht, 
Werke eines „neuen Archilochos", wie 
Gorgias den Platon genannt haben soll. 
Sie enthalten, meint er, weder sokra- 
tische noch platonische Lehren, son¬ 
dern geben nur rein künstlerisch die 
Eindrücke Platons von den Gesprä¬ 
chen wieder, in denen Sokrates hochmü¬ 
tige Scheinwisser blamierte. Daß sie 
vor dem Tode des Sokrates geschrie¬ 
ben sind, zeigt sich, nach Wilamowitz, 
vor allem darin, daß Sokrates hier noch 
nicht den Nimbus des wahren Tugend¬ 
lehrers hat. Was Sokrates war, ist dem 
Platon selbst erst durch Sokrates’ Mär¬ 
tyrertod bewußt geworden. Daher er¬ 
scheint der Sokrates dieser frühesten 
Dialoge als ein bloßer Virtuos des 
Streitgespräches, dem es nur darauf an¬ 
kommt, seinen Gesprächsgegner, gleich¬ 
viel mit welchen Mitteln, zu besiegen, 
nicht als ein Mann, dem Wahrheit und 
Tugend über alles geht. 

Diese Ansicht von Wilamowitz steht 
in Zusammenhang mit dem Bilde, das 
er von Sokrates selbst zeichnet. Denn 
sie läßt sich nur verteidigen, wenn Pla¬ 
ton von Sokrates weder positive Lehr¬ 
sätze noch eine brauchbare wissen¬ 
schaftliche Methode übernommen hatte: 
und so schildert in der Tat Wilamo¬ 
witz den Sokrates: als einen Mann, 
der in der Geschichte der Philosophie 
nicht einmal erwähnt zu werden ver¬ 
dient. „Was die Erkenntnistheorie an¬ 
langt, so kann man Platon unmittelbar 
an Protagoras und Zenon den Dialek¬ 
tiker anschließen; für Sokrates ist zwi¬ 
schen ihnen kein Platz frei. Aristoteles 
rühmt ihm nach, daß er das Definieren 
aufgebracht hätte. Von diesem Lobe 
hat ihn H. Maier siegreich befreit“ usw. 
Sokrates hat auch nicht die falsche Me¬ 
thode der Sophisten bekämpft und 

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Hans v. Arnim, Die Platonbiographie Ulrichs v. Wilamowiiz 


durch diese Polemik indirekt die 
Wissenschaft gefördert. Auch hat er 
nicht den Übergang von der Natur¬ 
philosophie zur Ethik bewirkt. Die Er¬ 
findung der induktiven Methode bildet 
nicht einen Ruhmestitel des Sokrates; 
denn er kommt mittels derselben nicht 
zu dem Allgemeinen, das er sucht. Sein 
Suchen nach dem die Tugend begrün¬ 
denden Wissen, dem er gemeinsam mit 
seinen Schülern obliegt, führt niemals 
zum Ziele. Aber es wirkt trotzdem er¬ 
ziehlich auf den Schüler. Einerlei, ob 
dieser am Ende zu sagen weiß, was 
die Tugend ist, von der Sokrates ge¬ 
rade redet, und wie sie sich zu dem 
Ganzen der Tugend verhält: „er weiß, 
daß sie ist, und auch, daß sie dem 
Menschen erreichbar ist, wenn 
er nur will. Denn vor ihm steht einer, 
der sie besitzt und übt, Sokrates.“ Diese 
Schilderung des Sokrates, in der ne¬ 
ben lauter Negationen der Hinweis auf 
seine praktische Tugendübung den ein¬ 
zigen positiven Zug bildet, kann meines 
Erachtens nicht richtig sein. Denn es 
ist ein innerer Widerspruch, daß ein 
Lehrer, der zur Skepsis gegenüber al¬ 
len herkömmlichen ethischen Maßstä¬ 
ben und zu eigenem Nachdenken über 
die Pflichten und Aufgaben des Men¬ 
schen anleitet, schließlich doch nur 
durch sein praktisches Beispiel erzieh¬ 
lich wirken sollte. Wenn Sokrates seine 
Schüler überzeugt, daß Tugend Wis¬ 
sen sei, dieses Wissen aber in ihnen 
nicht zu erwecken und nicht einmal 
anzugeben wußte, was den Gegenstand 
dieses Wissens bildet, so hatte er ihnen 
die Tugend zum Problem gemacht. Un¬ 
möglich konnten sie eine Tugend, deren 
Wesen nicht zu kennen sie sich bewußt 
geworden waren, an Sokrates entdecken 
und rein aus der Anschauung seines 
Wesens die Überzeugung schöpfen, daß 
sie jeder sich aneignen kann, wenn 


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er nur will. Aber ich will hier nicht 
diese Auffassung des Sokrates wider¬ 
legen, sondern nur darauf hinweisen, 
daß sie für Wilamowitz’ Auffassung 
der frühesten Schriften Platons (sowohl 
der drei bei Sokrates’ Lebzeiten, wie 
der nach seinem Tode verfaßten) die 
notwendige Voraussetzung bildet. Wäre 
Platon durch Sokrates in seinem Nach¬ 
denken über die Grundprinzipien der 
Ethik gefördert worden, dann hätte er 
ihn schon vor seinem Märtyrertode als 
den Mann erkennen müssen, der durch 
das Wahre zum Guten hinführte; dann 
hätte er ihn auch nach seinem Tode nicht 
als einen Mann zu verteidigen gesucht, 
dessen Untersuchungen über die Tu¬ 
gend zwar unfruchtbar bleiben, der 
aber dennoch durch seine Person sitt¬ 
lich erziehend wirkt. 

Was nun die drei Dialoge, „Ion“, „kl. 
Hippias“ und „Protagoras“, betrifft, so 
kann ich nicht glauben, daß sie der 
Absicht, Personen lächerlich zu ma¬ 
chen, ihre Entstehung verdanken, son¬ 
dern finde in allen sachliche Unter¬ 
suchungen, die mit den in den folgen¬ 
den Dialogen geführten in innerem Zu¬ 
sammenhänge stehen. Plato sucht in 
der ganzen Reihe seiner Jugenddialoge 
das Wesen der Philosophie als einer 
selbständigen Wissenschaft neben und 
über den bereits anerkannten Einzel¬ 
wissenschaften zu bestimmen. Tugend, 
Erziehung, Reform von Staat und Ge¬ 
sellschaft können, meint er, nur auf 
dieser Wissenschaft beruhen, deren 
spezifischer Gegenstand noch der Be¬ 
stimmung bedarf. Besonders faßt er 
diese Aufgabe von der Seite des Er¬ 
ziehungsproblems an. Wie ist Erzie¬ 
hung zur Aret6 möglich? Da muß er 
zunächst zeigen, daß die bisher aufge¬ 
tretenen Bildungsapostel und Tugend¬ 
lehrer diese Wissenschaft nicht be¬ 
sitzen, also auch keine wahren Erzieher 


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Hans v. Arnim, Die Platonbiographie Ulrichs v. Wilamowitz 


10 


sind. Diesem Zweck dient der „Ion" 
nicht minder als der „Protagoras“. 
Denn die Ansicht, daß das Studium 
Homers die Hauptquelle allgemein 
menschlicher Bildung sei, war damals 
weit verbreitet. Der Rhapsode Ion ver¬ 
steht nicht nur die homerischen Ge¬ 
sänge wirkungsvoll vorzutragen, son¬ 
dern will auch in allen Gegenständen, 
die in der alle Seiten des Menschen¬ 
lebens umfassenden homerischen Dich¬ 
tung Vorkommen, als Sachverständiger 
gelten. Diese Gegenstände gehören aber 
teils in die Einzelwissenschaften (t i%vai), 
so daß deren Vertreter für sie die 
eigentlichen Sachverständigen sind, 
teils in die Philosophie, so daß für den 
Rhapsoden als Homerphilologen und 
Homerinterpreten kein spezifischer Ge¬ 
genstand übrig bleibt. Sein Anspruch, 
eine Lehre zu besitzen, die als unmit¬ 
telbares Bildungs- und Erziehungs¬ 
mittel gelten könnte, ist also unberech¬ 
tigt. Die Art, wie dies von Sokrates 
bewiesen wird, ist ganz dieselbe, wie 
im Vorgespräch des „Protagoras“ vom 
Sophisten, auch einem Vertreter uni¬ 
verseller Bildung, nachgewiesen wird, 
daß er keinen spezifischen Gegenstand 
seiner Sachkunde namhaft machen 
kann. Hat dieser Nachweis im „Prota¬ 
goras“ einen allgemeinen theoretischen 
Zweck, so kann er im „Ion“ unmöglich 
nur zur persönlichen Verspottung des 
Rhapsoden dienen. Die Rhapsoden¬ 
kunst wird mit denselben Maßstäben 
gemessen, die Platon auch sonst in sei¬ 
ner Wissenschaftslehre anwendet; ge¬ 
wogen und zu leicht befunden. 

Der „kleinere Hippias“, den ich 
aus stilistischen Gründen nicht in so 
frühe Zeit, sondern in die des „Gor- 
gias“ und „Menon“ setze, ist m. E. nicht 
geschrieben, um den Hippias lächerlich 
zu machen, sondern behandelt eben¬ 
falls ein sachliches Problem, das 


für Platons Wissenschafts- und Tu¬ 
gendlehre von Bedeutung ist. Gegen 
den sokratischen Intellektualismus, 
demzufolge Tugend Wissen ist, wurde 
von Gegnern natürlich oft eingewen¬ 
det, auch wer das Gute wisse, könne 
freiwillig (absichtlich) das Schlechte 
tun; ein solcher Mensch sei offen¬ 
bar schlechter, als wer unfreiwil¬ 
lig, ohne es zu wissen, unrecht tue. 
Gegen diesen Einwand will der „Hip¬ 
pias“ den sokratischen Intellektualis¬ 
mus verteidigen. Im ersten Haupt¬ 
teil wird gezeigt, daß die Fähigkeit, 
wann er will, also freiwillig, die Un¬ 
wahrheit zu sagen, für jede Einzelwis¬ 
senschaft nur der Sachkundige besitzt, 
derselbe, der auch, wann er will, die 
Wahrheit sagen kann, und daß dieser 
offenbar besser ist als der dieser Ein¬ 
zelwissenschaft Unkundige, der unfrei¬ 
willig die Unwahrheit sagt. In diesem 
ersten Teil handelt sich’s nur um in¬ 
tellektuellen Wert oder Unwert, der 
durch Besitz oder Nichtbesitz der Ein¬ 
zelwissenschaften bedingt ist, nicht um 
die moralische Frage, ob und wann 
es gut und berechtigt ist, die Unwahr¬ 
heit zu sagen. Diese Frage gehört nicht 
in eine der Einzelwissenschaften, son¬ 
dern in die Philosophie (die Ethik); nur 
wer philosophische Erkenntnis besitzt, 
kann sie entscheiden. Durch den Über¬ 
gang ins Moralische scheidet sich vom 
ersten der zweite Teil, in dem be¬ 
wiesen wird, wer freiwillig sündige 
und unrecht tue, wenn es einen sol¬ 
chen Menschen überhaupt gebe, 
könne nur der Gute sein. Der Sinn 
dieser paradox klingenden, aber von 
Platon ganz ernst gemeinten These ist, 
daß es keinen Menschen gibt, der 
freiwillig (mit vollem Bewußtsein, wi¬ 
der besseres Wissen) sündigt und un¬ 
recht tut. Wer als Philosoph das Wis¬ 
sen vom Guten und Bösen, vom Ge- 


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Hans v. Arnim, Die Platonbiographie Ulrichs v. Wilamowitz 


1 


rechten und Ungerechten besitzt, der 
ist zwar fähig das Böse und Unge¬ 
rechte freiwillig zu tun, aber es ist zu¬ 
gleich undenkbar, daß er von dieser 
Fähigkeit Gebrauch macht. Die Einzel¬ 
wissenschaft, die nur relative Güter 
schafft, kann man benützen, um das in 
ihrem Sinne Schlechtere freiwillig zu 
tun, wenn ein außer ihr gelegener 
höherer Gesichtspunkt dies fordert; die 
Philosophie, die das absolut Gute er¬ 
kennt, kann man nie benützen, um das 
in ihrem Sinne Schlechtere freiwillig 
zu tun, weil es keinen außer ihr gele¬ 
genen höheren Gesichtspunkt gibt, der 
dies rechtfertigen könnte. — So ver¬ 
standen enthält der „Hippias“ eine im 
Zusammenhang der platonischen Wis- 
senschaftslehre wertvolle Untersu¬ 
chung, so daß man nicht zu der An¬ 
nahme seine Zuflucht zu nehmen 
braucht, Jugendübermut und Spottlust 
habe dem Verfasser die Feder geführt. 
Richtig ist, daß der „Hippias“ nicht 
geschrieben sein kann, um Sokrates ge¬ 
gen seine Ankläger zu verteidigen, weil 
für einen Leser, der das Problem nicht 
versteht, Sokrates hier als Anwalt der 
Unsittlichkeit erscheinen kann. Aber 
daraus kann man nicht schließen, daß 
der Dialog vor dem Tode des Sokra¬ 
tes erschienen sei. 

Auch der „Protagoras“ ist nicht 
nur Komödie und Satire. Anzuneh¬ 
men, daß es Platon in diesem Dialog 
nur auf die künstlerische Darstellung 
und Verspottung des Treibens der so¬ 
phistischen Tugendlehrer angekommen 
sei und die Fragen der Erziehungs¬ 
und Tugendlehre, die in ihm erörtert 
werden, für Platon nicht einen Ge¬ 
genstand ernsten philosophischen Inter¬ 
esses gebildet hätten, hindert mich die 
Tatsache, daß alle diese Fragen in der 
folgenden Schriftenreihe wieder aufge¬ 
nommen und weitergesponnen werden: 


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die Lehrbarkeit der Tugend, ihre We¬ 
sensbestimmung als Wissen, das Ver¬ 
hältnis der Einzeltugenden zur Gesamt¬ 
tugend, die Abgrenzung der tugend¬ 
begründenden Wissenschaft gegen die 
anderen durch Bestimmung ihres spe¬ 
zifischen Gegenstandes, die Begriffs¬ 
bestimmung der Tapferkeit, das Ver¬ 
hältnis des Guten zum Angenehmen. 

In Wilamowitz’ Darstellung sieht es so 
aus, als ob alle diese Fragen weder 
vor noch nach dem Tode des Sokrates 
ernste philosophische Probleme für Pla¬ 
ton gebildet hätten. Vor dem Tode des 
Sokrates spielt er nur mit ihnen und 
nach Sokrates’ Tode benützt er sie 
nur zur Verteidigung von dessen Per¬ 
son. Diese Sonderung der Dialoge in 
Gruppen, von denen jede durch einen 
gemeinsamen Zweck zusammengehal- 1 
ten wird, und das Aufeinanderfolgen 
dieser Gruppen ergibt dann etwas wie 
eine Entwicklung, die aber keine philo¬ 
sophische Entwicklung, kein Fortschritt 
des Erkennens ist. Ich bestreite ebenso 
entschieden den vorwiegend apologeti¬ 
schen Zwecke der zweiten wie den vor¬ 
wiegend satirischen der ersten Gruppe 
und finde in allen Dialogen der Früh¬ 
zeit bis zum „Gorgias“ die Bearbeitung | 
eines in sich zusammenhängenden 
Komplexes von Problemen, den Pro¬ 
blemen der Wissenschaftslehre, 
zu dem Zwecke, die Philosophie als 
eine selbständige Wissenschaft neben 
und über den Einzelwissenschaften zu 

4 

begründen. 

In dem Kapitel „Verteidigung 
des Sokrates“ behandelt Wilamo¬ 
witz, außer „Apologie“ und „Kriton“, 
die vier Dialoge „Laches“, „Lysis“* 
„Charmides“, „Euthyphron“. Diese sechs 
Schriften hat Platon nach Wilamowitz 
verfaßt, um das Gedächtnis seines Leh¬ 
rers zu Ehren zu bringen. In den vier 
letztgenannten wird Sokrates im Ver- 


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Hans v. Arnim, Die Platonbiographie Ulrichs v. Wilamowitz 


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kefir mit jung und alt vorgeführt, um die 
Vorwürfe der Anklage zu entkräften 
und seine Unsträflichkeit nicht nur, 
sondern auch seinen fördernden Ein¬ 
fluß auf alle anderen ins Licht zu set¬ 
zen. Es kam Platon hier viel weniger 
darauf an, was Sokrates sagte, als wie 
er war. Der Leser sollte die Überzeu¬ 
gung gewinnen, daß er die Jugend 
nicht verdarb, sondern tauglicher zu 
dem machte, was man von ihr im prak¬ 
tischen Leben erwartete. Platon schreibt 
also diese Gespräche nicht als Philo¬ 
soph aus theoretischem Interesse, nicht 
um das Wesen der Tugend aufzuklä¬ 
ren, sondern um Sokrates als Träger 
aller Kardinaltugenden zu zeigen. 

Ich meine, wenn das Platons Absicht 
gewesen wäre, so hätte er diese Schrif¬ 
ten ganz anders anlegen müssen; mehr 
nach Art jener Apologie des Sokrates, 
mit der Xenophon seine „Denkwürdig¬ 
keiten“ beginnt. Nicht durch erdichtete 
Gespräche, sondern nur durch Tatsa¬ 
chen, die er selbst als Augenzeuge ver¬ 
bürgte oder durch fremdes Zeugnis er¬ 
härtete, konnte er beweisen, daß Sokra¬ 
tes alle Tugenden besessen und betä¬ 
tigt hatte. Auch daß Sokrates die Ju¬ 
gend zu dem tauglich gemacht hatte, 
was man von ihr im praktischen Le¬ 
hen erwartete, konnte nur durch Bei¬ 
spiele gezeigt werden. Wenn über¬ 
haupt die Frage nach dem Wesen der 
Tugenden aufgeworfen und erörtert 
wurde, so durfte, sollte Sokrates als ihr 
Träger erwiesen werden, die Erörte¬ 
rung nicht ergebnislos bleiben. Denn 
wenn der Leser am Schluß der Unter¬ 
suchung nicht mehr wußte, was Tap¬ 
ferkeit, was Besonnenheit, was Fröm¬ 
migkeit ist, wie konnte er gleichzei¬ 
tig die begründete Überzeugung hegen, 
daß Sokrates diese Tugenden besessen 
habe? Daß alle diese Gespräche mit 
der Aporie enden und eine befriedi¬ 


gende Definition des gesuchten Be¬ 
griffs nicht gefunden wird, kann und 
soll ebensowenig die Leser wie die 
Gesprächspartner des Sokrates veran¬ 
lassen, sich von dem Logos ab und 
der Person des Sokrates zuzuwenden, 
zufrieden, daß man zwar nicht wissen 
kann, was Tapferkeit ist, jedenfalls 
aber Sokrates tapfer war, sondern die 
Aporie soll den Leser von der Person 
ab und dem Logos zuwenden, als Sta¬ 
chel in seinem Gemüt Zurückbleiben 
und ihm keine Ruhe lassen, bis er den 
Logos zu Ende gedacht hat. Auch das 
spricht für meine Ansicht, daß in allen 
diesen Gesprächen, im „Protagoras“, 
„Laches", „Lysis“, „Charmides“, die 
persönlichen Momente, auf die Wilamo¬ 
witz das Hauptgewicht legt, den Anfang, 
die sachlichen den Schluß bilden. Wenn 
Wilamowitz recht hätte, müßte es um¬ 
gekehrt sein. Denn der Schluß ist ent¬ 
scheidend für die Nachwirkung der 
Schrift in der Seele des Lesers. 

Am schlechtesten ist in Wilamowitz’ 
Darstellung der „Laches“ weggekom¬ 
men, dessen philosophischer Gehalt 
überhaupt keiner Analyse gewürdigt 
wird, während „Lysis", „Charmides“, 
„Euthyphron“ im ersten Bande zwar 
auch mehr von der persönlichen Seite 
aufgefaßt werden, im zweiten Bande 
aber Exkurse erhalten, die mehr auf 
den Gedankengehalt eingehen. Es 
würde zu viel Raum fordern, wenn ich 
mich mit diesen Exkursen, die z. T. 
gegen meine Interpretationen geschrie¬ 
ben sind, gründlich auseinandersetzen 
wollte. Nur das möchte ich betonen, 
daß sie mit der These von der apolo¬ 
getischen Absicht dieser Dialoge m. E. 
nicht mehr ganz im Einklänge stehen. 
Daß diese These nicht durchführbar 
ist, zeigt sich auch schon im ersten 
Bande, S. 194, wo gesagt wird, das 
Theoretische hätte im „Lysisi“ und 


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„Charmides“ nicht ohne Gewalt Unter¬ 
kunft gefunden, und S. 200, wo es 
heißt, Platons Kämpfe um den eigenen 
Glauben drängten sich in die Schrif¬ 
ten, die er zur Verteidigung des Sokra¬ 
tes schreibe. „Wenn sie eine Dishar¬ 
monie hineintragen, so entspricht es 
seiner eigenen Stimmung.“ Die Dis¬ 
harmonie besteht m. E. nur zwischen 
dem von Wilamowitz angenommenen 
Hauptzweck dieser Gespräche und dem 
philosophisch wichtigsten Teil ihres In¬ 
halts. 

Als Platon den „Lysis“ und „Charmi¬ 
des“ schrieb, war er bereits durch be¬ 
griffliches Denken (nicht nur Gefühl 
und Ahnung) zu der Überzeugung ge¬ 
langt, daß das absolut Gute (die Idee 
des Guten) den Gegenstand des höch¬ 
sten Wissens bilden müsse, das allen 
anderen Künsten und Wissenschaften, 
die nur relative Güter schaffen wol¬ 
len, voranzuleuchten und die Wege zu 
weisen berufen sei. Daß das Jigärov <pt- 
Xov (das an sich, um seiner selbst willen 
Liebe) im „Lysis" das Gute ist (und 
zwar natürlich das an sich Gute), lese 
ich nicht nur zwischen den Zeilen; es 
ist 220 B ausgesprochen. Wir brauchen 
nicht „Symposion“ und „Staat“, um es 
zu verstehen. Die Einführung des srpörov 
(plXov bildet den Höhepunkt des .Ly¬ 
sis“, dessen ganzer Gedankengang mit 
großer Kunst auf sie angelegt ist. Die 
Beweisführung, die darin gipfelt, daß 
nur das wirklich lieb ist, was um sei¬ 
ner selbst willen geliebt wird, also 
nicht nur als Mittel zur Aneignung 
eines Gutes oder zur Abwehr eines 
Übels, ist nüchtern logisch. Man sieht, 
daß sie dem Verfasser selbst als stich¬ 
haltig gilt. Mit welchem Rechte also 
sagt Wilamowitz: „Er ist sich im Ge¬ 
fühle bewußt, was das wahre Ziel 
der Philosophie, des Strebens nach 
Weisheit, sein muß, aber es ist noch 


Gefühl, Ahnen, Fragen" und mit 
welchem Rechte vergleicht Wilamowitz 
diese Partie des „Lysis“ mit wallenden 
Nebeln, durch welche hier und da ein 
Lichtstrahl zuckt? Mir scheint gerade 
die schlichte Nüchternheit, das Fehlen 
wärmeren Gefühlsausdrucks, wo man 
ihn erwarten sollte, im Gegensatz zu 
dem hohen Pathos der späteren Schrif¬ 
ten für den jungen Platon charakteri¬ 
stisch. — Weil der „Lysis“ diese Hin¬ 
deutung auf die Idee des Guten ent¬ 
hält, ist seine Datierung entscheidend 
für die gesamte Auffassung von Pla¬ 
tons Jugendschriften. Mit dem frühen 
Ansatz des „Lysis“ ist die frühe Kon¬ 
zeption wenn nicht der Ideenlehre über¬ 
haupt, so doch der Idee des Guten als 
des spezifischen Gegenstandes der 
höchsten Wissenschaft gegeben. 

Eine ähnliche Bedeutung hat der 
„Laches“ für die Frage, wann Pla¬ 
ton auf den Gedanken kam, die Unter¬ 
scheidung eines vernünftigen und eines 
vernunftlosen Seelenteils für den Aus¬ 
bau seiner Tugendlehre zu verwerten. 
Nur scheinbar bleibt im „Laches“ das 
Suchen nach dem Begriff der Tapfer¬ 
keit ergebnislos. Wer die in den beiden 
Teilen der Untersuchung über die Tap- ■/ 
ferkeit (dem „Lachesgespräch“ und dem 
„Nikiasgespräch“) angesponnenen Fä¬ 
den nur ein wenig weiterspinnt und 
miteinander verflicht — wozu der Par¬ 
allelismus dieser koordinierten Kompo¬ 
sitionsglieder auffordert —, der kommt 
notwendig zu dem Ergebnis, daß Tap¬ 
ferkeit das Ausharrungsvermögen ist, 
mittels dessen wir gegenüber allen Af¬ 
fekthemmungen an dem von der Ver¬ 
nunft als gut und recht Erkannten fest- 
halten. Das „Lachesgespräch“ ergibt 
als Wesen der Tapferkeit ein einsich¬ 
tiges Ausharren (<ppdvi/M>g xaQzegCa), aber 
welcher Art die Einsicht ist, die durch 
ihre Verbindung mit dem Ausharren 


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Hans v. Arnim, Die Platonbiographie Ulrichs v. Wilamowitz 


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dieses zur Tapferkeit macht, bleibt 
zweifelhaft; es zeigt sich nur, daß kei¬ 
nesfalls dem technischen Wissen in den 
Einzelwissenschaften diese Bedeutung 
zukommt. Das „Nikiasgespräch“ ergibt 
als Wesen der Tapferkeit das Wissen 
von dem Furchtbaren und Nichtfurcht¬ 
baren. Dies ist aber nur ein von den 
anderen untrennbarer Teil des Wissens 
vom Guten und Schlechten, welches 
das Wesen der Tugend überhaupt aus¬ 
macht. Hier bleibt also der artbildende 
Unterschied der Tapferkeit von den an¬ 
deren Einzeltugenden noch zu bestim¬ 
men. Die Ergebnisse der beiden Teile 
brauchen nur zusammengefügt zu wer¬ 
den wie die Hälften eines durchge¬ 
schnittenen Apfels, um die Definition 
der Tapferkeit zu gewinnen, die, wie 
wir aus dem „Staat“ wissen, Platon in 
der Zeit seiner Reife gebilligt hat. Es 
ist also sicher, daß Platon schon, als 
er den „Laches“ schrieb, diese Defini¬ 
tion billigte. Denn ein anderer Zweck 
der Koordinierung beider Gesprächs¬ 
teile mit ihren Teilergebnissen als dem 
Leser Verbindung dieser Teilergebnisse 
zum Gesamtergebnis nahezulegen ist 
undenkbar. Wußte aber Platon schon 
damals, daß bei der Tugend außer dem 
Wissen ein vernunftloser Faktor mit¬ 
wirkt, so muß wenigstens der Keim 
seiner späteren Lehre von den Seelen¬ 
teilen schon damals in ihm gewesen 
sein. Ich meine, dieses Ergebnis aus der 
Interpretation des „Laches“ ist geeig¬ 
net, den entsprechenden Befund im „Ly¬ 
sis" zu bestätigen. 

Nach Wilamowitz trat die entschei¬ 
dende Wendung in Platons philosophi¬ 
scher Entwicklung erst ein, als er den 
„Gorgias“ schrieb. Die seit Sokrates’ 
Tod vor dem „Gorgias“ verfaßten Ge¬ 
spräche hatte der Zweck, den Sokrates 
zu verteidigen, erzeugt. Zu diesem 
Zweck hatte Platon den Sokrates sich 


über Gegenstände verbreiten lassen, 
die ihm wirklich vertraut gewesen wa¬ 
ren. „Mit diesen ethischen Problemen 
beschäftigte sich daher Platons Den¬ 
ken. Es regte sich in ihm der Logiker. 
Wie Sokrates freute er sich am Suchen, 
am Disputieren; aber immer weniger 
genügte es ihm. Er fragte nach dem 
Inhalte, dem Ziele des Lebens. Das 
Ziel hatte ihm der sterbende Sokrates 
gezeigt, aber leidend. Er war jung, er 
fühlte die Kraft und Lust zu handeln. 
Dazu mußte er mit sich selbst ins 
reine kommen, wissen, was er wollte, 
auch was er im Leben werden wollte; 
stand er doch in den Dreißigern. So¬ 
lange er schwankte und suchte, 
konnte er nur Kleinigkeiten her¬ 
vorbringen. Endlich hatte er gefun¬ 
den, sich entschieden. — Er schrieb 
den .Gorgias'.“ — Dies ist mit Wilamo¬ 
witz’ eigenen Worten die Entwicklung 
Platons, die zum „Gorgias“ hinüber¬ 
führt. Wir sollen also glauben, daß 
Platon nicht deswegen den Men¬ 
schen Sokrates verehrte, weil er für 
sein eigenes sachliches Streben nach 
Erkenntnis an ihm einen Führer gefun¬ 
den hatte, sondern umgekehrt erst in¬ 
folge seiner Verehrung für den Men¬ 
schen, weil er den toten Meister ver¬ 
teidigen wollte, nach dessen Tode zur 
Beschäftigung mit ethischen Problemen 
gelangte. Das Suchen und Disputie¬ 
ren, an dem sich Platon im „Laches“, 
„Lysis“, „Charmides“ erfreut, soll zu dem 
Ziel und Inhalt seines Lebens noch gar 
keine Beziehung gehabt und ihm eben¬ 
deshalb immer weniger genügt haben. 
Erst aus diesem Nichtgenügen soll bei 
ihm, der schon in den Dreißigern stand, 
die Frage nach dem Ziel und Inhalt 
des Lebens entstanden sein. Nun erst 
soll, weil er die Kraft und Lust zu 
handeln in sich fühlte, in ihm das 
Bedürfnis entstanden sein, über die 


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Wahl eines praktischen Lebensberufs 
mit sich selbst ins reine zu kommen. 
Dialoge wie „Laches“, „Lysis“, „Char- 
mides“, „Euthyphron“ sollen für Klei¬ 
nigkeiten gelten; es soll der Entschul¬ 
digung bedürfen, daß Platon bisher nur 
solche Kleinigkeiten schuf, und die Ent¬ 
schuldigung soll darin gefunden werden, 
daß er bisher schwankte und ver¬ 
geblich suchte. Die Aporie, mit der 
diese Schriften regelmäßig schließen, 
soll also Platons eigene Verlegenheit 
sein und die Vergeblichkeit seines Su- 
chens, sein zielloses Schwanken bewei¬ 
sen. Die eigentliche philosophische Ent¬ 
wicklung Platons soll erst in der Zwi¬ 
schenzeit zwischen dem „Euthyphron" 
und dem „Gorgias“ sowohl begonnen 
wie sich vollendet haben, ohne sich in 
irgendeinem Werke niederzuschlagen; 
und dann soll Platon plötzlich im „Gor¬ 
gias“ mit einer fertigen Lebensanschau¬ 
ung auf den Plan getreten sein und im 
Kampf für diese der Heimat abgesagt 
und die ganze Welt in die Schranken 
gefordert haben. 

Auch Wilamowitz nimmt an, daß der 
Tod des Sokrates das für Platons gan¬ 
zes Leben entscheidende Erlebnis war 
und daß die Knospe des Glaubens, 
zu dem er sich im „Gorgias“ bekennt, 
schon als Sokrates starb, sich in ihm 
gebildet habe. „Dann erschloß sich die 
Blüte langsam unter der Sonne seines 
Sinnens. — Bis zum äußersten hatte 
er gesonnen, bis er den Sinn der Welt, 
der er absagte, in seiner Einheit er¬ 
faßt hatte.“ Ist es wohl, wenn dies 
richtig ist, wahrscheinlich, daß von all 
diesem Sinnen und von all diesem 
„Ringen um eine Weltanschauung“ in 
den zahlreichen Schriften Platons aus 
den zehn auf Sokrates’ Tod folgenden 
Jahren nichts sollte zu finden sein? 
Ist es glaublich, daß der Inhalt dieser 
Schriften zu der neuen „Weltanschau- 


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ung“, die im „Gorgias“ verkündet wird, 
gar keine Beziehung haben sollte? So 
stellt es Wilamowitz dar, wenn er sagt: 
Sokrates hatte ihm den Mut gegeben, 
in guten Stunden die Spottlust und 
das dramatische Talent zu üben. Dem 
Toten zu Ehren hatte er dieses schrift¬ 
stellerische Spiel fortgesetzt. Die 
Kunstform — beherrscht er mit Mei¬ 
sterschaft. Aber er hatte noch kaum 
einen Gedanken bis zu Ende gedacht.“ 
Ich sehe in den Dialogen vor dem 
„Gorgias“ mehr als ein schriftstelle¬ 
risches Spiel. Wenn Sokrates, wie Wi¬ 
lamowitz sagt, dem Platon durch sei¬ 
nen Tod das sittliche Ziel gezeigt, aber 
das Wissen nicht verliehen hatte, das 
er verlangte, so kann sich dieser, wenn 
er eine philosophische Natur war, nach 
Sokrates’ Tode nicht mit schriftstelle¬ 
rischen Spielen begnügt und zehn Jahre 
lang darauf verzichtet haben, seine Ge¬ 
danken zu Ende zu denken. 

Ich freue mich, daß die Reihenfolge 
dieser Dialoge bei Wilamowitz dieselbe 
ist, die sich auch mir aus stilistischen 

und sachlichen Gründen als die rieh- 

/ 

tige ergeben hat, und daß wir auch 
darin Zusammentreffen, den Dialog 
über die Gerechtigkeit, der jetzt das 
erste Buch des „Staates“ bildet, für 
eine vor dem „Gorgias“ verfaßte Ju¬ 
gendschrift Platons zu halten. Nur in¬ 
sofern besteht noch eine Meinungsver¬ 
schiedenheit zwischen uns, als Wilamo¬ 
witz sich diesen Dialog, den„Thrasyma- 
chos“, als letzten der Reihe, unmittel¬ 
bar vor dem „Gorgias“ geschrieben 
denkt, während ich ihn viel früher, 
zwischen „Laches“ und „Lysis“, an¬ 
setze. Außerdem hat mich die Anset¬ 
zung des „Euthydemos“ nach dem „Me- 
non“ nicht überzeugt. Ich halte ihn für 
den letzten der Dialoge vor dem „Gor¬ 
gias“ und finde in ihm (in dem Ge¬ 
spräch des Sokrates mit Kleinias) die 


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Behandlung der Einsicht (< pQÖvrjeig ), die, 
nachdem Tapferkeit, Gerechtigkeit, Be¬ 
sonnenheit, Frömmigkeit in vier Dia¬ 
logen behandelt waren, nicht fehlen 
durfte, um die Reihe der Kardinaltu¬ 
genden abzuschließen. Daß im „Euthy- 
demos" die Frage nach der Lehrbar¬ 
keit der Tugend, die das Thema des 
„Menon" bildet, beiseitegeschoben wird, 
indem Kleinias auch ohne Beweis von 
ihrer Lehrbarkeit überzeugt zu sein er¬ 
klärt, beweist nicht die Priorität des 
„Menon“. Denn da im „Euthydem“ das 
tugendbegründende Wissen trotz alles 
Suchens nicht gefunden wird, so bleibt 
dieses Zugeständnis des Kleinias ohne 
Bedeutung für den Gedankengang. Die 
Priorität des „Euthydem“ wird m. E. 
erwiesen durch Vergleichung der Güter¬ 
lehre im Protreptikos des „Euthydem“ 
S. 279 ff. mit der ganz ähnlichen Partie 
im „Menon“ S. 87 f., die sich als eine 
schon Bekanntes kürzende, zugleich aber 
weiterführende und vertiefende Rekapi¬ 
tulation der Euthydemstelle erweisen 
läßt. 

Auf den „Gorgias“ folgte bald die 
große Reise Platons nach Ägypten und 
Kyrene, nach Italien zu den Pytha- 
goreern und nach Sizilien an den Hof 
Dionysios’ I. von Syrakus. Spätestens 
im Frühjahr 390 habe Platon sie ange¬ 
treten, 388 sei er heimgekehrt und habe 
nun seine Schule, die Akademie, be¬ 
gründet. Die ersten Schriften nach der 
Heimkehr seien „Menexenos“, „Me¬ 
non“, „Euthydemos“ und ? ,Kratylos“. 
Im „Menexenos“ und „Menon“ bekunde 
sich das Streben des nun in Athen als 
Schulhaupt wirkenden Philosophen, die 
schroffe Absage des „Gorgias“ zu mil¬ 
dern und wieder Sympathien für sich 
zu gewinnen. Im „Menon“ und im „Kra- 
tylos“ bekenne sich Platon zum ersten 
Male zu der neuen Philosophie, die 
erst während der Reise, unter dem Ein¬ 


fluß seiner pythagoreischen Freunde, 
zur Reife gekommen war: Unsterblich¬ 
keit der Seele, Anamnesis, Ideenlehre. 
Der „Menon“ sei gewissermaßen das 
Antrittsprogramm seiner Lehrtätigkeit 
in der Akademie, „Euthydem“ und 
„Kratylos“ Abrechnung mit falschen 
Forschungsmethoden, an deren Stelle 
er seine Dialektik setzen will. 

Platon ging nun an die Ausarbeitung 
seines großen Hauptwerkes über den 
Staat, in dem er durch seine Philo¬ 
sophie die Erziehung und durch die 
Erziehung Staat und Gesellschaft zu 
reformieren unternimmt. In diesem 
Werke wurde zwar Sokrates als Ge¬ 
sprächsleiter beibehalten, aber es ver¬ 
schwand hier notwendig jede Ähnlich¬ 
keit mit den wirklichen Zügen des So¬ 
krates, der nun die Lehren Platons vor¬ 
trug. Darum wollte Platon zuvor 
noch, gewissermaßen zum Abschied, 
ein verklärendes Vollbild seines 
Lehrers geben, das wahrste und 
treueste Porträt des Sokrates schaffen 
und daneben doch diesem selben So¬ 
krates seine eigensten Gedanken in den 
Mund legen. Dies geschieht in zwei 
dem „Staat“ vorausgeschickten Dialo¬ 
gen, „Phaidon“ und „Symposion“, die 
sich zueinander verhalten wie Tra¬ 
gödie und Komödie und, auf gegen¬ 
seitige Ergänzung angelegt, ein Voll¬ 
bild des Sokrates zustande bringen. 
„Eoce quomodo moritur iustus“ zeigt 
der „Phaidon“. Im „Symposion“ sehen 
wir, wie der Weise als Mensch unter 
Menschen zu leben versteht. So findet 
Wilamowitz den hauptsächlichen Da¬ 
seinsgrund auch noch dieser Haupt¬ 
werke der Reifezeit in der persönlichen 
und künstlerischen, nicht in der philo¬ 
sophischen Absicht. Daß der „Phai¬ 
don" auch geschrieben ist, um die 
Unsterblichkeit der Seele wissenschaft¬ 
lich zu beweisen, will er natürlich nicht 


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bestreiten. Aber er betont mehr, daß 
durch die Unsterblichkeitsbeweise der 
„Phaidon“ ein Buch der Erbauung und 
des Trostes auch für Leser, die eine 
andere Religion oder Philosophie be¬ 
kannten, geworden ist, als daß hier 
ein Grundpfeiler der platonischen Lehre 
errichtet wird. Vom „Symposion“ sagt 
er: „Philosophie ist nicht wesentlich 
anders darin als in Schillers oder Höl¬ 
derlins Gedichten.“ Platon macht von 
der Freiheit Gebrauch, in dieser Dich¬ 
tung Gefühle und Ahnungen laut 
werden zu lassen, für die in den wis¬ 
senschaftlichen Debatten kein Raum ist; 
aber Spiel bleibt auch dies, denn es 
fehlt die ernste Wissenschaft mit ihrer 
Dialektik. Wichtig ist namentlich, 
daß Wilamowitz auch in den Lehren, 
die Sokrates von Diotima gehört ha¬ 
ben will, nur ein Spiel mit Ahnungen 
und Gefühlen findet, hinter dem keine 
ernsthafte wissenschaftliche Überzeu¬ 
gung Platons steckt. In dem Exkurs 
„Diotima“ im zweiten Bande wird dies 
genauer ausgeführt. Es ist unbestreit¬ 
bar, daß Diotimas Vortrag über den 
philosophischen Eros nicht die Form 
dialektischer Überführung hat, die dem 
Platon als die allein streng wissen¬ 
schaftliche gilt, ferner daß Diotima, in¬ 
dem sie den Eros als geistigen Zeu¬ 
gungstrieb darstellt, sich einer Bil¬ 
dersprache bedient, die seelische Er¬ 
lebnisse durch Analogien aus dem phy¬ 
sischen Leben veranschaulicht und daß 
man sich dieser Bildlichkeit immer be¬ 
wußt bleiben muß. Dennoch bildet m.E. 
die Erotik einen unentbehrlichen Be¬ 
standteil der platonischen Philosophie. 
Es ist ein Beweis der philosophischen 
Größe Platons, daß er, obgleich vom 
sokratischen Intellektualismus ausge¬ 
gangen, bei der Bestimmung des We¬ 
sens und der Weltstellung der Seele 
nicht nur ihre Erkenntnistätigkeit, son- 


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dem auch ihr Begehren und Wollen 
berücksichtigt. Der Eros im weitesten 
Sinne ist nichts anderes als die Seele 
selbst als begehrendes und wollendes 
Wesen. Wie der Dämon Eros zwischen 
Menschen und Göttern, zwischen der 
vergänglichen und der ewigen Welt, 
aus jener zu dieser emporstrebend die 
Brücke schlägt, so hat auch die Seele 
selbst in der platonischen Philosophie 
eine Mittelstellung zwischen beiden 
Welten. Mit ihren Wurzeln tief einge¬ 
senkt in die Sinnlichkeit des leiblichen 
Lebens, reckt sie ihren Wipfel empor 
in die Sphäre des Geistes und der Ver¬ 
nunft. Der Stufenleiter Wahrnehmung, 
Vorstellung, Wissen, die sie im Erken¬ 
nen durchläuft, entspricht eine ähn¬ 
liche Stufenleiter des Begehrens. In sei¬ 
nen niedrigsten wie in seinen höchsten 
Formen ist der Eros immer ein und 
derselbe, denn er kann nie etwas an¬ 
deres als das Gute und Schöne wol¬ 
len. Aber dieses stellt sich je nach der 
Entwicklungsstufe der Seele und des 
Eros in trüberen oder reineren Formen 
dar. Unmöglich kann sich der Eros der 
Seele mit einer niederen Erscheinungs¬ 
form des Guten und Schönen dauernd 
zufriedengeben. Er treibt die Seele zu 
immer höheren Stufen desselben empor, 
indem sie sich immer vollständiger und 
deutlicher der einst geschauten Idee 
erinnert. Diese auf Beobachtung eige¬ 
nen und fremden Seelenlebens, nicht 
auf bloßem Ahnen und «Fühlen be¬ 
ruhende Schilderung des menschlichen 
Begehrens und Wollens hat, obgleich 
in dichterischer Form vorgetragen, 
einen großen wissenschaftlichen Wahr¬ 
heitsgehalt und eine große Bedeutung 
für die platonische Philosophie. Es 
würde zu viel Raum beanspruchen, 
wenn ich durch Vergleichung mit an¬ 
deren Schriften herausschälen wollte, 
was in dieser Darstellung als Platons 


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Hansv. Arnim, Die Platonbiographie Ulrichs v. Wilamowitz 


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ernsthafte wissenschaftliche Überzeu¬ 
gung gelten muß. Ich kann hier nur 
andeuten, daß Wilamowitz der philo¬ 
sophischen Bedeutung dieser Stelle m. 
E. nicht ganz gerecht wird. Im besonde¬ 
ren möchte ich seiner Ansicht entge¬ 
gentreten, die er nicht nur hier, son¬ 
dern auch in der Erklärung des sech¬ 
sten und siebenten Buches der „Repu¬ 
blik" verficht: nach Platons eigener Auf¬ 
fassung könne man auf dem Wege der 
Wissenschaft hoch und immer höher 
steigen, aber niemals bis zu ihrem 
Ziele, der Anschauung der Idee des 
Guten und Schönen, und wenn wir an 
der Grenze der Wissenschaft angelangt 
sind, könne uns zu diesem jenseits 
ihrer Grenze gelegenen Ziele nur der 
Fittich der Poesie und musischer Wahn¬ 
sinn emportragen. Ich finde weder in 
der eben besprochenen Stelle des „Sym¬ 
posion“ noch in der Partie des „Staa¬ 
tes“, die von der Idee des Guten han¬ 
delt, einen Beweis dafür, daß der letzte 
Schritt zu ihr auf andere Weise getan 
werde als die früheren: vielmehr besteht 
er, ebenso wie jene, in dem dialekti¬ 
schen Zusammenschauen des Einen im 
Vielen, welches Wiedererinnerung ist. 
Wenn Platon sagt, daß das Gute noch 
jenseits des Wissens und der Wahrheit, 
des Denkens und des Seins liegt, so will 
er es damit nur als eine Wesenheit von 
noch höherer Dignität und noch größe¬ 
rer Ursprünglichkeit als Wissen und 
Wahrheit bezeichnen, nicht aber als 
etwas, das niemals Gegenstand eines 
Denkens und Wissens werden kann. 
Hätte er gemeint, daß es nur im „gött¬ 
lichen Wahnsinn“ erfaßt werden könnte, 
dann hätte er nicht die Aneignung dieses 
Lehrgegenstandes als unentbehrlich für 
die Staatslenker und als höchstes Ziel 
ihrer gesamten Erziehung hinstellen 
können. Denn es ist kein ursächlicher 
Zusammenhang denkbar zwischen der 


durch den ganzen Bildungsgang er¬ 
worbenen dialektischen Fähigkeit und 
einer göttlichen Inspiration, die etwas 
ganz anderes ist als dialektische Syn¬ 
opsis. 

Der „Phaidros“ ist, nach Wilamo¬ 
witz, unmittelbar nach dem „Staat“ ge¬ 
schrieben, nicht als philosophische Lehr¬ 
schrift, sondern aus reiner Freude am 
künstlerischen Schaffen, aus einer be¬ 
sonderen Stimmung heraus, die Wi¬ 
lamowitz durch die Kapitelüberschrift 
„Ein glücklicher Sommertag“ andeu¬ 
tet und aus der Nachempfindung des 
so mannigfaltige Bestandteile enthal¬ 
tenden und in der Stimmung doch ein¬ 
heitlichen Werkes zu schildern sucht. 
Selbstbeobachtung des eigenen dichte¬ 
rischen Schaffenstriebes, der im Wi¬ 
derspruch mit seiner Verwerfung al¬ 
ler mimetischen Poesie in seinem See¬ 
lenleben und sogar in seiner Philo¬ 
sophie von jeher eine so große Rolle 
gespielt hatte, Naturstimmung und ero¬ 
tische Stimmungen im Verkehr mit sei¬ 
nen Schülern — „all dies, was in sei¬ 
ner Seele vorhanden war, schoß in 
einem glücklichen Moment in eins zu¬ 
sammen, in ein Gefühl zugleich und 
ein Wissen. Das mußte er sich von der 
Seele schreiben, und so entstand das 
neue Werk.“ Diese Ansicht über die 
Entstehung des „Phaidros“, die ihn un¬ 
gewollt der Seele des Verfassers ent¬ 
strömen läßt und ihn selbst zu einem 
Exempel der in ihm gegebenen Schil¬ 
derung dichterischen Schaffens macht, 
stimmt, ich muß es bekennen, nicht zu 
dem Eindruck, den mir dieses Werk 
macht. Ich glaube eher bewußten 
Kunstverstand und kluge Berechnung 
in seiner Anlage zu entdecken. Die 
Lobrede auf den Eros, die zu den im 
„Symposion“ enthaltenen eine weitere 
nachträgt und die Rede der Diotima 
dort an Glanz der Darstellung und an 


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Hans v. Arnim, Die Platonbiographie Ulrichs v. Wilamowitz 


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Reichtum und Tiefe der Gedanken noch 
überbietet, wird im Dialog als Para¬ 
digma einer höchsten Rhetorik be¬ 
nützt, die dem Philosophen Vorbehal¬ 
ten ist, und in den Zusammenhang 
einer Erörterung des Verhältnisses zwi¬ 
schen Philosophie einerseits, Rede¬ 
kunst und Schriftstellerei andererseits 
hineingestellt. Aber es ist sehr unwahr¬ 
scheinlich, daß sie zu diesem Zweck ur¬ 
sprünglich verfaßt ist. Sie dürfte aus 
dem Bedürfnis Platons entstanden sein, 
was er in der Diotimarede versucht 
hatte, nunmehr auf Grund der im 
„Phaidon“ und „Staat“ erreichten wei¬ 
teren Ausgestaltung seiner Seelen- und 
Ideenlehre vollkommener zu leisten. Die 
Palinodie ist m. E. der älteste Be¬ 
standteil des „Phaidros“ und war ur¬ 
sprünglich um ihrer selbst willen da. 
Da sich aber Platon auch diesmal, wie 
beim Epitaphios, nicht entschließen 
konnte, auf die Kunstform des sokrati- 
schen Dialogs zu verzichten und die 
Rede ohne Umschweife als Rede zu 
veröffentlichen, so hat er eine drama¬ 
tische Handlung und Situation erfun¬ 
den, die es ermöglichte, dem Sokrates 
diese seinem Wesen fremde Rede in 
den Mund zu legen und daneben noch 
auszudrücken, in welchem Gegensatz 
zugleich und inneren Zusammenhang 
eine solche mythische und rhetorische 
Darstellung mit seiner, Platons, Philo¬ 
sophie stünde. Er suchte sich als Ge¬ 
genstück zu seiner Rede eine densel¬ 
ben Gegenstand behandelnde eines an¬ 
gesehenen Vertreters der reinen, von 
Philosophie ganz unberührten Rede¬ 
kunst, den Erotikos des Lysias. Da er 
sowohl die formal-logische wie die in¬ 
haltliche Überlegenheit der philosophi¬ 
schen über die unphilosophische Rhe¬ 
torik veranschaulichen wollte, schob er 
zwischen beide Reden noch eine dritte 
(die erste des Sokrates) ein, die mit 


der lysianischen zwar den Grundge¬ 
danken teilt, diesen Grundgedanken 
aber, statt wie Lysias in beliebiger 
Folge Enthymeme aneinanderzureihen, 
nach einer streng logischen Disposi¬ 
tion entwickelt. Um die Palinodie hal¬ 
ten zu können, mußte Sokrates seiner 
Nüchternheit entrückt und von den 
Nymphen begeistert werden. Daraus er¬ 
gab sich die Szenerie, der Spaziergang 
in die Landschaft. Daß Platon selbst 
durch Naturstiminung oder auch durch 
erotische Stimmungen in den Seelen¬ 
zustand versetzt wurde, in dem ihm 
solche Reden gelangen, liegt darin 
nicht. Der Eros als ein unbewußter 
Faktor der philosophischen Erkenntnis 
hat auch in Platons Seele gewirkt, aber 
daß auch der von den Musen stam¬ 
mende Wahnsinn, von dem er 245 a 
spricht und der von dem erotischen 
ganz verschieden ist, ihn beim Schaf¬ 
fen eines Werkes wie des „Phaidros“ 
beseelt habe, hat er m. E. nicht sagen 
wollen. 

Der „Phaidros“ ist das letzte Werk 
Platons, das sich der vorwiegend per¬ 
sönlichen und literarisch-ästhetischen 
Betrachtungsweise des Biographen fügt. 
„Parmenides“ und „Theaetet“, die dem 
„Phaidros“ zeitlich nahestehen, behan¬ 
delt Wilamowitz in dem Kapitel „Nur 
noch Lehrer“, obgleich er wenigstens 
im ersten Teil des „Theaetet“ noch 
einen letzten Anlauf zu künstlerischer 
Gestaltung findet, der freilich im zwei¬ 
ten Teil versage, weil Platon das Werk 
wegen der bevorstehenden zweiten sizi- 
lischen Reise (Frühjahr 366) eilfertig 
zu Ende geführt habe. Unter den Al- 
terswerken,„Sophistes“, „Politikos“, „Ti- 
maios“, „Philebos“, „Gesetzen“, kann 
keines, so groß auch hier die auf den Stil 
verwendete Sorgfalt sein mag, haupt¬ 
sächlich und in erster Linie aus dichte¬ 
rischem Schaffensbedürfnis und persön- 


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Philipp Aronstein, George Meredith in seinen Briefen 


lichem Erleben des Verfassers abge¬ 
leitet werden. Der „Theaetet" enthält 
eine Episode, in der uns der Philo¬ 
soph, mehr als an irgendeiner ande¬ 
ren Stelle seiner Werke, einen Einblick 
in sein eigenes Innere verstattet. Der 
„Politikos“ enthält einen Mythos, und 
mythisch in gewissem Sinne ist der 
ganze „Timaios“. Trotzdem sind alle 
diese Schriften zweifellos Lehrschrif¬ 
ten eines Philosophen, auch für Wi- 
lamowitz. — 

Die Absicht dieser Zeilen konnte nur 
sein, die Grundauffassung zu kenn¬ 
zeichnen, von der Wilamowitz’ Platon¬ 
buch getragen ist, und zu dieser Stel¬ 
lung zu nehmen, nicht aber das Werk 
als Ganzes zu würdigen und alles Neue, 
Wertvolle und Schöne, das es enthält, 
anzuführen. Einer solchen Anpreisung 
bedarf ein Werk nicht, dem schon der 
Name seines Verfassers den Weg in die 
weitesten Leserkreise bahnt und das 
schon vor seinem Erscheinen mit Span¬ 
nung erwartet wurde. Noch nie hat die¬ 
sen herrlichen Stoff ein Gelehrter bear¬ 


beitet, der dazu eine größere Kenntnis 
des gesamten griechischen Altertums 
und vollkommenere Beherrschung der 
Methoden geschichtlicher und philologi¬ 
scher Kritik mitbrachte und besser für 
die Aufgabe gerüstet war, den Menschen 
und Schriftsteller Platon im Zusammen¬ 
hang seiner Zeit und seines Volkes le¬ 
bensvoll zu schildern. Auch wer vom 
rein philosophiegeschichtlichen Stand¬ 
punkt aus Platon betrachtet, kann die 
Kenntnis der Umwelt, in der er gelebt 
hat, nicht entbehren. Von der sprach¬ 
lichen, schriftstellerischen und dramati¬ 
schen Kunst Platons wird der des Grie¬ 
chischen unkundige Leser aus den ein¬ 
gelegten Ubersetzungsproben einen Ein¬ 
druck gewinnen. Der strenge Philolog 
wird die reichlichen Beiträge zur Kritik 
des Textes im zweiten Bande willkom¬ 
men heißen, und fast alle Zweige der 
Platonforschung werden aus der Nöti¬ 
gung, sich mit diesem fertigen Gesamt¬ 
bild Platons irgendwie auseinanderzu¬ 
setzen, frische Anregungen schöpfen. 


George Meredith in seinen Briefen. 

Von Philipp Aronstein. 


Der englische Kritiker Matthew Ar¬ 
nold sagt in einem seiner Essays, daß 
die große Blüte der englischen Poesie 
am Anfänge des 19. Jahrhunderts, die 
Dichtung von Byron, Wordsworth, Shel¬ 
ley und Keats, deshalb nicht eine ge¬ 
nügende Deutung des Lebens gebe, weil 
sie nicht genug gewußt habe, weil es 
ihr und ihren Vertretern an umfassen¬ 
der Bildung gefehlt habe. Dieser Man¬ 
gel haftet der ganzen englischen Lite¬ 
ratur von Shakespeare bis auf unsere 
Zeit an. Sie hat die Fehler ihrer Vor¬ 
züge. Ist sie, mit der deutschen Litera¬ 
tur verglichen, auf der einen Seite ur¬ 


sprünglicher, unmittelbarer, den Quel¬ 
len des Lebens näher, so ist sie andrer¬ 
seits in ihrem Ausblick beschränkter, 
diesseitiger, weniger nachdenklich. Es 
fehlt den englischen Dichtern an Welt¬ 
anschauung, ein Wort, für das ja auch 
die englische Sprache keinen entspre¬ 
chenden Ausdruck hat Deshalb enttäu¬ 
schen auch die Briefsammlungen der 
meisten englischen Schriftsteller. Das 
gilt z. B. von den Briefen Byrons wie 
denen von Keats, von denen Macaulays 
wie von Dickens. Sie sind unschätzbar 
als autobiographische Dokumente, aber 
hierüber geht ihre Bedeutung nicht hin- 


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Philipp Aronstein, George Meredith in seinen Briefen 


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aus. Ein ästhetisches Erbauungsbuch wie 
etwa den Briefwechsel zwischen Goethe 
und Schiller oder die Briefe Wilhelm 
von Humboldts wird man in der eng¬ 
lischen Literatur vergeblich suchen. 

Eine Ausnahme hiervon bilden die 
Briefe von George Meredith, die im 
Jahre 1912, also drei Jahre nach dem 
Tode des Dichters, von seinem Sohne 
herausgegeben worden sind. Die Samm¬ 
lung umfaßt zwei Bände, ist aber nach 
dem Eingeständnisse des Herausgebers 
nichts weniger als vollständig. Mere¬ 
dith besaß einen sehr großen Freun¬ 
deskreis, mit dem er, da er einsam 
auf dem Lande lebte, brieflichen Ver¬ 
kehr unterhielt. Derselbe umfaßt eine 
ganze Reihe bedeutender Personen, 
Dichter und Schriftsteller, wie Dante 
Gabriel Rossetti, Algernon Swinburne, 
Robert Louis Stevenson, Thomas 
Hardy, W. E. Henley, James Thomson 
u. a., Staatsmänner und Politiker wie 
John Morley und Lord Haldane, Ge¬ 
lehrte wie Leslie Stephen und Sir Fre- 
derick Pollock, Journalisten wie Frede- 
rick Greenwood, Fr. C.Burnand, Militärs 
wie den Admiral Maxse und den Gene¬ 
ral Brackenbury u.v.a. Manche von die¬ 
sen Männern wie Rossetti und Lord Hal¬ 
dane erscheinen überhaupt nicht in die¬ 
ser Sammlung, manche wie Swinburne 
nur selten, und von späteren Veröffent¬ 
lichungen dürfen wir wohl noch man¬ 
chen wertvollen Nachtrag erwarten. 
Aber so, wie sie sind, geben uns die 
Briefe ein Bild von dem Leben und den 
Anschauungen eines Mannes, mit dem 
sich zu beschäftigen eine Erbauung und 
eine Erhöhung ist; eines wahrhaften 
Weisen, dessen Leben, Schaffen und 
Denken eine harmonische, in sich ge¬ 
schlossene Einheit bilden. 

Merediths Leben war das eines 
Schriftstellers. Seine Erfahrungen und 
Erlebnisse waren innerlicher, geistiger 


Art. Aber er hat doch in seinem langen 
Leben Leid und Freude reichlich erfah¬ 
ren. Als die Briefe regelmäßig beginnen, 
etwa im Jahre 1861 — einige wenige 
gehen ihnen voran—, lebte Meredith mit 
seinem kleinen Sohne in einem Land¬ 
häuschen bei dem Dorfe Esher in Sur- 
rey, seit 1858 getrennt von seiner Frau, 
mit der er seit 1849 verheiratet gewesen 
war. Er war damals 33 Jahre alt und 
stand auf der Höhe seiner Kraft. Aber 
sein Name war noch sehr wenig be¬ 
kannt. Er hatte einen Band Gedichte, 
mehrere kleine Prosaerzählungen und 
zwei große Romane veröffentlicht, aber 
der Erfolg kam noch nicht. Die Kritik 
zeigte sich im allgemeinen abweisend 
und spröde, und auch das Publikum 
fand lange keinen Geschmack an seinen 
Schriften. Es gab Ausnahmen, und diese 
Ausnahmen sowohl unter den Kritikern 
als den Lesern gehörten den urteils¬ 
fähigsten Kreisen, denen der Schriftstel¬ 
ler, Dichter und Gelehrten und sonst 
durch Geist und Stellung hervorragen¬ 
den Männern an. Das hinderte aber 
nicht, daß Meredith gezwungen war, ne¬ 
ben der künstlerischen Tätigkeit für den 
Unterhalt zu arbeiten. Er schrieb für 
Zeitungen und war literarischer Berater, 
sog. „Leser“ der großen Verlagsfirma 
Chapman & Hall, als welcher er meh¬ 
rere Tage in der Woche in London ar¬ 
beiten mußte. Es war und blieb noch 
jahrzehntelang sein Schicksal, zu sehen, 
wie Zeitgenossen, denen er sich mehr 
als gewachsen fühlte, sich im Ruhme 
sonnten, während er im Schatten blieb, 
wie jüngere Leute, die er selbst geför¬ 
dert hatte, und die zu ihm als Meister 
emporschauten, Swinburne, Hardy, Ste¬ 
venson, Henley u. a., im Triumph die 
Straße des Ruhmes zogen, während er 
selbst „über harte, gefrorene, steinige 
Wege mühsam vorwärts ging“. 

Nie aber verlor er deshalb den Mut. 


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Philipp Aronstein, George Meredith in seinen Briefen 


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Wohl schreibt er einmal an eine Freun¬ 
din (1. Dezember 1863): „Der Kampf ist 
hart, wenn man ihn ganz allein kämpft. 
Und mir von Zeit zu Zeit wache ich au« 
einer dunkleren Welt auf.“ Aber er 
kämpft ihn tapfer für sich und seinen 
Sohn Arthur, an dem er mit innigster 
Liebe hängt und für den er mit rühren¬ 
der Hingebung sorgt. Neuer Sonnen¬ 
schein kommt in sein Leben durch eine 
starke Liebe, die die Grundlage einer 
zweiten und diesmal sehr glücklichen 
Verbindung wird, seiner im Jahre 1864 
geschlossenen Ehe mit Marie Vulliamy, 
einer jungen Dame französischer Her¬ 
kunft. Mächtig ergreift die Leiden¬ 
schaft den 36 jährigen Mann. „Wenn ihre 
Hand in der meinigen ruht, so scheint 
die Welt den Atem zu halten und die 
Sonne still zu stehen. Ich glaube die 
Ewigkeit zu fassen. Ich liebe sie“, schreibt 
er an seinen Freund Maxse (8. Juni 1864). 
Bis zum September 1885, wo der Tod 
ihm die Gattin entriß, lebte Meredith in 
glücklicher Ehe, der zwei Kinder ent¬ 
sprossen. Zwar blieb er auch jetzt nicht 
von Leid verschont. Sein ältester Sohn 
Arthur, der sich nach seiner neuen Ehe 
ihm entfremdet hatte, starb im Jahre 
1890, aber an seinen beiden Kindern aus 
zweiter Ehe, einem Sohn, dem Heraus¬ 
geber dieser Briefe, und einer Tochter, 
hatte er alle Freude und genoß als heite¬ 
rer Großvater noch ihr Familienglück in 
vollem Maße mit. 

Seinen dauernden Wohnsitz hatte er 
nach einigen Hin- und Herwanderungen 
in einem Häuschen, das er Flint Cottage 
nannte, in Boxhill bei Dorking in Sur- 
rey genommen, etwa 23 engl. Meilen 
südwestlich von London in hügeliger, 
bewaldeter Landschaft, die reich an Na¬ 
turschönheiten ist. Hier lebte er, abge¬ 
sehen von seinen beruflichen Reisen 
nach London, im Kreise der Familie 
dem Genüsse der Natur, dem stillen Den- 

Intemationale Monatsschrift 


ken und Schaffen und der Pflege der 
Freundschaft mit Gleichgesinnten, für 
die sein gastfreies Haus ein Mittelpunkt 
war. In seinen früheren Jahren, etwa bis 
1866, unterbrach er die Arbeit durch 
große Reisen in den Alpen, die er zu 
Fuß durchwanderte, oft 50 km täglich 
zurücklegend. Später durchwanderte er 
die Heimat und erhielt sich in beständi¬ 
gem innigen Verkehr mit der Mutter 
Erde und durch athletische Übungen, 
besonders das Schwingen, Werfen und 
Auffangen eines schweren Hammers, die 
Kraft und Frische des Schaffens. Etwa 
von 1879 an war sein Haus der Treff¬ 
punkt der Gesellschaft der „Sonntags- 
Landstreicher“, einer Gesellschaft von 
hervorragenden Gelehrten und Schrift¬ 
stellern, die am Sonntag lange Fußtou¬ 
ren machten, um so der Öde des purita¬ 
nischen Londoner „Sabbats“ zu entgehen 
und zugleich gegen den konventionel¬ 
len Zwang dieser Einrichtung zu pro¬ 
testieren. Der Präsident dieser Vereini¬ 
gung war einer der intimsten Freunde 
Merediths, Leslie Stephen, ein freiden¬ 
kender philosophischer Schriftsteller 
und tüchtiger Alpinist, der Nachwelt 
hauptsächlich bekannt als Begründer 
und Herausgeber des Dictionary of Na¬ 
tional Biography. Bei uns würde man 
so etwas einen „Wanderklub“ nennen, 
aber im Englischen .existiert der Begriff 
des „Wanderns“ mit all den reichen 
poetischen Assoziationen, die sich daran 
knüpfen, nicht, weil der Engländer eben 
nicht „wandert“. Das entsprechende 
Wort „to wander “hat bei dem praktischen 
Volke immer die Nebenbedeutung des 
Ziel- und Zwecklosen. Meredith war aber 
ein Wanderfreund im deutschen Sinne 
und hierin, wie in anderen Dingen, na¬ 
mentlich in seinem Verhältnis zum eng¬ 
lischen Kirchentum, das er sehr entschie¬ 
den ablehnte, durchaus unkonventionell, 
ein stiller und einsamer Durchdenker, 

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Philipp Aronstein, George Meredith in seinen Briefen 30 


der sich sein eigenes Verhältnis zur 
Welt, seine eigene Weltanschauung 
schuf, nach dieser lebte und die Welt 
in seinen Dichtungen darstellte. Um noch 
ungestörter zu sein, erbaute er sich in 
späteren Jahren oberhalb seines Hauses 
am Waldesrande ein kleines, aus zwei 
Zimmern bestehendes Schweizer häus- 
chen, sein „chalet“, wie er es nannte, 
und liebte es, sich als den „Einsiedler 
des chalet“ zu bezeichnen. Da klopften 
die Zweige ihm ans Fenster, und die 
Drossel sang ihm fröhlichen Glauben 
ins Herz. Meredith hat ein hohes Alter 
erreicht. Er starb im 82. Jahre, frisch an 
Geist, wenn auch im letzten Jahrzehnt 
gelähmt und seit 1902, wo seine letzte 
Gedichtsammlung erschien, außer kur¬ 
zen Gelegenheitsversen nichts mehr pro¬ 
duzierend. Aber seine Briefe führen uns 
bis an die Schwelle des Todes, den er, 
wie es das Schicksal des Alters ist, an 
vielen Freunden und Lieben durchge¬ 
kostet und innerlich erlebt hatte. Ein 
schönes Abendrot liegt über diesen letz¬ 
ten Äußerungen eines alten Weisen, 
dessen Philosophie heitere und mutige 
Hinnahme des Lebens und der Wirk¬ 
lichkeit, fröhlicher Mut und Optimismus 
und Abweisung aller Askese, aller Welt¬ 
verneinung ist. Er ist ein echter gläubi¬ 
ger Naturfrommer, für den der Tod nur 
ein Eingehen in das Ganze ist. Unsere 
Lieben leben weiter mit uns, noch enger 
als damals, als wir ihre Stimmen hörten 
und sie sahen. Wir selbst leben fort in 
ihrer Erinnerung und in dem. was wir 
geschaffen haben. Der Tod ist daher 
kein Sieg über uns. „Ich werde dem Tod 
ins Ohr lachen, denn das ist was unser 
Schöpfer an uns schätzt" (9. November 
1905). Bis zuletzt bewahrte er seine Hei¬ 
terkeit. „Ich muß mich auf einen Arm 
stützen, wenn ich gehen will, und bin 
gezwungen, mir Sätze mehrmals wie¬ 
derholen zu lassen. So ist mein Zustand 


im hohen Alter. Aber meine Lebens¬ 
religion heißt noch immer heiter sein. 
Wenn ich auch wenig von meinen Freun¬ 
den sehe, so lebe ich doch mit ihnen", 
schreibt er wenige Monate vor seinem 
Tode. Sein letzter Brief galt dem Tode 
eines seiner frühesten und liebsten 
Freunde, des Dichters Algernon Charles 
Swinburne, der ihm etwa einen Monat 
im Tode voranging. Am 16. Mai 1909 
entschlief er selbst und wurde neben sei¬ 
ner Gattin in Dorking beigesetzt. — 
Merediths Briefe umfassen einen gro¬ 
ßen Reichtum an Tönen. Harmloser 
Scherz und fröhlicher Humor ist darin, 
der sich am Kleinsten freut und mit den 
Freunden und über sie lacht und plau¬ 
dert, die eigene Person am wenigsten 
schonend; und dann kommen Betrach¬ 
tungen über die letzten und tiefsten Fra¬ 
gen des Daseins, Bekenntnisse aus den 
Tiefen einer starken Seele, die sich 
„durch Blut und Tränen“ zur Klarheit 
durchgerungen hat. Und hier wie dort, 
im Scherz wie im tiefsten Ernst, ist er 
ganz ohne Pose, natürlich, aufrichtig ge¬ 
gen sich und andere. Niemals finden wir 
Affektation bei ihm, vielmehr eine ge¬ 
wisse Scheu zu posieren, eine übertrie¬ 
bene Bescheidenheit und Selbstverklei¬ 
nerung, die zum Teil wohl einem Auf¬ 
bäumen seines Stolzes gegen zu lange 
Vernachlässigung durch das englische 
Publikum entspringen. So spricht er na¬ 
mentlich in seinen jüngeren Jahren gern 
scherzweise von seinen Gedichten, in die 
er doch sein Tiefstes und Bestes hin¬ 
eingelegt hat, und rät später begeister¬ 
ten Jüngern und Verehrern immer ab, 
sich literarisch mit ihm zu beschäftigen, 
so sehr er sich auch über jede echte An¬ 
erkennungfreut. In dieser inneren Wahr¬ 
haftigkeit und Aufrichtigkeit gegen sich 
selbst liegt der große Reiz der Briefe, 
die uns nie durch einen falschen Ton 
abstoßen; sie ist der Grund jenes Ge- 


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Philipp Aronstein, George Meredith in seinen Briefen 


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1 fühls des Behagens, das sie auslösen, 
veil sie frei geben, was sie geben, das 
Größtp wie das Kleinste. Denn wir be¬ 
finden uns hier nicht bloß in der Ge¬ 
sellschaft eines aufrichtigen und durch¬ 
aus wahrhaftigen, sondern besonders 
eines außerordentlich freien Geistes, des¬ 
sen Freiheit doch niemals zur Frechheit, 
zur Zügellosigkeit wird. Frei steht er be¬ 
sonders dem mächtigen religiösen Kon- 
ventionalismus seines Landes gegen¬ 
über. „Unser Puritanismus“, schreibt er 
einmal, „beginnt sogar die englische 
V/elt zu ermüden“ (März 1864). Gern 
spottet er über die Beschränktheit der 
Geistlichkeit. Ein Geistlicher der Nach¬ 
barschaft fragt ihn gelegentlich, ob er 
glaube, daß es wahr sei, daß ein Por¬ 
trät von Jesus Christus existiere. Er ver¬ 
neint dies, meint aber, man sage, es gebe 
ein authentisches Porträt der Jungfrau 
Maria, dem man allerdings wohl auch 
keinen vollen Glauben schenken könne. 
„Er war," so fügt er hinzu, ,um mich 
eines ihrer Unterschiede zu bedienen, 
hochkirchlich. Man kann sehr hoch sein 
und doch nicht weit sehen.“ Ein anderes 


Mal macht er sich über einen Bischof 
lustig, der einen Brief in der „Times" 
veröffentlicht hat, in dem er versichert, 
Gott erhöre unser Gebet wie der Arzt 
unsere Bitte um Hilfe. „Der Beweis einer 
geistigen Erwiderung durch das Bei¬ 
spiel einer materiellen ist prächtig bi¬ 
schöflich“ fügt er hinzu. Uber Geistlich¬ 
keit, Kirche und kirchlichen Betrieb fin¬ 
det sich noch mancherlei Ähnliches in 
seinen Briefen. Der Puritanismus, der in 
England noch immer die gesamte Le¬ 
bensauffassung beherrscht, ist deshalb 
such für alle freien Geister Englands 
i^on Shelley bis zu Meredith und Swin- 
>urne der Feind gewesen. Andererseits 
»t doch Meredith von jedem negativen 
Radikalismus weit entfernt Er verteidigt 
Ife zivilisatorische Bedeutung des Chri- 


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stentums in einem Briefe an seinen radi¬ 
kalen Freund Maxse. Auch seinen Sohn 
Arthur ermahnt er, an der christlichen 
Lehre festzuhalten, wenn er auch im 
christlichen Dogma nur „ein Beispiel der 
noch herrschenden Armut des mensch¬ 
lichen Geistes“ sieht, und er empfiehlt 
ihm das Gebet zu der unsichtbaren Gott¬ 
heit, nicht das Gebet um weltliche Gü¬ 
ter, das schlimmer als nutzlos sei, son¬ 
dern das Gebet um Seelenstärke (25. 

April 1872). 

Dieselbe Freiheit gegenüber der herr¬ 
schenden Meinung bewahrt er auch in 
seinem dichterischen Schaffen. Er paßt 
sich nicht „dem Geiste der britischen 
Matrone und des näselnden Moralisten, 
der in England so mächtig ist“, an, wenn 
er auch literarisch in den Bann getan 
wird als schlimmer als ein Freigeist und 
die Lesegesellschaften ihn ausschließen. 

„In der Kunst“, sagt er, „nehme ich nie 
Rücksicht auf das, was dem engen Geiste 
des Salons zulässig erscheint“ (20. De¬ 
zember 1861). So veröffentlicht er eine 
Gedichtsammlung nach der anderen, ob¬ 
gleich er sehr wohl weiß, daß Poesie, 
wie er sie schreibt, keine Marktware ist. 

„Die Bedingungen des Handels sind 
Verssammlungen ungünstig,“ schreibt er 
(19. August 1878), „die sich nicht zu 
Hochzeitsgeschenken für die zahllosen 
jungen Geistlichen und ihre Bräute eig¬ 
nen." „Ein Mann muß bei dem Lichte 
seines Gewissens arbeiten, wenn er 
etwas Lesenswertes hervorbringen will“, 
schreibt er an John Morley (22. Januar 
1870), und hiernach hat er gehandelt und 
schließlich doch, wenn auch erst nach 
50 Jahren, auch als Dichter den Wider¬ 
stand der stumpfen Welt besiegt. 

So frei von seiner Umgebung, so un¬ 
abhängig gegenüber Konvention und 
öffentlicher Meinung konnte nur ein 
Mann sein, der auf dem festen Boden 
und der hohen Warte einer festen Welt- 

2 * 

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PRINCETON UNIVERSITY 





39 


Philipp Aronstein, George Meredith in seinen Briefen 


anschauung stand. Meredith bezeichnet 
sich wohl einmal im Gespräch mit einem 
Geistlichen — er zieht die Geistlichen 
gern ein wenig auf — als einen „Agno¬ 
stiker" (19. März 1882). Aber das ist 
nur die negative Seite seiner Überzeu¬ 
gungen. Positiv ist er ein gläubiger, ja 
ein begeisterter Spiritualist. „Der 
Geist“, so schreibt er in der Neujahrs¬ 
nacht 1878 an John Morley, „umgibt uns 
überall, wie, wo und auf welche Weise, 
das weiß niemand. Aber in diesem Le¬ 
ben gibt es kein Leben außer im Geiste. 
Was wir sonst Leben nennen, ist nur 
ein Quälen und Verfallen (an aching 
and a rotilng)“ Dieser Gedanke findet 
sich in mannigfachen Formen in seinen 
Briefen. „Es gibt kein Leben als das des 
Geistes", schreibt er ein andermal. „Das 
Konkrete ist eigentlich das Schatten¬ 
hafte, doch liegt der Weg zum geisti¬ 
gen Leben in der vollständigen Entfal¬ 
tung des Geschöpfes, nicht in der Er¬ 
tötung seiner Leidenschaften. Eine Ver¬ 
letzung der Natur trägt nur dazu bei, 
sein Licht auszulöschen. Also zur Blüte 
des Geistes durch die gesunde Übung 
der Sinnei Das sind bloße Trivialitäten. 
Aber sie leiten zum Pfade der Weisheit“ 
(16. März 1888). Und an seinen intim¬ 
sten Freund, den Admiral Maxse, schreibt 
er einmal (3. August 1884): „Wir leben 
in dem, was wir getan haben, in der 
Idee: sie scheint mir der Urquell des Le¬ 
bens im Gegensatz zu dem des vergäng¬ 
lichen Blutes. Überall um mich her sehe 
ich, wie sehr die Idee herrscht, und darin 
schaue ich den Schöpfer, jenes ewige 
Leben, zu dem wir hinstreben, das nicht 
bewußt ist, wie unsere sinnlichen Emp¬ 
findungen es begehren, aber möglicher¬ 
weise erkennend... Das bewußte Stre¬ 
ben erregt das Glückseligkeitsgefühl nur, 
um es zu töten. Jenseits des Bewußt¬ 
seins gibt es vielleicht eine ewige Glück¬ 
seligkeit. Das sind keine bloßen Worte, 


sondern meine in Qualen erlebten 
danken, geboren aus blutigem Schwe 
des Geistes, und jetzt von mächti 
inneren Leben, das alles Wirkliche i 
nimmt." Und so erfüllt ihn schließ; 
eine tiefe Frömmigkeit, ein lebe 
Gottvertrauen. „Seien Sie sicher,“ sehn 
er am 16. Juli 1906, also in seinem 
Jahre, an eine Freundin, „daß der 
des Geistes zu jeder Zeit der Seele 
gänglich ist, die nach ihm begehrt, 
in uns sein würde, wenn wir unser 
rein halten wollten. Nur dürfen wir 
nicht bitten, zwischen uns und 
Gesetze zu treten. Die Bitte und 
Fehlschlag, indem keinerlei Antwort 
folgt, ist die Hauptquelle des allge 
nen Unglaubens.“ 

Unter den Gegenständen, die * 
Briefe behandeln, steht die Lite 
und besonders die englische Litera 
obenan. Meredith beschäftigt sich 
Unterschied von den meisten engli 
Dichtern viel mit literarischen Fra 
und Problemen. Er ist ein scharfer 
tiker seiner eigenen Kunst sowohl, 
der die Briefe eine Art laufenden K 
mentar bilden, als auch der Kunst 
ner Zeitgenossen. Unter ihnen s 
Tennyson damals an erster Stelle, 
war seit dem Erscheinen seiner Gedi 
Sammlung von 1842 der Liebling 
englischen Publikums, der dichteri 
Vertreter der herrschenden Kl 
wurde nach Wordsworths Tode 
Nachfolger als Poeta laureatus 
starb an Ehren reich im Jahre 1892 
Lord Tennyson. Er verdankt sei 
Ruhm einesteils seiner wunderl 
Herrschaft über Sprache und Metrik, 
einschmeichelnden Melodie seiner V 
und seiner echten Sangesgabe, ande 
seits aber auch seiner Fähigkeit 
Neigung, sich den Ideen und dem I 
schmack des Publikums anzupassen, 
große Erfolg seiner Dichtungen be 


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41 


Philipp Aronstein, George Meredith in seinen Briefen 


42 


zu nicht geringem Teile auch darauf, 
daß er die maßgebenden Kreise nicht vor 
den Kopf stößt, daß er seine Gedanken 
nicht durchdenkt, sondern, man möchte 
sagen, umdenkt, umbiegt, Kompromisse 
schließt mit den Vorurteilen und Ideen 
der Masse. Von seinen Werken, die in 
ihrer Zeit als dichterische Offenbarun¬ 
gen begrüßt wurden, wird wohl außer 
einigen lieblichen und tief empfundenen 
lyrischen Gedichten nur wenig bleiben. 
Merediths Urteil über Tennyson ist au¬ 
ßerordentlich scharf, aber nicht unge¬ 
recht. Er erkennt an, daß in ihm das 
Zeug zu einem großen Dichter steckt, 
bedauert aber, daß das Publikum ihn 
verdorben habe. Er spricht von seinen 
„schlappen, schmachtenden Fischern“ in 
Enoch Arden und wirft ihm vor, daß 
er „der verderbten Sentimentalität der 
Salons schmeichle“, er schreibt mit Be¬ 
zug auf die „Königsidyllen“ von seinen 
„Porzellanfigürchen“, die „nicht einen 
Hauch lebendigen Menschentums in sich 
haben“, von seiner gezierten Schreibart, 
seiner Affektiertheit und den morali¬ 
schen Gesinnungen der Geistlichen, der 
Moral der britischen Matrone und ihrer 
Tochter. „So redet er, so geht er einher, 
so näselt er, so erscheint er göttlich.“ 
„Das Zeug ist nicht Dichtung, sondern 
Dichterei... Der Mann hat die Wasch¬ 
leine der Musen erfaßt und sie mit Ju¬ 
welen behängt. — Dieser erste Dichter 
Englands ist 20 Jahre hinter seiner Zeit 
zurück... Ist nicht ein Duft verfluchter 
Heuchelei in all der lispelnden und 
wohlklingenden Reinheit der Idyllen?.. 
Aber es ist die Mode. Es gefällt den 
parfümierten Damen, es wird gekauft." 
Ein andermal spricht er von seinem 
..dandyartigen Geflöte“ usf. Und er trifft 
wohl den Kern des Mangels Tennysons, 
wenn er sagt: „Er hat viele geistige An¬ 
wandlungen, aber keine Philosophie.“ In 
der Tat hat Tennysons philosophische 


Dichtung, seine Versuche, das historische 
Christentum mit den Ergebnissen der 
Wissenschaft, namentlich mit der da¬ 
mals in England aufblühenden Entwick¬ 
lungslehre in Einklang zu bringen, etwas 
Dilettantisches, Schwächliches; es ist im 
Grunde eine verdünnte Kompromi߬ 
philosophie zum Gebrauche der schön¬ 
geistigen Salons und mußte einen 
Durchdenker und rücksichtslosen Wahr¬ 
heitskämpfer wie Meredith abstoßen. 

Wie er in seinem Urteil über Tennyson 
allein stand, so war er auch in der Mi¬ 
norität in seinem Eintreten für seinen 
Freund, den Dichter Algernon Swin- 
burne, als dieser im Jahre 1866 durch 
seine „Gedichte und Balladen" mit ihrem 
trotzigen Heidentum und der Heraus¬ 
forderung englischer Prüderie die mo¬ 
ralische Entrüstung des herrschenden 
Philistertums erregte. Swinburne war 
ein vornehmer und reicher Mann und 
lebte den Sturm nieder; er starb im 
Glanze dichterischen Ruhmes. Anders 
war es bei dem unglücklichen Dichter 
der „Stadt der furchtbaren Nacht“, Ja¬ 
mes Thomson, in dessen traurigem, 
an eigenen Leidenschaften, namentlich 
der des Trunkes, gescheitertem Leben die 
Freundschaft und warme Anerkennung 
Merediths einen der wenigen Lichtblicke 
bildet. — Von den übrigen seiner schrift- 
stellernden Zeitgenossen schätzte Mere¬ 
dith Carlyle am höchsten. Von ihm 
sagt er, daß er von allen seinen Zeit¬ 
genossen am meisten den Namen eines 
gottbegeisterten Schriftstellers verdiene: 
„er verkündet unverletzliches Gesetz, 
spricht aus den tiefen Quellen des Le¬ 
bens“ (2. Januar 1870). „Er stand immer 
in Gegenwart der ewigen Wahrheiten, 
von denen er spricht. Für die Flachheit 
bloßer literarischer Fähigkeit hatte er 
tiefe Verachtung. Der Geist des Prophe¬ 
ten war in ihm" (23. Februar 1882). Diese 
Bewunderung paart er allerdings mit 


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43 


Philipp Aronstein, George Meredith in seinen Briefen 


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scharfer ablehnender Kritik Carlyles als 
eines praktischen Politikers. „Wenn er 
zu unserer Alltäglichkeit herabsteigt und 
seine große geistige Weisheit auf die 
Gesetzgebung anwenden will, so ist er 
nicht scharfsinniger, nützlicher noch 
maßvoller als ein Blitz, der in einen 
Krämerladen einschlägt“ Mit Stolz er¬ 
zählt er, daß Frau Carlyle ihrem Manne 
aus seinen Schriften vorgelesen habe 
und er darauf gesagt habe, der Verfas¬ 
ser wäre kein Narr, hohes Lob für 
diesen.“ 

Auch politische Verhältnisse werden 
in den Briefen oft gestreift Standen 
doch die besten Freunde Merediths, Fre- 
derik Maxse, ein streitbarer Radikaler, 
John Morley, eins der Häupter des Libe¬ 
ralismus, der Journalist Fred. Green- 
wood u.a.mitten im politischen Kampfe. 
Aber er ist fast nie politisch hervorge¬ 
treten. Die einzige Ausnahme gereicht 
ihm zu besonderer Ehre. Im Jahre 1902 
trat er in einem Briefe an die „Daily 
News“ für Barmherzigkeit und Milde ge¬ 
genüber den besiegten Buren ein. In sei¬ 
nen Ansichten war er entschieden libe¬ 
ral, ja radikal, ein Anhänger von Home 
Rule für Irland, und in seinen letzten 
Jahren besonders der Frauenemanzipa¬ 
tion und des Frauenstimmrechts. Gleich¬ 
zeitig war er für Einführung der allge¬ 
meinen Wehrpflicht in England, die er 
für eine nationale Notwendigkeit hielt. 
In Deutschland sieht er den mächtigen 
und überlegenen Nebenbuhler Englands. 

Seine patriotische Furcht vor Deutsch¬ 
land entsprang seiner Hochachtung vor 
deutschen Methoden und deutscher 
Gründlichkeit. Er gehört zu den weni¬ 
gen Engländern, die Deutschland und 
deutsche Literatur kannten. Auf einer 
deutschen Schule, der der mährischen 
Brüder in Neuwied, ist er erzogen wor¬ 
den; die deutsche Dichtung, namentlich 
Goethe, war ihm vertraut; seinen älte- 


44 

sten Sohn schickte er als 17 jährigen jun¬ 
gen Mann zu seiner weiteren Ausbil¬ 
dung nach Stuttgart, und er selbst reiste 
häufiger nach Deutschland. Als im Jahre 
1870 der Krieg zwischen Frankreich und 
Deutschland ausbrach, schwankte er zu¬ 
erst in seinen Ansichten. Es war das wohl 
verständlich. Seine Frau war französi¬ 
schen Ursprungs, seine Schwäger foch¬ 
ten als Offiziere im französischen Heere, 
er selbst war ein Kenner und Bewun¬ 
derer der französischen Literatur. Mo- 
lifere namentlich hat ihn bedeutend be¬ 
einflußt. Aber schon kurz vor Aus¬ 
bruch des Krieges,, am 14. Juli 1870, 
schreibt er an seinen Sohn: „Wenn der 
Krieg ausbrechen sollte, so bedauere ich 
es sehr, denn ich schätze Frankreich; 
dennoch aber sehe ich, wie gut es für 
Europa wäre, einen starken zentralen 
Staat, der aus soliden Leuten besteht, 
zu haben.“ Während des Kampfes wa¬ 
ren seine Sympathien auf seiten Frank¬ 
reichs, aber er war gewohnt, sich in sei¬ 
nem Urteil nicht von Sympathien, son¬ 
dern allein von Vernunftgründen leiten 
zu lassen. So schreibt er am 25. Oktober 
an seinen Sohn: „Dieser Krieg fällt 
Frankreich zur Last, und der Kaiser ist 
der Schurke unter der Bande. Zwei 
Generationen von Franzosen sind in den 
Traditionen des Napoleonismus erzogen 
worden, und diese bedeuten die Bedrük- 
kung und Beschimpfung anderer Natio¬ 
nen zum Ruhme und Wachstum der 
eigenen. Sie haben Napoleon zum Füh¬ 
rer gewählt wegen seines Namens und 
trotz seines wohlbekannten Charakters. 
Man sagt, die Bauern hätten den Krieg 
nicht gewollt, sie hätten in Unwissen¬ 
heit gesündigt, indem sie den Mann 
wählten: aber wer kann leugnen, daß 
es das napoleonische Prestige war, das 
ihm mit überwältigender Mehrheit den 
ersten Schritt zum Throne erleichterte? 
Dieser Mann war der Ausdruck ihrer 


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Philipp Aronstein, George Meredith in seinen Briefen 


46 


Unwissenheit, Torheit oder Eitelkeit. Die 
Deutschen dagegen ernten die Beloh¬ 
nung einer durchweg ehrenvollen Lauf¬ 
bahn in der Bürgertugend. — Ich be¬ 
wundere und achte daher die Deutschen, 
wenn auch mein Herz für die Franzosen 
blutet. Aber mein Grundsatz ist immer, 
mich nicht von meinen Gefühlen, son¬ 
dern von meinem Verstände leiten zu 
lassen...“ Und wieder am 23. Dezember 
1870 an denselben: „Ich achte die Deut¬ 
schen sehr wegen ihrer hohen morali¬ 
schen Eigenschaften. Jetzt gerade 
schimpfen sie auf uns, aber das wird 
vergehen. Ich weiß, sie sind der Freund¬ 
schaft fähig, und daß englische Freund¬ 
schaften in der Regel nicht so dauerhaft 
sind.“ Er lobt die deutsche Gründlich¬ 
keit „Sie machen ihre Lehre gründlich 
durch; und da sie nicht vor der Zeit 
kritisieren, sind sie kompetente Kritiker, 
wenn die Zeit kommt.“ Merediths Freund 
Maxse stand wie die meisten Engländer 
auf seiten der Franzosen. In einem Briefe 
an diesen vom 27. Februar 1871 sagt er. 
daß Frankreich die Lektion verdient 
habe, denn es sei immer der Störenfried 
Europas gewesen. Ob die Deutschen es 
sein würden, müsse sich erst zeigen. 
„Ich ziehe vor,“ fährt er fort, „zu warten, 
ohne zu prophezeien. Möge Frankreich 
eine tugendhafte Demokratie heranzie¬ 
hen, dann wird es Gelegenheit zur vol¬ 
len Rache an den Hohenzollern fin¬ 
den— Ich bin weder deutsch noch fran¬ 
zösisch gesinnt und auch nicht englisch, 
es sei denn, daß die Nation angegriffen 
wird. Ich bin ein Europäer und Weltbür¬ 
ger — für die Menschheit. Die Nation, 
die sich am würdigsten erweist, ist die, 
die ich liebe und verehre. Du mußt zu¬ 
geben, daß die Franzosen sich durchweg 
wie Kinder benommen haben. Vielleicht 
wird die schwere Prüfung ihr Wachs¬ 
tum beschleunigen und ihr Handeln mit 
dem. was sie zu sein vorgeben, in Ein¬ 


klang bringen. Die Deutschen haben sich 
als unerbittlich strenge Männer gezeigt, 
denen mehr an ihrem Vaterlande liegt 
als an dem Wohlergehen der Mensch¬ 
heit im allgemeinen.... Ich denke mit 
Schmerzen daran, daß sie gerade heute 
in Paris einziehen. Aber die Stadt ist 
keine .heilige Stadt' für mich. Die er¬ 
staunliche Selbsttäuschung der Franzo¬ 
sen hierüber ist ein Beweis unter vielen, 
daß ihr Geist die Haltung verloren hat.“ 
Noch eine besonders interessante Äuße¬ 
rung in einem Briefe an Morley (24 Juni 
1877) sei hier erwähnt Er spricht hier 
von seinen gemischten Gefühlen gegen¬ 
über den Deutschen, sagt, wie sehr er 
ihre intellektuelle Tüchtigkeit anerkenne, 
von ihren Manieren sich abgestoßen 
fühle, ihre Stärke bewundere und ihren 
Mangel an seelischem Schwung emp¬ 
finde: er habe große Achtung vor ihnen 
und zögere zu entscheiden, ob sie jetzt 
voll ausgewachsen seien, oder ob ein 
Licht über ihnen leuchte, das sie immer 
höher führen werde. „Wenn das letz¬ 
tere der Fall ist, so sind sie die Herren 
der Welt.“ Wie unsagbar traurig stim¬ 
men uns diese Worte gerade in diesem 
Augenblicke so vieler zu Grabe getra¬ 
gener Hoffnungen. 

Die letzten Äußerungen Merediths 
über Deutschland stehen unter dem Ein¬ 
flüsse des Mißtrauens und der Feind¬ 
schaft, die etwa von der Wende des 
Jahrhunderts an die Beziehungen zwi¬ 
schen England und Deutschland getrübt 
und vergiftet haben. „Wir sollten den 
Deutschen dankbar sein“, schreibt er am 
17. Februar 1903 an den „Daily Tele¬ 
graph“, „für die rauhe Aufrichtigkeit, 
mit der sie uns sagen, was sie gegen 
uns planen. Sie rütteln, ein schläfriges 
Volk auf und, ohne daß wir sie deshalb 
gerade als Feinde zu betrachten brau¬ 
chen, können wir sie doch als heftig 
drängende Nebenbuhler hinnehmen, de- 


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47 


Victor Klemperer, Das französische Universitätswesen 


ren Ziel es ist, die erste unter den Mäch¬ 
ten der Welt zu sein, und zwar haupt¬ 
sächlich auf unsere Kosten. Deutschland, 
das einst das erste unter den Völkern 
Europas war, was geistige Errungen¬ 
schaften angeht, predigt jetzt laut All¬ 
deutschtum in ganz Europa und will 
Herr der Nordsee sein. Wir brauchen 
nur auf die Warnung zu hören, die es 
uns gibt, und bewaffnet, bereit und auf 
unserer Hut sein.“ Und am 7. April 1908. 
also in seinem letzten Lebensjahre, 
warnt er in einem Briefe an Frederick 
Greenwood noch einmal vor der „deut¬ 
schen Gefahr“. „Wer die Gesinnung der 
Deutschen kennt, ist der Meinung, daß 
sie die Absicht haben, sich mit England 
zu messen, sobald ihre Flotte groß ge¬ 
nug ist, um eine Landung zu schützen 
(die für durchaus möglich gehalten 
wird), und solange das gewaltige Heer 
noch nicht durch einen langen Frieden 
verderbt ist. Nicht umsonst forderten die 
Deutschen im Haag das Recht, die See 
mit Minen zu belegen. Wenn sie Minen 
anwendet, kann auch eine kleinere Flotte 
einem Riesen zeitweise mit Erfolg ent¬ 
gegentreten.“ So sehen wir am Ende 
auch diesen „guten Europäer“ und Kos¬ 
mopoliten, der so merkwürdig frei war 
von den konventionellen Bindungen sei¬ 
ner Landsleute, namentlich von ihrer 
Selbstüberhebung, und der Deutschland 
kannte und hochschätzte, in die Geg¬ 
nerschaft zu unserem Lande hineinge¬ 


trieben. Er sieht den kommenden Kampf 
voraus. Aber auch seine Gegnerschaft 
gegen Deutschland, die etwas ihm Auf¬ 
gezwungenes war, bleibt frei von der 
Bitterkeit des Hasses und der nationalen 
Feindschaft, die den Gegner verun¬ 
glimpft und moralisch herabsetzt, um 
sich selbst zu begründen und zu ent¬ 
schuldigen, jenem Cant der moralischen 
Phrase, in dem die Engländer solche un¬ 
übertroffenen Meister sind. Hätte er die 
Katastrophe der letzten Jahre erlebt, er 
würde schwerlich in den Chor derer ein¬ 
gestimmt haben, die in dem Volke des 
von ihm so hoch verehrten Goethe Hun¬ 
nen und Barbaren sehen. 1 ) Und wenn 
dereinst — wir müssen es hoffen—aus 
dem Schlammeere von Haß und Gemein¬ 
heit der rettende Gedanke an die Kul¬ 
turgemeinschaft der modernen Völker 
wieder hervortaucht, so wird Meredith 
zu den wenigen Männern gehören, an 
denen er zu neuer Kraft sich emporran¬ 
ken kann. 

1) Der frühere Lektor des Englischen an 
der Universität Berlin, Prof. F. S. Delmer. 
berichtet in seinem Leitfaden der englischen 
Literaturgeschichte (English Literatvre from 
Beowulf to Bernhard Shaw, Berlin, Weid¬ 
mann), was Meredith zu ihm bei einem Be¬ 
such noch im Jahre 1907 über Deutschland 
geäußert hat: „Teil them over there, if they 
care to hear it, how I admire Germany’s 
march sunwards. I hope our two countries 
will always be found striding shoulder to 
shoulder towards the ideals of culture and 
civilization.“ C. 


Das französische Universitätswesen. 


Von Victor 
l. 

Die Franzosen besitzen ein Spott¬ 
lied auf den Bureaukratismus. 1 ) Ein 

1) Dem Aufsatz liegt ein Vortrag zu¬ 
grunde, den der Verfasser vor dem Aktions¬ 
ausschuß zur Neugestaltung der Universität 
München gehalten hat. Die Red. 


Klemperer. 

Mann findet einen Selbstmörder im 
Walde, und der Hängende gibt noch 
Lebenszeichen. Er will ihn retten und 
läuft zur Polizei. Bis nun die Rettungs¬ 
aktion durch alle Instanzen gegangen 
und die Kommission mit dem Staats¬ 
anwalt an der Spitze an der Unglücks- 


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49 


Victor Klemperer, Das französische Universitätswesen 


50 


stelle angekommen ist, hat der Ge¬ 
hängte natürlich ausgelitten. Le ca- 
davre ötait d6ja bleu, berichtet das 
Lied. — Wir haben manchen Anlaß, 
das französische Universitätswesen un¬ 
ter den Staatseinrichtungen mitzube¬ 
greifen, denen diese Verspottung gilt. 
In ihrem eigentlichen Kern nämlich, 
in ihrem Verwaltungsapparat, und so¬ 
weit sie auf Staatsexamina vorberei¬ 
tet, ist die französische Universität arg 
bureaukratisch und verknöchert. Es le¬ 
gen sich aber täuschend und verhül¬ 
lend zwei geschmeidige Kreise um die¬ 
sen knöcherigen Kern: das sind die 
Einrichtungen einmal für solche Stu¬ 
dierende, die kein Amt und kein Pri¬ 
vileg [wie die Ausübung der ärztlichen 
Praxis] in Frankreich anstreben, so¬ 
dann für Bildungsbeflissene, die über¬ 
haupt kein Examen ablegen, die nur 
lernen — oder sich unterhalten wollen. 

Ich möchte hier von diesem kom¬ 
plexen Institut nur das skizzieren, was 
uns nachahmenswert erscheinen könnte, 
zugleich aber auch das, was uns viel¬ 
leicht die eigenen Einrichtungen wieder 
zufriedeneren Blickes betrachten läßt. 
Ich werde deshalb mein Thema zwei- 
bis dreifach einengen. Zeitlich be¬ 
schränke ich mich auf die Gegenwart. 
Das alte französische Universitätswe¬ 
sen wurde von der Französischen Re¬ 
volution beseitigt; Napoleon schuf eine 
große militärisch-absolutistische Or¬ 
ganisation des ganzen Hoch- und Mit¬ 
telschulwesens, eine Zusammenfassung, 
die er Universitö de France nannte. 
Auflösungen, Änderungen, Verknüp¬ 
fungen folgten mit jeder neuen Regie¬ 
rung, der jetzige Zustand gründet sich 
auf Gesetze, die in Abständen seit der 
Mitte der siebziger Jahre bis in den 
Anfang dieses Jahrhunderts votiert 
wurden, Napoleonisches aber schim¬ 
mert noch immer sehr stark durch. So¬ 


dann werde ich mich räumlich auf Paris 
beschränken. Ich darf das aus dem 
doppelten Grunde, weil ja die staat¬ 
liche Ordnung der 15 französischen 
Universitäten (die nicht durchweg im 
Besitz sämtlicher Fakultäten sind) über¬ 
all die gleiche ist, und weil Paris in 
ganz anderem Maße die Provinzuni¬ 
versitäten überragt, als unsere größten 
deutschen Universitäten den kleineren 
vorangehen. Man nennt unter den fran¬ 
zösischen Provinzuniversitäten Lyon, 
Bordeaux und Toulouse an erster 
Stelle: ich habe 1913 von Paris kom¬ 
mend in Bordeaux gearbeitet und war 
förmlich betroffen über den kleinen, 
fast jämmerlichen Eindruck, den mir 
die dortigen Anstalten im Vergleich 
zu Paris machten. Wie muß es da erst 
in den unvollständigen Provinzuniversi¬ 
täten aussehen, deren kleinste, Be- 
sangon, nur zwei Fakultäten besitzt, 
die der Lettres und der Sciences, was 
im wesentlichen der Sektion I und II 
unserer philosophischen Fakultät ent¬ 
spricht. Endlich noch diese Einschrän¬ 
kung: Die französische Universität ist 
kein so in sich abgeschlossenes Gan¬ 
zes wie eine deutsche Universität. Sie 
erfährt teils Unterstützung, teils Kon¬ 
kurrenz von einer Reihe bald freier, 
bald staatlicher Hochschulinstitute, die 
nicht alle dem gleichen Ministerium des 
Unterrichts unterstellt sind, die von den 
Studierenden der Universitäten mitbe¬ 
sucht werden können, die ihre eigenen 
Schüler Examina ablegen lassen oder 
zu Universitätsprüfungen vorbereiten 
dürfen, und die vielfach auch jene 
eigentümliche Dreiteilung aufweisen in 
Studiengänge für Leute, die staatlichen 
Berechtigungen zustreben, die nur ein 
Diplom erlangen wollen, und die gar 
nichts wollen als hören oder sich ver¬ 
gnügen. Ich werde einige Pariser In¬ 
stitute dieser Art erwähnen und etwas 


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Victor Klemperer, Das französische Universitätswesen 



51 


länger nur bei dem schönen College 
de France verweilen, das gewiß in vie¬ 
len Dingen vorbildlich, gewiß aber auch 
nicht in allen übertragbar erscheinen 
wird. 

2 . 

Ich beginne mit der Verwaltung. Die 
französische Universität hat keinen Rek¬ 
tor für sich wie die deutsche, worin 
allein schon ihre größere Unselbstän¬ 
digkeit oder staatliche Gebundenheit 
sich ausprägt. Vielmehr führt den Vor¬ 
sitz des Universitätsrates der Rektor 
der zuständigen Akademie. Um hier 
einer Wortverwechslung vorzubeugen, 
so hat dies nichts mit dem Prunkinsti¬ 
tut der Richelieuschen Acad6mie 
Fran^aise zu schaffen. Napoleon I. zer¬ 
legte das ganze Land in 27 Bezirke für 
den gesamten Unterricht, die er Akade¬ 
mien nannte. Den Namen hat die dritte 
Republik wieder aufgenommen und 
hat nach dem Frankfurter Frieden 17 
Akademien gehabt. Der Rektor sol¬ 
cher Akademie steht dem Universitäts¬ 
und Mittelschulbetrieb, auch den Leh¬ 
rerbildungsseminaren, ganz vor, er kon¬ 
trolliert auch das Volksschulwesen. 
Er muß Doktor sein, was in Frank¬ 
reich mehr besagt als bei uns, ist im 
übrigen aber vor allem Staatsbeamter. 
Die neueste offizielle Veröffentlichung 
über französisches Universitätswesen: 
La vie universitaire ä Paris, 1918, als 
eine Art Propaganda- und Aufmunte¬ 
rungsschrift von verschiedenen Pariser 
Professoren herausgegeben, betont sehr 
stark die staatliche Stellung des Rek¬ 
tors: „Le Recteur reprösente l’Etat au- 
pres de l’Universit6; il a pour mission 
de veiller ä l’application des lois et 
des r6glements g6n6raux. Voilä pour- 
quoi il est nommfe par le gouverne- 
ment et pröside de droit le Conseil 
de I’Universitd“ (S. 23). *) Man be- 

1) ln Pairs heißt er Vice-Recteur, da hier 


achte die Ernennung durch die Regie¬ 
rung! 

Ebenso verschieden wie die Stellung 
des französischen Rektors von der des 
deutschen ist die Art des Universitäts¬ 
rates von der des deutschen Universi¬ 
tätssenates. Dem Universitätsrat gehö¬ 
ren an die Dekane und zwei Abge¬ 
ordnete jeder Fakultät, erwählt durch 
ihre ordentlichen Professoren auf drei 
Jahre, außerdem der Direktor der phar¬ 
mazeutischen Hochschule. Sind sonst 
in dem Bezirk der Akademie Hoch¬ 
schulen vorhanden, so werden diese im 
Universitätsrate durch ihren Direktor 
und einen gewählten Deputierten ver¬ 
treten und nehmen an Unterrichts- und 
Disziplinarberatungen (nicht an finan¬ 
ziellen) teil. Der Rektor bereitet unter 
der Autorität des Ministers die Ge¬ 
schäfte vor und sorgt für die Ausfüh¬ 
rung der Ratsbeschlüsse; er vertritt die 
Universität vor Gericht und in allen 
bürgerlichen Rechtsgeschäften. Der Uni¬ 
versitätsrat entscheidet über die Ver¬ 
mögensverwaltung der Universität, er 
stellt den Lehrplan der Vorlesungen 
und Übungen auf, die nach Schuljah¬ 
ren eingeteilt zu halten sind, er ver¬ 
fügt über Gebührenerlaß, über Einrich¬ 
tungen im Interesse der Studierenden, 
über die Ferienordnung. Bei einer Reihe 
finanziell schwerwiegender Fragen, so 
besonders auch wo es sich um die Er¬ 
richtung, Umgestaltung oder Aufhe¬ 
bung staatlich besoldeter Professuren 
handelt — es gibt auch Lehrstühle, die 
aus privaten Stiftungen erhalten wer¬ 
den —, bedarf der Beschluß des Uni¬ 
versitätsrates der ministeriellen Zustim¬ 
mung, oder es tritt an Stelle des Be¬ 
schlusses nur ein vorzulegendes Gut- 

der Titel des Rektors dem Unterrichtsmi¬ 
nister Vorbehalten ist. Das ist aber nur eine 
alte Formalität. En fait le ministre n'exerce 
jamais la fonction rectorale (S. 25 Anm.). 


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Victor Klemperer, Das französische Universitätswesen 


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achten. Jedes Mitglied des Rates darf 
schriftlich Fragen und Wünsche an den 
Rektor richten, die in der nächsten Sit¬ 
zung zu beantworten sind. Einen stell¬ 
vertretenden Rektor wählt der Universi¬ 
tätsrat aus seinen eigenen Mitgliedern. 
Der Universitätsrat ist endlich auch 
Disziplinarbehörde sowohl für Lehrer 
wie für Studenten. Gegen Studenten 
kann er bis zu zweijährigem Ausschluß 
vom Studium oder zweijähriger Zu¬ 
rückstellung vom Examen beschließen, 
gegen Professoren Versetzung, Verbot 
der Lehrtätigkeit auf bestimmte Zeit 
mit oder ohne Gehaltsperre, Absetzung. 
Die Instanz über ihm (außerhalb der 
Universität) ist der Oberunterrichtsrat 
beim Ministerium. 

Inner- und unterhalb dieser finan¬ 
ziellen und juristischen Zusammenfas¬ 
sung haben die Fakultäten ihre Selb¬ 
ständigkeit. Bis 1896 waren sie völlig 
selbständig und gegeneinander abge¬ 
schlossen, und auch heute noch sind sie 
in Verwaltungsdingen selbständiger als 
die deutschen Fakultäten. Die staat¬ 
liche französische Universität besitzt in 
der Gegenwart noch vier Fakultäten, 
die wie gesagt nicht überall vollzählig 
sind, und denen andererseits Ergän¬ 
zungsinstitute sich angliedern. Es sind 
dies: La facultö de Droit, de Mödecine, 
des Sciences, des Lettres. Eine Fakultät 
der katholischen Theologie hat Frank¬ 
reich seit 1885 nicht mehr. Bischöfliche 
Seminare und freie katholische Hoch¬ 
schulen, die nicht nur das theologische 
Wissen übermitteln, haben die Prie¬ 
sterausbildung übernommen. Fakultä¬ 
ten der protestantischen Theologie gab 
es noch bis Ende 1905 (Gesetz der 
Trennung von Staat und Kirche!) in 
Montauban für Calvinisten, in Paris für 
Calvinisten und Lutheraner. Die Pari¬ 
ser protestantische Fakultät besteht 
jetzt als Etablissement libre; innerhalb 


der staatlichen Universität hat man die 
religionswissenschaftlichen Fächer der 
Facultö des Lettres ausgebaut. An der 
Spitze der Fakultät steht der Doyen, 
von den Professoren gewählt, vom Mi¬ 
nister auf drei Jahre bestätigt. Eigent¬ 
liche Verwaltungsbehörde ist der Fa¬ 
kultätsrat, dem nur die Professoren an¬ 
gehören. Er wählt zwei Kandidaten zum 
Dekanat, zwei andere wählt der Uni¬ 
versitätsrat, und unter diesen vier Kan¬ 
didaten trifft dann der Minister die 
Auswahl. Mit Lehr- und Unterrichts¬ 
fragen (nicht mit denen der Verwal¬ 
tung) befaßt sich die Fakultätsver¬ 
sammlung, der auch die Nichtprofes¬ 
soren, aber nur mit beratender Stimme, 
angehören. 

Unseren ordentlichen und außeror¬ 
dentlichen Professoren entsprechen die 
Professeurs titulaires und adjoints. Den 
Professeur titulaire ernennt der Präsi¬ 
dent der Republik; vorgeschlagen wer¬ 
den zwei Kandidaten von der Fakul¬ 
tät, in der der Posten vakant ist, und 
zwei vom Oberunterrichtsrat beim Mi¬ 
nisterium. Neugegründete Professuren 
werden auf Bericht des Ministers be¬ 
setzt. Pensionierung erfolgt mit 70 Jah¬ 
ren (für Mitglieder des Instituts mit 75), 
vorher nur auf eigenen Antrag oder im 
Falle der Dienstunfähigkeit. Der Pen¬ 
sionierte kann auf das Gutachten des 
Oberunterrichtsrates hin außer der 
Reihe im Amt bleiben, ganz besoldet, 
wenn er an den Prüfungen teilnimmt, 
mit 3 / 4 'Gehalt, wenn er nur noch do¬ 
ziert. Gleichzeitig kann sein Lehrstuhl 
als vakant erklärt werden. Zum Pro¬ 
fesseur adjoint wird ein maitre de Con¬ 
ferences oder chargö de cours auszeich¬ 
nungshalber durch Dekret ernannt. Er 
hat geringeres Gehalt als der Titulaire 
und darf sich nicht an den Vorschlä¬ 
gen für die Besetzung vakanter Stel¬ 
len beteiligen; im übrigen hat er gleiche 



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Victor Klemperer, Das französische Universitätswesen 


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Rechte wie der Ordinarius. Die Zahl 
der adjoints ist beschränkt, sie darf 
etwa für die Fakultäten der Lettres und 
der Sciences nicht mehr als ein Drittel 
der Titulaires betragen. Am wesentlich¬ 
sten unterscheidet sich der französische 
Lehrkörper vom deutschen durch die 
Maitres de Conferences und Charge» 
de Cours, die ihrer Stellung nach un¬ 
seren Privatdozenten entsprechen.. Aber 
während nun unsere Privatdozenten 
unbesoldet sind und ihre venia legendi 
auf unbegrenzte Dauer empfangen, ist 
der französische Konferenzleiter oder 
beauftragte Dozent besoldet und auf 
begrenzte Zeit angestellt. Bei den Ju¬ 
risten und Medizinern und in den phar¬ 
mazeutischen Hochschulen sind diese 
Dozenten Agfegös. Agr6g6 ist ein Ti¬ 
tel, der durch Prüfungskonkurs vor 
einer Kommission erworben wird (nicht 
zu verwechseln mit dem Agr6g6exa- 
men und -titel der Kandidaten des 
höheren Lehramts). Diese AgfegGs wer¬ 
den bei den Medizinern auf 10, bei den 
Juristen und Pharmazeuten auf 9 Jahre 
angestellt und dann ohne Gehalt ent¬ 
lassen. Sie können in ihren früheren 
Beruf zurücktauchen, sie können auch 
an der Universität reaktiviert werden. 
Vielfach gilt der Agr6g6posten als 
Durchgang zur Professur. In den philo¬ 
sophischen Fakultäten besteht der Uni- 
versitätsagfeg6 nicht mehr. Die Kurs¬ 
leiter und Dozenten sind aber z. T. 
Agfeg6s des höheren Lehramts. Sie hal¬ 
ten ihre Universitätsvorlesungen gegen 
Besoldung; der Rektor ernennt sie auf 
ein Jahr, kann aber ihren Lehrauftrag 
von Jahr zu Jahr erneuern. Vor- und 
Nachteile der deutschen und der fran¬ 
zösischen Einrichtung lassen sich viel¬ 
leicht am knappsten so fassen: Der 
deutsche Privatdozent, ganz auf seine 
Wissenschaft und sein Fortkommen 
gestellt, wird das Äußerste zu leisten 


suchen und der Wissenschaft wahr¬ 
scheinlich mehr nützen als der minder 
gepeitschte und besser gesättigte und 
gesicherte französische Dozent. Aber 
wenn sich die Wissenschaft bei der 
deutschen Dozentur besser steht, so ist 
der Dozent gewiß bei der französischen 
Dozentur in minder peinvoller Lage. — 

Es gibt also im französischen Lehrkör¬ 
per keinen unbesoldeten Unterrichten¬ 
den. Es gibt dort aber auch keinerlei 
Nebeneinkommen für Lehrtätigkeit und 
Examina. Kolleggelder im deutschen 
Sinne fehlen; ein früher bezogener An¬ 
teil an Prüfungs- und Inskriptionsgebüh¬ 
ren, das „öventuel“, wurde 1876 abge¬ 
schafft und durch Gehaltserhöhung er¬ 
setzt. 

Endlich hat die französische Universi¬ 
tät noch die sehr beachtenswerte Ein¬ 
richtung der freien Kurse. Wer sich, 
ohne in der Universitätslaufbahn zu 
stehen, auf irgendeinem wissenschaft¬ 
lichen Gebiet ausgezeichnet hat, kann 
durch den Universitätsrat mit der Ab¬ 
haltung von Vorlesungen auf seinem 
Gebiet beauftragt werden. Ein solcher 
Lehrauftrag läuft auf ein Jahr, Ver¬ 
längerung ist vorgesehen. — 

3. 

Für die wichtigsten Angaben über 
die Studenten, ihren Studiengang, ihre 
Examina werde ich mich nun ganz an 
Paris halten. Es hatte im Januar 1914 
17308 Studenten, darunter 2200 Frauen, 
wovon fast genau die Hälfte Französin¬ 
nen waren. 2 ) In jener Propaganda¬ 
schrift von 1918: „La vie universitaire 
ä Paris“, heißt es mit Nachdruck: „Le 
principe de la liberfe acad6mique n’est 
pas moins eher aux Universitas fran- 
gaises qu’aux Universitas allemandes.“ 

2) Was die weibliche Dozentur anlangt, 
so wird M rae Curie noch ganz und gar als 
Ausnahme hingestellt. 


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Victor Klemperer, Das französische Universitätswesen 


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Das zeigt, was der französische Stu¬ 
dent anstrebt, aber nicht, was er be¬ 
sitzt. Man kennt die unsere Studenten 
geradezu komisch anmutende Bestim¬ 
mung, wonach der Dekan mindestens 
einmal im Jahr an den Vater oder Vor¬ 
mund jedes Studierenden ein bulleti-n 
scolaire über Fleiß und Studienergeb¬ 
nisse zu senden hat. Aber ganz abge¬ 
sehen von dieser pennalmäßigen Be¬ 
stimmung, ist der französische Student 
(soweit er der Staatsprüfung zustrebt) 
auf Schritt und Tritt gebunden. Ihm 
sind von Jahr zu Jahr bestimmte Vor¬ 
lesungen vorgeschrieben (so haben 
denn auch die Professoren den Berufs¬ 
studenten gegenüber keine freie The¬ 
menwahl in unserem Sinn), er muß 
Zwischenprüfungen ablegen, er hat sich 
in Abschlußprüfungen mit Formelwe¬ 
sen und Bureaukratismus um kein Haar 
weniger herumzuschlagen als der deut¬ 
sche Student, der während des Studien¬ 
ganges selber ungleich freier ist. Der 
Beamtenstudent muß das Bakkalaureat 
besitzen, das unserem Abiturienten¬ 
examen entspricht. Die Mittelschulen 
(Iyc6es: staatliche, Colleges: munizipale) 
enthalten seit 1902 auf gemeinsamer 
Basis Gabelungen, die teils zum huma¬ 
nistischen, teils zum neusprachlichen, 
teils zum naturwissenschaftlichen Stu¬ 
dium besonders vorbereiten. Sie legen 
also den Betrieb unserer Mittelschulen 
enger zusammen. Das Bakkalaureat je¬ 
der Abteilung gibt das gleiche Recht 
zum Universitätsstudium. Auch mit 
einigen anderen Vorbildungen, z.B. für 
Lehrerinnen, ist das Universitätsstu¬ 
dium erlaubt (aber nicht in der Medi¬ 
zin und Pharmazeutik). Wer ein Staats¬ 
examen ablegen will, das durchweg ein 
Universitätsexamen ist, hat sich nicht 
nur zu immatrikulieren, sondern auch 
zu inskribieren. Die Inskription, unse¬ 
rem Belegen der Vorlesungen zu ver¬ 


gleichen, aber doch wesentlich anders, 
ist während des Schuljahres, November 
bis Ende Juni, viermal mit je 32.50 Frcs. 
zu leisten, und für jedes Examen ist 
eine genaue Anzahl solcher Inskrip¬ 
tionen vorgeschrieben. Einen Wechsel 
der Universität darf der Student nur 
auf Antrag und mit Erlaubnis vorneh¬ 
men, üblich ist solcher Wechsel nicht. 
Der Besuch der Vorlesungen und 
Übungen wird kontrolliert, bei man¬ 
gelndem Fleiß kann der Fakultätsrat 
eine neue Inskription verweigern. Je¬ 
der Student ist von Anfang an Kan¬ 
didat bestimmter Examina und darf 
vom vorgeschriebenen Examenspfad 
nicht abweichen. (Daß Nebenkollegien 
erlaubt sind, daß es ein Stipendienwe¬ 
sen, „bourses“, und Gebührenerlaß 
gibt, versteht sich.) 

Ich skizziere einige Hauptstudien¬ 
gänge schematisch. Ein Jurist erwirbt 
nach dem ersten Studienjahr (immer 
mit vorgeschriebenen Kursen) durch 
eine erste Prüfung einen Befähigungs¬ 
nachweis. Nach dem zweiten Jahr legt 
er das juristische Bakkalaureatsexamen 
ab. Nach dem dritten Jahr die Licence- 
prüfung. Die Licence entspricht im all¬ 
gemeinen unserem Doktorexamen, ist 
aber Staatsprüfung. Will der Studie¬ 
rende zur rein wissenschaftlichen Lauf¬ 
bahn, zur Professur, so hat er noch 
zwei weitere Jahre zu studieren und 
dann zu promovieren. Man wird in 
Frankreich sehr viel seltener Doktor 
als in Deutschland, und die Doktor¬ 
dissertationen sind weit umfang- und 
meist auch inhaltreicher als bei uns, 
sind eher unseren Habilitationsschriften 
zu vergleichen. Der Doktorand hat au¬ 
ßer der schriftlichen Arbeit eine These 
vorzulegen, hat sie zu verteidigen und 
ein Examen zu bestehen. Die juristische 
Fakultät verleiht zwei Doktordiplome, 
eines für die Rechtswissenschaft und 


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Victor Klemperer, Das französische Universitätswesen 


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eines für die politischen und ökono¬ 
mischen Wissenschaften. 

Die Mediziner studieren ein vorberei¬ 
tendes Jahr an der Facultö des Scien¬ 
ces und erlangen hier durch Examen 
ein Certificat d’ötudes physiques, chi- 
miques et naturelles, dann sind vier Jahre 
— es werden aber mehr — und vier 
Examina an der medizinischen Fakul¬ 
tät vorgeschrieben. Das Doktorexamen 
mit Dissertation und zu verteidigender 
These ist das eigentliche Staatsexamen. 

Die FacultG des Sciences übernimmt 
einmal jene Vorbereitung der Medizi¬ 
ner. Sie bereitet außerdem zur Lioenoe 
es Sciences vor, die die Lehrbefähigung 
für naturwissenschaftlichen Unterricht 
gibt. Hier sind drei Studienjahre und 
drei Zwischenprüfungen vorgeschrieben. 
Der Kandidat darf sich aus (in Paris) 
18 verschiedenen Fächern drei Spezial¬ 
fächer zusammenstellen. Er wird münd¬ 
lich, schriftlich und praktisch geprüft. 
Den Docte.ur es Sciences kann man 
ebenfalls in verschiedenen Gruppierun¬ 
gen erwerben; er bedarf längeren Stu¬ 
diums und wird, wie bei den Juristen 
und Philosophen, nur von denen ange¬ 
strebt, die zur eigentlichen Gelehrten¬ 
laufbahn wollen. 

Die Facultö des Lettres endlich führt 
den Studenten durch vorgezeichnete 
Kurse zur Licence es Lettres. Es wer¬ 
den nur vier Inskriptionen gefordert, 
aber das Studium dauert bedeutend 
länger. Vorgesehen sind die Examens¬ 
gruppen 1. Philosophie, 2. Geschichte 
und Geographie, 3. klassische Sprachen, 
4. lebende Sprachen. Wie lange der 
Kandidat weiterstudieren muß, um 
ein Doktorexamen abzulegen, ist nicht 
vorgeschrieben, er bedarf auch keiner 
weiteren Inskriptionen. Ebenso gibt es 
hier kein mündliches Doktorexamen. 
Zwei gedruckte Abhandlungen, eine 
französische und eine meist lateinische 


sind zu liefern und danach vor der 
Fakultät zu verteidigen. Einen höheren 
Grad der Lehrbefähigung erwirbt man 
durch den erwähnten staatlichen Kon¬ 
kurs der Agr6gation, woran sich meist 
mehr Kandidaten beteiligen, als Plätze 
zu vergeben sind. — — 

Man sieht: Vorschriften bis ins Ein¬ 
zelne, Examen überall, festes Gängel¬ 
band bis ans Ende der Studien und 
vor allem Zertifikate und Diplome in 
Mengen. Übrigens werden die Schlu߬ 
diplome durchweg vom Minister aus¬ 
gestellt. In den Anstalten, die der Uni¬ 
versität angegliedert oder mehr oder 
minder fest verknüpft sind, herrschen 
ganz ähnliche, allenfalls noch engere 
Vorschriften. Ich nenne die ficole nor¬ 
male supörieure, eine Schule für höhere 
Lehrer beider Sektionen, früher selb¬ 
ständig, jetzt unmittelbar zur Universi¬ 
tät gezogen, die pharmazeutische Hoch¬ 
schule, die Ecole pratique des Hautes 
fitudes mit ihren historischen, philolo¬ 
gischen, religionswissenschaftlichen Ab¬ 
teilungen, die ficole nationale des lan- 
gues orientales vivantes, die ficole des 
Chartes (für Historiker), die ficole du 
Louvre für Kunsthistoriker und Mu¬ 
seumsbeamte. 

4. 

Nun wohnt diesem ganzen bureau- 
kratischen Bau, den ich hier nur flüch¬ 
tig und beispielsweise skizziert habe, 
an sich noch keine entscheidende Be¬ 
weiskraft für die Verknöcherung des 
französischen Universitätswesens inne. 
Vielmehr kommt alles darauf an, wel¬ 
cher Geist in dem umständlichen Hause 
herrscht. Und wiederum haben wir nun 
sehr bezeichnende und sehr gut fun¬ 
dierte Äußerungen zweier Franzosen. 
Unter dem Pseudonym Agathon lie¬ 
ßen Henri Massis und Alfred de Tarde 
1910 gemeinsam eine Reihe von Stu¬ 
dien erscheinen, die großes Aufsehen 


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Victor Klemperer, Das französische Universitätswesen 


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erregten und unter dem Titel 
„L’Esprit de la Nouvelle Sor¬ 
bonne“ ein Jahr später als Buch her¬ 
auskamen. 3 ) Das Buch befaßt sich nur 
mit den literarisch-philosophischen und 
pädagogisch - soziologischen Fächern, 
Naturwissenschaften und Recht nur 
streifend; aber gerade aus jenen Diszi¬ 
plinen ersehen wir ja am ehesten den 
allgemeinen Geist der französischen 
Hochschule. Agathon erhebt im wesent¬ 
lichen drei Vorwürfe gegen die Sor¬ 
bonne, die eng miteinander Zusammen¬ 
hängen, die in der gleichen Zeitströ¬ 
mung begründet sind, und die auch uns 
im höchsten Grade angehen. Einmal: 
man hatte in Frankreich wie bei uns 
die realistische Schulvorbildung für 
alle Universitätsdisziplinen zugelassen, 
man nannte das, wie bei uns, demo¬ 
kratischer und praktischer. Agathon 
predigt die immer und immer wieder 
von der Zeitströmung überrauschte 
Selbstverständlichkeit, daß man sich so 
weder demokratisch noch praktisch ver¬ 
halte; daß Wissenschaft, die sich zum 
Volke herablasse, das Volk nicht 
ehre und nicht fördere, und daß nichts 
unpraktischer sei im Wissenschaftlichen 
als mangelhafte Vorbildungen und 
Niveausenkungen. Sodann wendet er 
sich gegen das Vorherrschen des na¬ 
turwissenschaftlichen und historischen 
Prinzips in allem Philosophischen. Daß 
es in der Psychologie nur noch experi¬ 
mentelle Psychologie gebe, in der Philo¬ 
sophie an der Sorbonne nur noch Ge¬ 
schichte der Philosophie, auf dem Ge¬ 
biet der Pädagogik und Moral nur noch 
soziologische Fakta — und daß alles 
Individuelle, daß alles eigentlich Gei¬ 
stige ausgeschaltet sei als unsachlich, 
undemokratisch, unsozial. Und endlich 
bekämpft Agathon auf literarisch-philo- 

3) Auch sonst fehlte es der Sorbonne 
nicht an Angreifern der gleichen Sinnesart. 


logischem Gebiet das, was er die deut¬ 
sche Methode nennt, was an den an¬ 
deren Verirrungen mitschuldig, und 
was ja auch nur eine andere Erschei¬ 
nungsweise des gleichen Geisteszustan¬ 
des ist. Er bekämpft auch hier ein zu 
naturwissenschaftliches, zu rein histo¬ 
risches Vorgehen. Das Kunstwerk als 
solches werde nicht mehr aufgenom¬ 
men, man analysiere es zu Tode, suche 
nach Einflüssen, nach Quellen, nach 
Ideenverbindungen von Autor zu Au¬ 
tor. Man spezialisiere sich mit Pedan¬ 
terie, über winzige Einzel fragen wür¬ 
den lange Vorlesungen gehalten, lange 
Arbeiten geschrieben, der Student 
werde in solchen Seminarien, die sich 
ihrer selber spottend bisweilen „Labo¬ 
ratorien" betitelten, von Anfang an um 
jede Allseitigkeit, um jede Aufnahme¬ 
fähigkeit eines ganzen Kunstwerkes ge¬ 
bracht, er werde gewaltsam zum ge¬ 
lehrten Facharbeiter herabgedrückt, der 
seine ganze Zeit einem Einzelmecha¬ 
nismus der Sprache oder eines literari¬ 
schen Werkes widmen müsse, und als 
unwissenschaftlich getadelt werde und 
durchs Examen falle, wenn er sein 
Augenmerk auf ein Ganzes richte. 
Worunter denn der französische Geist 
und die französische Form leide. Die 
Sorbonne überschwemme Frankreich 
immer mehr mit Lehrern, die wohl eine 
pedantische Einzeluntersuchung anstel¬ 
len, aber keinen klaren und schönen 
Aufsatz mehr schreiben, keiner Dich¬ 
tung als Dichtung mehr gerecht wer¬ 
den könnten. Und daran sei Deutsch¬ 
land schuld, der Sieger von 1870. Es 
habe eben nicht nur mit den Waffen 
gesiegt, sondern den Unterlegenen auch 
seine geistigen Methoden als ein frem¬ 
des Joch aufgezwungen. Übrigens ist 
Agathon unparteiisch genug zu der Er¬ 
klärung, daß man an der Sorbonne die 
deutschen Methoden sklavisch nach- 


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Victor Klemperer, Das französische Universitätswesen 


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ahme, daß man sie plumper, lebloser 
befolge als in Deutschland selber, daß 
man sich bei uns doch nicht auf rein 
naturwissenschaftliches Analysieren in 
den Geisteswissenschaften beschränke, 
auf bloße Pedanterie, auf die ihm ganz 
besonders verhaßte Zettelsammlerei, 
die zur Veröffentlichung geist- und 
formloser Materialkompendien führe. 
Man habe sich in Deutschland trotz 
der fatalen Methoden zu Synthesen 
aufgerafft, man (habe bei uns auch 
Hochachtung vor der Form. Dagegen 
laute der Grundsatz der Sorbonne: 
„Nous n’avons pas besoin de talents ici 
ni d’esprits ingGnieux: nous n’avons 
besoin que de travailleurs... Le travail 
de l’esprit s’achemine de plus en plus 
vers l’automatisme du travail manuel. 
Encore le talent est-il moins pris6, en 
Sorbonne, que l'habiletö d’un ouvrier, 
ä rusine." (S. 77.) 

Diese Neigung nun zu verzopfter Pe¬ 
danterie und geistaustreibendem Spe¬ 
zialwissen ist dem modernen Sorbonne¬ 
betrieb offenbar eigentümlich; wir fin¬ 
den sie keineswegs nur durch den 
feindseligen Kritiker Agathon unter¬ 
strichen, wir finden sie auch durch die 
Themen der Vorlesungen und der ge¬ 
lieferten Arbeiten und die Examens¬ 
aufgaben bestätigt, und diese Neigung 
ergänzt freilich böse das Bild des knö¬ 
chernen Bureaukratismus, das sich aus 
dem Aufbau des Universitätswesens er¬ 
gab. 

5. 

Aber in einem Punkt hat Agathon 
doch wohl nicht ganz recht. Es ist 
sicherlich nicht bloß der naturwissen¬ 
schaftliche, mechanistische, sozialisti¬ 
sche Geist des neueren Frankreich, der 
Einfluß Deutschlands und seine über¬ 
trieben nachgeahmte Methode, was 
diese Verknöcherung hervorruft, son¬ 
dern die Verknöcherung des Universi¬ 


tätskernes scheint mir eine menschlich 
mehr als begreifliche Reaktion gegen 
andere allzusehr ins Oberflächliche, ja 
oft ins Verlogene geratende Teile des 
Universitätsbetriebes. Erinnern wir uns 
des zu Anfang dieser Ausführungen 
Bemerkten: Um den Kern der Universi¬ 
tät legen sich zwei geschmeidige 
Kreise. Man kann alle französischen 
Vorlesungen billiger und bequemer ha¬ 
ben, sobald man auf die Staatsprüfun¬ 
gen verzichtet. Dann läßt man sich nur 
immatrikulieren, wozu an Vorbildung 
keine Ansprüche gestellt werden. Ja, 
man kann (nicht gerade die Übungen 
und auch nicht alle, aber) sehr viele 
Vorlesungen ganz umsonst haben, in¬ 
dem ein Kolleg, bei dem von Dekanats 
wegen nichts anderes bemerkt wird, je¬ 
dem von der Straße Hereinkonimenden 
zugänglich ist. Nun bedenke man, wie¬ 
viel bei einem redefreudigen und doch 
ganz anders noah als wir auf die 
Öffentlichkeit eingestellten und reagie¬ 
renden Volk solche Publizität, solch ein 
fluktuierendes und zu einem Teil mehr 
unterhaltungs- als belehrungsbedürfti¬ 
ges Publikum wirken muß! Ich will ein 
Beispiel aus eigener Erfahrung geben. 
In der Geschichte des französischen 
Theaters spielt die Hernanischlacht von 
1830 eine große Rolle. Damals siegte 
die neue romantische Richtung über 
den Klassizismus. Nun erzählte Th6o- 
phile Gautier, Viktor Hugos begeister¬ 
ter Anhänger, wie er an jenem Tage, 
um das Philisterpublikum zu ärgern, 
die malerischste, auffallendste, roman¬ 
tischste Weste getragen habe. Über 
diese rote Weste, ihren Zuschnitt, ihren 
Glanz, ihre Knöpfe, habe ich einen Or¬ 
dinarius der Sorbonne im Jahre 1903 
geschlagene 30 Minuten reden hören. 
Das Wesen des umkämpften Stüokes, 
das eigentlich Literarische und Wissen¬ 
schaftliche an der ganzen Hernanian- 


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Victor Klemperer, Das französische Universitätswesen 


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gelegenheit, dies alles mußte sich mit 
dem Rest der Stunde begnügen. Ich 
will nicht übertreibend verallgemei¬ 
nern; aber ich habe doch bei noch man¬ 
chem Anlaß an die rote Weste denken 
müssen, sie ist mir ein Symbol geblie¬ 
ben, nicht so sehr für die Romantik von 
1830 als für die allgemein zugäng¬ 
lichen Vorlesungen der Sorbonne. — 
Wir beschäftigen uns in Deutschland 
heute lebhaft mit der Frage, wie man 
dem Arbeiter Universitätsbelehrung un¬ 
mittelbar zugänglich machen könne, 
und die Bestimmung, daß jeder von der 
Straße aus in den Hörsaal treten dürfe, 
mag manchem lockend erscheinen. Was 
nun das Publikum dieser Vorlesungen 
anlangt, so habe ich Arbeiter ganz ge¬ 
wiß nicht unter ihnen gesehen, und für 
sie wären solche witzelnden Spiele¬ 
reien auch wenig angebracht gewesen, 
auch die junge wildgewachsene Intelli¬ 
genz fehlte, sozusagen unser Schwa¬ 
bing, wie es in München während der 
Räterepublik im Auditorium maximum 
den Abendunterhaltungen der kommu- 
nisierten Wissenschaft (übrigens auch 
unter freiwilligem Ausschluß der Ar¬ 
beiter!) lauschte. Sondern was den Saal 
füllte, war doch zum sehr großen Teil 
der Schwarm der jungen Damen, die 
in Konzerten und gesellschaftlichen 
Veranstaltungen zu sitzen pflegen. — 
Viel belastender aber als diese völ¬ 
lige Öffentlichkeit erscheint mir eine 
mittlere Einrichtung der Universität. 
Seit 1897 hält sie außer den Staats¬ 
prüfungen auch akademische ab, wo 
man alle Titel ebenfalls und billiger 
(im geistigen Sinne vor allem) haben 
kann. Gewiß, wir in Deutschland ha¬ 
ben auch staatliche und akademische 
Prüfungen. Aber sie werden doch von 
ganz verschiedenen Kommissionen nach 
ganz verschiedenen Gesichtspunkten 
abgehalten, es ist doch nicht so, daß 

Internationale Monatsschrift 


die deutsche Universität einem Teil 
ihrer Studenten sagt: Ihr könnt unsere 
Prüfungen bequemer bestehen, unsere 
Titel bequemer haben, wenn ihr auf 
staatliche Anstellungen verzichtet. Son¬ 
dern die deutsche Universität als solche 
fordert von jedem Examinanden die 
gleiche Vorbildung und die gleichen 
Kenntnisse und kümmert sich als Uni¬ 
versität nicht um seine Staatsexamina. 
Das scheint mir unverquickter und 
reinlicher. Die französischen Universi¬ 
täten dagegen kennen durchweg neben 
den „Examens“ und „Diplomes“ schlecht¬ 
hin noch die „Diplomes d’Universitö“. 
Gewiß ist das oberste, das Dootorat 
d’Universitö, überall noch an ernstliche 
Bedingungen geknüpft, wenn auch 
durchweg an leichtere als das Doktor¬ 
diplom schlechthin. Aber unterhalb des 
Doktorats gibt es eine ganze Reihe 
von Universitätsdiplomen, bis hinab 
zur. bloßen Bescheinigung, daß man 
einem Kurse beigewohnt habe, und 
auch diese Bescheinigungen sind doch 
schließlich gestempeltes Papier, wor¬ 
auf es ankommt, und in solchen nied¬ 
rigeren Diplomen steckt nun viel Schein 
und wenig Wahrheit. So kennt die Pa¬ 
riser juristische Fakultät neben dem 
Dootorat de l’Universitö de Paris ein 
Certificat de science pönale und ein 
Certificat d’fitudes administratives et 
financjeres, so geben die vorhin er¬ 
wähnten Hochschulen allerhand Di¬ 
plome, so hat die medizinische Fakul¬ 
tät einen besonderen Universitätsdok¬ 
tortitel für den Fremden, und, wohl¬ 
gemerkt!, dieser Titel ne confere 
pas le droit d’exercer la möde- 
cine en France. Und dies ist nun 
der springende Punkt, und das macht 
diese ganze Angelegenheit so peinlich 
und anrüchig und erniedrigt die fran¬ 
zösische Universität mit Notwendig¬ 
keit: Diese ganzen Dinge sind gar 

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Victor Klemperer, Das französische Universitätswesen 


nicht, oder doch keineswegs in erster 
Linie, für die Franzosen da. Vielmehr 
sind sie auf den Ausländer berechnet; 
ihn lockt man, ihm vermittelt man auf 
bequeme Weise französische Kultur, 
d. h. den Geschmack, den Schein, die 
Oberfläche davon, ihm bescheinigt man 
die Halbbildung (um dem Ding einen 
großen Namen zu geben, in Wahrheit 
ist es oft keine Viertelsbildung!) als 
ganze und läßt ihn dann mit seinem 
französischen Diplom aufs Ausland, 
zumeist das halb- oder ganz asiatische, 
los. Da wird er mit seinem Pariser 
Zeugnis Geld verdienen und in ma- 
jorem gloriam der französischen Kul¬ 
tur und der französischen Politik wir¬ 
ken. Ich habe die Bemühungen der 
französischen Regierung um die stu¬ 
dierenden Ausländer und ihre leichten 
und fabelhaften Erfolge oft und nicht 
ohne Neid beobachtet, und heute wis¬ 
sen wir ja alle, was für Stimmungs¬ 
erfolge erzielt wurden, und wie sie po¬ 
litisch ausgemünzt worden sind. Den¬ 
noch: dieser Neid war töricht, und der 
Himmel möge uns in Deutschland vor 
ähnlichen Einrichtungen bewahren! Denn 
es wimmelt von Ausländern an den 
französischen Universitätsinstituten, und 
indem man ihnen nicht etwa die ganze 
und reine Wissenschaft zugänglich 
macht, sondern sie nur eben obenhin 
kosten läßt, und indem man für sol¬ 
ches Scheinwesen einen besonderen 
Examens- und Diplomapparat ins Werk 
gesetzt hat, hat man den eigentlichen 
Wissenschaftsbetrieb erniedrigt. Noch 
einmal: ich glaube, daß die Starrheit 
des Universitätskernes eine Reaktion 
auf diesen schleimigen Außenbetrieb ist. 

6 . 

Dennoch darf man natürlich nicht 
verkennen, daß (abgesehen von der 
schlauen politischen Kulturpropaganda) 


68 

sehr reine und hohe Absichten hinter 
dieser Dreiteilung stehen: ernsteste 
Kontrolle des für den Staatsdienst Vor¬ 
zubereitenden, reiche Studienmöglich¬ 
keit für den Gebildeten, allgemeine Be¬ 
lehrung für absolut jeden. Und es gibt 
nun zum mindesten ein Hochschulin¬ 
stitut in Paris, wo man dem ersehnten 
Ideal ohne viel schädliche Nebenwir¬ 
kungen ziemlich nahe kommt. Das ist 
das College de France. Von Franz 1. 
gegründet, um die Ideen der Renais¬ 
sance dem Mittelalter entgegenzustel¬ 
len, hat es die Jahrhunderte hindurch 
(auch von der Revolution kaum an- 
gefochten) immer mehr oder weni¬ 
ger seinen eigenen fortschrittlichen Cha¬ 
rakter bewahrt. Für neue Zweige der 
Wissenschaft, damals für Griechisch 
und Hebräisch, ausdrücklich gegründet, 
hat es immer nach Ernest Renans 
Wort — Renan war sein Administra- 
teur von 1884—92 — vor allem ä la 
science en voie de se faire ge¬ 
dient, dabei aber doch natürlich die so¬ 
zusagen fertige oder offizielle Wissen¬ 
schaft nicht vernachlässigt. So hebt 
auch Agathon hervor, daß Bergson am 
College de France seine Philosophie 
vortragen durfte, während die Sor¬ 
bonne ihn mehrfach refüsierte. Mau¬ 
rice Croiset, der gegenwärtige Leiter 
des College, führt in „La vie Universi- 
taire h Paris“ die freie Sonderstellung 
des Instituts auf zwei Punkte zurück. 
Einmal ist für die Dozenten kein be¬ 
sonderer Grad oder Bildungsgang vor¬ 
geschrieben; jeder Gelehrte oder Er¬ 
finder, der sich durch irgendwelche Ar¬ 
beit ausgezeichnet hat, kann berufen 
werden. Und zweitens: das College de 
France bereitet zu gar keinem Examen 
vor. So hat denn Forschung und Lehre 
hier freieste Möglichkeiten. Die gegen¬ 
wärtige Organisation ist derart gestal¬ 
tet: Das Staatsbudget enthält die Be- 


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Victor Klemperer, Das französische Universitätswesen 


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soldungen für die 40 Lehrstühle. So¬ 
bald eines dieser Katheder vakant ist, 
hat die Gesamtheit der Professoren dem 
Minister vorzuschlagen, entweder es 
neu zu besetzen, oder an seiner Stelle 
einen Lehrstuhl für eine andere Diszi¬ 
plin einzurichten. Weiter schlägt dann 
die Versammlung der Professoren zwei 
Kandidaten vor, die also nicht einen 
bestimmten Grad zu haben brauchen; 
zwei andere Kandidaten präsentiert die 
Akademie. Der Minister trifft die Aus¬ 
wahl, der Präsident der Republik voll¬ 
zieht die Ernennung. Neben den staat¬ 
lich vorgesehenen Lehrstühlen gibt es 
(wie auch an der Sorbonne) noch einige 
aus privaten Stiftungen; sie werden 
ebenso besetzt. Das College de France 
lehrt im wesentlichen das, was die Sek¬ 
tionen I und II unserer philosophischen 
Fakultät umfassen. Es hat Seminarien 
und Laboratorien. Prinzipiell ist jede 
Vorlesung und Übung jedem kosten¬ 
los zugänglich. In Wahrheit besteht 
diese absolute Publizität natürlich nur 
für die Vorlesungen; für die Übungen, 
Seminare und Laboratorien bedarf es 
der besonderen Erlaubnis des Profes¬ 
sors, der sich sein Arbeitsgebiet frei 
wählt, und der selbstverständlich nur 
den vorgebildeten Studierenden zur 
Übung oder gar zur Mitarbeit zuläßt. 
Es versteht sich, daß hier freie und 
ernste Arbeit geliefert wird, es gibt hier 
auch gelegentlich ehrenvolle Erwäh¬ 
nungen und Preise, aber keine Examina 
und keine Grade. Nur die Certificats 
d’assiduit£ mit der Unterschrift des 
Professors und des Administrateur 
(Rektors) kann man auch im College 
de France haben, für die Teilnahme an 
den Übungen sowohl wie an den Vor¬ 
lesungen. Diese Vorlesungen, die also 
ohne jede Formalität jedem zugäng¬ 
lich sind — ihr Programm erscheint 
im Oktober, und sie dauern vom 1. De¬ 


zember bis zum 30. Juni —, geben dem 
College de France sein eigentliches öf¬ 
fentliches Gepräge. Und hier steht es 
nun nach meinen eigenen Erfahrungen 
und nach dem, was ich sonst darüber 
an Verbürgtem weiß, auf sehr hohem 
Niveau. Von verflachenden Vorträgen, 
von Popularisierung im üblen Sinn ist 
wohl durchweg keine Rede. Ich habe 
z.B. am College de France Joseph Be- 
dier über französische Volksdichtung 
reden hören. Das war wirkliche Wis¬ 
senschaft, wirklich neues Forschungs¬ 
ergebnis, keineswegs allzu einfach und 
voraussetzungslos verständlich, aber in 
der anziehendsten, gepflegtesten, in ge¬ 
radezu künstlerischer Form vorgetra¬ 
gen. Natürlich richten sich nun solche 
Vorträge nicht an ein Publikum, wie es 
uns Deutschen bei dem Namen Volks¬ 
hochschule vorschwebt. Sie sind nicht 
für Akademiker allein berechnet, das 
gewiß nicht, aber doch für eine sehr 
gebildete Gesellschaft, für das gleiche 
Publikum, das in die besten literari¬ 
schen Theater geht, das in den besten 
Salons zu finden ist, sie sind bei allem 
Ernst doch ein feinstes gesellschaft¬ 
liches Ereignis, sie haben ihren typisch 
französischen unübertragbaren Ein¬ 
schlag, sind 18. Jahrhundert besten Stils 
vor 1789, sind Rokoko. Ich weiß eine 
Anekdote, die die Sache ein wenig ins 
Simplizissimuslicht stellt, aber doch 
mehr scharf als gehässig beleuchtet. 
Wenn Bergson sprach, so war das eine 
solche gesellschaftliche Begebenheit, 
daß die Damen der obersten Schicht 
lange vor Beginn Plätze durch ihre 
Lakaien belegen ließen, um dann im 
letzten Augenblick vor Beginn der Kon¬ 
ferenz selber zu erscheinen. Eine dieser 
Damen stürzt nach dem Vortrag auf 
Bergson zu, ergreift seine Hände und 
ruft: „O Meister, Sie haben mir eine 
solche Sympathie für die Philosophie 

3* 


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Victor Klemperer, Das französische Üniversitätswesen 


eingeflößt, mais un tel goüt pour la 
Philosophie, wie ich das vordem nie 
für möglich gehalten hätte!“ Worauf 
Bergson ihr die Hand schüttelt und er¬ 
widert: O pardon, Madame, pardon!“ 
— So wird man in diesem freiesten 
französischen Hochschulinstitute, dem 
andere mehr oder minder in ihrer Art 
nacheifern — die ficole du Louvre bie¬ 
tet allgemeine Belehrung in der Kunst¬ 
geschichte, die ficole pratique des hau- 
tes ötudes nimmt auch den kostenlos 
in ihre historisch-philologischen und 
religionswissenschaftlichen Seminare 
auf, der kein Abiturientenzeugnis be¬ 
sitzt — so wird man hier Anregung 
finden, aber kaum sehr vieles, was 
sich unmittelbar auf Deutschland über¬ 
tragen ließe. 

Und eines wird man überall im fran¬ 
zösischen Hochschulwesen vermissen, 
wenn es sich auch noch so frei an je¬ 
dermann wendet: der Jedermann ist 
doch immer nur der Vorgebildete, und 
das Proletariat, der Arbeiter schlecht¬ 
hin, fehlt dabei, an ihn hat man ganz 
offenbar nicht gedacht. Im Jahre 1913 
bin ich in Paris einer Einrichtung be¬ 
gegnet, die noch im Keime steckte, 
und für die man viel Reklame machte. 
Sie nannte sich Universit6 populaire, 
wandte sich betont an das eigentlich 
proletarische Volk, an den Arbeiter, 
war betont sozialistisch. Das Lokal, 
eine große aber sehr erbärmliche und 
kahle Spelunke, lag weit draußen im 
Faubourg St. Antoine, das etwa dem 
Münchener Giesing oder dem Berliner 
Wedding entspricht. Das Publikum be¬ 
stand aus wirklichen Arbeitern und 
ihren Angehörigen. Die Leute waren 
rührend dankbar für alles Gebotene und 
von musterhafter Aufmerksamkeit. 
Aber was wurde ihnen geboten! Frei¬ 
lich, an Namen fehlte es den Vortra¬ 
genden nicht: Professoren, Schauspie¬ 


ler, Deputierte behandelten dort die 
verschiedensten Dinge. Aber im gün¬ 
stigsten Fall gab es sehr oberfläch¬ 
liche Belehrungen und Belustigungen: 
so wurden Bilder aus Alt-Paris vorge¬ 
führt oder Weihnachtslieder und 
-bräuche. Für den ungünstigeren Fall 
möchte ich ein Beispiel anführen, das 
sich mir so fest eingeprägt hat wie 
Gautiers rote Weste. Ein Redner sprach 
über Polen. Er sagte, es gehe den Po¬ 
len in Rußland ganz gut, in Öster¬ 
reich schlecht, aber immerhin noch er¬ 
träglich, dagegen in Preußen! Hier 
zwinge man die unschuldigen Kiemen, 
ihr Vaterunser in der Schule deutsch 
statt polnisch zu beten, und wenn sie 
stockten, werfe man ihre Eltern ins Ge¬ 
fängnis, und manches schwangere Po¬ 
lenweib habe in Posenschen Kerkern 
unter den Fußtritten preußischer Kü¬ 
rassierstiefel abortiert. Das wurde in 
einer „Volksuniversität“ vor sozialisti¬ 
schen Arbeitern doziert, und die betro¬ 
genen Leute lauschten gläubig und em¬ 
pört. Wie oft habe ich hieran denken 
müssen, wenn von deutscher Kriegs¬ 
schuld und französischer Unschuld die 
Rede war! 

Aber ich bin mit dieser Universite 
populaire über mein Thema hinausge¬ 
raten oder habe es doch nur negativ 
ergänzt. Wir selber würden uns hüten, 
eine so traurige Einrichtung mit dem 
Ehrentitel Volkshochschule zu belegen. 
Daß das in Paris möglich war, ist wohl 
ein indirekter Beweis dafür, daß eine 
wirkliche Volksuniversität (von Fach- 
und Fortbildungsschulen natürlich ab¬ 
gesehen) dort nicht besteht. In der Sor¬ 
bonne selber jedenfalls mit all ihren 
Nebeninstituten haben wir sie nicht zu 
suchen. 

Die französische Universität hat drei 
Funktionen: sie erzieht, recht bureau- 
kratisch, den Staatsbeamten; sie ver- 


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Hermann Gunkel, Eine hebräische Meistererzählung 



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der Aram von der anderen Seite her von 
Zeit zu Zeit angriff und schließlich über¬ 
wältigte, Luft bekommen hätte. Darum 
begegnen uns in diesen aramäischen 
Feldzügen eine Reihe von überraschen¬ 
den Wendungen; eine solche wird uns 
im folgenden erzählt — Eine schwierige 
Frage besonderer Art enthält der Name 
des aramäischen Königs, hebräisch Ben- 
hadad, in der griechischen Übersetzung 
„Sohn Ader", keilinschriftlich Adad-idri 
oder Bir-idri 1 2 ). Es muß mehrere Kö¬ 
nige dieses Namens gegeben haben; hier 
ist Benhadad II. gemeint. Für die Beur¬ 
teilung der Art des folgenden Berichtes 
ist von Bedeutung, daß darin der Name 
des aramäischen Herrschers genannt, 
der des israelitischen dagegen ver¬ 
schwiegen wird. Der fremde König, der 
so viel Zerstörung und Elend über die 
Israeliten gebracht hat, hat sich dem 
Gedächtnis der Menschen, die sich von 
ihm voller Grausen erzählten, unaus¬ 
löschlich eingeprägt, während sie den 
unbedeutenderen einheimischen verges¬ 
sen haben. Der Zusammenordner der 
Königsbücher hat die Geschichte unter 
Joram, Ahabs Sohn, gestellt und scheint 
damit, wie das Folgende zeigen wird, 
das Richtige getroffen zu haben. Das 
Ereignis wird, unter der Voraussetzung, 
daß Israel damals durch Eingreifen der 
Assyrer gerettet worden ist, in Jorams 
letzte Jahre fallen; am Schluß sei¬ 
ner Regierung kann er dann die Grenze 
Israels gegen Aram wieder verteidi¬ 
gen 8 ); die Zeit ist also etwa 850. 

Benhadad versammelte sein ganzes 
Heer: den Königen von Damaskus ge¬ 
horchte damals ganz Aram 3 ); in dem 
Ausdruck liegt zugleich, daß es eine 
ungeheure, bei weitem überlegene Masse 

1) Vgl. darüber zuletzt R. Kittel, Geschichte 
des Volkes Israel Bd. II, 3. Aufl. S. 395 A. 3. 

2) Vgl. I. Könige 8, 29. 

3) Vgl. I. Könige 20, 1. 24. 


| war, die so gegen Israel aufgeboten 
wurde. Er zog hinauf, vom Jordan in 
das mittelpalästinensische Bergland, 
und belagerte (blockierte) Samarien. Bei 
diesen Worten wird vorausgesetzt, daß 
vorher die israelitische Grenzw'ehr 
überwältigt und das Heer geschlagen 
war, so daß sich die Aramäer jetzt 
anschicken konnten, sich gegen die 
Hauptstadt selber zu wenden, um dem 
unglücklichen Volke den Todesstoß zu 
versetzen. Merkwürdig also, wie kurz 
dieser Bericht erzählt, daß er so wich¬ 
tige Dinge völlig ausläßt. Der Leser 
prkennt an solchem seltsamen Ver¬ 
schweigen den Stil der Einführung 
einer hebräischen Erzählung: der Künst¬ 
ler drängt dabei mit ungemeiner Kraft 
auf die Hauptsache und läßt alles, nicht 
durchaus Notwendige aus. Der eigent¬ 
liche Inhalt der Geschichte aber soll 
im folgenden die Belagerung und 
nur diese sein. Da entstand eine große 
Hungersnot in Samarien. Dieser Hun¬ 
ger hat den Erklärern große Schwie¬ 
rigkeiten bereitet: man hat etwa ange¬ 
nommen, daß die Belagerung der Stadt 
gerade in die Zeit einer großen Dürre 
gefallen sei 4 ), oder man hat sogar die 
Einheitlichkeit der Geschichte bezwei¬ 
felt und hier die Mischung zweier ver¬ 
schiedener Motive, einer Belagerung und 
einer durch Mißwachs entstandenen 
Hungersnot, angenommen 5 ): letzteres 
war freilich eine arge Versündigung an 
der Schönheit der Erzählung, die in 
Wirklichkeit von straffster Geschlossen¬ 
heit ist. Merkwürdig, daß es noch immer 
Forscher gibt, die bei aller Gelehrsam¬ 
keit von einer sonderbaren Unerfahren¬ 
heit in den Dingen dieser Welt sind, 
oder die eine auffallende Unempfindlich¬ 
keit in ästhetischen Dingen zeigen! In 
Wirklichkeit aber ist die Sache ganz ein- 

4) Kautzsch, Kittel. 

5) Winckler, Benzinger. 


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Hermann Gunkel, Eine hebräische Meistererzählung 


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fach: infolge der Belagerung entstand in 
der eingeschlossenen Stadt eine furcht¬ 
bare Teuerung, wie in dem belagerten 
Paris 1870/71 oder in dem blockierten 
Deutschland unserer traurigen Tage. 
Und 'sie' bedrängten es, bis daß ein 
Eselskopf 80 Sekel galt und 1 / 4 Kab 
Taubenmist 5 Sekel. Auch hier ist 
die Art hebräischen Erzählungsstils zu 
erkennen: allgemeine Erörterungen 
kann und will diese Kunst nicht geben, 
aber sie handhabt ein Mittel, das dich¬ 
terisch wirksamer ist: sie entnimmt 
einem ganzen Zusammenhänge einen 
Einzelzug, aus dem alles andere deut¬ 
lich wird. Hier gibt sie aus der ganzen 
Belagerung zwei Preisangaben, um zu 
zeigen, daß die Teuerung dabei auf 
einen nicht mehr überbietbaren Punkt 
gestiegen war. Im Hintergründe bleibt 
dabei das Folgende. Zunächst, daß Sa- 
marien eine starke Festung und mit 
stürmender Hand nicht leicht zu neh¬ 
men war: auch den Assyrern hat es 
jahrelang getrotzt; ferner, daß man den 
Belagerern einen unerhört leidenschaft¬ 
lichen Widerstand entgegengesetzt hat: 
mit der Eroberung der Hauptstadt wäre 
Israels Selbständigkeit verloren gewe¬ 
sen und hätte sich ein unermeßliches 
Meer von Elend über das unglück¬ 
selige Volk ergossen. So hat man da¬ 
mals für die Freiheit das grausamste 
Leiden erduldet; wir dürfen uns in dem 
Samarien jener Zeit Zustände fanati¬ 
scher Wut und entsetzlicher Drangsal 
vorstellen, wie sie Josephus aus dem 
von Titus belagerten Jerusalem schil¬ 
dert. — Auch die mitgeteilten Preisan¬ 
gaben sind den Erklärern schwierig ge¬ 
wesen. Man hat dergleichen Bemerkun¬ 
gen womöglich aus Gegenstücken an¬ 
derer Überlieferungen zu deuten; aber 
an dem Sammeln solchen Stoffes hat 
es in den letzten Jahrzehnten, von dem 
assyrisch-babylonischen Gebiete abge¬ 


sehen, im ganzen sehr gefehlt, und 
mancherlei, was unsern klassisch gebil¬ 
deten Vorfahren noch bekannt gewe¬ 
sen ist, ist dem gegenwärtigen Ge¬ 
lehrtengeschlechte nicht mehr vertraut. 
Bei Plutarch, Artaxerxes 24 lesen wir, 
daß das persische Heer einmal im 
Kriege gegen die Kadusier in solche 
Not geriet, daß man die Lasttiere 
schlachten mußte, „und es kam so 
weit, daß man einen Eselskopf kaum 
für 60 Drachmen kaufen konnte". Da¬ 
nach ist auch der biblische Zug zu 
verstehen: bei der äußersten Hungers¬ 
not sind das Schlachtvieh, Schafe und 
Rinder, längst aufgezehrt; auch von 
den Pferden ist, wie im folgenden er¬ 
zählt wird, der größte Teil dahin; da 
wirft sich der Hunger selbst auf die 
Esel, deren Fleisch sonst in Israel nicht 
genossen wird, bis schließlich selbst ein 
sonst so gut wie wertloser Eselskopf 80 
Silbersekel, d. h. etwa 200 Mark, kostet. 
Um einen Maßstab zu geben, sei hin?u- 
gefügt, daß ein Sklave in Friedenszeiten 
30 Sekel wert ist. 6 ) Daß sich gerade der 
Preis des Eselskopfes auf so verschie¬ 
denen Gebieten gleichermaßen findet, ist 
so zu erklären, daß dergleichen im alten 
Morgenlande zur Bezeichnung schlimm¬ 
ster Teuerung üblich war, uns aber 
durch den Zufall nur an zwei Stellen 
überliefert ist Ähnliche Hungerpreise 
sind folgende: bei der Belagerung Je¬ 
rusalems durch Titus galt ein Maß Wei¬ 
zen ein Talent 7 ); in dem von Hannibal 
belagerten Casilinum in Campanien soll 
eine Maus zu 200 Denaren verkauft 
worden sein 8 ). Und weiter heißt es: 
Vi Kab (d. h. 1 / g 1.) Taubenmist galt 
5 Sekel, d. h. 12 Mk. Wozu mag man 
Taubenmist verwandt haben? Zum 


6) II. Mose 21, 32. 

7) Josephus, Jüdischer Krieg V 13, 7. 

8) Plinius, Hist. nat. VII57, Valerius Max. 
VII 6. 


k. 


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Hermann Gunkel, Eine hebräische Meistererzählung 



Düngen, wozu er im gegenwärtigen 
Ägypten 9 ) und auch sonst im Orient, 
bei Franzosen, Italienern und unter uns 
dient, wie er dazu auch bei den Grie¬ 
chen und Römern verwandt worden 
ist? 10 ) Aber wird man in der Stunde 
dringendster Gefahr an das Bestellen 
der Gärten der Stadt gedacht haben? So 
wird doch Josephus 11 ) recht haben, 
wenn er behauptet, man habe ihn an 
Stelle des Salzes verwandt 12 ); das Aus¬ 
gehen des Salzes war gewiß ein höchst 
empfindlicher Übelstand, und Tauben¬ 
mist enthält wirklich neben organischen 
Nährbestandteilen auch unorganische 
Salze 13 ); man wird ihn unter das Brot 
gebacken haben. Seltsam zusammenge¬ 
setztes „Kriegsbrot“ aus der Belagerung 
Jerusalems durch Nebukadnezar erwähnt 
auch Hesekiel H ). Daß solche Kost ekel¬ 
haft genug ist, ist kein Gegengrund; bei 
der Belagerung Jerusalems durch Titus 
hat man selbst die Kloaken und alten 
Rindermist nach Eßbarem durchstö¬ 
bert 15 ), und die fürchterlichste Not greift 
gar, wie ein assyrischer Gesandter ein¬ 
mal behauptet 16 ), nach dem eigenen 
Kote und dem eigenen Urin. Jedenfalls 
sollen die Angaben unserer Stelle den 
wahnsinnigsten Hunger veranschau¬ 
lichen. Gleich hier lernen wir also die 
Stimmung kennen, die das Zunächstfol¬ 
gende beherrscht: eine siedende Leiden¬ 
schaft. Nun sind diese Preisangaben von 
so schwindelnder Höhe, daß sie gewiß 

9) Thomsen, Kompendium der palästini¬ 
schen Altertumskunde S. 43. 

10) Vgl. Olck, Art. Düngung bei Pauly- 
Wissowa. 

11) Josephus, Altertümer IX 4. 

12) Hierauf macht mich Dietrich Herzog, 
Sohn des Professors Herzog in Gießen, auf¬ 
merksam. 

13) Dies nach gütiger Mitteilung des Pro¬ 
fessors Bürker in Gießen. 

14) Hesekiel 4, 9. 

15) Josephus, Jüdischer Krieg V 13, 7. 

16) II. Könige 18, 27. 


auf starken Übertreibungen beruhen. 
Derartige, alles Maß übersteigende Be¬ 
merkungen finden sich in der alttesta- 
mentlichen Erzählung verhältnismäßig 
selten, die sich im allgemeinen streng an 
die Wirklichkeit hält, und werden dem 
Verfasser aus der mündlichen Überliefe¬ 
rung zugekommen sein. 

Nun der erste Auftritt: der Kö¬ 
nig geht gerade auf der Mauer entlang; 
genauer ist an den hinter der Brüstungs¬ 
mauer liegenden „Wallgang“ gedacht, 
auf dem sich die Besatzung zum Schutze 
der Mauer versammelt; von da begibt 
sie sich dann im Falle der Gefahr auf 
die „Auftritte“ (Banketts), von wo die 
Schützen und Schleuderer das Vorfeld 
übersehen und beschießen können 1T ). 
Hier, bei der Truppe, ist der Platz des 
Kriegsherrn, der die Verteidigung über¬ 
wacht; und von hier, aus der Höhe her¬ 
ab, übersieht er zugleich das Innere der 
Stadt und wird von den umliegenden 
Häusern und Höfen aus gesehen. Da 
schrie ihn ein Weib an und sprach: Um 
Hilfe, Herr Königl „Anschreien“ ist der 
Ausdruck für den Hilferuf des Unter¬ 
drückten, Bedrängten an die höhere Ge¬ 
walt. „Um Hilfe“ (hilf doch) ist der 
gewöhnliche Ruf an den König 18 ), dem 
Bibelleser in der Form „Hosianna“ aus 
der Erzählung vom Einzug Jesu in Je¬ 
rusalem bekannt 19 ): der Herrscher ist 
nach israelitischer Staatsauffassung der 
gewiesene „Helfer“ für sein Volk im 
Kriege und vor Gericht. Aber der König 
erwidert: Wenn dir nicht- 0 ) Jahve hilft, 
womit soll ich dir helfen? Von der Tenne 
oder der Kelter? Der König lehnt es ab, 
der Helfer zu sein! Er kann in dieser 
Not sein heiliges Amt nicht mehr ver¬ 
walten! Wie kann er anderen helfen, da 
doch Tenne und Kelter leer sind! So 

17) A. Billerbeck, Festungsbau im alten 
Orient S. 8. 18) II. Sam. 14, 4. 

19) Matthäus 21, 9. 20) ’im lo’. 


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Hermann Gunkel, Eine hebräische Meistererzählung 


Art des hebräischen Stils nicht aus¬ 
drücklich an; aber er spricht es 
mittelbar aus* indem er die Empfindun¬ 
gen des Herrschers schildert. Sobald 
der König die Rede der Frau vernahm, 
zerriß er seine Kleider. Der urtümliche 
Stil pflegt das innere Leben durch die 
Worte und Taten der Handelnden deut¬ 
lich zu machen. Das Zerreißen der (lose 
gewebten) Kleider ist der übliche Aus¬ 
druck plötzlich aufflammender Leiden¬ 
schaft, hier des Entsetzens und Grauens. 
So weit ist es in Israel gekommen! 
Furchtbareres kann unmöglich ge¬ 
schehen! Und geistreich benutzt die 
Erzählung diesen Zug, um daran noch 
etwas anderes darzustellen; die hebräi¬ 
schen Erzähler sind als weise Künst¬ 
ler mit ihren Mitteln sehr sparsam und 
bieter die ganze Beweglichkeit ihrer 
Phantasie auf, um zwei verschiedene 
Zwecke mit demselben Zuge zu errei¬ 
chen. Als der König sein Gewand zer¬ 
riß, sah das Volk, daß er darunter den 
Sack auf bloßem Leibe trug. Der Sack, 
ein grobes* härenes Zeug, ist das Kleid 
des Büßers, der schwere Not abzuwen¬ 
den sucht. Auch der Herrscher, der in 
Friedenszeiten in Herrlichkeit und Freu¬ 
den lebt, trägt auf seiner sonst so ver¬ 
zärtelten Haut in der Stille den Sack! 
So schlimm ist die Drangsal, so bitter 
wird sie auch von ihm empfunden! 
Alles Volk schaut es — er 'stand’* 2 ) ja 
gerade auf der Mauer —, und sieht es 
mit Erschütterung. 

Nun aber braust der König auf: So 
tue mir Gott jetzt und fürderhin, wenn 
das Haupt Elisas, des Sohnes Saphats, 
heute auf ihm (d. h. auf seinen Schul¬ 
tern) bleiben wird! Die Worte sind ein 
Schwur. Ein Schwur ist eine bedingte 
Selbstverfluchung. Der Hauptsatz sollte 
eigentlich das Furchtbare aussprechen, 

32) Griechische Übersetzung nach Lucian, 
Klostermann. 



84 


was man von der Gottheit auf sich sel¬ 
ber herabwünscht. Aber solche Worte 
würden so entsetzlich sein, daß man sich 
scheut, sie in den Mund zu nehmen, son¬ 
dern sich lieber dafür mit mehr oder we¬ 
niger entfernten Andeutungen begnügt: 
man soll den Teufel nicht an die Wand 
malen. Man schwört in starker Leiden¬ 
schaft. Hier ist der König über das, 
was er soeben gehört hat, so erbittert, 
daß er — Elisa den Tod droht. Warum 
gerade dieser deshalb sterben soll, ver¬ 
rät uns die Geschichte nicht. Hebräische 
Erzählung ist oft sehr knapp und wort¬ 
karg und setzt vieles als selbstver¬ 
ständlich voraus. Daß der Herrscher 
in seiner Wut nach einem Schuldigen 
sucht, bedarf keiner Erklärung; haben 
doch auch wir in dieser Zeit gesehen, 
wie ein Volk in seinem Unglück nach 
den dafür Verantwortlichen fragt und 
sie zu bestrafen wünscht. Aber warum 
soll gerade Elisa büßen? Hier wird 
vorausgesetzt, der Hörer wisse» wer Elisa 
war, und inwiefern ihm der König die 
Schuld an diesen entsetzlichen Zustän¬ 
den der Belagerung zuschreiben konnte. 
Eine Lücke im Text ist gewiß nicht 
vorhanden 33 ), wohl aber eine Lücke in 
der Erzählung, die der gegenwärtige 
Erklärer zunächst genau erkennen und 
dann mit Benutzung anderer Angaben 
aufs vorsichtigste zu schließen ver¬ 
suchen soll. Begreiflich, daß frühere 
Forscher, die mit den Stilgesetzen he¬ 
bräischer Erzählungsweise nicht ver¬ 
traut waren, hier unsicher hin und her 
geraten, zuweilen freilich auch das Rich¬ 
tige getroffen haben. Im folgenden sagt 
der König zu Elisa: Was soll ich noch 
auf Jahve warten? Elisa hat also die 
göttliche Hilfe in Aussicht gestellt und 
geraten, darauf zu harren. Wir dürfen 
uns also ein Ringen zweier Parteien in 
Samarien vorstellen, von denen die eine 
33) Gegen Klostermann. 


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Hermann Gunkel, Eine hebräische Meistererzählung 


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für die rechtzeitige Ergebung war, wäh¬ 
rend die andere, von Elisa geführte, den 
Widerstand anriet. Dieser Rat Elisas, so 
ist der König überzeugt, ist an allem Un¬ 
heil schuld! Noch heute muß er dafür 
sterben! Damit hat sich die Geschichte 
zu gewaltiger Spannung erhoben: die 
Stadt in schaudervoller Bedrängnis: alle 
Hoffnung verloren; der König, voller 
Verzweiflung, schäumt vor Wut; noch 
an diesem Tage muß Elisas Haupt 
fallen! 

Damit hat der Erzähler einen Über¬ 
gang zum zweiten Auftritt gefun¬ 
den und zeigt jetzt Elisa und den 
König zusammen. 

Elisa sitzt gerade in seinem Hause: 
sonst wird er im Lande umherwan¬ 
dernd, gelegentlich aber auch in Sa- 
marien wohnend gedacht 34 ). Die Älte¬ 
sten — das ist die aus den Vornehm¬ 
sten bestehende Ortsbehörde der Haupt¬ 
stadt 35 ) — vor ihm, um sich Rat und 
Zuspruch zu holen 36 ). Der Erzähler setzt 
also voraus, daß der Prophet unter 
den angesehensten Bürgern Anhänger 
hat, wie sich ja auch der König bis¬ 
her von ihm hat leiten lassen: eine 
allgemeine Lage, die wir für geschicht¬ 
lich halten dürfen. Nun sandte der 
König einen Mann vor sich her zu 
Elisa, zur Anmeldung; er will mit dem 
Propheten, ehe er sterben muß, noch 
ein Wort reden. ' Aber’ 37 ) bevor der 
Bote zu ihm kam, sprach er (Elisa) zu 
den Ältesten: Habt ihr’s gesehen, daß 
dieser Mörderssohn S8 ) gesandt hat, mir 

34) n. Könige 5, 9; 13, 17. 

35) Vgl. I. Könige 20,7; 21,8.11; II. 10,1. 

36) Eine ähnliche Situation Hesekiel 20,1; 
8,1; 14,1. 

37) Vgl. die griechische Übersetzung nach 
Lucian. 

38) Nicht „Mordbube“ zu übersetzen. Das 
im Morgenlande übliche sinnlose Beschimp¬ 
fen des Vaters ist im Alten Testamente nicht 
bezeugt. 


den Kopf abzuschlagen? Achtet auf; 
sobald der Bote kommt, so söhließt die 
Türe und drängt ihn mit der Türe zu¬ 
rück! Doch schon höre ich die Schritte 
seines Herrn hinter ihm her! Die Worte 
sind bisher von den Erklärern nicht 
verstanden und sogar kritisch verdäch¬ 
tigt worden 39 ). Man muß sich, um sie 
zu verstehen, die Erfahrungen und die 
Ausdrucksweise eines Propheten vor 
Augen stellen. Während der Gottes¬ 
mann mit den Ältesten im Hause zu¬ 
sammensitzt, ist sein Geist draußen bei 
dem Könige gewesen 40 ) und hat ihn 
belauscht, wie er den Boten entsendet. 
Und plötzlich schreit er auf: Habt ihr’s 
gesehen, was ich sehe, wie er den Hen¬ 
ker sendet? Also jähe Worte wilder 
Erregung, in der er für einen Augen¬ 
blick den Boten für den Henker hält! 
Er nennt den König mit stärkster Ach¬ 
tungsverletzung einen Mörderssohn, 
der, wenn er jetzt selber mordet, nur 
das Handwerk seines Vaters fortsetzt. 
Gemeint ist wohl Joram, dessen Vater 
Ahab von Elia, Elisas Meister, des 
Mordes anNabothbeschuldigt wurde 41 ). 
Und Elisa bittet die Ältesten im voraus, 
ihm zu Hilfe zu kommen: wenn der 
Henker erscheint, sollen sie ihn mit der 
Tür zurückhalten. Doch während er 
noch redet, kommt eine weitere Er¬ 
leuchtung über ihn: sich selbst unter¬ 
brechend und verbessernd schreit er 
aufs neue auf: Doch schon höre ich die 
Schritte seines Herrn hinter ihm her. 
Jetzt also merkt er, daß der Herrscher 
selber hjnter ihm herkommt. Und er 
hat recht gesehen; der Erzähler fährt 
fort: da er noch mit ihnen redete, kam 
'der König ’ 12 ) schon zu ihm hinab. 


39) Von Wellhausen u. a. 

40) Ähnliche Fälle I. Könige 14,6; II. 5,26; 

Apostelgeschichte 5, 9. 41) I. Könige 21. 

42) hammelech nach vielen Neueren 
Textänderungen in ‘Häkchen’. 


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87 


Hermann Gunkel, Eine hebräische Meistererzählung 


88 


Auch hier kann man die eigentümliche 
Knappheit des hebräischen Erzählungs¬ 
stils beobachten: daß der König sich 
inzwischen selber aufgemacht hat, um 
seinem Boten zu folgen, wird nicht 
eigentlich berichtet, sondern in Elisas 
Rede nur vorausgesetzt. Durch eine 
solche Erzählungsart werden wir mit 
unerhörter Lebendigkeit in die Dinge 
selber hineingerissen und gezwungen, 
den Vorgang im Geiste des Elisa mit¬ 
zuerleben. In diesem kleinen Zwischen¬ 
spiel erhält der Hörer eine Probe, wie 
der unheimliche Mann die Ereignisse 
in der Ferne sieht und hört, und wird 
so vorbereitet, das große Wort, das er 
im folgenden sprechen wird, zu ver¬ 
nehmen. Für uns Nachgeborene aber 
ist dieser Auftritt ein wichtiger Beitrag 
dazu, wie man sich in Israel den Pro¬ 
pheten mit höheren Kräften begabt vor¬ 
gestellt hat. 

Jetzt tritt der König selber vor Elisa 
hin. Von dessen Bitte, die Türe zu ver¬ 
rammeln, ist jetzt keine Rede mehr; 
wir selber ergänzen: dem Henker 
würde sie verschlossen geblieben sein, 
dem Herrscher wird sie geöffnet. Und 
nun fährt er den Propheten voller Zorn 
an: Das ist nun das Unheil von Jahve! 
Was soll iah fürder auf Jahve harrenI 
So weit, daß Frauen um den Leib ihrer 
Kinder rechten, ist es mit uns gekom¬ 
men! Dies Unglück hat uns Jahve ge¬ 
sandt! Wie können wir weiter auf seine 
Hilfe hoffen! Bei seiner wütenden Hast 
überstürzen sich die Worte, die das 
furchtbare Geschehen nur andeuten. 
Aber Elisa erwidert: Höret Jahves 
Wort! So hat Jahve gesprochen. Mit 
solcher Einführung pflegen Propheten 
ihre Orakel zu beginnen; hier wird die 
Formel besonders ausführlich, also in 
feierlichem Tone verkündet. Eine Aus¬ 
einandersetzung mit dem Könige lehnt 
der Prophet ab; dessen Verzweiflung 


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stellt er gewaltig die eigene Sicherheit 
gegenüber; hoheitsvoll hält er ihm das 
Gotteswort entgegen, das er soeben 
empfangen hat: Morgen um diese Zeit 
sollen '100 Maß' Grieß einen Sekel gel¬ 
ten und '200 Maß' Gerstenmehl einen 
Sekel im Tore von Samarien. Das Tor 
ist die übliche Verkaufsstelle, der 
Markt. Daß das Orakel den Markt¬ 
preis kundgibt, hat in einer Stelle der 
Offenbarung Johannes 43 ) ein Gegen¬ 
stück und ist verständlich genug: aus 
solchem Preise ergibt sich die ganze 
übrige Lage der Stadt. Wer uns doch 
heutzutage den Normalpreis des Wei¬ 
zens etwa in einem halben Jahre an¬ 
geben könnte! Nach dem Zusammen¬ 
hänge der Geschichte muß der so ge- 
weissagte Preis zu demjenigen, von dem 
der Anfang erzählt, den äußersten Ge¬ 
gensatz bilden: bisher schaurigste Teue¬ 
rung, nun plötzlich herrlichster Über¬ 
fluß, unglaubliche Billigkeit! Und das 
morgen! Der Prophet verheißt also 
den wunderbarsten Umschwung von 
heute bis morgen! Der Text ent¬ 
spricht dem, was wir so dem Zusam¬ 
menhänge mit Sicherheit entnehmen, 
nicht; er lautet: ein Sea (121) Grieß soll 
einen Sekel (2,50 M.) gelten und 2 Sea 
Gerste einen Sekel; aber das wäre nach 
israelitischen Begriffen kein Schleuder¬ 
preis: Klostermann hat durch eine gute 
Textverbesserung geholfen 44 ). 

Aber wer kann an einen so wunder¬ 
baren Wechsel glauben? Der Erzähler 
hat ein Mittel gefunden, um die völlige 
Unwahrscheinlichkeit einer so großen 
Wandelung auszusprechen; er legt den 
Zweifel daran einem Herrn aus dem 
Gefolge des Königs in den Mund. Der 
Ritter (d. h. der dritte Mann, der neben 
dem Wagenlenker auf des Königs Wa- 


43) Offenbarung Johannes 6, 6. 

44) me’ä und mä’thaim. 


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89 


Nachrichten und Mitteilungen 


gen steht), auf dessen Arm sich 'der 
König’ zu stützen pflegte 45 ), d. h. den 
er mit seiner besonderen Gnade be¬ 
ehrte und der ihn überallhin begleiten 
mußte, antwortet dem Gottesmann: 
Und selbst wenn Jahve Fenster am 
Himmel machte — was er doch nicht 
tun wird —, wie möchte solches ge¬ 
schehen? Gemeint ist natürlich nicht, 
daß Gott Regen vom Himmel hernie¬ 
dersenden könnte, denn das würde den 
Kaufpreis nicht von heute auf morgen 
ändern: sondern es handelt sich um 
einen höhnischen Spott: so viel Getreide 
habe nicht einmal Jahve im Himmel, um 
es auf die Erde hinabzuschütten. Elisa 
aber erwidert schlagfertig mit einer 
neuen Weissagung: Du selbst wirst es 
nur mit Augen sehen dürfen* 6 ), aber 
nicht davon essen! Er selber wird Zeuge 
des Wunders sein müssen, denn Gott 
nimmt sein Wort nicht zurück. Aber 
er bestraft den Ungläubigen dadurch, 
daß er ihm nur erlaubt, es anzusehen, 
und ihm keinen Anteil an seinem Gna¬ 
dengut verstauet. Auf welche Weise 
Gott ihm das Essen versagen wird, 

45) II. Könige 5, 18. 

46) Zum Ausdruck V. Mose 3, 27, vgl 
Ehrlich. 


QO 


spricht der Prophet nicht aus: Dunkel¬ 
heit gehört zum Stil der Orakelrede. 
Das wird er, ist erst die Zeit gekom¬ 
men, schon selber sehen I — Damit 
bricht der Auftritt plötzlich ab. Ein der¬ 
artiges gewaltsames Herumfahren ent¬ 
spricht der Kraft der Erzählungskunst. 
Auf das soeben verkündete Gotteswort 
kommt alles an; jede Hinzufügung 
würde es abschwächen. Wir aber dür¬ 
fen ergänzen, daß der König sich noch 
einmal umstimmen läßt und dem Got¬ 
tesmanne einen Tag Aufschub bewil¬ 
ligt 

Damit ist nun die Höhe der Erzäh¬ 
lung erreicht. Eine Weissagung ist aus¬ 
gesprochen: bis morgen soll der jähe 
Umschwung geschehen! Daß er kom¬ 
men wird, muß jeder Fromme glau¬ 
ben. Der Prophet, der den König in 
der Ferne seinen Boten aussenden sah 
und der ihn im voraus kommen hörte, 
der kann auch sagen, was am andern 
Tage sein wird. Freilich, hat er sich ge¬ 
irrt, so ist die Stadt verloren, und er 
selber muß sterben. Aber wie soll eine 
solche Wendung vor sich gehen? Un¬ 
sere Spannung ist jetzt aufs höchste 
gestiegen. Alles steht nun auf des Mes¬ 
sers Schneide. (Schluß folgt.) 


Nachrichten und Mitteilungen. 


Joseph Mausbach, Professor a. d. Uni- i 
versität Münster i. W. Naturrecht und Völker- 1 
recht Das Völkerrecht. Beiträge zum Wieder¬ 
aufbau der Rechts- und Friedensordnung der 
Völker, herausgegeben von Dr. G. J. Ebers, 
Professor der Rechte a. d. Universität Mün¬ 
ster i. W. Heft 1 u. 2. 

Seit Bergbohm mit dem Fanatismus eines 
Inquisitors auch die letzte Spur naturrecht¬ 
lichen Irrglaubens hinweggefegt, herrscht in 
der Rechtswissenschaft schrankenlos der Po¬ 
sitivismus. Aber der Positivismus vermag 
das Naturrecht nicht zu ersetzen; er ist un¬ 
fruchtbar; sein Prinzip fesselt ihn an den 
Wortlaut des Gesetzes, dessen totem Buch¬ 
staben er alles Lebendige unterwirft. Un¬ 


gerechtigkeiten, zu denen das Gesetz führt, 
vermag er nicht zu beseitigen, Lücken, die es 
hat, nicht auszufüllen. So bleibt derWunsch, 
sich von der Herrschaft des Unzulänglichen 
zu befreien. Aber die Begründer des Posi¬ 
tivismus haben ihn mit solchem Scharfsinn 
begründet, seine Verteidiger ihn mit solcher 
Wachsamkeit verteidigt, daß sich trotz aller 
Versuche kein Weg zeigen will, ihn theore¬ 
tisch zu überwinden. 

Zu den unerträglichsten Konsequenzen 
des Positivismus gehört die Leugnung des 
Rechtscharakters des Völkerrechts. Seine 
Normen verbinden uns nicht, da es an dem 
organisierten Zwang mangelt, der ihre Er¬ 
füllung garantiert. Es ist ohne rechtlichen 


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91 


Nachrichten und Mitteilungen 


92 


Inhalt, da der Gesetzgeber fehlt, die leere 
Norm mit positivem Gesetzesinhalt zu füllen. 

Im Weltkrieg haben unsere Feinde diese 
Theorie sogar agitatorisch verwertet. „Wenn 
sogar die deutsche Wissenschaft das Völker¬ 
recht leugnet, so kann es nicht wunder¬ 
nehmen, wenn auch die deutschen Soldaten 
es mißachten.“ 

An diesem schwächsten Punkte des Posi¬ 
tivismus setzt der Verfasser ein; das Natur¬ 
recht soll wieder erwachen. Freilich nicht 
das Naturrecht der Aufklärung, des allein¬ 
seligmachenden Verstandes, des Atheismus, 
sondern das altehrwürdige Naturrecht der 
katholischen Doktrin, das christliche Jus na- 
turae. Neu ist also lediglich die Hinwendung 
dieses geistlichen Naturrechts auf das Völ¬ 
kerrecht. Da dies der Grundgedanke der 
ganzen Sammlung ist, so ist dies Heft als 
grundlegend mit Recht an die Spitze ge¬ 
stellt. 

„Wir fassen*, sagt Mausbach (S. 67), »das 
rechtliche Naturgesetz formell genau so wie 
das allgemein sittliche Naturgesetz als einen 
Inbegriff derjenigen Normen, die sich für 
die Vernunft aus dem geistig erfaßten We¬ 
sen des Menschen und der ihn umgebenden 

Welt mit Notwendigkeit ergeben,.mit 

dem Unterschied, daß wir es jetzt nur mit 
dem Rechtsgebiet, nicht mit dem der Sitt¬ 
lichkeit im weitesten Sinne zu tun haben“. 
Zu dieser Definition ergänze ich aus einer 
andern Stelle (S. 89): »Innerhalb der Sitt¬ 
lichkeit unterscheiden wir die Tugenden der 
Frömmigkeit, Demut, Keuschheit usw. scharf 

von der Tugend der Gerechtigkeit. 

Diese ... ist nichts anderes als Rechtsge¬ 
sinnung“. Der „natürlichen Rechtsgesin¬ 
nung“ entspricht als „Beziehungspunkt und 
Willensinhalt“ ein natürliches Recht (S. 90). 

So verstanden bedarf das Recht zu seiner 
Geltung nicht des organisierten Zwanges; 
dessen Fehlen steht daher der Rechtsnatur 
des Völkerrechts nicht im Wege. 

So verstanden hat das Völkerrecht, wie 
alles Recht, auch ohne Gesetzgeber, seinen 
natürlichen Inhalt, der sich aus den all¬ 
gemeinsten Rechtsgrundsätzen ableiten läßt. 
Dahin gehören das Recht der Selbstbe¬ 
hauptung der Staaten (S. 181), der Notwehr 
und des Notstandes (S. 120), das Recht 
nationaler Selbstbestimmung in den Gren¬ 


zen der Vernunft (S. 119) und vieles andere 
mehr. 

Letzten Endes aber — und dies ist dem 
Verfasser das Wichtigste, wenn es hier auch 
am Schlüsse steht — ist das Völkerrecht 
nicht ein starres Schema von Begriffen jen¬ 
seits von Gut und Böse, sondern, wie alles 
Recht, ist es beherrscht von den Prinzipien 
der Sittlichkeit. Das Völkerrecht ist richtig 
verstanden ein christliches Völkerrecht oder 
sollte es doch sein, denn „das ersehnte 
.Überrecht* über den trennenden Rechten, 
Interessen und Kulturen der Völker, so 
innig es mit der wahren Natur des Men¬ 
schen und der Dinge verwachsen ist, es 
hat doch seinen letzten Ursprung und 
Lebensgrund nur im lebendigen Gott der 
.Oberwelt* “ (S. 136). 

Sind die Voraussetzungen des Verfassers 

— seine Auffassung vom Wesen des Rechts 

— richtig, so ist gegen deren Anwendung 
auf das Völkerrecht natürlich kein Bedenken 
zu erheben. Gerade diese Voraussetzungen 
aber sind nicht neu, sondern das Jus naturae 
der katholischen Kirche existiert in dieser 
Form mindestens schon seit den Scholasti¬ 
kern. Die weltliche Rechtswissenschaft hat 
dies Jus naturae, wie eben alles Naturrecht, 
in Acht und Bann getan, aber praktisch 
Brauchbareres hat sie nicht an seine Stelle 
setzen können. Darum ist das letzte Wort 
wohl noch nicht gesprochen. 

Es wäre vermessen, im Rahmen eines 
kurzen Referats über solch tausendjähriges 
Problem urteilen zu wollen. Es muß die 
Feststellung genügen, daß es sich um eine 
sorgfältige, musterhaft klare Darstellung der 
überkommenen Lehre handelt, die sich mit 
allen dagegen erhobenen Einwänden ein¬ 
gehend und mit scharfer Dialektik aus¬ 
einandersetzt. Auch wer nicht überzeugt 
wurde, wird das hohe Ziel nicht verkennen, 
das der Verfasser, wie die Beitragsreihe, 
die er eröffnet, sich gesteckt hat: „Heraus 
aus der Fron eines öden, sittlich blinden 
Posivitismusl Hin zu einem wahren, rich¬ 
tigen, sittlichen Recht!“ Nicht nur die Se¬ 
genswünsche des Papstes, dessen sich das 
Unternehmen rühmt, sondern auch der Bei¬ 
fall der ganzen gesitteten Menschheit ist 
ihm dabei sicher. In magnis et voluisse 
sat est. .s. 


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03 


Zeitschriftenschau 


94 


Zeitschriftenschau. 


Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 

Die „Zeitschrift für Ästhetik und allgem. 
Kunstwissenschaft“') ist das wichtigste und 
in mancher Hinsicht das einzige wissen¬ 
schaftliche Organ ihres Gebiets. Zwar er¬ 
scheinen auch in philosophischen, psycho¬ 
logischen und historischen Blättern gelegent¬ 
lich Abhandlungen kunsttheoretischen In¬ 
halts, doch muß man diese oft weither 
zusammensuchen. Die obengenannte, von 
Dessoir trefflich geleitete Zeitschrift bringt 
in ihren letzten Nummern eine Arbeit 
Schmarsows, die ein weitgestecktes Ziel 
verfolgt: zwei verschiedene Wissenschaften 
zur Verständigung über ihre geistigen Werk¬ 
zeuge zu führen. Die Abhandlung heißt: 
Kunstwissenschaft und Kulturphilo¬ 
sophie mit gemeinsamen Grundbe¬ 
griffen. Sie beginnt mit einer ziemlich 
eingehenden Auseinandersetzung mit Wölff- 
lins „Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen“, 
vor allem mit dessen Begriffspaar „Linear“ 
und „Malerisch“, das Schm, anders faßt als 
Wölfflin. Als vornehmsten Grundbegriff, der 
sich als der Kunst- und der Kulturwissen¬ 
schaft gemeinsam herausstellt, hebt Schm, 
den des „Individuums“ hervor. Als Auf¬ 
gabe der Plastik wird unter diesem Ge¬ 
sichtspunkt hingestellt, das menschliche In¬ 
dividuum aus dem Strom des Werdens her¬ 
auszuheben und in voller Selbständigkeit 
und Geschlossenheit zu verewigen. Dem¬ 
gegenüber faßt die Mimik (ein Begriff, den 
Schmarsow bedeutend weiter nimmt, als es 
gewöhnlich geschieht) den Menschen nicht 
in seiner Isolation, sondern in Gemeinschaft. 
Die Körperbewegungen und das Gebaren 
werden als Ausdruckswerte begriffen. Die 
leitende Idee der Malerei dagegen ist die 
Darstellung des sichtbaren Zusammenhangs 

1) Heft XIII. E. Cassirer: Goethes Pan¬ 
dora. Paul Klopfer: Das räumliche Sehen. 
P. F. Schmidt: Klassizismus. A. Schmar¬ 
sow: Kunstwissenschaft u. Kulturphiloso¬ 
phie mit gemeinsamen Grundbegriffen I. 

Heft XIV. A. Schmarsow: Kunstwissen¬ 
schaft u. Kulturphilosophie mit gemeinsamen 
Grundbegriffen II. Bernhard Schweitzer: 
Die Begriffe des Plastischen und Malerischen 
als Grundformen der Anschauung. L. Frie¬ 
de m a n n: Die romantische Ironie. 0. B r a u n : 
Studien zum Expressionismus. 


zwischen Personen und ihrem Schauplatz. 
Was sie zu bieten hat, ist das „Bild“, die 
höhere Einheit zwischen Körpern und Raum. 
Die Poesie bietet als spezifischen Wert 
| den motivierten Zusammenhang, den wir 
als Täter unsres Willens überall erwarten 
und suchen. Die Musik endlich sucht als 
Wert zu erfassen das Gefühl, das als „Ge¬ 
mütsbewegung“ in uns zittert und wogt. 
Auf diesen Aufstellungen fußend, faßt Schm, 
in einem Schlußkapitel je zwei Künste zu¬ 
sammen, von denen die eine der räum¬ 
lichen, die andre der zeitlichen Hemisphäre 
angehört: Mimik und Plastik, Poesie und 
Architektur, Musik und Malerei. Durch diese 
Zusammenfassung hofft Schm, zu einer lehr¬ 
reichen und fruchtbaren Reihe von höheren 
Idealtypen zu gelangen, die die letzten 
Grundbegriffe sind, die die Kunstwissen¬ 
schaft jetzt zu bieten hat. 

Noch eine zweite Abhandlung des glei¬ 
chen Hefts behandelt dasselbe Thema. In 
seinem Aufsatz über „die Begriffe des 
Plastischen und Malerischen als 
Grundformen der Anschauung“ geht 
Bernhard Schweitzer von folgender 
Grundthese aus: „Das Bestreben der voll- 
körperlichen Bildwerdunggeht auf allseitige 
Begrenzung im unbegrenzten dreidimen¬ 
sionalen Raum, die malerische Wiedergabe 
will Darstellung einer unbegrenzten Viel¬ 
heit in der begrenzten, zweidimensionalen 
Fläche.“ Diese Gedanken werden in Unter¬ 
suchungen über antike Kunst vor allem 
weiter ausgeführt. — Käte Friedemann 
revidiert die Anschauungen über die ro¬ 
mantische Ironie. Sie sucht zu zeigen, 
daß die romantische Ironie die Tragik über¬ 
windet, die der Seele aus dem Zusammen¬ 
stoß ihrer eignen Forderungen mit denen 
der Außenwelt erwächst, und zwar geschieht 
diese Überwindung durch volle Preisgabe 
des begrenzten Selbst an die Realität des 
Ganzen. Daraus wird jene Stimmung heitrer 
Ironie geboren, die sich gegen das Ich selbst 
kehrt, weil der einzelne Mensch als solcher 
mit allem, was ihm das eigne Leben zu 
bringen vermag, nicht wichtig genug ist, 
als daß man ihn ernst nehme. 

Zum Problem des Expressionismus 
nimmt der Schellingianer Otto Braun Stel¬ 
lung. Er will der neuen Kunstrichtung, die 
er auf ihren philosophischen Gehalt prüft. 


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Zeitschriftenschau 


96 


95 


noch keinen Idealismus der Auffassung zu¬ 
sprechen, sondern einen „anthropozentri¬ 
schen Psychismus“. Dabei ist jedoch bei 
Braun der Begriff des Expressionismus nicht 
sehr scharf umrissen, was freilich etwas im 
Wesen der Sache liegt. Er will eine demo¬ 
kratische und eine aristokratische Linie 
unterscheiden, wobei man freilich die Zu¬ 
gehörigkeit der letzteren Art, zu der u. a. 
Stefan George und Th. Mann gerechnet 
werden, zum Expressionismus bestreiten 
kann. Die Frage, ob der Expressionismus 
wirklich der Ausdruck des jungen Geschlechts 
ist, gibt Braun nur zum Teil zu, wie mir 
scheint, mit Recht! 


Die andern philosophischen und psycho¬ 
logischen Zeitschriften, die sonst für ästhe¬ 
tische Dinge Raum hatten, sind teils ein¬ 
gegangen, teils sind sie heuer gerade auf 
unserm Gebiete unergiebig. Eine Ausnahme 
macht nur die „Zeitschrift für ange¬ 
wandte Psychologie“, die einen Aufsatz 
von K. H. Bouman bringt, der von einem 
interessanten Problem ausgeht. 1 ) Er handelt 
über „Das biogenetische Grundgesetz 
und die Psychologie der primitiven 
Kunst.“ Es besteht nämlich die Tatsache, 
daß das Kind wie der primitive Kultur¬ 
mensch in gewisser Analogie ganz unrea¬ 
listisch, stark symbolisch zeichnen, daß je¬ 
doch daneben, nach Ausweis der frühesten 
Höhlenfunde aus der paläolithischen Zeit, 
viel früher als jene symbolische, eine rein 
naturalistische Kunst bestanden hat. Ver- 
wom hat diesen Gegensatz so formuliert, 
daß er die Kunst des Kindes ideoplastisch, 
die Kunst jener vergessenen Jägervölker 
dagegen „physioplastisch“ genannt hat. Es 
scheint also das biogenetische Grundgesetz 
auf diese Tatsachen nicht anwendbar zu 
sein. Bouman bringt zur Erklärung jenes 
Problems nun einen interessanten patholo¬ 
gischen Fall heran, den eines schwachsinni¬ 
gen Mädchens, die eine hervorragende Künst¬ 
lerin ist, mit einem überraschenden Form¬ 
gedächtnis und guter Beobachtung bild¬ 
nerische Darstellungen zu liefern vermag. 
Anknüpfend an diesen Fall stellt nun der 
Verfasser die Hypothese auf, daß jene Ur- 

1) Z. für angew. Psychologie XIV, Heft 
3 u. 4. 


menschen noch auf so niederer Entwick¬ 
lungsstufe gestanden hätten, daß ein kom¬ 
plizierteres Geistesleben ihre Zeichenkunst 
noch nicht habe beeinflussen können, daß 
vor allem die sprachliche Entwicklung ihnen 
ganz gefehlt habe, so daß die symbolische 
Darstellung ihnen noch unzugänglich ge¬ 
wesen sei. Ihre Kunst konnte daher noch 
keine „Ideogramme“ liefern wie die höher¬ 
entwickelter Völker auf der Frühstufe. 


Für mehrere eingegangene philosophi¬ 
sche Zeitschriften tritt sofort in stattlichem 
Jahresband eine neue auf den Plan in den 
von H. Vaihinger unter Mitwirkung zahl¬ 
reicher namhafter Gelehrter begründeten 
„Annalen der Philosophie.“ („Mit be¬ 
sonderer Rücksicht auf die Probleme der 
Als-Ob-Betrachtung“).') Diese Zeitschrift 
scheint bestimmt, weit über die Philo¬ 
sophie hinaus reichste Anregung auszu¬ 
streuen. Auch für die Ästhetik ist hier 
neben ziemlich allen anderen Wissens¬ 
zweigen ein stattlicher Raum zur Verfügung 
gestellt. Mit Recht, denn der so überaus 
fruchtbare „Fiktionsbegriff“, den Vaihinger 
als Ferment in die moderne Wissenschaft 
getragen hat, verspricht auch in der Ästhe¬ 
tik vielerlei Anregung. Im vorliegenden 
Bande der neuen Zeitschrift, die laut 
Ankündigung von nun an auch in einzel¬ 
nen Heften erscheinen soll, setzt sich der 
„Illusionsästhetiker“ Konrad Lange mit 
einigen Gegnern, vor allem Meumann und 
Streiter sehr energisch auseinander (in dem 
Aufsatz „Die ästhetische Illusion und ihre 
Kritiker“). — Zwei weitere Aufsätze der 
gleichen Zeitschrift über den „Begriff der 
Individualität als fiktive Konstruk¬ 
tion“ und „Grundzüge einer neuen 
Wertlehre“ von Richard Müller- 
Freienfels widmen, obwohl in der Haupt¬ 
sache allgemein philosophischen Inhalts, der 
Ästhetik je ein besonderes Kapitel, in dem 
ebenfalls der Als-Ob-Gedanke Vaihingers 
praktisch fruchtbar zu machen versucht wird. 
Näher darauf einzugehen, ist an dieser 
Stelle unmöglich, da im vorliegenden Fall 
der Referent zugleich als Verfasser verant¬ 
wortlich zeichnet. M.-F. 


1) I. Band, erschienen im Verlag von 
F. Meiner, Leipzig. 


Für die Schriftleitung verantwortlich: Professor Dr. Max Cornicelius, Berlin W 30, LuitpoldstrnBe 4- 

Drude von B. Q. Teubncr ln Leipzig. 


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INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT 

FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK 


14. JAHRGANG 


HEFT 2 NOVEMBER 1919 


Lloyd George vor 1914. 

Von Felix Salomon. 


Es ist kennzeichnend für das Wesen 
der Revolution, die wir durchmachen, 
daß die Urteilskraft weiter Volkskreise 
Schaden gelitten hat. Unser stolzes Heer 
ist zertrümmert; da gibt es nicht we¬ 
nige unter uns, denen es schon nicht 
mehr deutlich bewußt ist, was eigent¬ 
lich dieses Heer vollbracht hat. Die Ge¬ 
schichte wird es eines Tages verkün¬ 
den; Das deutsche Heer hat die auf 
sein Können gesetzten Erwartungen 
nicht nur erfüllt, es hat sie durch mär¬ 
chenhafte Leistungen übertroffen und 
Taten vollbracht, wie sie noch nie in 
der Heeresgeschichte irgendeines Vol¬ 
kes gemeldet worden sind. Ebenso 
sicher wird aber die Geschichte be¬ 
stätigen, daß unsere Gegner auf po¬ 
litischem Gebiete überlegen gewesen 
sind. Man pflegt hierbei zumeist an 
das Bereich der auswärtigen Politik 
zu denken, auf dem die Überlegenheit 
unserer Feinde, auf jahrhundertalte 
Schulung und Traditionen gestützt, am 
augenfälligsten ist; ob sie auch dort 
in Erscheinung getreten ist, wo es galt 
die innere Politik auf die Bedürfnisse 
der auswärtigen einzustellen? Hier er¬ 
öffnet sich ein verantwortungsvolles 
Gebiet für geschichtliche Forschung; 
bei dem bedeutendsten unter den feind¬ 
lichen Staatsmännern, Lloyd George, 
lehrt bereits ein vorläufiges Studium, 
daß die von ihm im Kriege gespielte 
Rolle, daß seine Erfolge in hohem Maße 
durch seine Tätigkeit vor dem Kriege 



vorbereitet worden sind. Es ist unter 
diesem Gesichtspunkte von Interesse, 
„Lloyd George vor 1914“ kurz zu be¬ 
trachten. 

Es fällt uns heute immer noch schwer, 
das Grundthema der englischen Po¬ 
litik vor dem Kriege zu begreifen, weil 
wir selbst eines, das mit Bewußtsein 
alle Schichten unseres Volkes geeint 
hätte, nicht besessen haben. Das Grund¬ 
thema in England lautete: Sicherung 
des britischen Reiches. Diese Losung 
kennzeichnete den Entwicklungsgang, 
den die englische Geschichte seit 1870 
durchgemacht hatte; Englands eigenes, 
engeres Dasein war seitdem mit den 
Reichsinteressen nach und nach in dem 
Maße verwachsen, daß es gar nicht 
isoliert mehr zu denken war; alles, was 
der Engländer als Erbe der Vergangen¬ 
heit herrschsüchtig und stolz sein eigen 
nannte, nicht zum mindesten seine vor¬ 
herrschende Stellung in Handel und 
Industrie, stand in Wechselwirkung mit 
der politischen Sicherung des über die 
Welt sich erstreckenden ungeheuren 
britischen Besitzstandes. Der englischen 
Staatsleitung lag es ob, diese Tatsache 
zum Bewußtsein aller Volkskreise zu 
bringen und die gesamte Politik da¬ 
nach einzurichten; in verschiedener 
Weise und auf den verschiedensten Ge¬ 
bieten ist dies geschehen. Der Wir¬ 
kungskreis von Lloyd George hebt sich 
— wenn wir den Grundströmungen 
des politischen Lebens folgen — ab 

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Felix Salomon, Lloyd George vor 1914 


100 


von den Maßnahmen, welche Joseph 
Chamberlain ergriffen hatte, um die 
Interessengemeinschaft zwischen Eng¬ 
land und dem Reiche zum Ausdruck 
zu bringen. Sein Programm war als das 
eines sozialen Imperialismus gedacht; 
von sozialen Reformen ging er über 
zur Organisation des Reiches, welche 
Mutterland und Dominions in einem 
geschlossenen Macht- und Wirtschafts¬ 
bereiche zusammenfassen sollte, nicht 
zum mindesten auch im Interesse der 
breiten Massen, deren Lebenshaltung 
gehoben und für die Zukunft sicher¬ 
gestellt werden sollte. Bei Ausführung 
des Planes erwies es sich aber, daß der 
koloniale Nationalismus Gegenforde¬ 
rungen erhob, welche zum mindesten 
für die Gegenwart die Sachlage recht 
sehr änderten: Es wurde die Abkehr 
vom überkommenen Wirtschaftssystem 
zur Bedingung gemacht, womit den Ar¬ 
beitern zunächst einmal Opfer in Ge¬ 
stalt der Verteuerung wichtiger Lebens¬ 
mittel zugemutet wurden. Der Wider¬ 
stand, der sich hiergegen erhob, war 
um so heftiger, als der ebenfalls zum 
imperialistischen Schema Chamberlains 
gehörige südafrikanische Krieg den Ar¬ 
beitern ebensowenig einleuchtete; un¬ 
ter denen, welche damals die schärf¬ 
sten Worte gegen die ministerielle Po¬ 
litik und den Krieg fanden, machte 
sich Lloyd George zuerst im öffent¬ 
lichen Leben bemerkbar. Nicht zufäl¬ 
ligerweise wird er die Persönlichkeit 
Chamberlains vom Beginn seiner par¬ 
lamentarischen Tätigkeit an zur Ziel¬ 
scheibe seiner Angriffe gemacht haben, 
damals ein kühnes Unternehmen in 
Anbetracht des Ansehens, dessen Cham¬ 
berlain sich erfreute. Als dann die kon¬ 
servative Herrschaft 1905 zu Fall kam 
und die Liberalen ans Ruder gelang¬ 
ten, war der Zeitpunkt gekommen, wo 
Lloyd George beweisen konnte, wie er 


das Staatsschiff anders gesteuert zu 
sehen wünschte; er trat als Handels¬ 
minister ins Kabinett und wurde bald 
darauf als Kanzler des Schatzamtes 
zu führender Stellung berufen. 

Den nächsten Maßstab für die Be¬ 
urteilung des Schaffens von Lloyd 
George bietet der Wirkungskreis, den 
sich die Liberalen als Partei abge¬ 
steckt hatten; er unterschied sich von 
dem der Konservativen grundsätzlich. 
Allerdings die Sicherung des Reiches 
blieb das Kernanliegen, aber das 
Schwergewicht hinsichtlich der hierzu 
zu ergreifenden Maßnahmen wurde an¬ 
derswohin verlegt. Die Reichsbildung 
war von England ausgegangen, Eng¬ 
land trug noch immer die Hauptlasten, 
die Liberalen meinten, die festeste 
Grundlage schaffe diejenige Politik, 
welche die breiten Massen in England 
befriedige und für sie die Gegenwart 
erst glücklicher gestalte, bevor für das 
Reich Opfer verlangt würden. Die 
Sicherung des Reiches draußen fiel Sir 
Edward Grey zu, das Verhältnis zu den 
Dominions suchte Asquith, soweit es 
die Umstände gestatteten, zu regeln; 
Lloyd George erhielt die Führerschaft 
auf dem Gebiete, wo es galt, Fühlung 
mit dem Volke zu gewinnen. Eben auf 
diesem waren von der Partei aus neue 
Richtlinien gegeben; der Liberalismus 
war gewillt, ungehemmt durch Theo¬ 
rien und Dogmen irgendwelcher Art, 
den veränderten Verhältnissen Rech¬ 
nung zu tragen. Dahin wirkte eigene 
Einsicht; der Druck der Arbeiterschaft 
tat das übrige. Das Ziel des alten 
Führers Gladstone war zuletzt gewe¬ 
sen, ein sittlich erzogenes Volk auf 
sich selbst zu stellen; das war damals 
gewesen, wo der Liberalismus vorzüg¬ 
lich noch eine Partei des Bürgertums 
war. Jetzt schickte er sich an die brei¬ 
ten Massen zu gewinnen, und so ver- 


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Felix Salomon, Lloyd George vor 1914 


102 


breiteten liberale Programmschriften 
die Erkenntnis, daß Freiheit und Recht, 
die liberalen Kernforderungen, als wirt¬ 
schaftliche Probleme zu behandeln 
seien; es wurde darauf hingewiesen, 
daß die wahre Freiheit der Persönlich¬ 
keit deren wirtschaftliche Hebung be¬ 
dinge, und daß das Recht auf Existenz 
abhängig geworden sei von der Besei¬ 
tigung der Hemmnisse, um ein men¬ 
schenwürdiges Dasein zu führen. Dem¬ 
gemäß stellte das liberale Ministerium 
ein soziales Reformprogramm großen 
Stiles in den Mittelpunkt seines Wir¬ 
kens; dort, wo Chamberlain stehen ge¬ 
blieben war, sollte eingesetzt werden, 
um die Konservativen tüchtig zu über¬ 
trumpfen. Dieser Rahmen bot sich für 
die Tätigkeit von Lloyd George. 

Zur Beurteilung seines engeren Wir¬ 
kungsgebietes gilt es nun zu wissen, 
welches überhaupt der Stand der so¬ 
zialen Gesetzgebung zu seiner Zeit 
war; Lloyd George selbst sah sich in 
allen Ländern um und bekannte frei¬ 
mütig, was er anderen schuldete, wo¬ 
bei wir vernehmen, daß er sich keinem 
Lande zu größerem Danke verpflichtet 
fühlte als Deutschland. Er lernte 
ebenso wie Chamberlain vor ihm, nur 
eingehender und eindringlicher, aus 
dem Vorbilde der Bismarckschen Ar¬ 
beiterschutzgesetzgebung, die ja nach 
allgemeinem Urteile epochemachend ge¬ 
wesen war. So ist es überhaupt nicht 
däs Schöpferische, was Lloyd Georges 
Werk kennzeichnete; das was seiner 
Führung und Leitung den Stempel gibt, 
ist die Verbindung der Maßnahmen, die 
er anregte und durchführte, mit den 
Äußerungen und dem Gewicht einer 
Persönlichkeit von ganz eigenem Ge¬ 
präge. 

Man wird es keinem Deutschen zu¬ 
muten, sich in der liebevollen Art deut¬ 
scher biographischer Forschung in den 


Lebensgang dieses Feindes zu versen¬ 
ken, indessen bleibt es Pflicht des Hi¬ 
storikers, den Wurzeln nachzugehen, 
aus denen er die Eigenart einer ge¬ 
schichtlich bedeutsamen Erscheinung 
sich erklären zu können meint. Und da 
bieten sich folgende Beobachtungen: 
Lloyd George ist der erste Kelte auf 
hohem staatsmännischen Posten, in 
einem kleinen Waliser Dorf ist er ge¬ 
boren. Sein erstes politisches Anliegen 
war, die Interessen dieser, seiner enge¬ 
ren Heimat zu verfechten; als Waliser 
Nationalist ist er ins öffentliche Le¬ 
ben getreten. Seinem religiösen Be¬ 
kenntnisse nach zählte er zu den Non¬ 
konformisten schärfster Richtung: der¬ 
art verband er mit der dem Kelten 
eigentümlichen Kampfesfreudigkeit den 
Fanatismus des Puritaners. Er trägt 
Glut und Leidenschaft in das kalte 
Gebiet der Politik hinein, als sei er ein 
Geistesverwandter Cromwells; unter¬ 
schiedlich von diesem ist es offen¬ 
sichtlich kein einheitliches, großes, aus 
der Tiefe kommendes Interesse, das 
ihn erfaßt, die Gegenstände seines Ei¬ 
fers wechseln mit den Aufgaben, die 
sich ihm stellen und mit den Zeitströmun¬ 
gen, denen er sich anzupassen versteht. 
Der feste Pol bleibt sein Herrscher¬ 
wille, sein Machtstreben, sein Drang 
zu führen, zu leiten, drängend und 
ringend sich durchzasetzen. In den 
Dienst dieses Strebens und Wollens 
stellt er zweifellos hohe geistige Fähig¬ 
keiten und wohl auch eine unver¬ 
wüstliche körperliche Kraft. Früh 
schafft er sich Gehör als Meister der 
Beredsamkeit, einer Beredsamkeit, die 
mit neuen Mitteln arbeitet; er regt nicht 
wie die Meisterredner in der Blütezeit des 
Parlamentarismus die geistige Spann¬ 
kraft einer aristokratischen Zuhörer¬ 
schaft an, er übt eine suggestive Wir¬ 
kung auf die Massen aus, er zieht sie 

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Felix Salomon, Lloyd George vor 1914 


zu sich heran durch das sich Einfüh- 
len in ihre Bedürfnisse und die an¬ 
schauliche Art, diese darzulegen. Hier 
macht sich die Gesellschaftsschicht gel¬ 
tend, aus der Lloyd George hervorge¬ 
gangen ist; als Sohn eines armen Volks¬ 
schullehrers lernte er die Not des Le¬ 
bens am eigenen Leibe kennen, erfuhr, 
wie wenig das bisher zur Hebung alles 
Elends Gebotene genügte, und sah die 
Hemmnisse, die es zu beseitigen galt, 
mit eigenen Augen. Alles in allem er¬ 
scheint Lloyd George von ferne, mit 
den Augen des Historikers gesehen, als 
Vertreter einer neuen Staatskunst, einer 
demokratischen, und mit seinen Kün¬ 
sten und Hilfsmitteln, seinen Machthe¬ 
beln, um sich durchzusetzen, als der 
größte Demagoge, der bisher in Eng¬ 
land gelebt hat. 

Das sozialpolitische Gesetzgebungs¬ 
werk des liberalen Kabinetts, an dem 
Lloyd George den Hauptanteil hatte, 
ist noch kurz vor dem Kriege in einer 
deutschen Darstellung sachkundig be¬ 
schrieben worden 1 ): Lloyd George hat 
diesem Buche nach englischer Sitte ein 
lesenswertes Geleitwort beigefügt. Er 
kennzeichnet die Methode, durchweiche 
seine Sozialpolitik sich von der frühe¬ 
ren unterscheidet, und hebt die Ma߬ 
nahmen hervor, auf die es ihm am 
meisten angekommen sei. Das Gesetz¬ 
gebungswerk besteht: 1. aus dem im 
Jahre 1909 in Kraft getretenen Alters¬ 
pensionsgesetz, das allen über 70 Jahre 
alten Arbeitern ohne Leistung irgend¬ 
welcher Beiträge eine Beihilfe von fünf 
Schilling pro Woche gewährt; 2. aus 
der am 15. Juli 1912 in Kraft getrete¬ 
nen staatlichen Zwangsversicherung ge¬ 
gen Krankheit und Invalidität, zu deren 

1) H. A. Walter, Die neuere englische 
Sozialpolitik. (Die Kultur des modernen 
England, herausgegeben von E. Sieper, 
Band 6.) 1914. 


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Kosten nach deutschem Vorbild Ar¬ 
beiter, Unternehmer und Staat gemein¬ 
sam beitragen; 3. wurde ein Gesetz ge¬ 
gen Arbeitslosigkeit erlassen, das zu¬ 
nächst allerdings nur den Maschinen¬ 
bau, den Schiffbau, das Baugewerbe 
einbezog. Neben dieser Versicherungs- 
gesetzgebung wurde die Frage der 
schiedsgerichtlichen Einigung im Streik¬ 
falle ins Auge gefaßt und sind staat¬ 
liche Arbeitsvermittelungsbureaus ge¬ 
schaffen worden. Die vollkommenste 
Abkehr von dem alten liberalen Leit¬ 
sätze der Selbsthilfe bedeutete jedoch 
eine dritte Reihenfolge von gesetzge¬ 
berischen Maßregeln; hier ist die staat¬ 
liche Lohnerhöhung zu nennen, auf die 
Lloyd George ein besonderes Gewicht 
gelegt hat. Die Trade Boards Act 
brachte für die schwache und organi¬ 
sationsunfähige Arbeiterschaft einer 
Reihe von Hausindustrien obligatori¬ 
sche Lohnämter mit Mindestlohnfest¬ 
setzungen. Dieses Gesetz erstreckte 
sich zunächst auf vereinzelte Industrien, 
sollte aber auf andere Gewerbe aus¬ 
gedehnt werden. Es ist das Gesetz im 
Interesse der Kohlenbergbauarbeiter ge¬ 
folgt, das einen Minimallohn zur Ein¬ 
führung brachte. Ein ganz persönliches 
Anliegen von Lloyd George war die 
Nutzbarmachung von Grund und Bo¬ 
den für die Allgemeinheit; er wünschte 
das Bodenmonopol des Großgrundbe¬ 
sitzes zu beseitigen. Dje Developments 
Act von 1909 diente der Erschließung 
des Landes und der inneren Koloni¬ 
sation; die Maßnahmen gegen den 
Großgrundbesitz waren noch nicht ab¬ 
geschlossen, als der Krieg ausbrach. 

Das Werk von Lloyd George ist rhe¬ 
torisch und publizistisch von ihm vor¬ 
bereitet und begleitet worden; eine 
Auswahl seiner Reden ist in deutscher 
Sprache unter einem Titel, der als Lo¬ 
sung gelten soll, erschienen: „Bessere 


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Felix Salomon, Lloyd George vor 1914 


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Zeiten.“ 2 ) Formell und sachlich bieten 
diese und andere Reden von ihm viel; 
im Mittelpunkt der deutschen Samm¬ 
lung steht die große Budgetrede, die 
Rede für „das Budget des Volkes“, wie 
Lloyd George sie nannte, und die er 
hielt, um die enormen Geldmittel für 
seine Reformen verfügbar zu erhalten. 
Ein Zuhörer aus dem Arbeiterstande 
pries sie als die fähigste und erschöp¬ 
fendste, die er je im Unterhaus gehört 
habe; es kann kein Zweifel, sagte er, 
über „die magische Gewalt des Red¬ 
ners“ bestehen. Die Rede klang in fol¬ 
genden Worten aus: „Dies ist ein 
Kriegsbudget. Es will Geld aufbringen 
zum Feldzug wider Armut und Er¬ 
niedrigung.“ In allen Reden geißelt 
Lloyd George die Schäden der Zeit; 
man kann als Deutscher trotz ihrer 
Eindringlichkeit nicht sagen, daß sie 
auf das Gemüt wirkten. Sie wenden 
sich englischer Art gemäß mehr an das 
Rechtsgefühl, ohne daß eine Reizung 
der schlechten Instinkte immer vermie¬ 
den worden wäre. Ein Beispiel von 
stärkster suggestiver Kraft und echtem 
Pathos bieten folgende Sätze: „Wenn 
am Ende einer Durchschnittsperiode 
unseres Amtes die Nation finden wird, 
daß die gegenwärtige Regierung sich 
nicht ernstlich mit den sozialen Be¬ 
dingungen des Volkes beschäftigt hat, 
nicht versucht hat, die nationale Er¬ 
niedrigung des Slums, der weitverbrei¬ 
teten Armut und Verwahrlosung in 
einem Lande zu entfernen, das von 
Reichtum funkelt, wenn das Parlament 
zurückschreckt, die Hauptursachen die¬ 
ses Elends, nämlich die Trunksucht 
und das System des Grund und Bo¬ 
dens, unerschrocken anzugreifen, wenn 
es die Verschwendung nationaler GO- 

ZI Lloyd George, Bessere Zeiten. Jena 
1911. Mit Vorwort des Herausgebers Eduard 
Bernstein. 


ter in Rüstungen nicht aufhält und 
nicht spart, damit eine ehrenhafte Un¬ 
terstützung für verdienstvolles Alter 
vorgesorgt werden könne, dann soll 
ein lebendiger Schrei in diesem Lande 
nach einer neuen Partei erstehen und 
viele von uns würden diesem Schrei 
folgen.... Ich möchte die Parlamente 
zu so vielen Leuchtturmfeuern machen, 
um in all die dunklen Stellen hinabzu¬ 
leuchten, um jede Unterdrückung, jedes 
Elend und jedes Unrecht aus seinen 
Stellungen zu drängen. Denn der ge¬ 
genwärtige Stand der Dinge kann nicht 
lange mehr ertragen werden! Der Ge¬ 
gensatz zwischen Reichtum und Luxus 
der einen Klasse, Verwahrlosung und 
Herabsinken der anderen ist zu groß. 
Der eine arbeitet zu viel und muß den¬ 
noch hungern, der andere bummelt 
durchs Leben und feiert dennoch Feste. 
Das kann nicht so weiter gehen! So 
sicher Gerechtigkeit und Barmherzig¬ 
keit die ewigen Elemente in der Regie¬ 
rung der Welt sind, so sicher ist ein 
System, das die Straße des Luxus für 
die wenigen mit den Herzen der Mas¬ 
sen pflastert, dem Untergang geweiht!“ 
Wiederholt begegnen stimmungsvolle 
Bilder, stets aus dem Leben und der 
Natur geschöpft. Seltener finden sich 
Früchte politischer Weisheit und Er¬ 
fahrung; einen tiefen Sinn birgt ein 
Satz wie dieser: „Die Aufgabe des 
Staatsmannes ist schließlich nichts an¬ 
deres als Landbewirtung in großem 
Stile." Gern nimmt Lloyd George Be¬ 
zug auf seine Heimat, das Waliser 
Land, die Waliser Bevölkerung und zi¬ 
tiert aus Waliser Dichtern; der Waliser 
Arbeiter wird als glühender Patriot ge¬ 
priesen. Dort, wo die Liberalen für die 
Sozialreformen geworben werden sol¬ 
len, heißt es: „Der britische Libera¬ 
lismus wiederholt hoffentlich nicht 
die Irrungen des Liberalismus auf 


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Felix Salomon, Lloyd George vor 1914 


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dem Kontinent; dessen Schicksal 
sollte uns eine Warnung sein. Er 
ward an die Wand gedrückt, noch ehe 
sein Wirken begann, weil er sich der 
Anpassung an neue Verhältnisse ver¬ 
sagte. Der Liberalismus des Kontinents 
beschränkte sich ausschließlich auf die 
Ausbesserung und Vervollkommnung 
des Mechanismus, der das Korn des 
Volkes dereinst mahlen soll; er vergaß 
aber, daß das Volk leben muß, wäh¬ 
rend dieser Prozeß seinen Verlauf 
nimmt, und das Volk sah seine Kräfte 
schwinden, ohne daß etwas zu ihrer 
Erhaltung geschah. Der britische Libe¬ 
ralismus ist indes besser beraten; er 
blieb dem traditionellen Ehrgeiz der 
liberalen Partei: Freiheit und Gleich¬ 
heit eine Stätte zu sichern, treu; aber 
Hand in Hand mit diesem Ziel verfolgt 
er unmittelbare Maßnahmen zur He¬ 
bung der Lebenslage der Massen.“ Auf 
die Frage, ob dem Liberalismus eine 
Gefahr seitens der Arbeiterpartei drohe, 
lautet der Bescheid: „Offen gesagt, 
glaube ich nicht, daß auch nur der 
geringste Anlaß zu Besorgnissen vor¬ 
liegt. Dem Liberalismus wird seine 
Vorherrschaft im Reiche politischen 
Fortschritts nie genommen werden, es 
sei denn durch Vernachlässigung oder 
Verrat der Prinzipien, zu denen er sich 
bekennt. Solange die Liberalen, wie in 
dieser Session, zeigen, daß sie vor der 
Übertragung ihrer Bekenntnisse in die 
Praxis nicht zurückscheuen, wird das 
ihnen anvertraute Pfand nie auf eine 
neue Partei übergehen.“ Einschränkend 
fügt dann allerdings der Redner hin¬ 
zu: „Freilich, könnten die Arbeiterfüh¬ 
rer jemals hoffen, alle Arbeiter des Kö¬ 
nigreichs von beiden politischen Par¬ 
teien loszulösen, und sie als einheit¬ 
liche Verbindung der Arbeit zu organi¬ 
sieren, so würde, das gebe ich zu, eine 
solche Partei allmächtig sein. Allein 


wer die politische Geschichte einiger¬ 
maßen kennt, wird Ihnen sagen, daß 
solch ein Kunststück unmöglich ist.“ 
Eine nahe Zukunft wird lehren, ob 
diese Prophezeiung zutrifft. Die 
Kampfader schwillt, wo es an die Aus¬ 
einandersetzung mit den Peers geht; 
er will ihnen von Haus aus nicht wohl, 
als Waliser Demokrat, der als Vorzug 
seines Heimatlandes den Mangel jeg¬ 
licher Klassenunterschiede preist; als 
dann gar die Peers sein Budget ableh¬ 
nen, kennt sein Zorn keine Grenzen. Er 
scheut kein Mittel, um den Gegner zu 
schmähen und herabzusetzen. „Haben 
die Lords“, fragt er, „jemals ihr Brot 
im Schweiße ihres Angesichts geges¬ 
sen? Niemals 1 Von der Wiege bis zum 
Grabe haben sie nur die Mühe gehabt 
zu nehmen.“ Ein anderes Mal vergleicht 
er den Adel mit dem Käse und höhnt, 
auch er sei um so besser, je älter er 
würde; oder er rühmt die Australier, 
die sehr gut ohne Oberhaus auskämen 
und lieber ein Haus von Känguruhs ha¬ 
ben würden als eines von solchen Leu¬ 
ten. Im Feldzuge gegen die Peers bei 
den Neuwahlen fallen diese Worte: 
„Ich bin froh, daß diese Peers auf uns 
losgelassen wurden. Sie haben durch 
ganz Britannien Reden gehalten; hät¬ 
ten sie es nicht getan, so würde kein 
Mensch wissen, wie die Peers sind. 
Mit dem Hause der Peers verknüpfte 
sich die Vorstellung von Haltung, 
Würde, Reserve, fast von Majestät, bis 
die Peers den Mund auftaten. Was ge¬ 
schah seitdem? Sie haben eine Sprache 
geführt, zu der sich kein Mitglied des 
Unterhauses, gleichviel welcher Partei, 
erniedrigen würde. (Ein Zwischenruf: 
„Was konnte man anderes erwarten?“) 
— Ich hatte nichts Besseres erwartet, 
aber ich hatte sie ja schon früher ge¬ 
hört. Jetzt aber durchwandern sie das 
Land, und das ganze Volk bekommt 


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Felix Salomon, Lloyd George vor 1914 


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sie zu hören. Betrachten sie einige die¬ 
ser Reden, die, ich zögere nicht es zu 
sagen, unverkennbaren Stallgeruch at¬ 
men.“ Die Demagogie wird zur Klas¬ 
senverhetzung in seiner Rede in Wood¬ 
ford im Juni 1912, wo man vernahm: 
„Die goldenen Gefäße, die für die Al¬ 
täre bestimmt gewesen sind und der 
Kirche gehört haben, stehen noch heute 
auf den Büfetten der Barone in deren 
Speisesälen, und das Fleisch, das für 
den Altar bestimmt gewesen ist, hängt 
in deren Speisekammern. So haben die 
Reichen genommen, was Gott und den 
Armen gehört.“ Lloyd George ist nach 
alledem von den Gegnern als „Sozia¬ 
list“ bezeichnet worden; so wollte er 
nicht verstanden sein. In einer Unter¬ 
redung mit dem Korrespondenten der 
„Neuen Freien Presse“ über die Pflich¬ 
ten der Demokratie 3 ) führte er viel¬ 
mehr aus: „Die Demokratie greift we¬ 
der das Kapital noch das Eigentum 
überhaupt an. Nur wo die Massen un¬ 
terdrückt waren, wo sie an der Regie¬ 
rung keinen Anteil haben, wo ihnen 
zur Abhilfe ihrer Beschwerden nur der 
Weg der Gewalt offen ist, nur dort ha¬ 
ben sie das Eigentum angegriffen. Die 
herrschende Demokratie ist keine Be¬ 
drohung des Besitzes. Rechtssicherheit 
ist das größte Interesse gerade der 
Kleinen und Besitzlosen. Ich setze 
meine Hoffnung nicht auf phantastische 
sozialistische Pläne, auf den Umsturz 
unserer auf dem Privateigentum aufge¬ 
bauten Ordnung. Aber es gilt, diese 
Ordnung auszubauen und zu erweitern. 
Leben und Gesundheit des Volkes muß 
auch zu einem Rechtsgut gemacht wer¬ 
den. Der Besitz wird in England aufs 
alleraufmerksamste beschützt. Die Hü¬ 
ter des Besitzes patrouillieren alle Stra¬ 
ßen und wenn ihnen ein Gesetzesver- 

3) Neue Freie Presse 26. Mai 1912. 


brecher doch entschlüpft, wird er bis 
ans Ende der Welt verfolgt. Ich ver¬ 
lange, daß Leben und Gesundheit des 
Volkes ebenso eifersüchtig geschützt 
werde wie Eigentum oder Wild. Die 
Menschen sind das größte Aktivum des 
Staates, und doch wird mit Menschen 
viel größere Verschwendung getrieben 
als etwa mit Pferden oder Maschinen. 
Diesem Raubbau muß ein Ende gemacht 
werden. Unsere sanitären, unsere Woh¬ 
nungsgesetze müssen ebenso strenge 
gehandhabt werden wie unsere Ge¬ 
setze zum Schutze des Privateigentums. 
Diese Gesetze müssen auch ausgedehnt 
werden.“ 

Lloyd George hat die Unzufrieden¬ 
heit nicht zu bannen vermocht, obwohl 
er manchem Liberalen schon viel zu 
weit gegangen war; die letzten Jahre 
vor dem Kriege waren trotz alledem 
von Gärung und Streiks erfüllt. Er 
hat sich allerdings auch im Privatleben 
Blößen gegeben, die nicht dazu beitru¬ 
gen, seine Beliebtheit zu steigern. Im¬ 
merhin: Fühlung mit den breiten Mas¬ 
sen war gewonnen und ein innerer Zu¬ 
sammenschluß war angebahnt, der 
sich im Kriegsfälle auf den eingeschla¬ 
genen Wegen weiterfördern ließ. Inso¬ 
fern bedeutete das Werk von Lloyd 
George die wertvolle Ergänzung der von 
Anfang an mit dem Risiko des Krieges 
rechnenden auswärtigen Politik Greys. 
Es versteht sich, daß Lloyd George aus 
dem Bereiche seiner Amtsstellung her¬ 
aus stets für die Aufrechterhaltung des 
Friedens eingetreten ist, wie er auch 
die Handelseifersucht als Kriegsgrund 
nicht gelten lassen wollte. „Deutsch¬ 
land ist unser bester Kunde,“ sagte er, 
„wer wird so wahnsinnig sein, seinen 
besten Kunden umzubringen?" Durch 
seine herausfordernde Drohung bei dein 
Erscheinen des Panther vor Agadir gab 
er aber deutlich genug zu verstehen, 


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111 


Ernst Kornemann, Philipp II. und Alexander der Große 


wie auch er die „Pax britannica“ aus¬ 
legte; da war kein Raum für eine 
gleichberechtigte deutsche Weltmacht 
vorhanden. Fest steht allerdings, daß 
seine Gefolgschaft keinen Krieg wollte; 
deshalb gehörte Lloyd George zu de¬ 
nen, die höchst geschickt lavierten, um 
den Fluch des Friedensstörers uns auf¬ 
zulasten. Seine versöhnliche Rede vom 
24. Juli 1914, die bei uns trügerische 
Hoffnungen hervorrief, ist höchstwahr¬ 
scheinlich nur einer seiner diplomati¬ 
schen Kniffe gewesen, um „die Fried¬ 


fertigkeit Englands“ darzutun. Unser 
Geschick wollte es, daß mit unserem 
Einmarsch in Belgien der bei den brei¬ 
ten Massen volkstümlichste Kriegs¬ 
grund gegeben wurde; von da an ist 
Lloyd George auf das Gebiet gelenkt 
worden, auf dem er all seine Kraft, 
sein Temperament, seine Fähigkeiten, 
aber auch seinen Haß, seine Leiden¬ 
schaften, sein gefährliches Demagogen- 
tum, seine Bereitschaft zu hetzen und 
zu entstellen im Ringen gegen uns aus¬ 
zunutzen berufen wurde. 


Philipp II. und Alexander der Grofse. 

Von Ernst Kornemann. 


Einer weltgeschichtlichen Auffassung 
des Altertums, die in größeren Gebiets¬ 
und Zeiträumen, sozusagen in Konti¬ 
nenten und Jahrhunderten, zu denken 
sich gewöhnt hat, erscheint immer mehr 
als die letzte große Epoche antiker 
Geschichte die Zeit, die mit der Re¬ 
gierung Philipps II. und Alexanders 
des Gr. anhebt und bis zu Justinian 
und seinen Nachfolgern herabführt, ein 
tausendjähriger Weltentag, rund die 
Zeit von 350 v.Chr. bis 650 n. Chr., 
die Epoche des Hellenismus im weite¬ 
sten Sinne des Wortes. Politisch hat in 
dieser Zeit des Hellenismus der große 
Flächenstaat des Orients gesiegt, wie 
ihn zuletzt Darius’ I. Verwaltungsta¬ 
lent im Perserreich ausgestaltet hatte, 
über den kleinen hellenischen Stadt¬ 
staat, das bedeutendste Erzeugnis der 
vorhergehenden Epoche auf griechi¬ 
scher Erde, kulturell aber ist damals 
das Griechentum, um mit Jacob Burck- 
hardt zu reden, der Sauerteig gewor¬ 
den, der alles geistige Leben in den 
Mittelmeerländern durchsäuert hat. Von 
Babylon, das Alexander wieder, wie 
einst in den alten Zeiten des Orients, 


zur Welthauptstadt machen wollte, 
verläuft die Entwicklung über Alex¬ 
andria und Rom nach Konstantinopel, 
von da nach dem Sieg des Islam nach 
Bagdad, also in die Nähe des Aus¬ 
gangspunktes Babylon zurück. Damit 
sind die Hauptetappen der Entwick¬ 
lung dieser Weltepoche gekennzeich¬ 
net, die man als die Zeiten des alex- 
andrinischen, des römischen und des 
christlich-byzantinischenHellenismus be¬ 
zeichnen kann, und zugleich ist damit 
angedeutet, daß im Rahmen dieser letz¬ 
ten Epoche des Altertums der Kreislauf 
antiker Geschichte sich wiederholt: näm¬ 
lich vom Orient zum Okzident, von 
diesem dann zum Ausgangspunkt, zum 
Orient, zurück. 

Es ist nun ein eigentümliches Spiel 
des Schicksals, daß diese Weltepoche 
nach jeweils 300 Jahren einen neuen 
Impuls erfahren hat durch das Ein¬ 
greifen von je zwei Herrschern, die, 
in der Regierung einander folgend, die 
neuen Ideen und Zeitströmungen am 
reinsten in sich verkörpern und der 
niedergehenden Welt zu neuem Auf¬ 
stieg verhelfen: Philipp und Alexander 


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13 


Ernst Kornemann, Philipp II. und Alexander der Große 


114 


am Anfang, Cäsar und Augustus nach 
Abschluß der ersten, Diokletian und 
Konstantin am Ende der zweiten Etappe. 
Jedesmal geht diesen Herrscherpaaren 
ein Jahrhundert oder ein Halbjahrhun¬ 
dert schwerster Kämpfe voraus: Phi¬ 
lipp und Alexander der grauenvolle 
Selbstzerfleischungsprozeß des vierten 
Jahrhunderts nicht ni# in Griechen¬ 
land, sondern auch in Makedonien 
und im Perserreich, Cäsar und Augu¬ 
stus die Epoche der römischen Bürger¬ 
kriege, in der Lukrez und andere Dich¬ 
ter der Zeit schon das Ende der Welt 
voraussagten, Diokletian und Konstan¬ 
tin jenes entsetzliche bellum omnium 
contra omnes im dritten nachchrist¬ 
lichen Jahrhundert, durch das veran¬ 
laßt die Christen wieder wie einst Lu¬ 
krez vom Ende aller Dinge zu träumen 
begannen. Das ist die eine Parallele. 
Eine zweite beruht darauf, daß inner¬ 
halb der genannten Herrscherpaare je¬ 
desmal der zweite die weitere histo¬ 
rische Entwicklung der Dinge nach¬ 
haltiger beeinflußt hat als sein Vorgän¬ 
ger. Wie Alexander der Idee des 
orientalischen Großstaats den definiti¬ 
ven Sieg über die politisch unfrucht¬ 
bar gewordenen Kleinstaatbildungen 
der Griechen am Mittelmeer verschafft 
hat, so hat nicht Cäsar, sondern Au¬ 
gustus im Römerreich das große Pro¬ 
blem der inneren Politik gelöst und 
dem neuen Weltreich, der bedeutend¬ 
sten Staatenschöpfung seit Alexander 
am Mittelmeer, eine originelle, dem ok- 
zidentalischen Empfinden angepaßte 
Verfassung gegeben, und Konstan¬ 
tin endlich ist es gewesen, der durch 
die Verlegung der Reichshauptstadt 
nach Konstantinopel und durch die An¬ 
erkennung des Christentums Schritte 
getan hat, die die Folgezeit weit über 
das Ende des Altertums hinaus beein¬ 
flußt haben. So erscheinen Philipp, Cäsar 


und Diokletian jeweils als die Vorbe¬ 
reiter, Alexander, Augustus und Kon¬ 
stantin als die Vollender einer neuen 
Ordnung. 

So etwa hatte ich meine Auffassung 
dieser Weltepoche in einer kurzen zu¬ 
sammenfassenden Darstellung vor Jah¬ 
ren schon formuliert. 1 ) 

Seitdem ist die Forschung weiter 
fortgeschritten und hat den Anteil der 
beiden in Betracht kommenden Für¬ 
sten innerhalb der drei Herrscherpaare 
schärfer zu erfassen gesucht, so z.B. 
Ed. Meyer, in seinem kürzlich erschie¬ 
nenen Buch über Cäsars Monarchie, das 
Verhältnis von Cäsar und Augustus. 2 ) 
Anziehender noch als das Problem Cä¬ 
sar—Augustus ist aber das Problem 
Philipp—Alexander, weil hier allein Va¬ 
ter und Sohn und außerdem zwei 
gleich große Persönlichkeiten aufein¬ 
ander gefolgt sind. 3 ) 


1) Die römische Kaiserzeit, in der Ein¬ 
leitung in die Altertumswissenschaft, her- 
ausgegeb. von A. Gercke und E. Norden, 
2. Aufl. 1914, S. 210. 

2) Ed. Meyer, Cäsars Monarchie und das 
Principat des Pompejus, Stuttgart und Ber¬ 
lin 1918, S. 457 f., 462, 505, 536 ff. 

3) Die Darstellung der Persönlichkeit Phi¬ 
lipps und seines Lebenswerkes ist bei Ju¬ 
lius Kaerst (Geschichte des Hellenismus I 
2. Aufl. Leipzig, Teubner 1917 S. 192ff.) im 
Gegensatz zum Alexanderporträt viel besser 
gelungen. Eine wissenschaftliche Biographie 
Philipps ist eines der größten Desiderien 
der Geschichte des Altertums. Zu dem sehr 
schwierigen Alexanderproblem hat sich 1905 
in einem Vortrag auf der Hamburger Phi¬ 
lologenversammlung EduardMeyer ge¬ 
äußert: Alexander der Gr. und die absolute 
Monarchie, Kleine Schriften, Halle 1910, Nie¬ 
meyer, S. 283ff., leider unter Beibehaltung 
vielerZüge des von Julius Kaerst in seiner 
Geschichte des Hellenismus verzeidineten 
Alexanderbildes. Der Weltkrieg hat dann 
eine große Vermehrung der Literatur in 
Gestalt von Kriegsvorträgen und Kriegs¬ 
abhandlungen gebracht. Ich erwähne hier 
nur Walter Otto, Alexander der Gr., 


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115 Ernst Kornemann, Philipp 


Um von dem letzteren Gedanken aus¬ 
zugehen: es ist ein höchst seltener Fall 
in der Weltgeschichte, daß auf einem 
Throne zwei geniale Menschen als Va¬ 
ter und Sohn einander ablösen. 4 ) Was 
in solchem Falle leicht eintreten kann, 
geschah auch diesmal: der geniale Sohn 
geriet, kaum erwachsen, in Gegensatz 
zu dem Vater, allerdings durch dessen 
Schuld 5 ), und ging mit der Mutter au¬ 
ßer Landes. So beginnt die Geschichte 
des Nachfolgers auch hier mit dem 
frondierenden Kronprinzen, und es wird 
psychologisch verständlich, weshalb 
Alexander von nun an alles daran¬ 
setzt, den Vater mit seinen Taten zu 
übertrumpfen, was ihm in solchem Um¬ 
fange gelungen ist, daß der Vater in 
der historischen Bewertung zugunsten 


Marburger ak. Kriegsreden Nr. 34, Marburg, 
Eiwert 1916; Ulrich von Wilamowitz, 
Alexander der Gr., Reden aus der Kriegs¬ 
zeit V 1916; Walter Kolbe, Das Welt¬ 
reich Alexanders des Gr., Sonderabdruck 
aus der Weihnachtsgabe Rostocker Univer¬ 
sitätslehrer 1916. Der geistvolle Entwurf 
„Zur Geschichte der Monarchie“, den uns 
Wilhelm Weber in seiner Tübinger An¬ 
trittsvorlesung geschenkt hat (Tübingen, 
Kloeres 1919), berührt an mehreren Stellen 
das Problem Philipp-Alexander, allerdings 
unter starker Vordrängung der religiösen 
Momente. Das letzte zu dem Thema ist 
mein Aufsatz „Die letzten Ziele der Politik 
Alexanders des Großen“ in Klio XVI (1919) 
S. 209». 

4) Einmal ist in der Weltgeschichte der 
Fall eingetreten, daß sogar drei hochbe¬ 
gabte Herrscher als Vater, Sohn und Enkel 
einander gefolgt sind: ich meine die Karo¬ 
linger Karl Marteil, Pippin und Karl der Gr. 

5) Philipp vermählte sich nach der Heim¬ 
kehr vom griechischen Feldzug neben 
Olympias mit Kleopatra, die aus vornehmem 
makedonischem Hause stammte. Nicht die 
Doppelehe an und für sich, sondern das 
Eingehen einer zweiten Ehe in vorgerücktem 
Alter der beiden Ehegatten und das takt¬ 
lose Auftreten der Verwandten der zweiten 
Frau führten den Bruch herbei. 


II. und Alexander der Große 


des Sohnes unstreitig zu kurz gekom¬ 
men ist. 

Der Konflikt zwischen Vater und 
Sohn wäre wohl auch ohne die verlet¬ 
zende Tat des Vaters über kurz oder 
lang ausgebrochen, schon deshalb, weil 
sie in einem Punkte einander täu¬ 
schend ähnlich waren. Beide waren 
nämlich Tatmefischen, von einem ge¬ 
radezu dämonischen Tätigkeitsdrang 
beseelt wie wenige Sterbliche vor 
und nach ihnen. Sowohl bei Phi¬ 
lipp wie bei' Alexander wird diese 
Arbeitsfreudigkeit und diese großartige 
Arbeitsbewältigung als der am meisten 
hervorstechende Charakterzug hervor¬ 
gehoben, ein Tatendrang, wie er gerade 
bei Angehörigen junger Völker sitih fin¬ 
det. Der zeitgenössische Geschicht¬ 
schreiber Theopompos hat seine Be¬ 
wunderung für Philipp in diesem 
Punkte in die Worte zusammengefaßt, 
daß Europa überhaupt noch keinen 
solchen Mann hervorgebracht habe wie 
Philipp, den Sohn des Amyntas. 6 ) Er 
ist auch vom Standpunkt des Adels der 
Arbeit betrachtet der erste „wahrhaft 
königliche Mann“ in Europa gewesen. 
Bei Alexander haben wir den besten 
Beweis für seinen riesigen Arbeits¬ 
drang in den erhaltenen Auszügen aus 
seinem Amts- und Hofjournal, den so¬ 
genannten Ephemeriden, für die letz¬ 
ten Tage seines arbeitsreichen Lebens 
in Babylon. 7 ) Es ist ein furchtbares 
Erkranken und Sterben bei ihm schon 
deshalb, weil der Gewaltige vor Arbeit 
eigentlich nicht krank sein will und 
nicht sterben kann. Niemals ist der 
Tod brutaler gewesen als damals, da er 
diesen tatenfrohen und arbeitslustigen 
jungen Mann im Alter von 33 Jahren 
durch das Sumpffieber von Babylon 

6) Polyb. VIII 11, 1; J. Kaerst, Geschichte 
des Hellenismus I * S. 203. 

7) Arrian VII 25 H. 



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Ernst Kornemann, Philipp II. und Alexander der Große 


118 


hinwegraffte. Bei beiden Männern ist 
der Arbeitshunger höchstens noch über¬ 
troffen worden durch die Leistungs¬ 
fähigkeit im Genießen, sowohl auf dem 
Gebiete des Geschlechtslebens wie was 
Essen und was die altmakedonische 
Sitte des Trinkens betrifft, etwas, was 
bei Kraftnaturen, zumal aus so jungem 
Volkstum, auch sonst vorkommt. Durch 
ihren Schaffensdrang ohnegleichen aber 
sind beide Herrscher Staatsmänner ersten 
Ranges geworden, und der nachfolgende 
Vergleich soll sich daher in erster Linie 
auf ihr politisches Wollen und Können 
erstrecken. 

Philipps staatsmännische Großtat 
ist die Einigung der größten Teile der 
Balkanhalbinsel unter einem Willen, 
eine Tat von ungeheurer Größe, wenn 
man bedenkt, daß auch schon im Al¬ 
tertum diese Halbinsel ein vielfaches 
Durcheinander von Völkern und Ras¬ 
sen beherbergt hat, wie kaum eine 
zweite damals. Das Zentrum des er¬ 
sten Balkangroßstaates, den Philipps 
Organisationskraft geschaffen hat, war 
und blieb Makedonien. Das Zentralland 
aber bekam durch seine Eroberungen 
das, was' eine Großmacht vor allem 
nötig hat, nämlich Küste. In dieser Be¬ 
ziehung ist Philipp für Makedonien, 
was Peter der Große für Rußland 
wurde: der Gewinner von Küste für 
ein bis dahin meerabgewandtes und 
meerfremdes Volk und der Schöpfer 
einer Flotte, ohne die aller Küstenbesitz 
totes Gut ist. In der inneren Politik 
aber ruht die Größe Philipps auf der 
engen Verbindung von Königstum und 
Volkstum, zunächst von Königstum 
und Volksoberschicht, wie sie durch 
den ritterlichen Adel vertreten war, 
dann aber auch von Königstum und 
Volksganzem. 8 ,) Ein mittelalterlicher Feu- 


8) Zum Folgenden vgl. die vortrefflichen 


dalstaat wird durch den starken or¬ 
ganisatorischen Willen des Königs in 
kurzer Zeit zu einem Beamtenstaat mit 
einer ganz modernen Heeresorganisa¬ 
tion umgeformt. Diese ruht nicht mehr 
wie seither auf dem Reiterheer des 
Adels, sondern gleichzeitig auf der ge¬ 
schlossenen Infanteriemasse in Gestalt 
der bekannten, unüberwindlichen Pha¬ 
lanx. Sie wird aus der Masse der Ge¬ 
meinfreien gebildet, die dadurch ne¬ 
ben den „Kameraden“ aus dem Adel, 
den ixalQOi, zu „Kameraden zu Fuß“ 
(ne&TaiQoi) erhoben wird. 9 ) In den Mit¬ 
telpunkt der Volkserziehung wird da¬ 
durch das Heer gestellt, und das Volk, 
bis dahin in der Hauptsache Hirten, 
Jäger und Bauern in weit auseinander¬ 
liegenden Dörfern und Gehöften woh¬ 
nend, ohne National- und überhaupt 
ohne Gemeinsinn, wird allmählich poli¬ 
tisch reif gemacht. Hedresverfassung 
und Staatsverfassung stehen im Alter¬ 
tum sehr oft in engster Wechselwir¬ 
kung, nirgends jedoch so sehr wie in 
Makedonien seit den Tagen Philipps II. 
Neben dem Landheer wurde daseigent- 
liche Schoßkind Philipps aber die 
Flotte, bei deren Bemannung der König 
stark auf das griechische Element, die 
Küstenbevölkerung seines Staates, zu¬ 
rückgreifen mußte. 

Die Krone hat Philipp seinem staats- 


Ausführungen von J. Kaerst, Geschichte des 
Hellenismus I* S. 192ff. 

9) Ihren Ausgang nimmt die Bezeichnung 
haipoi von einer engeren Gemeinschaft um 
den König, irafpot rov ßaoiltiog, einer stän¬ 
digen persönlichen Umgebung des Herr¬ 
schers aus den Reihen des hohen makedo¬ 
nischen Adels. Ihre Anzahl beträgt unter 
Alexander etwa 100. Von hier aus hat der 
Begriff allmählich eine Erweiterung erfahren, 
zuerst (unter Archelaos oder Philipp?) auf 
die alte Nationalwaffe der Reiterei, später 
dann auf das Fußvolk, vgl. Plaumann bei 
Pauly-Wissowa-Kroll, R.-E. VIII Sp. 374ff., 
Kaerst a. a. O. I * S. 183ff. und S. 194 Anm. 3. 


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Ernst Kornemann, Philipp II. und Alexander der Große 


120 


männischen Wirken dann aufgesetzt 
durch die Angliederung Griechenlands 
an diesen neuen großmakedonischen 
Staat nach der Schlacht von Chaero- 
nea. Griechenland wurde im Frühjahr 
337 von dem nordischen König zu Ko¬ 
rinth in einem allgemeinen griechischen 
Landfriedensbund, abgesehen von 
Sparta, das sich schmollend beiseite 
hielt, geeinigt und als Ganzes an Make¬ 
donien angeschlossen. 10 ) Zweierlei ist 
das eigentlich Neue an dieser korinthi¬ 
schen Bundesschöpfung Philipps, ein¬ 
mal die Tatsache der erstmaligen Or¬ 
ganisation der gesamten helleni¬ 
schen Staatenwelt des Mutterlandes 
und dann die Betonung der xoivij elprjnj, 
des allgemeinen Landfriedens in die¬ 
sem von Kämpfen und Fehden so zer¬ 
rissenen, unglücklichen Land. Jetzt fin¬ 
det durch die neue Präsidialmacht eine 
gegenseitige Bindung der Hellenen 
statt, untereinander Frieden zu halten zu 
Wasser und zu Lande und gleichzeitig 
die Herstellung eines Schutz- und 
Trutzbündnisses zwischen dem so ge¬ 
einigten Hellas und Makedonien. Be¬ 
seitigung aller inneren Kriege und Feh¬ 
den, das war jetzt die Parole. Im übri¬ 
gen sollten die Einzelstaaten, die zum 
Bunde gehören, frei und autonom sein, 
d. h. sie sollten nach ihren sich selbst 
gegebenen Verfassungen leben können, 
ja diese Verfassungen wurden ihnen 
von Bundes wegen gewissermaßen ga¬ 
rantiert. Gewaltsame Umwälzungen im 
Innern der Einzelstaaten sollten nicht 
mehr geduldet werden, das Privat¬ 
eigentum sollte unverletzlich sein. Es 
war also eine ganz konservativ ge- 

10) Zum korinth. Bund vgl. U. Köhler, 
S.-Ber. Berl. Ak. 1892 S. 510«., 1898 S. 120; 
J. Kaerst, Rhein. Mus. 52, 1897, S. 519ff., Ge¬ 
schichte des Hellenismus I 1 S. 268ff. u. 
S. 526ff.; A. Wilhelm, S.-Ber. der Wien. 
Akad. 1911 Abhandl. 6; U. Wilcken, S.-Ber. 
der Münch. Akad. 1917 11. Abhandlung. 


richtete Politik, die neben den Inter¬ 
essen des Friedens den Interessen der 
Besitzenden diente 11 ), und die dem 
nordischen König den Weg nicht nur 
in die Staatenwelt Griechenlands, son¬ 
dern auch zu den Herzen vieler Grie¬ 
chen bahnte, da sie der großen Ver¬ 
gangenheit der Besiegten, soweit ir¬ 
gend möglich, Rechnung trug. Man 
hat mit Recht betont, daß der Make¬ 
donierkönig als Garant des Friedens 
in Hellas an Stelle des Perserkönigs 
trat, der seit dem Antalkidas-Frieden 
(386) diese Rolle innegehabt hatte, und 
daß Philipp so die makedonische He¬ 
gemonie über Griechenland an Stelle 
der persischen gesetzt hat. 12 ) Nur war 
die Bindung von Hellas an Makedonien 
eine festere als diejenige an Persien. 
Denn es mußte jetzt alle selbständige 
Politik nach außen aufgeben und wurde 
in diesem Punkte ein Anhängsel von 
Makedonien. Vor allem wurde das of¬ 
fene und geheime Paktieren mit den 
Barbaren, worunter natürlich in erster 
Linie die Perser zu verstehen waren, 
ein für allemal abgestellt. 

Ungemein klein war, offenbar mit 
Bewußtsein, der äußere Apparat des 
neu geschaffenen Bundes. Nur ein 
Bundesrat wurde geschaffen, in wel¬ 
chen jeder einzelne Staat eine seiner 
Bevölkerungszahl proportionale Zahl 
von Vertretern sandte. Dieser Bundes¬ 
rat war die höchste beratende und be¬ 
schließende Behörde und zugleich der 
oberste Gerichtshof in Bundessachen. 
Die Exekutive aber lag in den Händen 
des makedonischen Königs, der zum 
„Herzog“ 18 ) ( fiysfubv ) der Hellenen ge¬ 


11) So richtig J. Kaerst, Hellenismus I* 
S. 276. 

12) Kaerst a. a. O. I* S. 271; Ü. Wilcken 
a. a. O. S. 34 f. 

13) Die Übersetzung »Präsident“ genügt 
nicht, weil das Amt vornehmlich einen 


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Ernst Kornemann, Philipp II. und Alexander der Große 


122 


wählt wurde, eine Würde, die mit der 
makedonischen Königswürde offenbar 
ständig verbunden sein sollte. Als Bun¬ 
desvorstand oder Präsidialmacht ver¬ 
fügte Makedonien seitdem sowohl in 
einem Angriffskrieg, der vom Bundes¬ 
rat beschlossen werden mußte, über 
die Streitkräfte des Bundes, als auch 
war Makedonien, wenn der Friede in 
Griechenland von äußeren oder inneren 
Feinden bedroht war, der oberste Hü¬ 
ter des Landfriedens. Die Richtung ge¬ 
gen den Perserkönig erhielt die ganze 
Schöpfung sehr bald dadurch, daß 
Philipp die alte Forderung der Helle¬ 
nen nach Befreiung der kleinasiatischen 
Griechen vom Perserjoch im Rahmen 
der territorialen Erweiterung Make¬ 
doniens als sein Kriegsziel prokla¬ 
mierte und auf der ersten Tagsatzung 
des Bundes zu Korinth den National¬ 
krieg gegen Persien beschließen ließ, 
und zwar auf Grund eines außeror¬ 
dentlichen Spezialkommandos mit un¬ 
umschränkter Vollmacht, was für die 
Zeit der militärischen Operationen in 
dem Titel fftpar^yog avxoxQixuoQ seinen 
Ausdruck fand. 14 ) Es ist eine der grö߬ 
ten Feinheiten der philippischen Po¬ 
litik, daß sie so für den Neuaufbau 
von Hellas sich des gemeinsamen Ge¬ 
gensatzes gegen Persien bediente, etwa 
wie Bismarck nach 1866 den gemein¬ 
samen Gegensatz der Nord- und Süd¬ 
staaten gegen Frankreich benutzte, um 
die deutsche Einigung zunächst in Ge¬ 
stalt eines Schutz- und Trutzbündnis¬ 
ses Preußens mit Süddeutschland zu¬ 
stande zu bringen. 

Alles, was hier aus dem Kapitel der 
Staatsschöpfung Philipps andeutend 

militärischen Charakter trug, U. Köhler, 
S.-Ber. Berl. Ak. 1892 S. 511; U. Wilcken 
a. a. 0. S. 27. 

14) Diodor XVI 89, 3, dazu Wilcken 
a. a. O. S. 27. 


vorgeführt worden ist, verrät einen 
staatsmännisch ganz hervorragend be¬ 
gabten Herrscher, der in Makedonien 
sowohl wie in Griechenland das hi¬ 
storisch Gewordene mit den Bedürf¬ 
nissen der Gegenwart, die bei dem all¬ 
gemeinen rapiden Verfall der Kräfte 
nach einem starken Staatswesen ver¬ 
langte, in Einklang zu setzen verstand. 
Mit diesem Staatsgebilde, das die Bal¬ 
kanhalbinsel mit einem Schlag zu einem 
Machtfaktor ersten Ranges in der Mit¬ 
telmeerpolitik machte, wäre auch die 
letzte Aufgabe, die Philipp sich gestellt 
hatte, restlos zu lösen gewesen, nämlich 
die Befreiung des kleinasiatischen Grie¬ 
chentums von der Perserherrschaft und 
die Besetzung des Hinterlandes — mehr 
hat Philipp nicht im Auge gehabt —, 
wenn den tatenlustigen König nicht im 
Jahre 336 vorzeitig, im Alter von 47 
Jahren bereits, der Stahl des Mörders 
getroffen hätte. — 

Jedem Laien muß die Ähnlichkeit 
der Situation mit derjenigen im Römer¬ 
reich im Jahre' 44 v.Chr. nach Cäsars 
Ermordung in die Augen fallen. Ein 
glänzender, schöpferischer Herrscher in 
beiden Fällen beseitigt nach Erfolgen 
sondergleichen auf dem Schlachtfeld 
und im Staatsleben, beseitigt in dem 
Augenblick, da er sich anschicken 
wollte, seinem politischen Leben den 
großen Abschluß zu geben, Philipp 
durch den kleinasiatischen Feldzug ge¬ 
gen die Perser, Cäsar durch den Krieg 
gegen die Parther. Aber die Parallele 
geht nodh weiter. Wie später Octavia- 
nus, der Adoptivsohn, wird diesmal 
Alexander, der leibliche Sohn, in au¬ 
ßergewöhnlich jungen Jahren und nach 
einem politischen Morde, dem der Va¬ 
ter zum Opfer gefallen war, zur Re¬ 
gierung berufen. In beiden Fällen geht 
der neue Herrscher, so jung er auch ist, 
sehr bald andere Bahnen. 


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123 Ernst Kornemann, Philipp 


Bei Alexander zeigt sich dies in 
seinem Auftreten gegenüber den beiden 
größten Schöpfungen, man möchte sa¬ 
gen, den Lieblingsschöpfungen seines 
Vaters, gegenüber dem neuen Griechen¬ 
bund und der makedonischen Flotte. 

Es ist keine Frage: Alexander hat 
nach dem Abfalle Thebens, das schwer 
bestraft werden mußte, den Griechen 
gegenüber die Autorität des makedoni¬ 
schen Königtums schärfer betont. Die 
Kluft zwischen Makedoniertum und 
Griechentum hat sich dadurch unter 
ihm nicht verschmälert, sondern ver¬ 
breitert. Statt f)ys[iibv, „Herzog“, wird der 
ursprünglich nur für den Perserkrieg 
verliehene Titel dTQaty'ybs avroxgarcoQ 
zur offiziellen Bezeichnung des make¬ 
donischen Königs in seiner Eigenschaft 
als Führer der Hellenen. Es begegnet 
weiter eine schiedsrichterliche Stellung 
des neuen makedonischen Königs in 
Bundesangelegenheiten, die immer mehr 
an Stelle und auf Kosten des Bundes^ 
rates sich ausbreitet, der so seiner Be¬ 
deutung als eines obersten Gerichts¬ 
hofes allmählich entkleidet wird. Die 
Hauptsache aber ist: das griechische 
Kontingent in Alexanders Heer, die sog. 
av[i[iaxoi, spielt keine große Rolle so¬ 
wohl wegen der geringen Anzahl (7000 
Mann zu Fuß und 600 Reiter bei einem 
Gesamtaufgebot von 30000 Mann zu 
Fuß und 5000 Reitern) als auch in¬ 
folge des Umstandest daß das Ober¬ 
kommando selbst über dieses kleine 
griechische Hilfskorps in makedoni¬ 
schen Händen ruht, endlich aber aus 
folgendem Grunde: seit der Einäsche¬ 
rung von Persepolis im Jahre 331 wird 
dieses Hilfskorps heimgesandt, und 
militärisch stützt sich von da ab Alex¬ 
ander nicht mehr zugleich auf den ko¬ 
rinthischen Bund; von da ab gibt 
es im makedonischen Heer nur noch 
griechische Söldner, die durch Privat¬ 


II. und Alexander der Große 124 


vertrag mit dem König Teile des make J 
donischen Heeres selbst geworden sind, 

Der Flotte gegenüber verhält sich 
Alexander noch ablehnender. Wir emp¬ 
fangen den Eindruck, als ob der junge 
König hier zunächst das gerade Ge¬ 
genteil seines Vaters war, meerabge- 
wandt und daher flottenfeindlich, si¬ 
cher nicht zum wenigsten deshalb, weil 
das Meer das Element der Griechen 
und die Flotte ihr Werkzeug war. In 
diesem Punkt empfand Alexander noch 
makedonischer als sein Vater. Wir 
schauen tief in die Seele des jungen 
Herrschers hinein gelegentlich der Er¬ 
zählung von dem Kriegsrat, den er un¬ 
mittelbar vor der Eroberung von Mi¬ 
let im Jahre 334 abgehalten hat. 15 ) 
Dort erhebt sich wie vor der Schlacht 
am Granikos die Stimme seines Gene¬ 
ralstabschefs Parmenion, des größten 
Generals aus Philipps Schule, und führt 
zu Auseinandersetzungen, vergleichbar 
denen des jungen Friedrich mit dem 
alten Dessauer und Schwerin oder de¬ 
nen Napoleons im Jahre 1798 mit sei¬ 
nem Generalstabschef Berthier. 16 ) Par¬ 
menion will den weiteren Feldzug zur 
See geführt wissen, obwohl die persi¬ 
sche Flotte der makedonischen stark 
überlegen ist. Wie er einige Zeit vorher 
der Granikos-Schlacht sich widersetzt 
hatte, so befürwortet er jetzt eine 
Schlacht, allerdings eine Seeschlacht. 
Zum zweitenmal aber geht der junge 
Fürst seinen eigenen Weg und verhält 
sich gegenüber dem Rate des alten 
Chefs ablehnend: er fühlt, daß das 
Makedoniertum seine Stärke im Land¬ 
heer hat, und daß die Flotte, die dann 
in den Vordergrund geschoben wor¬ 
den wäre, im Grunde etwas Griechi- 

15) Vgl. hierzu Gustav Scholz, Klio XV 
(1917) S. 207. 

16) Joh. Kromayer, Hist. Zeitscfar. 100 
(3. Folge 4) S. 18. 


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126 



Kornemann, Philipp II. und Alexander der Große 


slHQPfft. Er hat das instinktive Gefühl, 
eroe Niederlage zur See in diesem Au¬ 
genblick kann alles verderben. Er steht 
mit seinem Makedonierhäuflein zwi¬ 
schen zwei Feuern: drüben die Grie¬ 
chen, die durch die harte Behandlung 
der Thebaner sehr makedonierfeind¬ 
lich geworden sind, hüben die Perser 
mit ihren gewaltigen Machtmitteln al¬ 
ler Art zu Land und zu Wasser. Am 
Granikos war Alexander ein verwege¬ 
ner Spieler gewesen, der alles auf eine 
Karte gesetzt hatte, allerdings auf die 
Karte, auf die er alles setzen konnte, 
auf seine makedonische Soldateska. 
Jetzt sind die Rollen plötzlich ver¬ 
tauscht. Parmenion will schlagen, al¬ 
lerdings auf dem Meere, Alexander 
aber ist der Vorsichtige, der Zurück¬ 
haltende. Die Erklärung ist leicht: Par¬ 
menion ist nur Soldat, in Alexander 
aber erscheint jetzt zum erstenmal vor 
unseren Augen der große Staatsmann, 
als den wir ihn auch fernerhin kennen 
lernen werden. Was durch den See¬ 
sieg militärisch gewonnen würde, ist 
— darin hat Parmenion recht — sehr 
viel. Man bekommt den Rücken frei 
(die persische Flotte stand damals be¬ 
kanntlich im Ägäischen Meer), und die 
Verbindung zwischen Persien und Grie¬ 
chenland würde ein für allemal un¬ 
möglich gemacht. Aber Alexander sieht 
diesmal auch die Möglichkeit einer 
Niederlage und aus diesem Grunde ist 
ihm das Risiko zu groß. Wer recht 
hatte, ist nicht zu sagen, da die See¬ 
schlacht nicht gewagt worden ist. Aber 
Alexander hat sicher doch insofern 
recht behalten, als die Eroberung des 
Perserreiches auch ohne Flotte — er 
hat nach der Eroberung Milets seine 
Flotte bis auf einen kleinen Rest, dar¬ 
unter die zwanzig von Athen gestell¬ 
ten Schiffe, aufgelöst — und ohne 
Seeschlacht möglich gewesen ist. Es 


war nur nötig, möglichst mit dem 
Landheer an der Küste sich zu halten 
und der persischen Flotte nach und 
nach alle Stützpunkte wegzunehmen. 
So schwebte sie eines Tages ohne Ha¬ 
fen in der Luft und mußte von selbst 
verschwinden. Alexander hat „das 
Meer vom Lande aus erobert“ 17 ), hat 
wirklich das große Kunststück fertig 
gebracht, ein Weltreich, das ausge¬ 
stattet war mit einer der größten Flot¬ 
ten jener Zeiten, ohne Ruderschlag zu 
erobern. Sein Vater Philipp hätte dies 
sicher ganz anders gemacht. 

Aber nicht nur in diesem Punkt, son¬ 
dern auch noch in einem weiteren, zu 
dem wir uns jetzt wenden, wäre Phi¬ 
lipp ganz anders verfahren, nämlich 
in der Lösung des gewaltigen Pro¬ 
blems des Staatsneubaus, das nunmehr 
an Alexander herantrat. Nach der 
Schlacht bei Issus wird zum erstenmal 
in einem Briefe an den geschlagenen 
Gegner die neue Staatsform berührt, die 
Alexander zu begründen gedachte, und 
nach dem Siege bei Arbela ist dann die 
definitive Entscheidung gefallen. Baoi- 
Xevg tijg AöCag, König von Asien nennt 
sich seitdem der Makedonier. Großkö¬ 
nigtum über Asien aber heißt Herr¬ 
schaft über alle Lande, die die Perser 
jemals innegehabt hatten, Ablösung 
des letzten Achämeniden im ganzen 
Umfang seines Reiches. Alexander hätte 
nun in ganz verschiedener Weise die 
Königsherrschaft über Asien aufrich¬ 
ten können, entweder indem er auch 
fernerhin der makedonische König 
blieb und Asien als unterworfenes Land 
behandelte: das war der Weg, den 
wahrscheinlich Philipp gegangen wäre, 
und den später Augustus bei dem Neu¬ 
bau des Römerreiches, wenigstens in 
der Heeresverfassung, einschlug, indem 


17) Ed. Meyer, Kl. Schriften S. 287. 


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Ernst Kornemann, Philipp II. und Alexander der Große 


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er einseitig auf Italien und dem itali¬ 
schen Bürgerelement das Legionsheer 
aufbaute. Alexander ist aber offenbar 
das kleine Makedonien als zu schmale 
Basis für die Beherrschung des Welt¬ 
reiches erschienen, und Griechenland 
kam zur Erweiterung dieser Basis seit 
Thebens Abfall nicht mehr in Betracht, 
obwohl die meisten Neueren, auch Ed. 
Meyer 18 ), dies behaupten. Denn gerade 
nach der Einäscherung von Persepo- 
lis, also noch im Jahre 331, hat Alex¬ 
ander, wie wir sahen, das kleine grie¬ 
chische Bundesheer nach Hause ge¬ 
schickt, sich also jeder ferneren Mit¬ 
wirkung der Griechen entäußert. Der 
Weg, den Alexander gegangen ist, war 
ein ganz neuer und den Ideen Philipps 
diametral entgegengesetzter, es war 
kurz gesagt die Politik der Angleichung 
und Ausgleichung, ja schließlich der 
Verschmelzung, aber nicht der Ver¬ 
schmelzung etwa aller Völker und Ras¬ 
sen im neuen Reiche, sondern nur der 
beiden Herrenvölker von hüben und 
drüben, der Makedonier und der Per¬ 
ser, ein Gedanke, der in Alexander 
aufgetaucht ist offenbar unter dem Ein¬ 
fluß des Achämenidenreiches selber, 
wie er es antraf. Denn auch dieses war 
immer ein zweigeteiltes gewesen, ein 
medisch-persisches Reich, aufgebaut 
auf Medern und Persern, die in dem 
Reiche und im Heere vor allem sich 
die Wage hielten. Es ist höchst inter¬ 
essant zu sehen, wie Alexander der 
persischen Nation, die er eben erst un¬ 
terworfen hatte, ein größeres Vertrauen 
entgegengebracht hat als der griechi¬ 
schen, so sehr er auch einzelne Grie¬ 
chen in seine Dienste gezogen hat. Doch 
das kommt uns heute nur deshalb selt- 

18) A. a. O. S. 297. Nach Ed. Meyer 
fühlte sich Alexander in noch ganz anderer 
Weise als sein Vater Philipp als Hellene. 
Das gerade Gegenteil ist der Fall. 


sam vor, weil wir alles Persische nur 
durch die griechische Brille zu schauen 
gewohnt sind und infolgedessen an 
einer höchst auffälligen Unterschätzung 
des persischen Staates und der persi¬ 
schen Kultur leiden. Erst Ed. Meyer 
hat durch die Darstellung der Riesen¬ 
leistungen des Cyrus und Darius im 
Anfang des dritten Bandes seiner Ge¬ 
schichte des Altertums einer gerechte¬ 
ren Bewertung des Persertums die 
Wege geebnet. Um so auffälliger ist es, 
daß derselbe Gelehrte in den Chor der¬ 
jenigen eingestimmt hat, die Alexan¬ 
ders Versuch, einen makedonisch-per¬ 
sischen Staat an die Stelle des seitheri¬ 
gen medisch-persischen Staates zu set¬ 
zen, glattweg verurteilen. 19 ) Diese alex- 
andrische Politik der Verschmelzung 
endete allerdings schließlich in dem 
Gedanken der Züchtung einer neuen 
Rasse, einer makedonisch-persischen 
Mischrasse; der Makedonier hat schlie߬ 
lich Menschenrassen züchten zu kön¬ 
nen geglaubt, wie man etwa Tierrassen 
züchtet. Nach dieser Überspannung des 
Bogens kam naturgemäß der Rück¬ 
schlag. Die eigne Soldateska reagierte 
in dem Aufstand von Opis im Jahre 
324 gegen die anationale Politik ihres 
Königs. Da zudem das persische Be¬ 
amtentum sich nicht so bewährte, wie 
der König erwartet hatte, ist Alexander 
ganz am Ende seines Lebens nach der 
Rückkehr aus Indien etwas zurückge¬ 
wichen und hat, wenn wir vom Heer 
auf den Staat schließen dürfen, den 
älteren Gedanken der vollen Gleichbe¬ 
rechtigung von Makedoniern und Per¬ 
sern aufgegeben und an die Stelle ge¬ 
setzt ein System der Abstufung zwi¬ 
schen den beiden Herrenvölkern, inso¬ 
fern jetzt der Primat den Makedoniern 

19) A. a. 0. S. 301 f. Etwas vorsichtiger 
urteilt Walter Otto, Alexander der Gr., Mar- 
burger ak. Kriegsreden Nr. 34, 1916, S. 15. 


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■r 

129 Ernst Kornemann, Philipp II. und Alexander der Große 


luerkannt wurde und die Perser in 
jeder Beziehung an die zweite Stelle 
rücken mußten. Aber auch so bleibt der 
Unterschied von Philipps nationalisti¬ 
scher Politik und Alexanders Univer¬ 
salismus sehr groß 20 ): der neue Gro߬ 
könig von Asien, der sich auf Make¬ 
donier und Perser stützt 21 ), tritt an die 
Stelle des alten makedonischen Volksi- 
königs und Hellenenherzogs. 

Es ist aber von den Neueren nicht 
genügend beachtet worden, daß Alex¬ 
ander ganz zum Schluß noch einmal 
eine große Schwenkung seiner Poli¬ 
tik in einem Punkte vollzogen hat, die 
ihn wieder näher an die Politik seines 
Vaters herangeführt hat. 2 *) Arrian, des 
Königs Biograph, beginnt das letzte 
Buch seiner Darstellung mit folgenden 
Worten: Als Alexander vom großen 
innerasiatischen Feldzug im Anfang 
des Jahres 324 nach Persepolis, also 
an den Ausgangspunkt, zurückkehrte, 
„da ergriff den König das Verlangen, 
den Euphrat und Tigris zum Persi¬ 
schen Meer hinabzufahren, die Mün¬ 
dungen dieser Flüsse und das Meer 
dortselbst zu schauen, wie er es beim 
Indus schon getan hatte“. 

Mit diesen Worten deutet Arrian eine 
große Wandlung in Alexanders Seele 
an, die hervorgerufen ist' durch den 
schweren Mißerfolg des Königs beim 
Rückmarsch durch die Wüsten von Ge- 
drosien und andererseits durch den 
großartigen Erfolg der Seeexpedition 
Nearchs, w ofür er vom König die 

20) W. Weber, Zur Geschichte der Mon¬ 
archie, Tübingen 1919, S. 18. 

21) Alexanders Trinkspruch bei dem gro¬ 
ßen Versöhnungsfest von Opis gipfelt in 
den Worten: Die Götter möchten vor allem 
Eintracht und gemeinsames Regiment Make¬ 
doniern und Persern gewähren. Dazu W. 
Otto a. a. O. S. 16. 

22) Zum folgenden vgl. meinen Aufsatz 
.Die letzten Ziele der Politik Alexanders 
des Gr.“ in Klio XVI (1919) S. 209 ff. 

Internationale Monatsschrift . 


130 


höchsten Ehrungen erfuhr, u. a. die 
Verleihung der höchsten Auszeichnung, 
des goldenen Kranzes, den nur die 
Leibwächter des Königs, modern ge¬ 
sprochen seine Generaladjutanten, zu¬ 
gleich die Spitzen der Generalität des 
Landheeres, erhielten. Alexander aber 
ist mit einem Schlag Feuer und Flam¬ 
me für die Probleme der Meerbeherr¬ 
schung und des Seehandels von nun 
ab. Er sieht offenbar ein, daß die 
dauernde Beherrschung der großen in¬ 
nerasiatischen Gebiete, vor allem der 
großen Fruchtebenen, die das iranische 
Hochland umgeben (Mesopotamien, 
Baktrien und Induslandschaft), nur 
möglich ist durch Benutzung der Mee¬ 
resstraßen. So kommt es, daß das 
7. Buch Arrians, in welchem das letzte 
Lebensjahr des Königs geschildert wird, 
angefüllt ist mit Berichten über See¬ 
pläne des Königs. Wir hören von der 
Aussendung des Herakleides mit dem 
Auftrag, eine Schiffsexpedition auf 
dem Kaspischen Meer auszurüsten und 
die Küsten dieses Meeres zu erfor¬ 
schen.. Wieder bedient sich der Histo¬ 
riker Alexanders der Worte, daß den 
König ein Verlangen nach dem Meere, 
jetzt nach diesem nordischen Meere, er¬ 
griffen habe. Wenn man das Ziel die¬ 
ser Nordexpedition richtig erfassen 
will, muß man sich vor Augen hal¬ 
ten, daß die Menschen der damaligen 
Zeit glaubten, das Kaspische Meer 
stehe mit dem nordischen Ozean in 
Verbindung und der Oxus münde nicht 
in den Aralsee, sondern in das Kaspi¬ 
sche Meer.* ! ) Man hoffte also auf die- 

23) A. Hermann, Alte Geographie des 
unteren Oxusgebietes, Abh. der Gött. Ges. 
der Wiss. N. F. XV Nr. 4, Berlin 1914, hat 
sogar nachzuweisen gesucht, daß tatsäch¬ 
lich im Altertum eine Verbindung zwi¬ 
schen dem Oxus und dem Kaspischen Meer 
durch das Trockenbett des Usboi bestan¬ 
den hat. 

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Ernst Kornemann, Philipp II. und Alexander der Große 


sem Wege eine Verbindung zu Wasser 
nach Baktrien zu bekommen, wie sie 
Nearch eben nach Indien hergestellt 
hatte. In Babylon angekommen aber 
hat der König selber sofort den weite¬ 
ren Plan einer Umschiffung Arabiens 
in die Wirklichkeit umzusetzen ge¬ 
sucht. Drei Expeditionen sind nach¬ 
einander ausgeschickt worden, von de¬ 
nen die dritte den ausdrücklichen Be¬ 
fehl hatte, ganz Arabien bis nach 
Ägypten hin zu umfahren. Gleichzeitig 
wurde die Reichshauptstadt Babylon zu 
einem Reichskriegshafen ausgebaut, 
und eine gewaltige Kriegsflotte von 
tausend Schiffen in Arbeit gegeben, 
zum Teil wegen des vorzüglichen Bau¬ 
holzes an der Küste von Phönizien und 
Cypern, die dann, wenn nötig, sieben 
Tagereisen weit über Land bis zum 
Euphrat transportiert wurden: ein her¬ 
vorragendes Beispiel antiker Technik! 
Zu einer Flotte braucht man aber auch 
Mannschaften, und zu deren Ausbil¬ 
dung werden in Babylon große Flot¬ 
tenmanöver und sportliche Wett¬ 
kämpfe zu Wasser veranstaltet, um das 
höchste Maß der Ausbildung zu errei¬ 
chen. Hier tritt uns auf einmal ein 
ganz neuer Alexander entgegen, der an 
diesen Wasserspor.kämpfen selber teil¬ 
nimmt und der bei einer neuen Schiffs¬ 
expedition um Arabien herum nicht 
mehr wie seither das Landheer führen, 
sondern selber die Flotte besteigen will, 
allerdings unter Nearchs kundiger Füh¬ 
rung. 

Wenn man dies alles ins Auge faßt, 
so sieht man auch deutlich, was es mit 
den letzten Plänen Alexanders auf sich 
hat, die in nachgelassenen Papieren 
vorgefunden worden sind* ), vor allem 

24) Diodor XVIII 4. Ober diese wichtige 
Stelle vgl. meine Ausführungen Klio XVI 
S. 218ff. und H. Endres, Rhein. Mus. 72, 
1918, S. 437 ff. 


mit dem Plane, auch noch Karthago zu 
erobern und eine Verbindungsstraße an 
der nordafrikanischen Küste entlang 
zwischen Alexandria und dieser Han¬ 
delsmetropole des fernen Westens zu 
bauen.* ) Alle diese Pläne dienen einem 
und demselben Endziel, der Gewinnung 
der Herrschaft über die an das neue 
Weltreich angrenzenden Meere. Die 
große Landherrschaft von der Adria 
bis zum Indusstromland soll jetzt er¬ 
gänzt werden durch die Seeherrschaft 
über die angrenzenden Meere und die 
vorgelagerten Inseln. Vor allem mit 
Babylon und Alexandria in Ägypten 
hatte der König Großes vor. Wie Ba¬ 
bylon die Reichshauptstadt und der 
Reichskriegshafen, so sollte Alexan¬ 
dria der Haupthandelshafen des Rei¬ 
ches werden. Wenn die Unternehmung 
gegen Arabien gelang, war die ägyp¬ 
tische Alexanderstadt auf dem See¬ 
wege an Babylon, die Reichshauptstadt 
und den Reichskriegshafen, und wei¬ 
ter an Indien angeschlossen. Wenn 
dann noch Karthago niedergerungen 
und die afrikanische Küstenstraße von 
Ägypten westwärts über Kyrene, das 
Alexanders Oberhoheit bereits aner¬ 
kannte, gebaut^ war, dann war Alex¬ 
andria in den Mittelpunkt des damali¬ 
gen Weltverkehrs zu Wasser und zu 
Lande gerückt. Es wurde dank dem an¬ 
tiken Suezkanal durch das Wadi Tu- 
milät der Mittelpunkt des Transithan¬ 
dels vom Indischen Ozean nach dem 
Mittelmeer und umgekehrt, ähnlich wie 
Ägypten heute nach unserer Nieder¬ 
lage der Eckpfeiler des in der Entste¬ 
hung begriffenen britischen Weltrei¬ 
ches um diesen Ozean werden wird. 


25) Offenbar wegen der an dieser Küste 
vorhandenen Schwierigkeit, westwärts zu 
fahren, da die Meeresströmung hier ost¬ 
wärts gerichtet ist, darüber A. Philippson, 
Das Mittelmeergebiet S. 58. 


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Paul Michaelis, 


Babylon und Alexandria sind die bei¬ 
den Augen des neuen Weltreiches Alex¬ 
anders, und das Meer ist die große 
Verkehrsstraße zwischen den verschie¬ 
denen Fruchtländern und den Ausfuhr¬ 
gebieten der Monarchie. 

Dieser Alexander des letzten Lebens¬ 
jahres aber ist, das braucht wohl kaum 
nach allem Gesagten ausgesprochen zu 
werden, zu Philipp zurückgekehrt, dem 
großen Flottenschöpfer von ehedem, 
dem Eroberer von möglichst viel Küste 
für sein Reich, dem Beherrscher der 
großen Meer- und Handelsstraße durch 
die Dardanellen und den Bosporus. 
Wir haben einen direkten Beweis da¬ 
für, daß Alexander selber, wenn auch 
spät, die Einsicht in die wahre Größe 
seines Vaters gekommen ist. Denn in 
den schon einmal zitierten nachgelas¬ 
senen Papieren des großen Königs ist 
auch die Absicht verzeichnet, seinem 
Vater Philipp ein Grabmal zu errich¬ 


Charles de Villers 


ten, so groß wie die größte der Pyra¬ 
miden von Ägypten. 

Der Historiker aber, der heute rück¬ 
schauend die Dinge sub specie aeter- 
nitatis überblickt, muß sagen: Der 
große tausendjährige Weltentag, der 
damals anzubrechen begann, hat sein 
erstes Licht nicht nur von dem Feuer¬ 
geiste Alexanders empfangen, sondern 
in gleichem Umfange auch, wie der 
geniale Sohn schließlich selber hat an¬ 
erkennen müssen, von der feinen staats- 
männischen Klugheit Philipps, der ge¬ 
radeso wie sein Sohn unter die Gro¬ 
ßen auf den Thronen dieser Welt ge¬ 
rechnet werden muß. Ohne Philipp kein 
Alexander, ohne Alexander keine Welt 
des Hellenismus, in der die erste Welt¬ 
kultur Europas entstanden ist, und in 
der den christlichen Lehren von der 
Menschengleichheit der Weg geebnet, ja 
später die schnelle Ausbreitung des neuen 
Glaubens erst ermöglicht worden ist 


Charles de Villers. 

Von Paul Michaelis. 


ln unseren Tagen, die wieder eine 
tiefe Kluft zwischen dem deutschen und 
dem französischen Volke gerissen ha¬ 
ben, ist es wohl angezeigt, an einen 
Franzosen zu erinnern, der einst als 
Mittler zwischen Deutschland und 
Frankreich von vielen der Besten un¬ 
seres Volkes hochgeachtet war, heute 
aber bei uns wie in Frankreich vergessen 
ist. Zur Zeit als Napoleon I. siegreich 
durch Europa zog und Preußen unter¬ 
warf, hat er treu zum deutschen Volke 
gehalten, ununterbrochen an der von 
ihm übernommenen Lebensaufgabe, 
Frankreich und Deutschland einander 
näher zu bringen, weitergearbeitet. 
Darum soll er in unserer Gegenwart, die 


solcher Mittler noch viel dringender be¬ 
darf, von neuem zu Worte kommen. 

1 . 

Charles de Villers, der 1815 in Göt¬ 
tingen starb, wo er in den letzten Jah¬ 
ren seines Lebens Professor gewesen 
war, wurde 1765 in Boulay (Lothrin¬ 
gen) geboren. Uber seine erste Jugend 
ist nicht viel zu sagen. Nach dem Be¬ 
such der Benediktinerschule in Metz 
trat er 1780 als Zögling in die Metzer 
Artillerieschule ein, wurde 1782 Artil¬ 
lerieleutnant in Toul, später in Stra߬ 
burg. Die französische Revolution, die 
ihn bei friedlichen Arbeiten (dramati¬ 
schen Entwürfen, Übersetzung Senecas) 

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Paul Michaelis, Charles de Villers 




135 


überraschte, ließ ihn zum ersten Male 
an die Öffentlichkeit treten. Zuerst be¬ 
geisterter Anhänger der Freiheitsidee, 
wandte er sich, als die Revolution aus 
dem Maßvollen ins Maßlose hinausi- 
wuchs, von ihr ab und verkündete seine 
eigenen Gedanken über Freiheit und 
Gleichheit in der 1791 erschienenen 
Schrift: De la Libertö. 

Freiheit, sagt er, könnte nur bestehen, 
wenn man in einer Gesellschaft von 
Philosophen lebte. Man hüte sich, dem 
Volke von Freiheit zu sprechen: denn 
Freiheit ist ihm weiter nichts als das 
Aufhören aller gesetzlichen Ordnung. 
„Renonoez donc“, so ruft er aus, „ä la 
libertö; oböissez aux lois; ayez des rois, 
aimez-les et respectez-les. M6fiez-vous 
de oeux qui vous exaltent au nom de la 
libertfe!“ 

Es ist merkwürdig, daß Villers trotz 
der Offenheit, mit der er sich in dieser 
Schrift gegen die Pariser Gewalthaber 
aussprach, bis zum April 1792 in Frank¬ 
reich bleiben konnte. Als aber die Zeit 
der Adelsverfolgungen gekommen war, 
mußte er sein Vaterland verlassen. 
Nach mannigfachen Irrfahrten trieb 
ihn das Schicksal nach Holzminden an 
der Weser. Mehr als zwei Jahre 
schweifte er in Westfalen umher, um 
das Land, das ihn aufgenommen hatte, 
und seine Bewohner kennen zu lernen. 
Als Einunddreißigjähriger läßt er sich, 
im Herbst 1796 in Göttingen immatri¬ 
kulieren und tritt mit den bedeutend¬ 
sten Professoren, vor allem mit Schlö- 
zer, in Verbindung. Ein Jahr später ver¬ 
öffentlichte er als Ergebnis seines zwei¬ 
jährigen Aufenthaltes in Westfalen die: 
„Lettres westphaliennes sur plusieurs 
sujets de Philosophie, de littörature et 
d histoire, contenant la description pit- 
toresque d’une partie de la Westphalie." 
Die Schrift enthält anziehende Plaude¬ 
reien über Westfalen und seine Be¬ 


wohner, über Corvey und seine Ge¬ 
schichte, über Klopstocks Hermanns¬ 
schlacht und den Kampf der Sachsen 
gegen den großen Frankenkönig. Was 
dem Buche aber ein besonderes Inter- I 
esse verleiht, sind einzelne Bemerkun¬ 
gen über Kant und seine Philosophie. 
Villers wagt damit den ersten Versuch, 
die deutsche kritische Philosophie sei¬ 
nen Landsleuten vorzuführen. Im 
8. Briefe — die Briefe sind an eine 
Dame gerichtet — tritt zum ersten Male 
der Name .Kants auf. Villers plaudert 
über Descartes, Spinoza, Malebranche, 
Locke und ihre Philosophie: dann leitet 
er über zu Kant: „Enfin Kant est venu. 

. C'est un terrible homme, madame, 

que ce philosophe de Koenigsberg, et 
avec lequel il est bien difficile d’avoir 
raison. C’est un raisonneur dösesperan! 
pour les gens qui se payent de phrases 
et de rhfetorique. Gare avec lui les faux 
monnayeurs!“ Er nennt Kant einen 
„sage universel“ und spricht über seine 
„Critique de la saine raison“: „Son livre 
n’est pas consolant, il n’est pas riant, 
il n’est pas flatteur pour le pauvre 
esprit humain qui aime tant ä etre 
berc6; mais du moins c’est le bilan de 
nos connaissances.... Peut-etre, ma- 
dame, regretterez-vous, comme mille 
autres, les romans que d6truit Mr Kant, 
car l’erreur est si douce.“ — 

Daß Villers bald noch inniger mit 
der deutschen Philosophie und Litera¬ 
tur verwachsen sollte, das verdankt 
Deutschland einer seiner edelsten 
Frauen, Dorothea Rodde-Schlözer. Vil¬ 
lers hatte beschlossen, nach Rußland zu 
reisen, um dort, unter dem Beistand 
seines in Petersburg lebenden Bruders, 
eine gesicherte Lebensstellung zu su¬ 
chen. Er begab sich im Jahre 1797 
nach Lübeck, wo er sich nach Ru߬ 
land einschiffen wollte. 

In Lübeck lebte, als Gattin des Sena- 


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Paul Michaelis, Charles de Villers 


138 


tors Rodde, die Tochter des von Villers 
hochverehrten Göttinger Professors 
Schlözer, Dorothea, die als erste 
deutsche Frau den Grad eines Dr. phil. 
erlangt hatte. Trotz aller Gelehrsam¬ 
keit — sie hatte außer sechs neueren 
Sprachen das Lateinische, Griechische, 
Hebräische erlernt und las Cicero und 
Homer ohne Schwierigkeit — war sie 
durchaus kein Blaustrumpf. 1 ) Villers 
wollte auf der Durchreise durch Lü¬ 
beck Frau Rodde und den Ihrigen 
Grüße der Eltern in Göttingen über¬ 
bringen. Schon das erste Gespräch mit 
Dorothea fesselte ihn so, daß er bald 
auf seine Reise nach Rußland verzich¬ 
tete. Er hatte ihr erzählt, sein aus¬ 
schließliches Lieblingsstudium sei die 
deutsche Philosophie; in Kant verehre 
er den größten Denker Deutschlands, 
ja Europas; sein lebhafter Wunsch sei, 
Kants Schriften seinem Volke zugäng¬ 
lich zu machen, das sich noch in völ¬ 
liger Unkenntnis über sie befinde. Doro¬ 
thea hatte ihm erwidert: Auch von den 
großen deutschen Dichtern wüßten die 
Franzosen so wenig; Villers solle es 
sich doch zur Aufgabe machen, auch 
ihre Werke in Frankreich einzuführen. 
Wenn sein Herz schon so warm für 
Kant schlüge, wieviel feuriger würde 
es sich für Goethe und Schiller be¬ 
geistern. Auf Veranlassung Dorotheas 
las Villers nun „Hermann und Dorothea“, 
„Werthers Leiden“, „Iphigenie“, „die 
Räuber“, „Fiesco“, „Götz“, „Nathan den 
Weisen“. Dorothea ihrerseits las Frau 
von Staels Schriften, die Villers ihr 
empfohlen hatte, besonders die „Über 
die Literatur in ihren Beziehungen zu 


1) In das literarische Leben Lübecks und 
in die Familie Rodde führt die historische 
Erzählung aus Lübecks Vergangenheit: 
„Auch ein Franzose“ von A. Evers (Verlag 
Schottländer, Breslau). Im Mittelpunkte die¬ 
ser Erzählung steht Charles de Villers. 


den sozialen Einrichtungen". Nach der 
Lektüre sagte sie zu ihm: „Nachdem ich 
Frau von Stael gelesen, kann ich an 
einen unversöhnlichen, feindlichen Ge¬ 
gensatz der deutschen und der französi¬ 
schen Stämme nicht glauben und denke, 
der Tag muß einmal kommen, da man 
in Frankreich erkennen wird, daß diese 
beiden Völker, statt sich abzustoßen, 
dazu berufen sind, sich in wunder¬ 
barer Weise zu ergänzen und zu einer 
Einigkeit durchzudringen, die sie in 
der Völkerfamilie dastehen läßt, wie 
das herrliche Brüderpaar der Diosku- 
ren.“ 

„Frankreichs Abneigung gegen 
Deutschland ist groß und tiefgewur- 
zelt“, antwortete Villers; Dorothea aber 
drang in ihn, der Mann zu werden, der 
die schroffen Gegensätze zwischen 
Frankreich und Deutschland mildere, 
der die Franzosen lehre, das Gute, das 
im deutschen Volke lebe, zu verstehen 
und zu lieben. 

Dorotheas Gatte, der Senator Rodde, 
bot schließlich sein Haus Villers zu 
freiem Aufenthalte an, und als auch 
von Frau Prof. Schlözer aus Göttingen 
ein Brief ankam, der ihn aufforderte, 
in Lübeck zu bleiben: „Ich bestürme 
Sie, nicht von Lübeck fortzugehen. Blei¬ 
ben Sie um meiner Tochter willen! 
Diese betrachtet schon den Umgang mit 
Ihnen als ein seltenes Glück und als 
eine Förderung, wie sie noch keine 
ähnliche genossen“, — da verzichtete 
Villers auf seine russischen Pläne. 

2 . 

Es begann jetzt für ihn eine Reihe 
glücklicher Jahre, von 1797 bis 1806, 
während welcher er teils in Lübeck, 
teils in dem nahen Eutin mit Voß oder 
in Hamburg mit Klopstock u. a. sich zu 
dem Manne bildete, den Deutschland 
| und Europa gekannt und gerühmt ha- 



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139 


Paul Michaelis, Charles de Villers 


ben. Seine geistreiche Freundin, „mon 
docteur“, wie er sie gern nannte — „le 
docteur aux belles mains blanches", 
hieß sie in ihrer Umgebung —, über¬ 
nahm liebevoll die Erleichterung sei¬ 
ner kleinen Lebenssorgen. Er konnte 
sich ganz seiner literarischen Tätigkeit 
hingeben, indem er in großer Anzahl 
Beiträge zu französischen, später auch 
zu deutschen Zeitschriften lieferte, die 
als Vorarbeiten zu einem umfassenden 
Werke über die deutsche Literatur an¬ 
gesehen werden können, das ihm als 
Ziel seiner schriftstellerischen Tätig¬ 
keit vorschwebte. Er war Mitarbeiter 
am „Spectateur du Nord“, einer in Ham¬ 
burg erscheinenden Zeitschrift, die 
unter den französischen Flüchtlingen 
weit verbreitet war. Für diese lieferte 
er besonders Übersetzungen und Be¬ 
sprechungen deutscher Dichtungen, so¬ 
wie Beiträge zur Kenntnis der deut¬ 
schen Wissenschaft und Sprache. So 
übersetzte er Goethes „Wanderer", 
einen Abschnitt von Klopstocks „Mes¬ 
sias" und berichtete in einer ausführ¬ 
lichen Abhandlung über Goethes „Iphi¬ 
genie“. 

In einem anderen Aufsatz: „Id6es sur 
Ia destination des hommes de lettres 
sortis de France, et qui s6journent en 
Allemagne“, wendet er sich an die aus 
ihrer Heimat vertriebenen Franzosen, 
an denen er Mitarbeiter für seine Le¬ 
bensarbeit zu finden hofft. Ihnen weist 
er die Aufgabe zu, zwischen Deutschen 
und Franzosen zu vermitteln. Vor allem 
aber richtete Villers seine Aufmerksam¬ 
keit auf die deutsche Philosophie. Er 
trat für den des Atheismus angeklag- 
ten Fichte ein und versuchte, die 
Grundlagen der Kantischen Philosophie 
seinen Landsleuten darzustellen. Diese 
Abhandlung über die „Critique de la 
raison pure“ schickte er an Kant und 
hatte die große Freude, daß Kant sie 


in deutscher Übersetzung durch Rinck 
als Zeugnis ausländischer Würdigung 
herausgeben ließ. 2 ) Rinck schrieb an 
Villers aus Königsberg unter dem 17. 
Juli 1800: „...Daß Kant Ihr Schreiben 
nicht beantwortet hat, nehmen Sie doch 
ja seinem Alter und seiner Schwäche 
nicht übel. Er beantwortet fast keinen 
Brief mehr, von so vielen trefflichen 
Gelehrten er auch Zuschriften erhält, 
und beinahe möchte ich sagen: er ist 
nicht mehr imstande, sie zu beantwor¬ 
ten. Indessen schätzt er Sie sehr und 
läßt sich Ihnen bestens empfehlen." 
Durch diese Anerkennung ermutigt, 
fuhr Villers in seiner Arbeit fort und 
veröffentlichte im Jahre 1801 die 
„Philosophie de Kant, ou Prindpes 
fondamentaux de la Philosophie tran- 
scendentale“. Diese Arbeit sollte den 
Franzosen den Zugang zu der neuen 
Gedankenwelt erschließen. Sie berich¬ 
tet über Kants Leben und Schriften, 
über seine Gegner und über die Vor¬ 
bedingungen seiner großen Wirkung in 
Deutschland; sie behandelt sodann die 
Kritik der reinen Vernunft ausführlich, 
und die der praktischen Vernunft in 
den Hauptzügen. Die der Urteilskraft 
ließ Villers unbesprochen. 

Die Franzosen verhielten sich zu¬ 
nächst der Philosophie Kants gegenüber 
ablehnend; sie sträubten sich gegen 
diese ihnen nur vom Hörensagen be¬ 
kannte kritische Philosophie, die man 
wegen ihres streng methodischen Auf¬ 
baues und ihrer unverständlichen Ter¬ 
minologie für eine Erneuerung der 
Scholastik hielt. Daher konnte Rinck 
auch an Villers schreiben: „GanzFeuer 


2) Einige hierauf bezügliche Briefe von 
Rinck an Villers sind in den „Altpreußischen 
Monatsheften“ (1880. Bd. 17) unter dem Titel: 
„Briefe aus dem Kantkreise“ publiziert. Rinck 
besorgte den nötigen Briefwechsel für den 
alternden Kant. 


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Paul Michaelis, Charles de Villers 


142 


und Geist, voll Kenntnis und Vorliebe 
für die Sache, sind Sie so ganz eigent¬ 
lich der Mann, dem philosophischen 
Gözzen in Frankreich den Kopf zu zer¬ 
treten, und auf seinen Trümmern dem 
Critizism einen dauernden Sitz zu er¬ 
richten.“ — Während der Arbeit zwei¬ 
felte Villers wohl einmal daran, ob er 
sein Ziel erreichen würde. „Hätte ich 
doch nur", so schreibt er an den in 
Eutin lebenden Jacobi, „zehn Leser; un¬ 
ter diesen zehn drei, die mich ver¬ 
stehen, unter diesen dreien einen, der 
es besser machte als ich — und ich bin 
zufrieden.“ Er führte aber sein Werk 
zu Ende; denn er hoffte, es würde die 
Franzosen zu jenem hohen und rei¬ 
nen Streben emporheben, das den Men¬ 
schen aus den Banden der Sinnlichkeit 
befreit. Doch die kriegserfüllten Zeiten 
zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren 
der friedlichen Vermittlerarbeit Villers’ 
feindlich; die geistigen Kämpfe wur¬ 
den in den Hintergrund gedrängt. Der 
deutsch-dänische Dichter Jens Bag- 
gesen machte gegen das Buch über 
Kant das Epigramm: 

„Denken willst du es lehren, das Volk der 
Franzosen, o Villers, 
Wie der erhabenste Geist aller Teutonen 
gedacht? 

Soll das Unmögliche glücken, Unmögliches 
muß dann vorangeh'n: 
Lehr’ es empfinden zuerst wie der ge¬ 
meinste Teuton!“ 

Trotzdem hatte Villers’ Arbeit den Er¬ 
folg, daß seit jener Zeit die deutsche 
Philosophie in französischen Zeit¬ 
schriften vielfach besprochen wurde. 
Erst eine spätere Epoche sollte die 
Lehre Kants für die philosophische Ent¬ 
wicklung Frankreichs fruchtbar machen. 

Zu Anfang des Jahres 1801 war es 
Villers gelungen, von der Proskriptions¬ 
liste gestrichen zu werden und die Er¬ 
laubnis zur Rückkehr in sein Vaterland 
zu erhalten. Im Sommer, kurz nach 


Vollendung der „Philosophie de Kant“, 
reiste er in Begleitung seiner Freundin 
Dorothea Rodde und ihres Mannes nach 
Paris. Auf der Reise schreibt er an 
seinen Freund, Dr. Karl Schütz in 
Jena: „Souhaitez-moi force et fortune 
pour la grande entreprise que je vais 
tenter de germaniser les Parisiens.“ 

Er verlebte den Sommer in Paris in 
anregendem Verkehr. Auch Bonaparte 
war auf ihn aufmerksam geworden und 
hatte ihn aufgefordert, binnen vier 
Stunden einen Auszug aus der Kanti- 
schen Philosophie herzustellen; mehr 
als vier Seiten dürfe aber die Abhand¬ 
lung nicht betragen. Nur die Grundla¬ 
gen und die Richtung von Kants Philo¬ 
sophie konnte Villers bei solcher Be¬ 
schränkung aufzeichnen: „Philosophie 
de Kant. Apercu rapide des bases et 
de la direction de cette Philosophie.“ 
Wiederum hebt er die Überlegenheit 
der deutschen Bildung über die fran¬ 
zösische hervor und spricht die Über¬ 
zeugung aus, daß die deutsche Philo¬ 
sophie trotz aller Hindernisse über den 
französischen Materialismus den Sieg 
davontragen werde. 

Dieses Schriftchen hatte ein merk¬ 
würdiges Schicksal. Es ist nicht im 
Buchhandel erschienen, und wir hätten 
keine Kenntnis davon, wenn der Philo¬ 
soph Vorländer es nicht in Goethes Bi¬ 
bliothek in Weimar gefunden hätte. Es 
ist höchst wahrscheinlich, daß Villers 
das Exemplar selbst an Goethe gesandt 
hat, und zwar im Jahre 1803. Er wandte 
sich an ihn zuerst am 10. August 1803 
von Lübeck aus; in seinem Briefe sagt 
er, daß „une craintive d6f6rence“ ihn 
bis jetzt abgehalten habe zu schreiben, 
daß er oft auf einen Augenblick der In¬ 
spiration gewartet habe. Er schildert 
dann in seiner enthusiastischen Weise 
seine Lebensaufgabe, „le noble esprit 
de la sagesse et de po6sie germanique“ 



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Paul Michaelis, Charles de Villers 


144 


seinen Landsleuten bekannt zu machen. 
Und dann heißt es: „Recevez avec 
bont6 le petit 6crit ci-joint que le meme 
prosölytisme, dont j’ai touch6 l’objet 
ci-dessus, m’a fait publier.“ Indem Vil¬ 
lers eine nur als Manuskript erschie¬ 
nene Schrift an Goethe sandte, erwies 
er ihm eine ganz besondere Ehrung. 
Goethe, der Vielbeschäftigte, aber be¬ 
antwortete jenen ersten Brief Villers’ 
zunächst nicht. 3 ) 

In Paris fühlte sich Villers auf die 
Dauer nicht wohl; er konnte unter den 
neuen Verhältnissen dort nicht heimisch 
werden und kehrte im Dezember 1801 
aus dem „pays du charlatanisme et de 
la forfanterie“ in seine Adoptivheimat 
Deutschland zurück. — 

In Lübeck wandte er sich jetzt einer 
neuen Aufgabe zu. Das Institut natio¬ 
nal hatte im April 1802 eine Preisauf¬ 
gabe gestellt: „Quelle a 6t6 l’influence 
de la Reformation de Luther sur la 
Situation politique des diffferens Etats 
de l’Europe et sur le progres des lu- 
mieres?" Seine Arbeit, betitelt: „Essai 
sur l’esprit et l’influence de la Refor¬ 
mation de Luther", erhielt den ersten 
Preis. Auch diese Arbeit faßt er auf 
„als eine Gelegenheit, einige Quellen 
der deutschen Kultur darzulegen und 
den Franzosen ihren Geist und ihre all¬ 
gemeine Tendenz bekannt zu machen“. 
Im ersten Hauptteil beschäftigt er sich 
mit den politischen Folgen der Refor¬ 
mation. Er vergleicht die Entwicklung 
der Staaten, welche die Reformation 
angenommen haben, mit denen, die dem 
katholischen Glauben treu geblieben 
sind. Als protestantische Züge im preu¬ 
ßischen Staatsleben erscheinen ihm: 
„un esprit public tres prononcG, un pa- 

3) Das Manuskript ist von Karl Vorländer, 
nach dem Exemplar aus Goethes Bibliothek, 
in den »Kantstudien“ (Bd. 3, Heft 1) heraus¬ 
gegeben worden. 


triotisme fervent, beaucoup d’attache- 
ment entre le prince et les sujets, un 
esprit de libertö et de röpublicanisme 
qui s’6tend du trone jusqu’ au peuple.“ 
Im 2. Hauptteile: „Sur le Progres des 
Lumieres“ betrachtet Villers die umfas¬ 
senden Gebiete des Geisteslebens, auch 
die schönen Künste. Auf der drittletz¬ 
ten Seite des Buches steht der denk¬ 
würdige Satz: „Ce que Dante et P6- 
trarque furent pour la pofesie, Michel- 
Ange et Raphael pour les arts du des- 
sin, Bacon et Descartes pour la Philo¬ 
sophie, Copernic et Galilfee pourl’astro- 
nomie, Colomb et Gama pour la Science 
de la terre, Luther le fut pour la re- 
Iigion.“ 

Das Buch erregte lebhaftes Interesse 
in Europa; sein Erfolg war größer als 
der irgendeiner anderen Schrift Villers’. 
In Deutschland hielten die Vertreter der 
Wissenschaft nicht mit ihrer Anerken¬ 
nung zurück. Nachdem die Göttinger 
Akademie der Wissenschaften ihn be¬ 
reits nach seiner Rückkehr aus Frank¬ 
reich zum korrespondierenden Mit- 
gliede ernannt hatte, verlieh die Uni¬ 
versität ihm am 27. September 1805 
die Doktorwürde, wie es im Diplome 
heißt, wegen der unbestechlichen Wahr¬ 
heitsliebe, mit der er Luthers Verdienste 
dargestellt habe. Eine Lebensbeschrei¬ 
bung Luthers, die für seine Landsleute 
bestimmt sein sollte, ist leider nicht 
vollendet worden. Eine Vorarbeit dazu, 
die Übersetzung der Lebensbeschrei¬ 
bung Luthers von Melanchthon, ver¬ 
öffentlichte er im Jahre 1810 im „AI- 
manach des r6form6s et protestans“. 

Im Herbst des Jahres 1803 trat Vil¬ 
lers seine zweite Pariser Reise an. Er 
gedachte diesmal länger in Frankreich, 
wohin ihn wieder Dorothea und ihr 
Gatte begleiteten, zu verweilen. In Metz 
traf er Frau von Stael, die gerade mit 
Benjamin Constant auf dem Wege nach 


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Paul Michaelis, Charles de Villers 


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Ihr Zusammensein 
vom 26. Oktober bis 
zum 8. November. In den ersten Tagen 
verlief es harmonisch; denn Frau von 
Stael verehrte in ihrem Landsmann 
„einen der liebenswürdigsten Menschen, 
die Frankreich und Deutschland in 
ihrer Vereinigung hervorbringen kön¬ 
nen.“ Bald aber traten Mißstimmun¬ 
gen ein. Gewiß waren es auch Fragen 
wissenschaftlicher Natur, die diese Ver¬ 
stimmung hervorriefen. So bedauert 
Frau von Stael, daß Villers nicht für 
immer nach Frankreich übersiedeln 
wolle, da er so der geistigen Vertretung 
Deutschlands und der Mittlerarbeit 
zwischen beiden Völkern besser dienen 
könne. Aber vor allem: sie war eifer¬ 
süchtig. Dies beweist ein Brief aus 
Metz an ihren Freund Mathieu de Mont- 
morency: „Hier fand ich den inter¬ 
essanten und geistreichen Kantschen 
Villers mit einer dicken Deutschen, 
Frau Rodde, zu deren geheimen An¬ 
ziehungskraft ich noch nicht durchge¬ 
drungen bin.“ — Der Briefwechsel zwi¬ 
schen Frau von Stael und Villers ist 
uns fast vollständig erhalten, bei weitem 
der interessanteste Abschnitt der aus 
seinem Nachlaß veröffentlichten Brief- 
sammlung. 4 ) Nach dem Tode ihres 
Mannes hatte die Französin gehofft. 
Villers nähertreten zu können. In ihm 
glaubte sie ihr Idealbild gefunden zu 
haben; einer ehelichen Verbindung mit 
Constant war sie abgeneigt. Mit ihrer 
feurigen Beredsamkeit versuchte sie, 
Villers zu veranlassen, auf seine 
Pariser Reise zu verzichten und mit 
ihr nach Deutschland zurückzukehren. 
Es gelang ihr nicht, und blutenden Her¬ 
zens trennte sie sich von ihm; er ver- 

4) Briefe. Auswahl aus dem handschrift¬ 
lichen Nachlasse des Ch. de Villers. heraus¬ 
gegeben von M. Isler. (Hamburg 1879.) 
Diese Sammlung enthält 22 Briefe. 


hielt sich ihr gegenüber kühl und ab¬ 
lehnend. „Mais encore une fois, pour- 
quoi me d6testez-vous? Parce que je 
vous regrette? Villers, vos Berits ne res- 
semblent gueres ä vos paroles“, so 
schreibt sie am 28. Dezember 1803 aus 
Weimar an den verehrten Freund. 5 ) — 

Frau v. Stael hat nie den tiefen Ein¬ 
druck vergessen, den Villers auf sie 
in Metz gemacht hat. Zwar wurden 
ihre Briefe, die sie in späteren Jahren 
an ihn richtete, nicht beantwortet; als 
aber 1813 ihr Buch: „De l’Alle- 
magne“ erschien, veröffentlichte Vil¬ 
lers eine ausführliche Besprechung in 
deutscher Sprache. Sie schrieb ihm aus 
London am 16. April 1814: „Ecrivez- 
moi, et sachez que je n’ai jamais cessö 
de vous aimer et de vous admirer. Si 
je puis vous etre bonne ä quoi que ce 
soit, disposez de moi coinme d'une 
sceur, si j’ai l’honneur de l’etre par ma 
Sympathie avec vous,“ c ) In ihrem Buche 
erwähnt Frau v. Stael merkwürdiger¬ 
weise ihren Landsmann nur beiläufig 
in einer Anmerkung zum 18. Kapitel 
des 1. Buches- 7 ) — 

In Paris, wo Villers sich 2 Jahre auf¬ 
hielt, arbeitete er an der Gründung 
einer Zeitschrift großen Stils, der „Bi- 
bliotheque germanique“, um die Fran¬ 
zosen über ihr Nachbarland Deutsch¬ 
land aufzuklären. „Imprimer une direc- 
tion plus noble au travail des esprits, 
introduire plus de spiritualit6 dans le 
mode de culture adoptGparlesFrangais, 
voilä ce que je me suis prescrit comme 
täche et comme devoir“, das war der 
Sinn des Unternehmens, für das er eine 

5) Isler a. a. 0. S. 297. 

6) Isler a. a. O. S. 302. 

7) „On trouve toujours M. de Villers ä 
la töte de toutes les opinions nobles et 
g6n£reuses, et il semble appelö, par la 
gräce de son esprit et la profondeur de ses 
ötudes. ä reprösenter la France en Allemagne 
et l'Allemagne en France.“ 



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Paul Michaelis, Charles de Villers 


große Anzahl Gelehrter warb. Trotz 
seiner eifrigen Bemühungen scheiterte 
der Plan; er hatte jedoch die Genug¬ 
tuung, daß, noch während seiner An¬ 
wesenheit in Paris, eine Zeitschrift ge¬ 
gründet wurde, die sich ein ähnliches 
Ziel gesteckt hatte, die „Archives lit- 
t6raires de l’Europe“; an ihr arbeitete 
er eifrig mit. Die Zeitschrift, die ihr 
Erscheinen bereits 1807 einstellen mußte, 
enthielt Übersetzungen und Bespre¬ 
chungen von Klopstock, Wieland, Her¬ 
der, Kant, Fichte, Goethe, Schiller, La- 
vater. 

Obwohl Villers in Paris hoch geehrt 
und geachtet wurde, fühlte er sich dort 
wiederum nicht wohl. Er schrieb an 
Görres, daß er „parmi la foule des 
castrats intellectuels“ einsam dastehe, 
„plein de vie intörieure, plein d’agita- 
tion et de douleur“. Daher kehrte er 
nach zweijähriger Abwesenheit nach 
Deutschland zurück. 

3. 

In den nun folgenden Kriegszeiten 
hielt Villers treu zu Deutschland; ja, 
es gelang ihm, infolge seiner weitver¬ 
zweigten Verbindungen, die sich bis in 
die nächste Umgebung des Kaisers Na¬ 
poleon erstreckten, manchen schweren 
Druck von seinem hart geprüften Adop- 
tiwaterland zu nehmen. Was er da¬ 
mals für die Hansestadt Lübeck getan 
hat, sollte ihm nie vergessen werden. 
Blücher hatte, von drei französischen 
Armeekorps verfolgt, am 5. November 
1805 Lübeck besetzt; die Franzosen 
drängten nach und machten sich bald 
zu Herren der Stadt, für die eine 
fürchterliche, drei Tage währende Lei¬ 
denszeit begann. Die französische Sol¬ 
dateska hauste mit einer Roheit, die 
an die schlimmsten Zeiten des Drei¬ 
ßigjährigen Krieges erinnerte. Villers 
hatte sich in das Roddesche Haus be¬ 


geben; er wollte seinen Freunden in der 
drohenden Gefahr zur Seite stehen. 
Er holte seine Uniform hervor, um als 
französischer Offizier seine Landsleute 
in Schach zu halten. Es gelang ihm 
mit vieler Mühe, Ordnung zu schaf¬ 
fen und zwischen den feindlichen Ge¬ 
walthabern und der Stadt zu vermit¬ 
teln. Höher aber als die Aufopferung, 
die er in jenen Tagen der Plünderung 
bewies, steht der Mut, mit dem er auch 
als Publizist für die Unterdrückten ein¬ 
trat. Unmittelbar nach den traurigen 
und blutigen Ereignissen sandte er 
einen langen Bericht, in der Form eines 
offenen Briefes, an die Tante der Kai¬ 
serin, die Gräfin Fanny de Beauharnais. 
In dieser „Lettre ä Madame la Com- 
tesse Fanny de Beauharnais contenant 
un röcit des övönemens qui se sont 
passes ä Lübeck dans la journeö du 
Jeudi 6 Novembre 1806, et les suivan- 
tes" bittet er sie um ihre Verwendung 
für die unglückliche Stadt beim Kai¬ 
ser und schildert ausführlich die Lü¬ 
becker Greueltaten. Der Brief, bald in 
Tausenden von Exemplaren in Paris 
verbreitet, wurde auch ins Deutsche 
übersetzt. 8 ) 

In diesen trüben Tagen traf bei Vil¬ 
lers ein Schreiben Goethes ein. Auch 
Weimar hatte unter den Schrecken 
des Krieges zu leiden; in Goethes 
Hause wollten verschiedene französi¬ 
sche Offiziere Quartier machen. Sie tre¬ 
ten in sein Zimmer und sehen auf sei¬ 
nem Tische einen Brief von Villers. Er 
hatte an den deutschen Dichter gerade 
einen Aufsatz gesandt: „Essai sur la 
maniere essentiellement differente, dont 
les poetes fran^ais et allemands trai- 
tent l’amour“, nebst einem Begleit- 

8) Villers* Brief an die Gräfin F... de 
B.... Aus dem Französischen übersetzt. Am¬ 
sterdam, im Kunst- und Industrie-Comptoir 
1807. 


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Paul Michaelis, Charles de Villers 


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schreiben, das die Franzosen jetzt auf 
dem Tische fanden. Villers war ihnen 
nicht unbekannt, und so blieb das Haus 
von einer Einquartierung verschont. 
Nun endlich schrieb Goethe am 11. 
November 1806, zum ersten Male, 
eigenhändig an Villers: „Ihr freund¬ 
licher Brief, mein werthgeschätzter 
Herr, lag auf meinem Tische, als die 
Adjutantur der Französischen Generäle 
bey mir eintrat, um Quartier zu ma¬ 
chen. Durch die Adresse wurde ich 
diesen Männern bekannt, die sich sehr 
freundlich gegen mich bezeigten und 
mir in diesen bösen Tagen manches 
Gute erwiesen. Ihnen also, mein wer- 
thester Herr Villers, bin ich außerdem, 
daß Sie mich im aesthetischen Sinne 
bey Ihren Landsleuten eingeführt ha¬ 
ben, auch noch eine Einführung ganz 
anderer Art schuldig, von der ich Sie 
zu benachrichtigen, wofür ich zu dan¬ 
ken nicht unterlassen wollte...“ 9 ) 

Die so geknüpften Beziehungen setz¬ 
ten sich noch einige Jahre weiter fort. 
Als Goethe wieder an der Farbenlehre 
arbeitete, ließ er bei Villers anfragen, 
ob er die Arbeit ins Französische über¬ 
setzen und für sie in Frankreich wirken 
wolle. Die Übersetzung kam nicht zu¬ 
stande, so sehr Goethe es auch 
wünschte; denn Villers war in den letz¬ 
ten Jahren seines Lebens durch Berufs¬ 
geschäfte stark in Anspruch genommen, 
ln zwei Briefen an Reinhard, den fran¬ 
zösischen Staatsmann deutscher Her¬ 
kunft, äußerte sich Goethe über den 
für Deutschland wirkenden Franzosen. 
In dem einen nennt er Villers „eine 
wichtige Person durch seinen Stand¬ 
punkt zwischen den Franzosen und 
Deutschen, da er wie eine Art von 
Janus bifrons herüber und hinüber 
sieht“; in dem andern lehnt er seine 


9) Isler, a. a. O. S. 98 f. 


feurige Natur ab: „Er ist sehr brav, 
scheint mir aber doch etwas leiden¬ 
schaftlich verworren. Es ist eine gut¬ 
mütige, kindliche, etwas Don Quixo- 
tische Leidenschaft für das von ihm 
anerkannte Bessere in der deutschen 
Nation und Literatur...“ 

Immer schwerer wurde der Druck, der 
nach der Schlacht bei Jena auf Nord¬ 
deutschland lastete, und immer mehr 
wurde daher die Tätigkeit des stets 
hilfsbereiten Villers in Anspruch ge¬ 
nommen. Im Jahre 1808 trat er als Ver¬ 
teidiger der in ihrer Existenz bedrohten 
Göttinger Universität auf. Das neue 
Königreich Westfalen war durch die 
von Napoleon geforderten Aufwendun¬ 
gen für militärische Zwecke so schwer 
belastet, daß die Regierung daran 
dachte, von den fünf Hochschulen des 
Staates drei oder vier aufzuheben, dar¬ 
unter Göttingen. Angesehene deutsche 
Männer wandten sich an Villers und 
baten ihn, etwas zu schreiben, wo¬ 
durch die Bedeutung der westfälischen 
Hochschulen „so ins Licht gesetzt 
werde, daß mit dem Gedanken von ir¬ 
gendeinem Abbruch eine Art Schande 
verbunden scheine“. Mit Begeisterung 
trat Villers für seine geliebte Georgia 
Augusta ein und verfaßte den „Coup 
d’ceil sur les universitös et le mode 
d’instruction publique de TAllemagne 
protestante, en particulier du royaume 
de Westphalie“. Die Schrift fand in 
Cassel vollen Beifall; gelang es auch 
nicht, alle fünf Universitäten Westfa¬ 
lens zu erhalten, so blieben doch Göt¬ 
tingen und Marburg in ihrer alten Form 
bestehen. Durch den Erfolg angeregt, 
ließ Villers im selben Jahre noch ein 
zweites Werk erscheinen, den „Coup 
d’oeil sur l’ötat actuel de la littörature 
ancienne et de l’histoire en Alle- 
magne“, eine von kurzen kritischen Be¬ 
merkungen begleitete Übersicht über 


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Paul Michaelis, Charles de Villers 


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sämtliche in den letzten drei Jahren 
in Deutschland erschienenen Werke von 
wissenschaftlichem Werte. Als Dank 
für sein mannhaftes Eintreten wurde 
Villers am 17. Juli 1808 zum Mitglied 
der Göttinger Gesellschaft der Wissen¬ 
schaften ernannt. — 

Im Jahre 1810 brach, unter dem 
Drucke der Kontinentalsperre, das Rod- 
desche Handelshaus in Lübeck zusam¬ 
men. Villers konnte die Gastfreund¬ 
schaft seiner Freunde nicht länger in 
Anspruch nehmen und sah sich nach 
einer sicheren Lebensstellung um. Er 
fand sie in Göttingen, wo er im Januar 
1811 zum Professor der französischen 
Literatur ernannt wurde. Seine Lehrtä¬ 
tigkeit begann er mit einer Vorlesung 
über die wissenschaftliche Kultur der 
Deutschen; später las er regelmäßig 
zwei- oder dreistündig über die Ge¬ 
schichte der französischen Literatur. 
Mit deutschen Gelehrten stand er in 
lebhaftem geistigen und geselligen Ver¬ 
kehr. Heyne, Eichhorn, Jacob Grimm 
gehörten zu seinen Freunden. Villers 
war häufig in Cassel; er schätzte den 
König Jerome und hatte manche 
Freunde dort, besonders Jacob Grimm, 
der ihn bei seiner Arbeit über die Lie- 
bespoesie der Franzosen und Deutschen 
unterstützte, während Villers dem 
Freunde bei seinen Studien über alt¬ 
französische Poesie behilflich war. 
Als Universitätsprofessor hat Villers 
kein größeres Werk veröffentlicht; die 
geplante Schrift: „Sur le döveloppe- 
ment de l’esprit frangais" ist nicht zu¬ 
stande gekommen. 

4. 

Den Beginn der Freiheitskriege be¬ 
grüßte er freudig; über den Zusammen¬ 
bruch des Königreiches Westfalen emp¬ 
fand er keinen Schmerz. Mit Begeiste¬ 
rung verfolgte er die Erhebung und 


den Befreiungskrieg Deutschlands, der 
ihm die größte Enttäuschung seines 
Lebens bringen sollte. Die nach der 
Wiedereroberung Hannovers zunächst 
gebildete preußische Verwaltung ent¬ 
fernte zwar alle Personen und Einrich¬ 
tungen, die mit dem früheren König¬ 
reich Westfalen in irgendeiner Bezie¬ 
hung gestanden hatten; allein Villers 
erhielt die Mitteilung, daß er selbst¬ 
verständlich auf seinem Platze belassen 
würde, nicht nur wegen seiner litera¬ 
rischen Verdienste um Deutschland, 
sondern besonders, weil man ihn als 
eine Zierde der Georgia Augusta be¬ 
trachtete. Nachdem aber die Universi¬ 
tät wieder in den Besitz des König¬ 
reichs Hannover gekommen war, wurde 
ihm durch Ministerialschreiben vom 27. 
März 1814: „An den vormaligen Kö¬ 
niglichen französischen Capitain von 
Villers“ eröffnet, daß er seiner Stelle 
entsetzt sei. Einige Tage später er¬ 
schien die amtliche Liste der Göttin¬ 
ger Universitätsprofessoren; sein Name 
war darin ausgelassen. Zwar wurde 
Villers eine jährliche Pension von 3000 
Francs ausgesetzt; zugleich aber wurde 
ihm geraten, in sein Vaterland zurück¬ 
zukehren. 

Es ist nicht aufgeklärt worden, aus 
welchem Grunde sich die hannoversche 
Regierung zu diesem Schritte schnöde¬ 
sten Undanks entschlossen hat. Villers’ 
freundschaftliche Beziehungen zum Hofe 
Jeromes scheinen nicht die Veranlassung 
dazu gewesen zu sein; wenigstens hat die 
Regierung selbst das abgeleugnet. Sie 
scheint unter dem Einfluß zunftmäßiger 
Professoren der Universität gehandelt 
zu haben, die in dem Franzosen einen 
Eindringling sahen, dessen sie sich ent¬ 
ledigen wollten. Immerhin bleibt es 
eine Schmach für die Regierung, daß 
sie einen Mann, der sich durch sein 
mannhaftes Eintreten für Deutschland 


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Paul Michaelis, Charles de Villers 


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den Haß der französischen Gewaltha¬ 
ber zugezogen hatte, in so kränkender 
Weise von einer deutschen Universität 
ausschloß. Villers aber ließ sich nicht 
so ohne weiteres von der Stelle verja¬ 
gen, die er ehrenvoll ausgefüllt hatte. 
Gleich nach Empfang der Verfügung 
machte er eine Eingabe an das Mini¬ 
sterium mit der Bitte, ihm die Gründe 
anzugeben, die seine Absetzung veran¬ 
laßt hätten, damit er sich gegen seine 
Ankläger verteidigen könne. Seine 
Schrift zeugt von der tiefen Erregung, 
in der er sich befand: „Dieses Consilium 
abeundi hat mich mit zerreißendem 
Schmerze durchbohrt, hat einige bittere 
Tränen meinen Augen entlockt. Ich fort¬ 
gejagt von diesem Göttingen, das ich 
mir zum letzten Asyl gewählt hatte, 
das meine Schriften, meine Stimme, 
meine Bemühungen so oft gegen die 
Feinde der geistigen Kultur Deutsch¬ 
lands (de la culture intellectuelle des 
Allemans) verteidigt hatten! Was soll 
ich in Frankreich tun? Meine Eltern 
sind tot. meine Verbindungen sind un¬ 
terbrochen, und die deutsche Kultur, 
mit der ich getränkt bin, macht mich 
dort noch fremder als 22 Jahre der 
Abwesenheit. Soll ich mich dem Ge¬ 
lächter derer aussetzen, die dann nur 
mit zu gutem Grunde meine Vorliebe 
für die Deutschen, meinen Eifer sie zu 
rühmen, auszischen würden? Denn 
durch die ungerechte Behandlung be¬ 
reitet man der grausamen Ironie der 
Franzosen eine süße Rache und ein 
schönes Feld, sich darin zu üben.“ Die 
ganze Summe seiner Lebenserfahrun¬ 
gen und Empfindungen faßt er in die¬ 
sem Briefe in die bezeichnenden Worte 
zusammen: „Mon coeur est tout 
allemand, et il parait qu’un Fran^ais 
qui devient Allemand dans son cceur, 
est ä tout prendre pr6f6rable ä un Alle¬ 
mand qui devient Fran^ais." 


Dieses Gesuch um Angabe der 
Gründe seiner Absetzung wurde ab¬ 
schlägig beschieden. Inzwischen hatte 
sich der Freiherr vom Stein des Ge- 
maßregelten angenommen; er stellte 
dem König von Preußen vor, das Ver¬ 
fahren der hannoverschen Regierung 
gegen Villers sei eine Schmach für das 
deutsche Volk. Villers blieb in Göttin¬ 
gen, entschlossen, das Äußerste zu wa¬ 
gen, als er unerwartet, am 29. August, 
die Nachricht erhielt, daß seine Pension 
auf 4000 Francs erhöht, die Verban¬ 
nung aufgehoben sei, und daß er sich 
an jedem hannoverschen Orte aufhal¬ 
ten dürfe. Aber in seine Stelle wurde 
er nicht wieder eingesetzt. 

Unter diesen Aufregungen der letz¬ 
ten Monate hatte seine Gesundheit ge¬ 
litten; in einem Briefe an Görres 
(September 1814) spricht er von sei¬ 
nem zerrissenen, zerrütteten Gemüt. Er 
zeigt in seinen Äußerungen jetzt oft 
eine Schärfe und Bitterkeit, die ihm 
früher fremd gewesen war. Einen Ruf 
nach Halle als Universitätsprofessor 
schlug er aus; dem Drängen von Frau 
von Stael, nach Paris zu kommen, wo 
er auf eine glänzende Stellung rechnen 
könnte, gab er nicht nach. Trotz der 
bitteren Erfahrungen wollte er in Göt¬ 
tingen bleiben. Mit reger Anteilnahme 
verfolgte er den Gang der Kriegsereig¬ 
nisse, immer hoffend, daß die Zeit kom¬ 
men müßte, wo das Volk der Dichter 
und Denker eine seiner Geistesbildung 
würdige staatliche Gestaltung erringen 
würde. 

Zu Beginn des Jahres 1815 nahm er 
seine alten Studien wieder auf; aber 
schon ging es mit seinen Kräften zu 
Ende; am Abend des 11. Februar wurde 
er vom Schlage gerührt. Während sei¬ 
nes Krankenlagers langte ein Ruf von 
Heidelberg an, und am 19. Februar 
1815 schrieb ein Freund aus Halle: 


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Hermann Gunkel, Eine hebräische Meistererzählung 


1 


„Wir Deutsche sind ja längst gewohnt, 
Sie als unsern Landsmann zu verehren, 
als einen eingebürgerten Gelehrten, der 
sich in kritischen Zeiten deutscher be¬ 
nahm als mancher geborene Deutsche.“ 
Aber schon waren seine Geisteskräfte 
geschwunden, und am 26. Februar 1815 
machte ein neuer Schlaganfall seinem 
Leben ein Ende. Seine treue Freundin 
war um ihn. Am 2. März wurde er 
zur Ruhe bestattet. In der Grabrede, 
die ihm der Theologe Lücke hielt, heißt 
es zum Schluß: „Germanien beweint 
in ihm den seltenen Freund, der sich so 
gern den Unsrigen nannte, der voll Ge¬ 
rechtigkeitsliebe das Höhere und Bes¬ 
sere in unserem Volke erkannte und 
also festhielt, daß er verwandten Gei¬ 


stes bei den Fremden uns vertrat, n 
Liebe für uns redend, und, ein dei 
scher Mann an Geist und Herz, au 
fernhin verkündete, was der Deutsc 
vermag, wenn er deutsch zu sein i 
Kraft hat und den ernsten Willei 
Villers’ Beispiel vor allem hat Fr; 
von Stael zu ihren gleichartigen fj 
Strebungen ermuntert, in ihr zuerst d| 
Verlangen erregt, deutsche Wisse 
schaft und Kultur kennen zu lerne 
Von ihm mit günstigem Vorurteil f 
die Deutschen erfüllt, betrat sie di 
deutschen Boden. Aus ihren Briefen i 
ihn erkennt man, daß Villers die ers 
und wichtigste Quelle ist, aus der s 
ihre Kenntnis der deutschen Philosoph 
schöpfte. 


V 


Eine hebräische Meistererzählung. 

Von Hermann Gunkel.*) 


So hat der Erzähler seine Zuhörer 
jetzt da, wo er sie haben wollte, und 
kann ihrer gespannten Aufmerksam¬ 
keit sicher sein, wenn er nunmehr, viel¬ 
leicht nach einer Päuse, an einer ganz 
anderen und für den Zusammenhang 
scheinbar gleichgültigen Stelle wie¬ 
der einsetzt. Es waren vier Männer als 
Aussätzige iw Eingang des Tors Der 
Leser weiß, welches furchtbare Schick¬ 
sal die Aussätzigen im alten und neuen 
Morgenlande haben. Nicht sowohl die 
Angst vor der Ansteckung, von der man 
in ältesten Zeiten noch nichts wissen 
konnte, vielmehr das unmittelbare 
Grauen vor schwerer Krankheit, in der 
man eine dämonische Wirkung sah, 
bewirkte, daß man solche Leidende von 
sich stieß. Auch können wir aus dem 
Buche Hiob und den Klageliedern des 
Psalters erkennen, daß sLh solche Miß- 


•) Siehe Heft 1. 


handlung der Allerelendsten nicht allei 
auf die Aussätzigen beschränkte, wen 
sich auch die Angst vor ihnen un 
vor dem grausigen Anblick, den sl 
darbieten, am stärksten gezeigt hi 
ben wird. Kranke dieser Art, von Hau 
und Hof vertrieben, sitzen etwa wi 
der arme Lazarus an den Türen de 
Paläste oder des Tempels 47 ) oder wi 
hier am Stadttor und betteln die Voi 
übergehenden um ein Almosen ai 
Noch in der Mitte des 19. Jahrhundert 
wohnten Aussätzige im Innern an de 
Seite des Ziontors von Jerusalen 
Nach unserer Geschichte hat sie nich 
einmal der Krieg von ihrer Stätte vei 
trieben; ein Angriff auf das Tor ha 
also noch nicht stattgefunden: der Ara 
mäer will die Festung durch Hange 
bezwingen. Der Erzähler benutzt di 
Gelegenheit, um die allgemeine Ver 

47) Apostelgeschichte 3, 2. 


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zweiflung auch an diesen Ärmsten dar¬ 
zustellen. Sie sprachen einer zum an¬ 
dern: Was wollen wir hier bleiben, bis 
wir sterben? Würden wir sagen, wir 
wollten in die Stadt, so ist die Hun¬ 
gersnot in der Stadt, und wir müßten 
dort sterben! Und blieben wir hier, so 
müßten wir (auch) sterben! Also der 
Tod ist ihnen sicher, liier wie dort. So 
lassen sie einen verzweifelten Ent¬ 
schluß. Kommt, wir wollen in das La¬ 
ger der Aramäer überlaufen! Lassen sie 
uns leben, so bleiben wir am Leben; tü¬ 
ten sie uns, so sterberf wir. Möglich, 
daß die Feinde sie als Israeliten tot¬ 
schlagen; möglich, daß sie sie als Aus¬ 
sätzige begnadigen. Schlimmer kann es 
ihnen also nicht ergehen, aber vielleicht 
besser. So machten sie sich in der Dum¬ 
merung (wo sie niemand sah) auf, ins 
aramäische Lager zu gehen und ka¬ 
men an 'sein' eines Ende, aber — und 
nun kommt die Überraschung — da 
war kein Mann! Welches Staunen mag 
sie erfaßt haben! Was ist denn das? 
Hier sind keine Soldaten! Von der Ver¬ 
wunderung über dies plötzliche Ver¬ 
schwinden ist die ganze folgende Ge¬ 
schichte voll. Der Erzähler aber, der in 
echt künstlerischer Bescheidenheit kei¬ 
nen allzu starken Effekt liebt, klärt seine 
Hörer gleich an diesem Punkte dar¬ 
über auf, was inzwis hen geschehen war. 
'Jahve' hatte das Lager der Aramäer 
das Geräusch von Wagen und Rossen, 
das Geräusch einer großen Heeresmacht 
hören lassen; da sprachen sie unterein¬ 
ander: sicherlich hat der König von 
Israel die Könige der Hethiter und die 
Könige von Ägypten gegen uns gedingt, 
wider uns zu ziehen. So machten sie 
sich auf* 6 ) in der Dämmerung und 
ließen* 9 ) das Lager zurück, wie es stand, 

48) .und flohen“, das im folgenden noch 
einmal kommt, ist wohl Zusatz. 



und flohen, als gälte es ihr Leben. 
In dieser äußersten Not ist Jahve 
selber eingeschritten, der das Vertrauen 
seines Propheten nicht beschämt und 
sein Wort erfüllt: dies der Hauptge¬ 
danke der ganzen Erzählung. Absicht¬ 
lich ist dieser Zug nicht an den An¬ 
fang des Teiles gestellt, damit der Hö¬ 
rer die Verwunderung der Aussätzigen 
mitempfinde. Äußerer Mittel hat Gott 
sich dazu nicht bedient, sondern er hat 
nur dem Ohre der Aramäer ein Geräusch 
eingegeben, ein Geräusch wie von einer 
großen heranrü kenden Heeresmacht, 
ein Getrappel und Gerassel wie von un¬ 
zähligen Rossen und Wagen. Das ha¬ 
ben sie auf das Herannahen hethiti- 
scher und ägyptischer Könige gedeu¬ 
tet, die jetzt Israel zu Hilfe heranziehen. 
Und da ist der „Gottesschrecken“ auf 
sie gefallen. Noch in der Dämmerung, 
d. h. in derselben Zeit, da die Aussätzi¬ 
gen die Stelle betreten, haben sie sich 
mit höchster Eile aufgemacht und dabei 
alles stehen und liegen lassen. Von sol¬ 
chem wunderbaren Schrecken hören 
wir im Alten Testament bei Erzäh¬ 
lern 50 ) und besonders bei den Prophe¬ 
ten 51 ) auch sonst. Auch daß die Gott¬ 
heit wunderbar eine falsche Kunde ein¬ 
gibt und den Feind so zum plötz¬ 
lichen Rückzuge bewegt, wiederholt 
sich 52 . Vielleicht, daß die hier ge¬ 
brauchte Wendung, wonach die Feinde 
durch das scheinbare Geräusch eines 
Kriegsheeres erschreckt worden sind, 
die Abblassung eines älteren, besonders 
bei den Griechen oft wiederkehrenden 
Motivs ist, wonach die Gottheit selbst 
mit ihrem himmlischen Heere erscheint 
und so einen wahnsinnigen Schrecken 


Esel“ ist Auffüllung nach V. 10. Kloster¬ 
mann. 

50) II. Könige 3. 27. 

51) Vgl. besonders Arnos 2,14 ff.; Jeremia 
46, 5f. u. a. 52) II. Könige 19, 7. 


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■■ 


159 Hermann Gunkel, Eine hebräische Meistererzählung 160 


eingibt. Jedenfalls aber ist dieser Zug 

unserer Erzählung durchaus sagenhaft. 
Eben darauf führt auch die Erwähnung 
der „Hethiter und Ägypter“. Diese Völ¬ 
ker haben allerdings einmal eine herr¬ 
schende Stellung in Kanaan eingenom¬ 
men; aber das war in einer Vorzeit, ehe 
Israel im Lande Weilte, und zur Zeit, da 
diese Geschichte spielt, etwa ein halbes 
Jahrtausend her. Hier liegt also nicht 
eine zuverlässige geschichtliche Erinne¬ 
rung vor, sondern eine volkstümliche 
Verwechslung der Zeiten: es würde so 
sein, wie wenn man den gegenwärtigen 
Zusammenbruch des zarischen Rußlands 
von dem Mongolensturm ableiten würde. 
In Wirklichkeit aber wird der eilige 
Rückzug der Aramäer durch die Kunde 
von einem Einfall der Assyrer bewirkt 
worden sein. 

Doch nun zu den vier Männern zu¬ 
rück! Als nun die Aussätzigen an das 
Ende des Lagers kamen, gingen sie in 
eines der Zelte, aßen und tranken; 
dann nahmen sie Silber, Gold und Klei¬ 
der daraus, gingen hin und verbargen 
es. Dann kamen sie zurück, gingen in 
ein anderes Zelt, nahmen daraus, • gin¬ 
gen fort und verbargen es. Das kleine 
Stück, mit starken, dem Leben entnom¬ 
menen Zügen ausgemalt und einem 
Auftritt im „Faust" 53 ) zu vergleichen, 
stellt dar, wie sich solche Allerärmsten 
bei einem großen staatlichen Um¬ 
schwung benehmen. Der politische Vor¬ 
gang als solcher geht sie sehr wenig 
an. Wo die Aramäer geblieben sind, 
darüber zerbrechen sie sich wahrlich 
nicht den Kopf. An ihr Volk denken 
sie nicht, sondern nur an sich selber. 
Zuerst stürzen sie- sich auf die Vor¬ 
räte. denn wie lange mögen sie ge¬ 
darbt haben! Und da der Magen be¬ 
friedigt ist, meldet sich die Begehr- 


53) Faust II. Teil, 4. Akt. 


lichkeit: sie schaffen für die Zukunft 
Kostbarkeiten, Beutestücke des aramä¬ 
ischen Heeres, heimlich beiseite und 
vergraben sie. Nun endlich erwacht das 
böse Gewissen. Sie sprachen einer zum 
andern: Wir handeln nicht recht! Der 
heutige Tag ist ein Tag guter Bot¬ 
schaft. Schweigen wir aber und war¬ 
ten bis zum lichten Morgen, so trifft 
uns Schuld (Strafe). Gute Botschaft 
rechnet man in urtümlicher Kultur dem 
Überbringer wie ein persönliches Ver¬ 
dienst an und belohnt sie ihm reich. 
Melden sie aber eine so wichtige Nach¬ 
richt nicht zur rechten Zeit und warten 
so lange, bis es die Männer bei Tages¬ 
licht von der Mauer herab selber sehen 
können, so können sie strenger Ahn¬ 
dung gewiß sein. Wohlauf, wir wol¬ 
len hingehen und es dem Hause des Kö¬ 
nigs melden. 

». * 

Durch diesen Entschluß der Aus¬ 
sätzigen aber hat der Erzähler den 
Übergang zum Folgenden gefunden; 
denn nun soll ein letzter Auftritt zei¬ 
gen, was geschah, als man im Hause 
des Königs die Kunde erfuhr. 

So kamen sie hin und riefen 'den 
Torwächtern’ der Stadt (von draußen) zu 
— in der Nacht werden sie natürlich 
nicht eingelassen — und meldeten ihnen: 
Wir sind in das aramäische Lager ge¬ 
kommen, aber da war kein Mann und 
kein Geräusch von einem Menschen, 
sondern nur 5i ) die Esel angebunden 
und 'die’ Zelte, wie sie standen. Die 
Leute melden das, was sie gesehen und 
gehört haben, ohne irgend eine Vermu¬ 
tung über das Verbleiben des Heeres 
daran zu knüpfen: also das Vorbild 
genauer Berichterstattung. Die Schilde¬ 
rung, über der wiederum das Staunen 
liegt, weicht im Wortlaut von der vor- 


54) „Die Pferde angebunden“ ist Zusatz, 
vgl. oben. 


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161 


Hermann Gunkel, Eine hebräische Meistererzählung 


162 


hergehenden ab: in solchen Fällen liebt lings auf das leere Lager stürzen wer- 
der rege Geist des Hebräers die Ab- den; haben sie aber die schirmenden 
wechslung, nicht, wie eine noch ältere Mauern verlassen, so werden sie auf 
Kunstühung und dann wieder Homer, freiem Felde leicht gefangen werden 
die Wiederholung. Im vorhergehenden können: die feindliche Übermacht, das 
war berichtet worden, was die Män- steht zwischen den Zeilen, ist überwäl- 
ner im Lager getrieben haben; in ihren tigend groß. Auf einen so ausgeklügel- 
eigenen Worten wird das jetzt wohl- ten Gedanken verfällt der König, weil er 
weislich verschwiegen. Das ganze La- den nächstliegenden nicht annehmen 
ger — so melden sie — ist ohne Men- kann. Der Erzähler aber will durch diese 
sehen und liegt totenstill da! Selbst die Worte darstellen, wie seltsam das ist, 
Esel, d. h. die Lasttiere, stehen noch was wirklich geschehen war. Da ant- 
angebunden da! Ein Späterer hat noch wortete seiner Knechte (d. h. seiner 
die Pferde hinzugefügt, aber diese die- hohen Beamten) einer und sprach: So 
nen zum Reiten und zum Fahren der nehme man fünf von den Rossen, die 
Kriegswagen und würden sicherlich noch übrig sind : < 5 ), — man kann sie 
mitgenommen worden sein. gut und gern dahingeben: es geht 

Von nun an werden die Aussätzigen ihnen doch (schlimmstenfalls) nicht an- 
fallen gelassen; das sind ja auch nur ders als 'dem' ganzen Haufen, der da- 
Nebenpersonen und keiner weiteren Er- hin ist; die wollen wir aussenden und 
wähnung würdig. Jetzt geht die über- Zusehen, wie die Sache steht 56 ). Das ist 
raschende Kunde ordnungsmäßig wei- schließlich das gescheiteste, jetzt Kund- 
ter. Die Torwächter 'riefen ’ und mel- schafter auszuschicken. Und so wird 
deten es nach drinnen ins Haus des es beschlossen. Man nimmt (aber nicht 
Königs. Es ist noch mitten in der Nacht; fünf, sondern nur) zwei 'Reiter'. So we- 
aber bei so wichtiger Sache wird der nig ist von den ganzen Rossen geblie- 
Herrscher selber geweckt. Der König ben, daß man mit ihnen so knausert! 
stand auf in der Macht. Er erwägt, Und die Sache scheint außerordentlich 
was geschehen sein mag. Daß die Ara- gefährlich: noch einmal betont der Er- 
mäer nicht mehr im Lager sind, ist Zähler, daß eigentlich niemand an den 
nicht zu bezweifeln. Aber daß sie end- glücklichen Ausgang geglaubt hat. 
gültig abgezogen sind, und daß somit „Reiter“ sind es, nicht Wagen, weil 
die ganze Not ein Ende hat, ist zu un- jene am raschesten vorwärtskommen: 
wahrscheinlich, als daß man es glau- der Weg nach Osten geht von Samarien 
ben könnte. So fällt ihm eine andere steil herunter. Der König sandte sie 
Möglichkeit ein: Laßt euch sagen, was hinter den Aramäern her mit dem Auf- 
die Aramäer mit uns Vorhaben. Sie trage: Ziehet hin und sehet zu! Und 
wissen, daß wir Hunger leiden; darum nun endlich die Lösung der Spannung 
haben sie das Lager verlassen, um sich für die Augenzeugen dieser Begeben- 
auf dem Felde zu verstecken; denn sie heiten: sie zogen hinter ihnen drein 
denken: sind sie erst aus der Stadt die ganze, lange Strecke nach Osten 
heraus, so können wir sie lebendig bis an den Jordan: das ist der Weg 
greifen und dann in die Stadt ein- von Samarien nach Aramäa zu, — da 

dringen. Er vermutet also eine Kriegs- 55 , Text durch Varianten stark überfallt, 

bst: man traut den hungernden Israeli- 56 ) B rekognoszieren“ Mose 13, 18; Josua 

ten, so meint er, zu, daß sie sich blind- 2 , 1 . 

Internationale Monatsschrift 6 


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lag der ganze Weg voll von Kleidern 
und Waffen, die die Aramcier auf ihrer 
eiligen Flucht fortgeworfen hatten. Sie 
sind also in sinnlosem Schrecken ent¬ 
wichen! Die Boten kehrten zurück und 
meldeten es dem Könige. Welcher un¬ 
geheure Jubel, welch brausendes Froh¬ 
locken mag nun die Stadt erfüllt ha¬ 
ben! Doch dafür hat der Erzähler kein 
Ohr; er hält sich mit äußerster Strenge 
an sein Thema: die Hungersnot, 
von der er ausgegangen war, ist nun 
vorbei! Da zog das Volk aus der Stadt 
heraus und plünderte das aramäische 
Lager, und mit feierlich erhobener 
Stimme fügt er hinzu: so reich war 
die unübersehbare Beute, daß alles Geld 
plötzlich den Wert verlor: da galt 
' hundert ’ Maß Grieß einen Sekel und 
' zweihundert' Maß Gerstenmehl einen 
Sekel, wie es Jahve verheißen hatte: 
das Gotteswort Elisas war erfüllt! 

Aber noch einen Zusatz hatte der 
Gottesmann über den Ritter des Königs 
hinzugefügt, und auch der sollte Wahr¬ 
heit werden. Ein solches ganz kurzes 
Stück pflegt auch sonst den Schluß der 
ausgeführteren Geschichten zu bilden. 
Der König hatte den Ritter, auf dessen 
Arm er sich zu stützen pflegte, zum 
Aufseher über das Tor bestellt: da 
mußte er also die geschehene Wen¬ 
dung mit eigenen Augen schauen; aber 
er sollte nichts davon genießen, denn 
am Tore, aus dem sich jetzt die Menge 
in wilder Gier herausstürzte, entstand 
ein lebensgefährliches Gedränge: da 
zertrat ihn das Volk am Tore, und er 
starb, wie es der Gottesmann verheißen 
hatte. Ein ähnlicher Satz als letztes 
Wort steht auch in andern Elisageschich¬ 
ten 57 ). Hier soll uns Grauen und 
Schauder anwandeln, Grauen vor dem 
Propheten, der alles so genau voraus- 


57) II. Könige 2, 22; 4, 17. 44. 


gesehen, Schauder vor dem furchtbaren 

Geschick des Ungläubigen 58 ). 

♦ * 

♦ 

Nun noch einige Worte zur Würdi¬ 
gung der Erzählung. Sie steht zwi¬ 
schen Sage und Geschichte, doch der 
Sage näher als dieser. Geschichtlich ist 
sicher die Belagerung und die plötz¬ 
liche Errettung der Hauptstadt: für bei¬ 
des können wir noch die Ursachen er¬ 
kennen. Auch die Stellung Elisas, der 
zum Ausharren ermahnt, unter den 
Bürgern Anhänger findet, selbst den 
König eine Zeitlang bestimmt, dabei 
aber freilich ein hohes Spiel um sein 
Leben spielt und schließlich recht be¬ 
hält, wird zuverlässig geschildert sein. 
Anderseits steht der Erzähler von den 
Dingen schon in einer gewissen Entfer¬ 
nung- den Namen des Königs Israels 
weiß er nicht Inehr zu nennen; auch die 
anderen Personen treten sämtlich na¬ 
menlos auf mit Ausnahme von Benha- 
dad und Elisa. Die beiden Marktpreise 
sind phantastisch übertrieben; der erste 
ist nicht der Wirklichkeit, sondern einer 
allgemeineren Überlieferung entnom¬ 
men. Daher stammt auch das Zwischen¬ 
stück von den beiden Frauen. Die Erleb¬ 
nisse jener Zeit werden also dem Erzäh¬ 
ler aus dem Munde der Leute zugekom- 
men sein und dann von ihm ihre vor¬ 
liegende Form erhalten haben. Daß es 
sich hier nicht sowohl um Geschichte, 
sondern um Sage handelt, zeigt sich 
auch daran, daß der Erzähler offen¬ 
bar nicht als ein in das innere Ge¬ 
triebe der hohen Politik eingeweihter 
Mann schreibt, sondern daß er die 
Dinge so wiedergibt, wie sie über das 
Volk dahingegangen sind, das ihre letz¬ 
ten Ursachen niemals erfahren hat. 

58) Eine spätere Hand hat den Auftritt, 
wie der Hofmann zweifelt, hier am Schluß 
nochmals wiederholt: V. 17b (von ’aser 
dibber an) bis 20. 


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165 


Hermann Gunkel, Eine hebräische Meistererzählung 


166 


Darum begründet er den Rückzug des 
aramäischen Heeres durch einen Got¬ 
tesschrecken und redet nicht von den 
Assyrem, die zu seiner Zeit dem is¬ 
raelitischen Volke noch ferner stan¬ 
den, sondern von den Hethitern und 
Ägyptern. Dies zeigt aber anderseits 
zugleich, daß er vor dem Auftreten 
der Assyrer in Kanaan, das 100 Jahre 
nach diesen Begebenheiten geschehen 
sollte, geschrieben hat. 

Nun über die Form seiner Erzäh¬ 
lung. Was er selber von diesen Dingen 
vernommen hat, werden einzelne zer¬ 
streute Züge gewesen sein. Er aber hat 
aus dieser Mannigfaltigkeit eine Ein¬ 
heit zusammengeballt. 

Die Schönheit der hebräischen Er¬ 
zählung besteht zu einem großen Teile 
in der Straffheit ihrer Kompo¬ 
sition. Nun pflegen freilich die älte¬ 
ren israelitischen Geschichten nur ganz 
wenige Personen dem Hörer vorzufüh¬ 
ren, zwei, drei, vier, kaum mehr. Die¬ 
ser Erzähler aber hat eine für seine 
Zeit wahrhaft ungeheure Zahl aufge- 
boten. Da ist in Samarien der König 
und sein Hof, darunter der ungläubige, 
spöttische Ritter, die Wächter auf dem 
Tore, die Reiter auf den übrig geblie¬ 
benen Rossen; dazu die Ältesten der 
Stadt, die sich um den Propheten scha¬ 
ren, vor allem dieser selber. Dann das 
niedere Volk, aus dem die beiden strei¬ 
tenden Frauen und die vier Aussätzi¬ 
gen hervorgehoben werden. Der Er¬ 
zähler erweckt durch die Fülle der 
Auftretenden den Eindruck, daß es sich 
bei diesem Geschehen um das Ge¬ 
schick eines ganzen Volkes handelt. Im 
Hintergründe der Erzählung steht als 
bewegende Ursache das aramäische 
Heer, an seiner Spitze der furchtbare 
Benhadad. Und ganz im Dunkeln eine 
geheimnisvolle Macht, die „Hethiter und 
Ägypter“, von denen die Kunde denAra- 


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mäer zum Weichen zwingt. Alle diese 
mitten im Kriege, jeder nach seiner Art 
leidenschaftlich durcheinanderhandelnd. 
Diesen ganzen, zunächst unübersehba¬ 
ren Wirrwarr hat der Künstler ge¬ 
lichtet durch die wunderbare Kraft sei¬ 
ner Komposition. 

Aufs strengste hat er die Einheit 
des Geschehens festgehalten; alles 
einzelne, so mannigfaltig es ist, findet 
seinen Mittelpunkt in der Belage¬ 
rung und Errettung der Haupt¬ 
stadt. Um diesen wunderbaren Um¬ 
schwung dreht sich die ganze Ge¬ 
schichte. Darum hat er aus dem gesam¬ 
ten Geschehen mit dramatischer Kraft 
nur den Zeitraum eines Tages heraus¬ 
gegriffen: zu Anfang ist die Not auf 
unerträglicher Höhe, am Ende ist die 
Rettung geschehen. Kraftvoll und leben¬ 
dig stellt er beides an den beiden Markt¬ 
preisen dar, die den äußersten Gegen¬ 
satz gegeneinander bilden: der furcht¬ 
bare Teuerungspreis wird zu Beginn 
angegeben, derjenige der Befreiung 
wird in der Mitte geweissagt und am 
Ende als eingetroffen berichtet. 

Für Klarheit und Übersichtlichkeit hat 
der Erzähler durch eine außerordent¬ 
lich strenge Anordnung gesorgt. Er 
hat das Ganze in zwei Teile zerlegt, die 
stark voneinander abstechen: der erste 
schildert die verzweifelte Lage der 
Stadt der zweite mit starkem Absatz 
und mit den völlig neuen Personen der 
Aussätzigen von vorne anhebend, die 
unerwartete Wendung. In beiden Teilen 
wird die Stimmung machtvoll heraus¬ 
gearbeitet: im ersten Drangsal und 
Graus, wahnsinniger Hunger und er¬ 
bitterte Wut des Königs, die sich gar 
an dem Propheten vergreifen will, im 
zweiten Staunen über das rätselhafte 
Verschwinden der Feinde. 

Beide Teile zerfallen wieder mit 
schönem Gleichmaß in je zwei Auf- 

6 * 


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s 


tritte. Zuerst zur Veranschaulichung 
der grausamen Not: 
der entsetzliche Streit der beiden 
Kindesmörderinnen, 
der Hader des Königs mit Elisa; 
dann zur Schilderung der wunderbaren 
Wendung: 

die vier Aussätzigen, die das Lager 
leer finden, 

und die nächtliche Beratung am Hofe. 
Am Schluß beider Teile die kurzen 
Nebenstücke vom Spott und Geschick 
des Ritters. 

Zum leitenden Faden hat sich der Er¬ 
zähler gewählt, wie es sich gebührte, 
die Erlebnisse des Herrschers: 
vor den König kommt der Streit der 
Frauen, 

dann rechtet dieser mit Elisa, 
zum Schluß berät er bei Nacht mit 
den Seinen. 

Nur im dritten Auftritt hat er ihn fal¬ 
len lassen. — Aber die Hauptperson 
des Ganzen ist doch nicht er, sondern 
der Gottesmann. So ist es immer in die¬ 
sen, von Anhängern der Propheten er¬ 
zählten Geschichten, sooft sie von 
ihrem Meister und dem irdischen Kö¬ 
nig zugleich zu sprechen haben. Und 
diese überragende Stellung hat der Er¬ 
zähler dem großen Manne zu geben 
gewußt, sowenig er auch von ihm 
redet. Auf dem höchsten Gipfel der 
Not tritt der glaubenstrotzige Mann 
auf und verkündet seine wunderbare 
Weissagung, und diese schwebt nun 
wie ein Adler über all dem Folgenden. 
Und so lautet der letzte Satz: es ge¬ 


schah nach dem Worte Jahves, wie es 
der Gottesmann verkündet hatte. 

Hinter dem Propheten aber steht 
sein Gott. Auf Jahve zu harren hat 
Elisa geraten. Er hat seinem Knecht 
die Weissagung in den Mund gelegt. 
Und er selber hat, wo kein Mensch 
mehr helfen konnte, mit seiner Wunder¬ 
macht eingegriffen und sein Wort er¬ 
füllt So ist die Geschichte doch ihrer 
eigenen Absicht nach eine fromme 
Erzählung, wenn sie auch nicht viele 
Worte davon macht. Aber die Über¬ 
zeugung des Verfassers ist: wer glaubt, 
wird nicht zuschanden; und wenn die 
Not am größten ist, ist Gottes Hilfe 
am nächsten. Und zugleich: wehe dem 
Ungläubigen, der über seine Weissa¬ 
gung höhnt! Irret euch nicht Gott läßt 
sich nicht spotten! Solcher religiöser 
Glaube hat aber den Verfasser nicht ver¬ 
hindert, das Getriebe der Welt mit schar¬ 
fem Auge zu beobachten, wie auch 
anderseits sein Wirklichkeitssinn seine 
Religion nicht in den Schatten gestellt 
hat. Literaturgeschichtlich betrachtet 
stellt die Erzählung also eine Verbin¬ 
dung von Prophetensage und volks¬ 
tümlicher Königssage dar, die beiden 
Stoffe in vollendeter Vereinigung ver¬ 
schmelzend. 

So saust und braust diese ganze wilde 
Welt, dennoch von einem höheren, ge¬ 
heimen Willen gebändigt, von der Kraft 
eines großen Künstlers in den engsten 
Rahmen gezwängt, an dem atemlos ge¬ 
spannten Betrachter erschütternd vor¬ 
über. 5. II. 19 


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Nachrichten und Mitteilungen 


170 


169 


Nachrichten und Mitteilungen. 


Ernst Robert Curtius, Die literarischen 
Wegbereiter des neuen Frankreich. Gustav 
Kiepenheuer Verlag, Potsdam 1918. 278 S. 
Geb. M. 15. 

Das ist mehr als philologische Gelehr¬ 
samkeit, das ist ein in Liebe erlebtes, junges 
und freudiges Buch, das zu Liebe und Leben 
und strenger Selbstprüfung aufruft; das ist 
ein Buch, matten Herzen eine Aufrichtung, 
müden Seelen eine Befreiung. 

Es war im Sommer 1914. Da hielt in 
Bonn der damalige Privatdozent E. R. Cur¬ 
tius Vorlesungen über die geistigen Führer 
des jungen Frankreich. Fünf Gestalten er¬ 
schienen ihm vor den andern als gedanken¬ 
schwer und formgewaltig eines Bildnisses 
würdig. 

Die erste war Andr6 Gide, der Dichter 
der inqutttude als der rastlos weiterstreben¬ 
den Sehnsucht nach immer höherer Geistig¬ 
keit. Der zweite war Romain Rolland, der 
noch während des Weltkriegs hoch über 
Haß und Bitterkeit an ein europäisches 
Menschentum glaubte. Ihm zur Seite trat 
Paul Claudel, der eine urchristliche Mytho¬ 
logie und Metaphysik in dramatische Bilder 
einhüllte. Daneben Andrö Suarös, der Li¬ 
terat, der unerbittlich gegen alle Zeitkultur 
und gegen sich selber wütete. Als letzter 
und menschlich größter der in der ersten 
Mameschlacht gefallene Charles Pöguy, der 
Bauernsohn, der nur dort Wirklichkeitsleben 
anerkannte, wo ihm der - dreieinige Gott 
achtbar und wirksam wurde. 

Diesen allen ist das Eine gemeinsam und 
hat einige von ihnen als Mitarbeiter von 
P6guys .Cahiers de la Quinzaine“ zusammen¬ 
geführt: die Überzeugung, daß nur das 
Geistige und der feste Glauben an dieses 
Geistige die künftige Menschheit aus ihrer 
trostlosen Zerrissenheit und Ziellosigkeit 
erlösen kann; die Überzeugung, daß nicht 
her Körper, sondern die Seele den Men¬ 
schen macht; die Überzeugung, daß nur 
eine heilige Ordnung und freigewollte Bin¬ 
dung menschliche Gemeinschaft ermöglicht. 

Vielfältige Vorzüge erheben dieses Buch, 
das nun erst, nach dem Ende des Welt¬ 
kriegs, hervortritt, weit über die spärlichen 
früher bei uns gemachten Versuche. In einer 
Einleitung wird die Eigenart dieser fünf 
Altersgenossen gleichmäßig gegen die Vor¬ 
gänger und Nachfolger herausgearbeitet auf 


dem dafür einzig möglichen Wege der Ab¬ 
grenzung und Bestimmung nach Altersge¬ 
nossenschaften, wodurch allein der lebendige 
Ablauf geistiger Bewegungen vor der Me¬ 
chanisierung und Abtötung gewahrt bleibt. 
Mit wunderbarer Beweglichkeit ist der Ver¬ 
fasser bemüht, in seinen Bildnissen jeder 
Sonderart gerecht zu werden. Dasselbe 
schöpferische Sprachgefühl und den gleichen 
rücksichtsvollen Geschmack betätigt er in 
den sorgfältigen Übertragungen zahlreicher 
Textproben, die der Darstellung einverleibt 
werden. Auf jeder Seite erlebt der empfäng¬ 
liche und dankbare Leser, wie sehr viel 
reizvoller, wie viel lohnender und wie viel 
leichter im Grunde es ist, für geistige 
Schöpfungen Teilnahme und Verständnis 
zu wecken, die unser eigenes Dasein und 
Werden ganz unmittelbar, warnend und 
tadelnd, heilend und helfend, ergreifen und 
uns zu sich emporziehen wollen. Ein Wort 
von Pöguy abwandelnd können wir sagen: 
„Es ist eine Philologie ohne Furcht. Es 
ist eine Philologie, die irgendwo siegt.“ 
Freilich, wer als Berichterstatter gerne 
tadelt, könnte dieses oder jenes auszusetzen 
finden. Die vielen und langen Inhaltsan¬ 
gaben nehmen überwiegenden Raum ein. 
Aber mit Recht sagt der Verfasser, daß er 
erst einmal Tatbestände und Kenntnisse 
habe mitteilen wollen; und wir haben ihm 
um so mehr dafür zu danken, da unter den 
gegenwärtigen Schwierigkeiten an ganz 
wenigen Orten eigene Einsichtnahme der 
Werke möglich sein wird. Eher könnte man 
es beanstanden, daß diese Übertragungen 
und Nacherzählungen da und dort stark 
umfärben in die Stilart des Verfassers; aber 
wenn er dem Urtext näher geblieben wäre, 
hätte er die einheitliche und streng künst¬ 
lerische Haltung des Buches empfindlich 
gestört. Oder auch könnte man wünschen, 
daß die Auswahl anders getroffen und daß 
statt Andrö Suarös Francis Jammes, den 
ich ungern vermisse, eingereiht worden 
wäre. Vielleicht hätte ein anderer überhaupt 
mehr Kritik gewünscht und findet die be¬ 
handelten Autoren, und nicht nur Suarös, 
stark überschätzt, aber der Verfasser hat 
sich ja eben zur Aufgabe gemacht, die Ge¬ 
ringschätzung durch die französischen Lands¬ 
leute und die teilweise erstaunliche Un¬ 
kenntnis bei uns Deutschen zu bekämpfen. 


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171 


Nachrichten und Mitteilungen 


Vielleicht bedauert ein anderer, daß diese 
fünf nahezu ganz aus sich selbst gewachsen 
erscheinen und nicht als Glieder einer Al¬ 
tersgenossenschaft, die unter sich vieles 
gemein hat und auch allerlei Vorgängern 
vieles verdankt: aber es bildet eben die 
Schönheit und den Wert des Buchs, daß 
diese fünf im innersten Kern ihres Wesens, 
ihrer attitude devant la vie, gefaßt und ge¬ 
troffen sind, ohne daß wir allzufrüh schon 
über den Umkreis dessen hinausgeführt 
werden, was ihnen ihr Heiliges und Aller¬ 
heiligstes ist und bedeutet. Manche wie¬ 
derum, die sich lieber nur in entfernten 
Jahrhunderten statt in der Gegenwartsfor¬ 
schung bewegen, entbehren hier das, was 
sie geschichtlichen Abstand und wissen¬ 
schaftliche Sachlichkeit nennen. Als ob die 
richtige Sachlichkeit erst möglich wäre, 
nachdem die Vulkane erloschen und die 
Feuerströme längst abgekühlt und erstarrt 
sind, wenn dann der Historist mit kühlem 
Kopf und langsamem Herzschlag im Edel¬ 
metall nach „sorgfältigster Analyse“ die 
Prozente edler und unedler Bestandteile, 
eigener und fremder Beimischung abzu¬ 
messen und abzuwägen unternimmt. Als 
ob die wahre Sachlichkeit aus anderen 
Kräften emporgetrieben würde als aus lie¬ 
bender Einfühlung in ein Lebendiges und 
aus unmittelbarem Mitverstehen für dessen 
Größe und Macht. 

Damit soll nun freilich die Binsenwahr¬ 
heit nicht bestritten werden, daß es sich 
erst im künftigen Ablauf französischer und 
europäischer Geistesgeschichte wird erwei¬ 
sen müssen, ob diese Gedankengebäude 
der fünf Franzosen aus der Altersgenossen¬ 
schaft von 1894 tragfähig sind und ob wirk¬ 
lich gerade diese fünf als „literarische Weg¬ 
bereiter des neuen Frankreich“ sich be¬ 
währen. Es wird sich zeigen müssen, ob 
überhaupt der Literatur, ob einem welt¬ 
fremden Dichter wie Claudel und einem 
zeitnahen Publizisten wie Suarös, solche 
Wirkung beschieden sein kann. Aber durch 
solche Einwendungen kann der Wert und 
das Verdienst des Buches als eines ersten 
ernsthaften und wohlgelungenen Versuchs 
nicht im mindesten herabgedrückt werden. 

Zwei Erwägungen seien hier noch an¬ 
gestellt, die sich in ähnlicher Richtung be¬ 
wegen und mehr als Anfragen denn als 
Ausstellungen gemeint sind. Der Verfasser 
betont zu Eingang und am Ende, daß er 
die herkömmlichen in Deutschland auch 


•172 


bei Fachleuten verbreiteten Vorstellungen 
von französischer Geistesart berichtigen 
wolle. Und was er gegen solche verhäng¬ 
nisvoll gewordene Irrtümer sagt, ist zwei¬ 
fellos richtig. Aber der Nachweis bleibt noch 
zu erbringen und muß einer späteren Zeit 
überlassen werden, ob überhaupt und wie 
weit diese neue Geistesart über die Ge¬ 
müter und Geister der Nachgeborenen Macht 
gewonnen hat. Hier dürfte der Hinweis au! 
Gaston Riou und sein Buch von der Jeune 
France, das übrigens an Verschwommenheit 
und Unbestimmtheit kaum zu wünschen 
übrig läßt, schwerlich genügen. Tatsache 
ist, daß Pöguy zeitlebens als halbverrückter 
Sonderling galt und daß R. Rolland in 
Deutschland und im übrigen Ausland mehr 
Beachtung findet als in der Heimat. Tat¬ 
sache ist ferner, daß auf die nächstfolgenden 
Altersgenossen von 1906 mit ihrem geistigen 
Imperialismus, und mehr noch auf einen 
großen Teil der Jugend aus den Jahren 
vor dem Krieg, die Nationalisten Maurras 
und Barrös mit anderen Führern des Roya¬ 
lismus und Neuklassizismus sehr viel stär¬ 
keren Einfluß gewonnen haben. Hier frei¬ 
lich ist zur Zeit, und zumal für den von 
Frankreich fast ganz Abgeschnittenen, nodi 
vieles ungewiß und rätselhaft. 

Klarer zu sehen vermögen wir in einer 
anderen, unmittelbar uns Deutsche betreffen¬ 
den Sache. Und hier hätte der Verfasser 
vielleicht mehr geben dürfen als die kurze 
Andeutung auf Seite 187, daß diese Männer 
dem germanischen Geiste mehr Verständnis 
entgegenbrachten als jemals das frühere 
Frankreich. Das ist begründet in einer tie¬ 
fen, für uns Deutsche bedeutsamen Tat¬ 
sache. Nachdem Frankreich im 18. Jahr¬ 
hundert die Denker Englands bei sich 
aufgenommen und auf seine Weise ver¬ 
arbeitet hatte, setzte es sich während des 
19. Jahrhunderts auch mit unserer großen 
Epoche auseinander, mit Goethe und Her¬ 
der, Fichte und Humboldt, Kant und Scho¬ 
penhauer, Schelling, Hegel, Novalis und 
den andern Romantikern, zuletzt noch mit 
R. Wagner und Nietzsche; um von vielen 
anderen und kleineren zu schweigen. Durch 
Bergson, den Führer derer von 1885 und Vor¬ 
gänger auch jener fünf Wegbereiter, voll¬ 
zog das geistige Frankreich seinen Anschluß 
an unsere Heldengenerationen von der 
Wende des 18. zum 19. Jahrhundert. Auch 
wer das Allgemeinfranzösische in Bergson 
und diesen andern eher zu stark als zu 


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173 


Nachrichten und Mitteilungen 


174 


gering anschlagen und ihrer persönlichen 
Eigenart keineswegs zu nahe treten möchte, 
dem wird und muß doch die grundsätzliche 
Übereinstimmung mit jenen großen Deut¬ 
schen ins Auge springen. Vielleicht ist dieses 
Zusammentreffen rein phänomenologisch, 
und das Studium jener Deutschen in Frank¬ 
reich eine bloße Folgeerscheinung; viel¬ 
leicht aber ist es doch auch eine Wirkung 
geschichtlicher Abhängigkeit, wie die Ver¬ 
treter älterer Denkgewohnheiten lieber an¬ 
nehmen werden. Hier ist uns Deutschen 
eine doppelte Aufgabe geworden, in der 
Wissenschaft und im Leben, die wir kaum 
erst in Angriff genommen haben. 

Daß der Mensch und sein Menschentum 
nicht Sein ist, sondern Werden, nicht In¬ 
tellekt, sondern gefühlsmäßige Anschauung: 
dieses und viele andere Grundüberzeugun¬ 
gen waren zuerst und eben damals auf deut¬ 
schem Geistesboden gewachsen. Wenn 
Georges Sorel eine Studienreihe herausgibt 
mit dem Obertitel: Etudes de devenir social, 
so ist dieses Wort in dieser neuen Bedeu¬ 
tung eine Übersetzung unseres Werden. 
Wenn Andrö Gide immer wieder von der 
großen inqui&vde spricht, so scheint mir 
das ein Versuch, ein unserer Sehnsucht 
gleichwertiges Wort zu prägen; nachdem 
dtsir, das der alte Tristandichter Thomas 
von England noch als geistiges Liebessehnen 
zu voloir, dem Liebestrieb, in Gegensatz 
stellte, ganz in die Sphäre des Trieblebens 
hinabgeglitten ist. Eines steht fest: mit dem 
Gedankengut solcher Wegbereiter des jun¬ 
gen Frankreich kommt uns echtes deutsches 
Besitztum über die Vogesen zurück. Keiner 
bei uns wird das ohne freudigen Stolz, keiner 
wird es ohne schmerzliche Beschämung ver¬ 
nehmen. Denn auch dieses steht fest: wir hat¬ 
ten am Vorabend des Weltkriegs mit Frank¬ 
reich die Rollen getauscht. Die herrschenden 
und wirklich entscheidenden Kreise bei uns 
hatten sich und ihr Volk einer falschen Wirk¬ 
lichkeit nach dem Vorbild englischer und fran¬ 
zösischer Vulgärphilosophie überantwortet 
und waren damit von der innersten Bestim¬ 
mung deutscher Art treulos abgefallen. Die 
künftige Geschichte Deutschlands und Frank¬ 
reichs wird wesentlich davon abhängen, wo 
der stärkere Glaube und die stärkere Opfer¬ 
willigkeit an das Geistige wirksam und wirk¬ 
lich sein wird. Eduard Wechssler. 

Banse, Ewald, Die Türkei. Eine moderne 
Geographie. Mit Buchschmuck von Carlos 


Tips. Mit einem farbigen Titelbild, einer 
farbigen Kulturkarte und 61 Abbildungen 
auf Tafeln. Braunschweig, George Wester¬ 
mann (1915). ln Leinwand gebunden M16 
und als Auszug daraus: 

Banse, Ewald, Die Länder und Völker der 
Türkei. Eine kleine ästhetische Geographie, 
Braunschweig, George Westermann (1916). 
In Leinwand gebunden M 3. 

Das stattliche Werk ist ein echt deutsches 
Buch. Fast jede Seite des dicken Bandes 
legt dafür Zeugnis ab, daß der Verfasser 
ihn nicht aus dieser oder jener äußeren 
Veranlassung niederschrieb, sondern daß 
seine Arbeit als die ebenso natürliche wie 
notwendige Frucht des Lebens gerade dieses 
Gelehrten bezeichnet werden muß. Der 
Orient ist nicht nur das Arbeitsfeld Banses, 
ihm gilt auch seine warmherzige Liebe. 
Von ihm hat er als Knabe geschwärmt, als 
Jüngling geträumt und als Mann gekündet 
und gesagt in einer Form, die uns zwingt, 
ihn nicht nur als Gelehrten, sondern auch 
als Künstler zu würdigen. 

Was die Fähigkeit anbetrifft, eine Land¬ 
schaft oder einen Menschenschlag treffend 
zu kennzeichnen, dürften nicht viel zeitge¬ 
nössische Erdkundige neben oder gar über 
Banse gestellt werden. Und dennoch möch¬ 
ten wir einen Vorwurf nicht unterdrücken. 
Banse besitzt nicht nur einen persönlichen 
Stil, seine Sprache hat auch Manier, so 
viel Manier, daß sie mitunter ihrer natür? 
liehen Wirkung Eintrag tut. Schuld daran 
ist zum Teil seine Vorliebe für Worte, 
die uns anmuten, als stammten sie aus 
dem Putzschrank der Großtante, und da¬ 
neben auch seine leider echt deutsche 
Schwärmerei für Fremdwörter, die ihn bei¬ 
spielsweise glauben läßt, sein Lieblings¬ 
wort „Aspekt“ berge einen Begriffsinhalt, 
für den die deutsche Sprache keine passende 
Bezeichnung biete. Gerade weil wir im all¬ 
gemeinen die Ehrfurcht, welche dieser Ver¬ 
fasser seinem Stoffe entgegen bringt, dank¬ 
bar empfinden, fühlen wir uns an manchen 
Stellen durch allzu burschikose Ausdrucks¬ 
weise um so mehr abgestoßen, und gerade 
deshalb, weil wir seine Sprachgewalt an¬ 
erkennen müssen, nehmen wir ihm ein 
falsches oder doch häßliches Bild — wenn 
er etwa „den Block der Balkanvölker kläffend 
auseinanderfallen“ läßt oder schlechterdings 
wesensverschiedene Wortstämme zu schwer 
erträglichen Eigenschaftswörtern zusammen¬ 
leimt, doppelt übel. 


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Nachrichten und Mitteilungen 


176 


Vielleicht tadeln wir gerade darum etwas 
ausgiebig, weil die tadelnden Worte dem 
tüchtigen Kern der wackeren Leistung nichts 
anzuhaben vermögen. Die politische Welt¬ 
lage — das Buch wie auch diese Besprechung 
sind noch während des Krieges niederge¬ 
schrieben — hat sich mittlerweile ja von 
Grund aus verändert, aber hoffentlich wird 
deshalb der echte deutsche Trieb, die Fremde 
kennen zu lernen und ihre Wunder zu schil¬ 
dern, nicht verkümmern. So dürfte denn auch 
ein Buch wie diese inhaltreiche Landeskunde 
noch auf Jahrzehnte hinaus ihren — durchaus 
nicht nur theoretischen — Wert behalten. 

Wer als Kenner türkischer Verhältnisse 
immer wieder über den doch allzu rosen¬ 
roten Optimismus geseufzt hat, in dem un¬ 
gezählte Broschürenschreiber von der Zu¬ 
kunft Anatoliens schwärmen, weiß Banses 
besonnenes Urteil desto mehr zu schätzen. 
Vielen wird erst durch dies Buch so recht 
klar werden, welch vielgestaltiges Land 
Anatolien in Wirklichkeit ist, wenn sie 
die Küstengebiete des Nordens mit „den 
bärenschweren Baumfalten“ ihrer Gebirge, 
die Westküste mit „ihrem Segelknarren und 
ihrem Salzgeruch“, die „katzenweichen Seld- 
schuckenlöwen“ der Prachtbauten Ikoniums 
und die üppigen, saftstrotzenden Frucht¬ 
gefilde Ciliciens, des anatolischen Ägyptens, 
genauer kennen lernen. 

Die Aufgabe, die einzelnen Landschaften 
Kleinasiens darzustellen, ist deshalb so be¬ 
sonders schwer, weil der Geograph einer¬ 
seits ihre unterscheidenden Kennzeichen 
hervorheben soll und darüber doch niemals 
vergessen lassen darf, daß es sich eben um 
Teile eines und desselben Landes handelt, 
das in den gelben Steppen des Inneren 
und seinem grünen, meernahen Bergrahmen 
doch auch wiederum vieles besitzt, was 
ihm in seiner Gesamtheit ein bezeichnendes 
Gepräge verleiht. Diese schwere Aufgabe 
hat Banse unstreitig recht geschickt zu lösen 
gewußt; gerade der vonKleinasien handelnde 
Abschnitt muß als der wichtigste Teil seines 
Buches hervorgehoben werden. 

Mit besonderer Teilnahme verweilt unser 
Führer bei Armenien und der armenischen 
Frage und sucht nicht vergeblich nach 
düsteren Worten, um der Tragik, den leider 
nur allzuoft wohlverdienten Leiden des ar¬ 
menischen Volkes gerecht zu werden. „Über 
Armenien ist ebensoviel Geschichte hin¬ 
weggeschritten wie über Kleinasien, aber 
das Land weiß uns weniger davon zu er¬ 


zählen, es hat zu viel klagend erdulden 
müssen, als daß es sich mit der Erinnerung 
von Einzelheiten hätte beladen mögen. Und 
dies ist vielleicht das Furchtbare an dem 
Lande: neben dem kalten Braun seines 
Aspektes, es hat eine Vergangenheit, aber 
sie ist gestaltenarm, -es hat Unendliches er¬ 
lebt, aber es spricht rieht davon. Armenien 
ist stumm, stumm wie eine tausendmal mi߬ 
handelte Hure.“ 

Die Bemerkungen Banses über den mili¬ 
tärischen Wert Armeniens erscheinen uns 
um so beachtenswerter, weil sie bereits vor 
den Kriegsereignissen niedergeschrieben 
sind. Wir müssen ihm recht geben, wenn 
er die Bedeutung dieses Landes sehr hoch 
einschätzt. „Von seinen Pässen aus lassen 
sich die angrenzenden Landschaften beein¬ 
flussen, und ohne den Besitz seiner Pässe 
ist die Herrschaft über diese Randländer 
gefährdet, solange eine starke Macht die 
Höhenzugänge behauptet. Deshalb ist es 
von jeher das Bestreben der Staaten Vorder¬ 
asiens gewesen, Armenien zu erobern. Wer 
Mesopotamien und Anatolien besitzt, muß zu 
seinerSicherheit Armenien haben, aber eben¬ 
falls kann der Gewalthaber Kaukasiens oder 
Persiens nicht auf Armenien verzichten.“ 

Eine noch heiklere Sache als die landes- 
kundlicheSchilderung der anatolischen Land¬ 
schaften ist die klare Kennzeichnung der 
rassenmäßigen Beziehungen ihrer Bewohner, 
ja, wir dürfen getrost sagen, daß wir heut¬ 
zutage hinsichtlich dieser Dinge über An¬ 
nahmen und Vermutungen schlechterdings 
nicht hinauskommen. Selbstverständlich wird 
ein guter Kenner des Orients seinen An¬ 
sichten größeres Gewicht beilegen dürfen 
als ein anderer, der seine Kenntnis von 
diesem Stoff der Hauptsache nach im Stu¬ 
dierzimmer erworben hat. Dennoch müssen 
wir auch bei den Ausführungen Banses 
dessen eingedenk bleiben, daß bei solchen 
Untersuchungen rege Phantasie und tempe¬ 
ramentvolle Entschiedenheit nicht immer 
der Erforschung der Wahrheit förderlich 
sind. In der Hauptsache dürfen wir ihm 
wohl getrost beipflichten, wenn er die un¬ 
geheure Lebenskraft der anatolischen Ur- 
rasse, der unverwüstlichen Alarodier, her¬ 
vorhebt, welche alle neuen Völkerbestand¬ 
teile, die in Anatolien eine Heimat fanden, 
sich anähnelte, so daß wir trotz aller Unter¬ 
schiede in Sprache und Religion, trotz 
Griechentum und Galaterzügen, trotz Arme¬ 
niern und Seldschucken bis zu einem ge- 


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Zeitschriftenschau 


178 


wissen Grade doch von einem kleinasia- Schiffer, der von der Strömung eines Flusses 
tischen Menschentyp, einem Anatolier ins Röhricht eines Sees getrieben wird. Er 
schlechthin, reden dürfen. blieb im Kleinkram stecken, wie jenem die 

Auch bei der Besprechung Mesopotamiens Rohrhalme die Aussicht und die Fahrstraße 

warnt Banse, der gerade diese Landschaft versperren. Deshalb möchten wir allen, die 

durch eigene Reisen genauer kennen ge- dazu in der Lage sind, den guten Rat geben, 

lernt hat, davor, die natürlichen Hilfskräfte sich beide Ausgaben zu verschaffen. Wenn 

des Landes maßlos zu überschätzen. Noch sie den kürzeren Auszug gelesen haben, 

viel mehr als jene Kulturpioniere, die den sind sie mit der Gliederung des größeren 

jungfräulichen Boden der neuweltlichen Prä- Werkes bereits wohl vertraut und werden 

rien dem Pfluge unterwarfen, werden die in den meisten Fällen gegen eine Ermüdung 

Wiedererwecker Mesopotamiens dessen ein- geschützt sein, die sie vorzeitig zurückblei¬ 
gedenk sein müssen, daß nur der auf Er- ben lassen könnte. Denn gestehen wir es 

folg hoffen darf, welcher sich den Schweiß nur aufrichtig: so sehr der Fachmann dem 

nicht verdrießen läßt. Sicherlich ist Meso- Verfasserfür seine Gründlichkeit Dank wissen 

potamien ein Land der Zukunft, aber trotz- muß, der Laie wird nicht immer genug 

dem wird es an die Arbeitslust und Zähig- Willenskraft besitzen, um auf dem langen 

keit seiner friedlichen Eroberer Anforderun- Wege bis zum Ziel auszuharren, so viel 

gen stellen, von denen sich viele nichts schmucke Blumen er auch an dem Wegrain 

träumen lassen, die sich seit jeher an den zu pflücken vermag. 

Schilderungen seiner großen Vergangenheit Mit vollem Recht hebt die Verlagshand¬ 
berauscht haben. lung den Wert der farbigen Kulturkarte 

Die Abschnitte, welche Syrien und Ara- hervor, die dem Buche beigegeben worden 

bien behandeln, halten sich im allgemeinen ist. Sie beweist zu ihrem Teil, welch treff- 

auf gleicher Höhe wie die erste Hälfte des liches Bildungsmittel die geographische Karte 

Werkes, nur mußte naturgemäß der Teil selbst in solchem Falle zu bieten vermag, 

über Arabien, wo die Quellen so spärlich wo der Kartenzeichner in mancher Hinsicht 

fließen, etwas dürftig ausfallen. Daraus kann noch auf eine rein schematische Darstellung 

man dem Verfasser selbstverständlich keinen angewiesen ist. Wer über Banses Kultur- 

Vorwurf machen; im Gegenteil, wir möchten karte der Türkei ein nachdenkliches Stünd- 

es ihm beinahe verargen, daß er hier, in chen vergrübeln will, kann dabei sicherlich 

dem Bestreben, Stimmung zu schaffen, die mehr lernen als. aus einem halben Dutzend 

Farben auch in solchen Fällen stark auf- kurzlebiger Broschüren, welche so oft den 

trägt, wo eine nur ganz vorsichtig ange- Hochmut zum Vater und die Eile zur Mut¬ 
deutete Skizze aufrichtiger und Wissenschaft- ter hatten. 

lieber wirken müßte. — Alles in allem kann man dem Verfasser 

Daß sich die Verlagshandlung nach kur- für seine schöne Gabe nur aufrichtigen Dank 
zer Zeit entschloß, einen Auszug aus dem wissen. Möchte bald wieder die Zeit er- 
großen Werke herauszugeben, in dem dessen scheinen, da deutsche Gelehrte zwischen dem 

zusammenfassende Abschnitte vereinigt sind, Pontus und dem Arabischen Meerbusen zur 
hat seine guten Gründe. Dem Laien, der Ehre des deutschen Namens und zum Besten 
in das ausführlichere Buch hineinlas, mochte der Menschheit wirken und forschen dürfen! 
es nicht selten ergehen wie dem Kahn- Professor Fritz Braun-Dt.-Eylau. 

Zeitschriftenschau. 

Philosophie. sagt wurde: daß die großen Fortschritte 

Eine ganz besondere Stellung im deut- fast immer außerhalb der Zeitschriften ge¬ 
sehen Geistesleben nehmen die „Kant- schehen, so haben sie doch einen beson- 
Studien* ein. 1 ) Wenn freilich auch von deren, ja den hervorragendsten Anteil an 

ihnen gilt, was im ersten Artikel von den der philosophischen Funktion der Zeit¬ 

philosophischen Zeitschriften überhaupt ge- Schriften als eines Ortes zu öffentlicher 
1) Dieser Artikel setzt zugleich den in gegenseitiger Aussprache und Mitteilung. 
Bänd XIII Heft 2 begonnenen allgemeinen ErstallmählichsinddieKant-Studienzuemem 
Einleitungsartikel zu den Berichten Uber die solchen Orte geworden. Als sie Vaihinger 
deutschen philosophischen Zeitschriften fort, im Jahre 1896 ins Leben rief, war ihnen 



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179 


Zeitschriftenschau 


180 


eine viel engere Aufgabe gestellt. Sie soll¬ 
ten ein Spezialorgan für die damals in ihrer 
Hochblüte sich befindende Kantforschung 
sein. Ein solches sind sie dann in der Tat 
eine Reihe von Jahren hindurch gewesen, 
und die Bände jener Zeit enthalten eine 
Fülle vortrefflicher Einzeluntersuchungen 
über die Kantische Gedankenwelt und ihre 
Entstehung, die wesentlich dazu beigetra¬ 
gen haben, daß das historische Bild des 
Königsberger Denkers heute ein klareres ist. 

Eine neue Epoche der Entwicklung der 
Zeitschrift datiert vom Jahre 1904. Damals 
gründete Vaihinger die heute auch in wei¬ 
teren Kreisen bekannte „Kant-Gesell¬ 
schaft“. Es war nicht die erste deutsche 
philosophische Gesellschaft. Aber keine der 
anderen hat in der Gegenwart noch größere 
Bedeutung. Sie sind alle weit überholt wor¬ 
den durch das rasche Wachstum der Kant¬ 
gesellschaft. 

Im Gegensatz zu gewissen anderen Rich¬ 
tungen der Kantforschung der letzten Jahr¬ 
zehnte hat es Vaihinger seit jeher fernge¬ 
legen, eine Kantgemeinde mit festgelegtem 
philosophischen Glaubensbekenntnis zu 
schaffen. Er hat deshalb auch die Kant- 
Studien wie die Kant-Gesellschaft immer 
mehr ausgebaut zu Institutionen, denen der 
Name Kants in letzter Hinsicht nur deshalb 
zum Symbol dient, weil in diesem Namen 
sich für das deutsche Bewußtsein das Stre¬ 
ben nach einer wahrhaft wissenschaftlichen 
Philosophie ohne geistige Bindung an Au¬ 
toritätennamen am meisten verkörpert. 

Das Wachstum der Kant-Gesellschaft und 
der Kant-Studien sind unzertrennbar. Liefert 
doch die Kant-Gesellschaft das materielle 
Fundament für die Zeitschrift, da jedes Ge¬ 
sellschaftsmitglied durch seinen Jahresbei¬ 
trag zugleich einen Abonnenten der Zeit¬ 
schrift bedeutet. Ein wesentliches Verdienst 
für das Steigen beider Zahlen im letzten 
Jahrzehnt kommt Arthur Liebert zu. Sei¬ 
nem unermüdlichen Werben ist es gelungen, 
die Mitgliederzahl im Laufe des Krieges 
nahezu zu verdoppeln. Während alle übri« 
gen Zeitschriften und Gesellschaften durch 
den Krieg aufs schwerste erschüttert worden 
sind, ist die Zahl der Kant-Gesellschafts-Mit- 
glieder seit 1914, wo sie 800 betrug, bis 
auf gegenwärtig über 1500 gestiegen, und 
während die meisten übrigen Zeitschriften, 
soweit sie nicht überhaupt eingingen, einer 
beängstigenden Abmagerung anheimge¬ 
fallen sind, hat der Bandumfang der Kant¬ 


studien im Jahre 1918 sogar zugenommen 
(550 S. statt 516 S. im vorangegangenen 
Jahre), bei noch verbesserter Ausstattung. 
Schon seit 1906 ergab sich indes die Not¬ 
wendigkeit, angesichts der Fülle der zu¬ 
strömenden philosophischen Arbeiten eine 
besondere Erweiterung der Zeitschrift ein- 
treten zu lassen. Es erscheinen seitdem Jahr 
für Jahr größere Hefte als Ergänzungs¬ 
hefte. Bis 1917 einschl. waren es deren 40. 
Auch diese Nebenhefte sind in der schwer¬ 
sten Zeit weitererschienen. Das Jahr 1918 
brachte vier derartige Hefte. 

Die Charakterisierung der Kant-Studien 
wäre jedoch unvollständig, wenn nicht noch 
zweier weiterer Publikationsreihen gedacht 
würde, die sich ebenfalls in engster An¬ 
lehnung an die Zeitschrift befinden. Wie 
allgemeiner bekannt, veranstaltet die Kant- 
Gesellschaft seit mehreren Jahren (zunächst 
in Berlin) alljährlich eine Anzahl Vorträge 
mit anschließender Diskussion. Eine Aus¬ 
wahl derselben erscheint hinterher als be¬ 
sondere Beigabe zur Zeitschrift. Auch im 
vergangenen Jahr kamen vier solcher Vor¬ 
träge heraus. 

Das andere literarische Unternehmen 
greift noch weiter. Im Zusammenhänge mit 
der historischen Vertiefung des Studiums 
der Werke Kants ergab sich die Notwen¬ 
digkeit einer Beschäftigung auch mit den 
bedeutendsten von Kants Zeitgenossen, mit 
solchen, deren Schriften auf ihn selbst tiefer 
gewirkt haben, wie auch mit den ersten, 
teilweise so scharfsinnigen Kritikern seiner 
Philosophie. Aber diese Werke sind für 
ein intimeres Studium nur schwer zugäng¬ 
lich, da sie aus dem Antiquariatshandel so 
gut wie verschwunden sind. So entschloß 
sich denn die Kant-Gesellschaft zur Veran¬ 
staltung von Neudrucken. Auch diesesUn- 
ternehmen wuchs sich schon in den ersten 
Anfängen zu dem allgemeineren Unterneh¬ 
men des Neudrucks seltener philosophischer 
Werke überhaupt aus. Nicht weniger als 
sechs, z. T. recht umfangreiche derartige 
Bände erschienen in den letzten Jahren: 
Aenesidemus-Schultze; O. Liebmann, Kant 
und die Epigonen; Maimon, Versuch einer 
neuen Logik; Tetens, Philosophische Ver¬ 
suche; Die Hauptschriften zum Pantheis¬ 
musstreit. 

Es ist fast nicht glaublich, daß alle diese 
Publikationen: die Kant-Studien selbst, die 
Sonderhefte, die Vorträge der Kant-Gesell¬ 
schaft und endlich auch die so wertvol- 


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I 181 


Zeitschriftenschau 


182 


len Neudrucke vergriffener philosophischer 
Werke für den Jahresabonnementspreis von 
20 Mark — das ist der Mitgliedsbeitrag der 
Kantgesellschaft — geliefert werden. 

Einen breiten Raum nehmen in den 
letzten Jahrgängen der Kant-Studien *) die 

1) Kant-Studien. Band XXIII, 1918/19. 
Heft 1: Herrn. Hegenwald, Johannes 
Rehmkes Grundwissenschaft und die Philo¬ 
sophie der Gegenwart. — H. E. Timer¬ 
ding, Kant und Euler. — ErnstTroeltsch, 
Zur Religionsphilosopie. — Siegfried 
Marek. Rudolph Kjellöns Theorie des Staa¬ 
tes. — Ferd. Jakob Schmid und Arthur 
Liebert, Adolf Lasson zum Gedächtnis.— 
Besprechungen. — Mitteilungen. — Kant- 
Gesellschaft. 

Heft 2/3: Max Dessoir, Carl Stumpf.— 
Paul Hensel, Wilhelm von Humboldt. — 
Moritz Schlick, Erscheinung und Wesen. 

— Paul Bommersheim, Der Begriff der 
organischen Selbstregulation in Kants Kritik 
der Urteilskraft.— Karl Vorländer, Goethe 
und Kant. — Gustav Schneider, Erkennt¬ 
nistheoretischer Idealismus oder transzen¬ 
dentaler Realismus? — Wilhelm Reimer, 
Der phänomenologische Evidenzbegriff. — 
Willy Moog, Einheit und Zahl. — Fried¬ 
rich Lipsius, Johannes Volkelt. — Be¬ 
sprechungen. — Mitteilungen. — Kant-Ge¬ 
sellschaft. 

Heft 4: Arthur Warda, Der Streit um 
den .Streit der Fakultäten“. — Ernst Hor- 
neffer, Der moderne Individualismus. — 
Paul F. Linke, Die Minderwertigkeit der 
Erfahrung. Phänomenologische Randglossen 
zu Hans Cornelius’ .Transzendentaler Sy¬ 
stematik“. — Karl Vorländer, Eine Neu¬ 
begründung der Ethik auf Kantischer Grund¬ 
lage. — Besprechungen. — Selbstanzeigen. 

Band XXIV, 1919/20. Heft 1/2: Max 
Frischeisen-Köhler, Georg Simmel. — 
Lucien Brulez, Delbceufs Bedeutung für 
die Logik. — Clemens Thaer, Reine An¬ 
schauung und Idealität des Raumes. — 
August Messer, Fichte und Machiavelli. 

— Traugott Konstantin Oesterreich, 
Karl Christian Planck. — Ernst Marcus, 
Erkenntnistheoretischer Idealismus oder 
transzendentaler Realismus. Eine Entgeg¬ 
nung. — Besprechungen. — Selbstanzeigen. 

— Mitteilungen. — Kant-Gesellschaft. 

Ergänzungshefte zu Band XXIII Nr. 41: 

Karl Vorländer, Die ältesten Kantbio- 

raphien, eine kritische Studie. — Nr. 42: 

ohann Heinrich Lambert, Ober die 
Methode, die Metaphysik, Theologie und 
Moral richtiger zu beweisen, herausgegeben 
von Karl Bopp.— Nr.43: Martin Schmidt, 
Die Behandlung des erkenntnistheoretischen 
Idealismus bei Eduard von Hartmann. — 
Nr. 44: Aus Fichtes Leben. Briefe und Mit¬ 


kritischen Abhandlungen zur Philosophie 
der Gegenwart ein. Nicht nur in dem ver¬ 
dienstlicherweise stark ausgebauten Refe¬ 
ratenteil (auf den oft ein ebenfalls recht 
umfangreicher Anhang von Selbstanzeigen 
folgt), sondern auch in dem Hauptteil des 
Textes finden sich zahlreiche Aufsätze, die 
kritische berichtende Auseinandersetzungen 
m't literarischen Neuerscheinungen oder 
Publikationen der jüngeren Vergangenheit 
darstellen. In dem Jahrgange 1918/19 (Bd. 
XXIII) ist von besonderem Interesse in dieser 
Hinsicht eine Kritik von Troeltsch über 
das bekannte 1917 erschienene Buch von 
Otto .Über das Heilige“. Auch er kommt, 
ähnlicherweise wie ich selbst es im Archiv 
für Religionswissenschaft ausgeführt habe, 
zu einer Bewunderung für die außerordent¬ 
lich feinfühlige psychologische Analyse reli¬ 
giöser Erlebnisse durch Otto, und ebenso 
zu Bedenken gegen die von demselben 
entwickelten erkenntnistheoretischen Ge¬ 
danken. Der Schwerpunkt der Kritik in 
dieser Hinsicht ruht allerdings auf anderen 
Punkten, als wo ich ihn selbst gelegt habe. 

In demselben Heft beschäftigt sich S. 
Marek mit der Staatsphilosophie der be¬ 
kannten Kriegsbücher Rudolf Kjellöns. 
Innerhalb de r Erkenntnistheorie der Geistes¬ 
teilungen zu einer künftigen Sammlung von 
Fichtes Briefwechsel, herausgegeben von 
Hans Schulz. 

Dem XXIII. Band beigegebene Vorträge 
der Kant- Gesellschaft Nr.l8:AdolfLasson, 
Über den Zufall (soeben in 2. Auflage er¬ 
scheinend). — Nr. 19: Albert Görland, 
Neubegründung der Ethik aus ihrem Ver¬ 
hältnis zu den besonderen Gemeinschafts¬ 
wissenschaften. — Nr. 20: William Stern, 
Grundgedanken der personalistischen Phi¬ 
losophie. — Nr. 21: Paul Natorp, Her¬ 
mann Cohens philosophische Leistung unter 
dem Gesichtspunkte des Systems. 

Von den Ergänzungsheften zu Band XXIV 
erschien bisher Nr. 45: Erich Franz, Das 
Realitätsproblem in der Erfahrungslehre 
Kants. Eine kritische Studie mit besonderer 
Rücksicht auf den Neukantianismus der 
Gegenwart. 

Bisher zu Band XXIV gelieferte Vorträge. 
Nr. 22: Ernst Cassirer, Heinrich von Kleist 
und die Kantische Philosophie. — Nr. 23: 
Ernst Troeltsch, Die Dynamik der Ge¬ 
schichte nach der Geschichtsphilosophie des 
Positivismus. — 

Die Ergänzungshefte sowohl wie die 
Vorträge sind, da sie im Buchhandel selb¬ 
ständig erscheinen, von einer näheren Be¬ 
richterstattung ausgeschlossen worden. 


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Zeitschriftenschau 


184 


Wissenschaften nimmt ja die Deutung der 
Begriffe Staat, Sprache, Sitte usw. eine be¬ 
sondere Stelle ein, wenn freilich auch ge¬ 
sagt werden muß, daß diese Stelle noch 
durchaus nicht im Hellen liegt. In seiner 
letzten großen Akademieabhandlung vom 
Jahre 1910 über den Aufbau der geschicht¬ 
lichen Welt in den Geisteswissenschaften 
hat noch Dilthey diese Probleme aufge¬ 
worfen. Sie sind seitdem freilich noch nicht 
weitergefördert worden, wenn man es 
nicht bereits als Fortschritt ansehen will, 
daß jetzt öfter auf diese Dinge hingewiesen 
wird. Es ist unter diesen Umständen inter¬ 
essant, einmal an den vielgelesenen Büchern 
Kjellöns näher geprüft zu sehen, welche 
grundsätzlichen Anschauungen sich dieser 
Schriftsteller vom Staat gebildet hat. Es 
macht sich bei beiden, dem schwedischen 
Autor wie dem deutschen Kritiker, das Be¬ 
dürfnis geltend, über den rein biologischen 
Standpunkt des physischen Machtwillens 
hinaus zu einer irgendwie höheren Auffas¬ 
sung vom Staat zu kommen, so daß dann 
am Schluß das Problem der Staatsethik 
sich stark aufdrängt. 

In Heft 4 findet man eine Polemik Paul 
F. Linke gegen Cornelius. Der letztere 
hat in seinem Buch „Transzendentale Sy¬ 
stematik“ die Behauptung aufgestellt, daß 
Kants Ansicht, daß die empirischen Fest¬ 
stellungen nur bedingte Gültigkeit haben, 
irrig sei und daß die experimentellen Er¬ 
gebnisse eines Chemikers, wenn er nur 
exakt arbeite, unbedingt richtig seien. Es 
ist überraschend, daß eine solche Ansicht 
mitten im Zeitalter der Erkenntnistheorie 
erneuert werden konnte. Linke zeigt, wie 
unhaltbar diese Auffassung eigentlich ist 
und wie ein völliger Unterschied zwi¬ 
schen den apriorischen und den empiri¬ 
schen Sätzen besteht. Gewiß ist in dieser 
Kritik nichts Neues für den enthalten, der 
durch die moderne Logik Husserls hin¬ 
durchgegangen ist. Aber in ihrer klaren 
Kürze wird die kleine Abhandlung für jeden 
noch in empirischen Vorurteilen Befangenen 
über die Grenzen der Erfahrung (die selbst¬ 
verständlich durch nichts anderes zu ersetzen 
ist, wo es sich um die Erkenntnis der kon¬ 
kreten Wirklichkeit in ihren Einzelheiten 
handelt) recht aufklärend wirken können. 

Von anderen allgemeiner interessieren¬ 
den Artikeln sind einige biographischen 
Charakters. Wir haben in den letzten Jahren 
eine ganze Reihe von Erinnerungstagen, 
Todesfällen und Jubiläumstagen bedeuten- 


| der Denker erlebt. Ins Jahr 1917 fiel der 
hundertjährige Geburtstag Lotzes. Er war 
der bedeutendste Denker aus der zweiten 
Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Nach 
glänzendem Weltruhm zu seiner eigenen 
Zeit war er nach seinem Tode durch etwa 
zwei Jahrzehnte fast in Vergessenheit ge¬ 
raten. Es ist ihm ergangen, wie es bisher bei 
uns noch jedem ergangen ist, der mit Leib- 
niz’ Gedankenkreise verwandt ist, ja, wie 
es diesem selbst ergangen ist: sie wurden 
unwirksam. Seitdem jedoch Husserls Phä¬ 
nomenologie zur Geltung gelangte, ist auch 
Lotzes Ansehen wieder gestiegen. Ja eigent¬ 
lich wissen wir erst heute, wie bedeutend 
er war. Seinerzeit fehlte noch das Verständ¬ 
nis dafür. Aus diesem Grund war es von 
besonderem Interesse, daß der Gedenk¬ 
artikel der Kant-Studien von Stumpf ge¬ 
schrieben worden ist, der seinerzeit sich in 
Göttingen unter Lotze habilitierte und ihm 
persönlich nähergetreten ist. 

In demselben 22. Bande steht auch ein 
Nachruf auf den anderen bedeutenden Den¬ 
ker vom Ausgang des neunzehnten Jahr¬ 
hunderts: Franz Brentano, von seinem 
früheren Sekretär Utitz. Die Wirkung Bren¬ 
tanos war eine noch unvergleichlich größere 
als die Lotzes. Eine Reihe der bedeutend¬ 
sten Forscher der Gegenwart sind aus sei¬ 
ner Schule, so Stumpf, Husserl, Mei- 
nong. Sie und die übrigen sind alle aus¬ 
gezeichnet durch bohrenden Scharfsinn. 
Fast möchte man meinen, daß auch der 
Scharfsinn eine durch die erzieherische Wir¬ 
kung eines bedeutenden Vorbildes über¬ 
tragbare Eigenschaft ist, wenn man die 
Fülle der Brentanoschüler überblickt und 
immer wieder auf diese Eigenschaft stößt 
Noch weniger als Lotzes sind die Leistungen 
Brentanos allgemein bekannt. Es gehörte 
zu seinen persönlichen Eigenschaften, daß 
er zwar aufs stärkste nach Wirkung als 
Dozent verlangte, aber in einer Art von 
Überakribie sich nur sehr sdiwer zu einer 
Veröffentlichung entschließen konnte, so 
daß noch heute umfangreiche, ja wohl die 
meisten Manuskripte ungedruckt sind und 
wir vieles von seinen Anschauungen nur 
aus den Schriften seiner Schüler erahnen 
können, ohne es doch von deren eigenen 
Ansichten reinlich sondern zu können. 

In den Jahrgang 1918 fielen drei Jubi¬ 
läumstage. Rehmke, Stumpf und Vol¬ 
kelt feierten den 70. Geburtstag. Von jedem 
findet man ein Bildnis nebst einem sie cha¬ 
rakterisierenden Artikel. Daneben steht ein 


Dia 


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Zeitschriftenschau 


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Todesfall: der Lassons (f 1917). Jeder, 
der um die Wende des neunzehnten Jahr¬ 
hunderts in Berlin Kollegs gehört hat, hat 
von seiner persönlichen Art Kenntnis er¬ 
halten. Von dem, was er geistig war, haben 
nicht allzuviele einen Begriff gehabt. Den 
meisten galt er nur als eine komische Figur. 
Und doch, wer auch nur gelegentlich un¬ 
freiwillig Unter den Linden Fragmente aus 
einem seiner lebhaften Gespräche auffing, 
gewann den Eindruck, daß hier eine starke 
geistige Individualität vorlag. Aus den zwei 
Gedächtnisreden von Ferd. Jacob Schmid 
und A Liebert kann jetzt jeder ein Bild 
gewinnen von diesem letzten Überlebenden 
des Hegelschen Zeitalters mitten in einer 
ganz anders gerichteten Zeit. 

Das Jahr 1918 brachte einen neuen höchst 
schmerzlichen Verlust, den Tod Simmels. 
DieihmgewidmeteGedächtnisarbeit Frisch¬ 
eisen-Köhlers ist der erste Versuch einer 
Monographie in deutscher Sprache’) über 
den Toten, der erst ein paar Jahre vor sei¬ 
nem Tode die offizielle Anerkennung seiner 
Bedeutung durch eine Berufung in ein Or¬ 
dinariat erhielt, die, wie man sagt, auch 
nur dadurch möglich wurde, daß die orien¬ 
tierten Straßburger Kollegen über seine 
Konfessionslosigkeit peinlich schwiegen. 
Der Artikel enthält zunächst eine ausge¬ 
zeichnete Darstellung von dem Gesamt¬ 
charakter der Simmelschen Werke, ihrer 
eigentümlichen, höchst persönlichen und 
zugleich jede positive Stellungnahme zu 
den Problemen vermeidenden Denkweise. 
Im zweiten Teil seiner Arbeit gibt Frisch¬ 
eisen-Köhler dann den Versuch einer Ent¬ 
wicklungsgeschichte des Denkers. Seit dem 
Jahre 1900 etwa wurde durch Privatäuße¬ 
rungen, die Simmel getan hatte, bekannt, 
daß er in einen neuen Abschnitt seines 
Denkens eingetreten sei. Auch ihn, der in 
seinen ersten Schriften noch als Sohn des 
positivistischen Zeitalters erscheint, hatte 
die neue Woge des geistigen Aufstiegs, 
der durch die Welt ging, mitergriffen und 
zu neuen Höhen emporzuheben begonnen. 
Zunächst näherte er sich der südwestdeut¬ 
schen Kantschule Windelbands undRickerts, 
ohne doch in sie aufzugehen, um dann zu¬ 
letzt noch eine neue Wendung auf die Meta¬ 
physik hin zu machen. Die Verwandtschaft 
dieser letzten Epoche mit dem Monismus 

2) Von französischer Seite liegt bereits 
eine größere Arbeit über Simmel vor: 
A. Mamelet, Le relativisme philosophique 
cfaez Georg Simmel, Paris 1914. 


des deutschen Idealismus wird fein aufge¬ 
deckt. Zu einem Abschluß ist Simmel frei¬ 
lich nicht gekommen, und man darf wohl 
auch zweifeln, ob er je zu einem solchen 
gekommen wäre. Seine ganze geistige Kon¬ 
stitution war nicht derart, daß es ihn mit 
nicht nachlassender Gewalt zu einem festen 
Standpunkt hindrängte. 

Im gleichen Heft befindet sich auch noch 
ein Gedächtnisartikel von mir über den 
heute viel genannten schwäbischen Philo¬ 
sophen Planck aus der Mitte des neun¬ 
zehnten Jahrhunderts. Zu seiner Zeit so gut 
wie unbeachtet, so daß er unter der Schwere 
dieses Schicksals schließlich innerlich zu¬ 
sammenbrach, ist jetzt seine Sozialphilo¬ 
sophie zu einer späten Wirkung gelangt. 
In seiner schwäbischen Heimat hat er übri¬ 
gens seit jeher eine kleine, zäh zu ihm 
haltende Gemeinde besessen. Der Artikel 
gibt ein Gesamtbild seiner geistigen Lebens¬ 
arbeit, von der die Sozialphilosophie nur 
ein Teil (der wertvollste) ist. Er war ein 
Systemphilosoph in umfassendem Sinne. 

Von den historischen Arbeiten hat ein 
kleiner Aufsatz Messers über das Verhält¬ 
nis Fichtes zu Machiavelli Anspruch auf 
Interesse. Fichte hat bekanntlich eine jetzt 
in Reclams Universalbibliothek erschienene 
kleine Schrift über den Florentiner Staats¬ 
philosophen geschrieben, die bisher als ein 
Bekenntnis zu dessen politischen Ideen auf¬ 
gefaßt worden ist. Messer versucht dem¬ 
gegenüber den Nachweis, daß die Schrift 
im Gesamtzusammenhang der Fichteschen 
Philosophie eine andere Bedeutung habe, 
und Fichte die Idee des ewigen Friedens 
nicht völlig preisgebe. Immerhin bleibt doch 
die Tatsache bestehen, daß die Schrift ge¬ 
rade bestimmt war, auf die zeitgenössische 
Politik zu wirken. 

Ein, wenigstens früher, für einen weit 
engeren Interessentenkreis als die Kant- 
Studien bestimmtes Organ ist das Archiv 
für Philosophie. 11 ) Es ist wesentlich älter 

3) Archiv für Philosophie, heraus¬ 
gegeben von Ludwig Stein. I. Abteilung. 
Archiv für Geschichte der Philoso¬ 
phie. XXXII. Bd., Heft I (N. F. XXV. Bd. 
Heft I), Berlin 1918. Paul Sickel, Leibniz 
und Goethe. — Wilhelm M. Frankl, Arthur 
Schopenhauers Philosophie. — Johannes 
Dräseke, Zu Descartes’ „Cogito, ergo sum“. 
— Rezensionen. — Heft II (1919) Gustav 
Schneider, Ed. v. Hartmann als Staats¬ 
philosoph und Politiker. — Peter Knudsen, 
Ist Bergson ein Plagiator Schopenhauers? — 


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Zeitschriftenschau 


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f 




und entstammt dem Zeitalter des Histori¬ 
zismus. Seine erste als Archiv für Ge¬ 
schichte der Philosophie bezeidinete 
Abteilung war das klassische Organ der 
Studien auf dem Gebiete der Geschichte 
der Philosophie zur Zeit Zellers und Dil- 
theys. Eine Reihe der bedeutendsten ge¬ 
schichtlichen Arbeiten Diltheys sind in dem¬ 
selben erschienen, so die Abhandlungen: 
Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahr¬ 
hundert; Das natürliche System der Geistes¬ 
wissenschaften im 17. Jahrhundert; Der ent- 
wicklungeschichtliche Pantheismus. Audi 
Zeller wie die übrigen großen Historiker 
der Zeit pflegten ihre Einzeluntersuchungen 
daselbst zu publizieren. Einige Jahre nach 
der Begründung des Archivs für Geschichte 
der Philosophie wurden auch die damaligen 
Philosophischen Monatshefte damit ver¬ 
schmolzen. Sie bilden unter dem Namen 
Archiv für systematische Philoso¬ 
phie jetzt die II. Abteilung des (Gesamt-) 
Archivs für Philosophie. Seit mehreren Jah¬ 
ren erscheinen als Ergänzungshefte größere 
Arbeiten in Sonderheften unter dem Titel 
„Bibliothek für Philosophie“, wie denn 
überhaupt die Absicht obzuwalten scheint, 
den Interessentenkreis der Zeitschrift größer 
zu gestalten. 

Im Archiv für Geschichte der Phi¬ 
losophie hat in Heft II Anspruch auf all¬ 
gemeineres Interesse ein Aufsatz von Prof. 
Peter Knudsen: „Ist Bergson ein Plagia¬ 
tor Schopenhauers?“ 

In den letzten Jahren vor dem Kriege 
war wie in der ganzen Welt, so auch bei 
uns das Interesse an der Philosophie Berg- 
sons ein sehr großes geworden. Kein an¬ 
derer als Windelband hat ihm das litera¬ 
rische Geleit in die deutsche Leserwelt ge¬ 
geben. Alle Hauptwerke Bergson waren 
zuletzt in Übersetzungen erschienen. Kaum 
war der Krieg ausgebrochen, so veränderte 
sich das Bild. Die Bewunderung seiner 
geistigen Leistung schlug ins Gegenteil 

Walther Rauschenberger, Heraklit und 
die Eleaten.— Rezensionen. — Zeitschriften¬ 
schau. Die neuesten Erscheinungen auf dem 
Gebiet der Geschichte der Philosophie. 

II. Abteilung. Archiv für systemati¬ 
sche Philosophie (Neue Folge der Phi¬ 
losophischen Monatshefte), XXIV. Bd. Heft I 
(1918). — Adamkiewicz, die Eigenkräfte 
der Stoffe, das Gesetz von der „Erhaltung 
der Materie“ und die Wunder im Weltall. — 
C. A. Emge, Empirismus und Rechtsphilo¬ 
sophie. — Ferdinand Maack, Astrosophie 
(Philosophieder Astronomie).—Rezensionen. 


um. Man ging gleich aufs Ganze. Das 
Genie mußte zum Diebe werden. Wie 
am Ende des Krieges Wilsons Ideen der 
Philosophie des deutschen Idealismus ent¬ 
lehnt sein sollten, so hatte auch Bergson 
seine Gedanken angeblich von dorther be¬ 
zogen. Unter den Abhandlungen, in denen 
ein Nachweis dafür versucht worden ist, 
ist die wirkungsvollste die Broschüre eines 
Herrn Böhnke gewesen: „Plagiator Berg¬ 
son“. Dieselbe ist auf den ersten Blick be¬ 
strickend. An einer großen Zahl von Bei¬ 
spielen wird zu zeigen versucht, daß die 
Abhängigkeit Bergsons von Schopenhauer 
eine so große ist, daß ihm der Charakter 
der Originalität abzuerkennen sei. Merk¬ 
würdigerweise erklärt Herr Böhnke die 
Veröffentlichung seines Angriffs mit dem 
Kriegszustände. „In Friedenszeiten hätten 
wir vielleicht, dem kosmopolitischen Zuge 
unseres Herzens folgend, eine derartige An¬ 
griffsweise verurteilen zu müssen geglaubt.“ 
Seltsam. Also in Friedenszeiten gebietet 
der Kosmopolitismus, zu geistigem Dieb¬ 
stahl zu schweigen, wenn das Vergehen 
einem berühmten Ausländer zur Last fällt? 

Knudsen unterwirft nun eine größere 
Zahl der von Böhnke vorgelegten angeb¬ 
lichen Parallelstellen aus Schopenhauer und 
Bergson einer genaueren Analyse auf ihren 
Gedankengehalt, und er kommt durchweg 
zu dem Ergebnis, daß von einem Plagiat 
nicht die Rede sein könne. Die Gedanken 
der beiden Philosophen befinden sich durch¬ 
aus nicht in so engem Einklang mitein¬ 
ander, wie es nach Böhnkes Darstellung 
scheint. Die scheinbare Übereinstimmung 
ist überall nur das Ergebnis einer ober¬ 
flächlichen Betrachtungsweise. Besonders 
interessant ist eine längere Gegenüberstel¬ 
lung von Kierkegaard und Ibsen (Brand), 
zwischen denen ebenfalls gewisse auffal¬ 
lende Übereinstimmungen bestehen, ohne 
daß irgendeine Abhängigkeit nachzuweisen 
wäre. Ebenso deckt Knudsen eine selt¬ 
same zufällige Übereinstimmung zwischen 
Kierkegaard und Schopenhauer auf. 

Im Archiv für systematische Phi¬ 
losophie berichtet F. Maack unter dem 
Titel „Astrosophie“ über einige außerhalb 
der offiziellen Astronomie stehende Schrif¬ 
ten, die sich mit der Struktur des Weltalls 
beschäftigen. — Da ist zunächst ein schon 
vor langen Jahren auf psychologischem Ge¬ 
biet hervorgetretener Autor namens Ch. 
Ruths, der sich mit den astronomischen 
Konstanten beschäftigt und eigenartige ein- 


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Zeitschriftenschau 


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fache Zahlenverhältnisse zwischen ihnen | 
feststellt (Neue Relationen im Sonnensystem 
und Universum, Darmstadt 1915). — Seit 
langem bekannt ist die sogenannte Titius- 
scjje Reihe der Abstände der Planeten von 
der Sonne (a = 3 • 2° -(- 4). Diesen merkwür¬ 
digen (allerdings nicht genauen) Zahlen¬ 
verhältnissen, für die bisher eine kosmoge- 
netische Erklärung fehlt, fügt Ruths eine 
größere Zahl anderer hinzu, von denen 
Maack einige frappierende Beispiele mitteilt. 

Er glaubt aus ihnen auf die Existenz einer 
organisierenden Weltseele schließen zu kön¬ 
nen. Auf jeden Fall sind seine Feststellun¬ 
gen, die natürlich nur durch Divination zu 
linden waren, höchst interessant. 

Zwei andere Autoren, über die Maack 
berichtet, kehren zum geozentrischen Stand¬ 
punkt zurück. Der eine ist Joh. Schlaf, 
dessen Theorie bereits durch die Tages¬ 
presse bekannt geworden ist; der andere 
ist Ernst Barthel. Für ihn ist der Welt¬ 
raum ein sog. hyperbolischer Raum, der 
durch die Erdoberfläche halbiert werde, so 
daß alle Gestirne auf der einen Seite stehen. 
Der Durchmesser des Weltraums soll 40000 
km betragen. Stellung zu diesen Theorien, 
über die näher berichtet wird, wird von 
Maack nicht genommen. 

Der Umstand allein, daß eine ernsthafte 
philosophische Fachzeitschrift über derartige 
Auffassungen berichtet, kann als bemer¬ 
kenswertes Symptom dafür angesehen wer¬ 
den, in wie starker Weise durch die tief¬ 
greifenden naturwissenschaftlichen Entdek- 
kungen der beiden letjten Jahrzehnte das 
allgemeine wissenschaftliche Sicherheitsbe¬ 
wußtsein in bezug auf die Grundfakta un¬ 
serer Weltansicht erschüttert ist. 

Wir kommen zum Philosophischen 
Jahrbuch d er Goerres-Gesellschaft. 4 ) Audi 

4) Philosophisches Jahrbuch. 31. 
Band. 4. Heft: R. Guardini, Zum Begriff 
der Ehre Gottes. — E. Rolfes, Noch ein¬ 
mal: Was ist der wirkende Verstand bei 
Aristoteles? — Max Kreutle, Die Unsterb¬ 
lichkeitslehre in der Scholastik von Alkuin 
bis Thomas von Aquin. — B. Jansen, Ein 
neuzeitlicher Anwalt der menschlichen Frei¬ 
heit aus dem dreizehnten Jahrhundert: Pe¬ 
trus Joh. Olivi. — Rezensionen und Refe¬ 
rate. — Zeitschriftenschau. — Miszellen und 
Nachrichten. — Philosophischer Sprechsaal. 

32. Band. 1. Heft: v. Hildebrand, Zum 
Wesen der Strafe. — J. Lindworsky, 
Zur Psychologie der Begriffe. — J. We¬ 
ser, Die naturphilosophischen Begriffe Wil¬ 
helms von Auvergne. — M. Meier, Locke 


unter den kritisch-referierenden Auseinan¬ 
dersetzungen dieser Zeitschrift beschäftigen 
sich zwei Autoren mit Ottos Buch »Das 
Heilige“: Wunderle und Lindworsky. 
Auch Wunderles Kritik richtet sich gegen 
alles das, was in Ottos Buch mehr ist als 
psychologische Analyse, und betont die 
Wichtigkeit der »rationalen“ Momente auch 
innerhalb der Religiosität. Lindworsky un¬ 
terwirft demgegenüber Ottos Versuch, die 
religiösen Gefühle als spezifische zu erwei¬ 
sen, einer ziemlich scharfen Kritik und be¬ 
schäftigt sich näher mit Ottos Gegenüber¬ 
stellung des .Rationalen“ und »Irrationa¬ 
len“ im Gottesglauben. Im Anschluß an 
neuere, z. T. eigene denkpsychologische Un¬ 
tersuchungen entwickelt er dabei eine Lehre 
von der Begriffsbildung. Ich gestehe, daß 
ich mich des Eindrucks nicht enthalten kann, 
daß er die Bedeutung des Experiments für 
diese Fragen überschätzt. Es war nötig, um 
innerhalb des erheblichen Teiles der Ex¬ 
perimentalpsychologie, der von naturalisti¬ 
schen und materialistischen Vorurteilen bis 
zum Übermaß gesättigt war, dieselben we¬ 
nigstens bei einigen höherstehenden For¬ 
schern zu erschüttern. Aber was sind alle 
experimentellen Untersuchungen des Den¬ 
kens gegenüber den ohne Heranziehung 
fremder Versuchspersonen durchgeführten 
deskriptiven Denkanalysen, die aus der 
Schule Brentanos hervorgegangen sind! 
Sie erscheinen ihnen gegenüber vielfach 
als massiv und grob. Zudem sind sie sämt¬ 
lich durch sie bedingt. 1900 erschienen 
Husserls Logische Untersuchungen. Erst 
mehrere Jahre später setzten die Denkex¬ 
perimente ein und nun fand man im Ex- 


und die Lehre von den eingeborenen Ideen. 
— Th. Virnich, Geltung kausaler Denk¬ 
weise. — Rezensionen und Referate. — Zeit¬ 
schriftenschau. — Miszellen und Nachrich¬ 
ten. — Nekrolog (Hertling). 

2. Heft: G. Gut beriet, Glauben und 
Wissen. — G. Wunderle, Über das Irra¬ 
tionale im religiösen Erleben. — R. Stölzle, 
Der Streit um das tierpsychologische Pro¬ 
blem. — Rezensionen und Referate. — Zeit¬ 
schriftenschau.—Miszellen und Nachrichten. 

3. Heft: L. Lommel, Zum Erweis des 
psychologischen Substantialismus. — F. 
Minges, Robert Grosseteste, Übersetzerder 
Ethica Nicomachea. — N. Brühl, Noch¬ 
mals die spezifischen Sinnesenergien. — 
F. Spielmann, Kritische Betrachtungen 
zur Relativitätstheorie. — Rezensionen und 
Referate. — Zeitschriftenschau. — Miszel- 
ten und Nachrichten. 


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Zeitschriftenschau 


>2 


periment wieder, was den Versuchsperso¬ 
nen — aus der Lektüre jenes Buches in 
Erinnerung war oder worauf sie auf Grund 
der durch dieses Buch gewonnenen Ein¬ 
sichten aufmerksam wurden. Alles Schwei¬ 
gen über Husserl seitens einer Reihe von 
Forschern kann diesen Tatbestand nicht 
erschüttern. Damit soll natürlich nicht ge¬ 
leugnet werden, daß die Denkexperimente 
im weiteren Verlauf wertvolle Ergebnisse 
gehabt haben, gerade Lindworsky hat dar¬ 
an gewichtigen Anteil. Aber der Über¬ 
schätzung des Experiments für die Analyse 
des Denkens ist entgegenzutreten, denn 
das Entscheidende und wahrhaft Wichtige 
war daohne schon zuvor geleistet. Nur weit 
über dem Durchschnitt analytisch befähigte 
Psychologen können hier Förderung bringen, 
nicht durchschnittliche Versuchspersonen. 

Eine Art Zusammenfassung der völlig 
verändertenStellungnahme wenigstens eines 
Teiles der modernen Psychologie gegen¬ 
über dem Ichproblem gibt Lommel. Wäh¬ 
rend man am Ausgang des vergangenen 
Jahrhunderts das Psychische in eine Summe 
von Prozessen auflösen wollte und die 
Einheit des Bewußtseins als nachträglich 
aus ihnen sich bildend ansah (Aktualismus), 
haben sich inzwischen wieder viele davon 
überzeugt, daß das nicht angängig ist, son¬ 
dern daß Lotze auf richtigeren Bahnen 
wandelte. Wie denn überhaupt die sog. 
naturwissenschaftliche Psychologie für Jahr¬ 
zehnte ein außerordentliches Sinken des 
wissenschaftlichen Niveaus in allen grund¬ 
sätzlichen Fragen der Psychologie herauf¬ 
geführt hat. Es muß zugegeben werden, 
daß die Neuscholastik, die an gewissen, 
schon im Mittelalter erworbenen besseren 
Einsichten dauernd (wenn vielleicht auch 
teilweise aus außerwissenschaftlichen Mo¬ 
tiven) festgehalten hat, darin wesentlich 
höher gestanden hat. Aus dieser Schule 
kommt wohl auch der Verfasser. Er gibt in 
seiner Arbeit eine klare Zusammenstellung 
einer Reihe der Hauptargumente, auf Grund 
deren man sich jetzt wieder allgemeiner 
der Ansicht zugewandt hat, daß alle psy¬ 
chischen Erlebnisse Akzidenzen an einem 
Ich sind. Von den neueren Autoren werden 
allerdings nur Th. Lipps und der katho¬ 
lische Autor Geyser genannt, so daß der 
nicht fachmäßig orientierte Leser keine Vor¬ 
stellung davon erhält, in welchem Umfang 
der seelische Substanzbegriff im engeren 


psychologischen Sinne heute anerkannt ist, 
eine Stellungsänderung, an deren Durch¬ 
setzung wohl meine „Phänomenologie des 
Ich“ (1910) wesentlichen Anteil hat. Auch 
Husserl, der 1900 noch das Ich in diesem 
Sinne bestritt, hat in seiner letzten Arbeit 
erklärt, er habe es jetzt sehen gelernt. 

F. Spielmann kommt in seinen Be¬ 
trachtungen über die Relativitätstheorie zu 
dem Ergebnis, daß dieselbe zwar als ein 
wertvolles Hilfsmittel innerhalb der mathe¬ 
matischen Physik anzusehen sei, daß all¬ 
gemeine Erkenntnisse über Raum und Zeit 
aber nur von der philosophischen Forschung 
erreicht werden können, die bei der Physik 
zwar wertvolle Unterstützung finden kann, 
aber ihr gegenüber die eigene Selbständig¬ 
keit wahren muß. In der Tat muß der Laie 
davor gewarnt werden, gewissen allgemei¬ 
nen Schlagworten, die aus der Relativi¬ 
tätstheorie geboren worden sind, blindlings 
zu vertrauen. Mit vollem Recht weist Spiel¬ 
mann darauf hin, daß der Zeitbegriff nicht 
nur innerhalb der Körperwelt eine Rolle 
spielt, sondern auch für das nichträumliche, 
rein psychische Erleben gilt. Es ist das der 
erste Hinweis dieser Art, der mir in der 
Literatur begegnet und den ich bisher noch 
stets darin vermißt habe. 

Erwähnt sei noch, daß der Krieg auch 
in den Kreis der philosophischen Zeit¬ 
schriften Lücken gerissen hat. Die Viertel¬ 
jahrschrift für wissenschaftliche Philosophie 
und Soziologie, die Zeitschrift für Philoso¬ 
phie und philosophische Kritik, sowie die 
ein Jahr vor dem Kriege begründete Zeit¬ 
schrift für positivistische Philosophie haben 
aufgehört zu erscheinen. Es ist mir nicht 
bekannt, ob eine Wiederherausgabe bei 
Eintritt normalerer Verhältnisse beabsich¬ 
tigt wird. 

Um so bemerkenswerter und für den 
Hochstand des philosophischen Interesses 
in Deutschland bezeichnend ist das Erschei¬ 
nen einer neuen Zeitschrift, die nicht heft¬ 
weise, sondern sofort mit dem ersten Bande 
als Ganzes in dem starken Umfange von 
fast 700 Seiten herauskam. Es sind die 
Annalen der Philosophie, herausge¬ 
geben von Hans Vaihinger und Ray- 
mund Schmidt (erscheinend im Verlage 
von Felix Meiner, Leipzig). Angesichts ihres 
Umfanges muß die nähere Würdigung die¬ 
ser Zeitschrift dem nächsten Bericht über¬ 
lassen bleiben. K. Oe. 


Für die Sdiriftleitung verantwortlich: Professor Dr. Max Cornicelius, Berlin W 30, Lultpoldstrate * 

Drude von B. Q. Teubncr ln Leipzig. 


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INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT 

FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK 


14. JAHRGANG _ HEFT 3 _ JANUAR 1920 

Julius Wellhausen. 

(geb. am 17. Mai 1844 in Hameln, gest. am 7. Januar 1918 in Göttingen.) 

Von Otto 


Zu den in der ersten Reihe stehenden 
Gelehrtengestalten des nun dahingesun¬ 
kenen neuen deutschen Kaiserreiches 
gehört Julius Wellhausen. Der Beginn 
seiner wissenschaftlichen Laufbahn und 
sein Tod fallen zusammen mit An¬ 
fang und Ende des Reiches. Am 9. Juli 
1870, unmittelbar vor dem Ausbruch 
des Krieges mit Frankreich, eröffnete 
ihm die Promotion zum Lizentiaten die 
akademische Laufbahn, und zu Be¬ 
ginn des Jahres 1918 hat er die Augen 
geschlossen. Fest mit seinem deutschen 
Vaterland verwachsen und besonders 
innig mit seiner engeren niedersächsi¬ 
schen Heimat verbunden, als deren 
Sohn er sich immer dankbar und stolz 
bekannt hat, ragt er doch seiner Bedeu¬ 
tung und seiner Wirkung nach weit 
über Deutschlands Grenzen hinaus. 
Nicht nur in der Schweiz und in Hol¬ 
land, nicht nur in Dänemark, Schwe¬ 
den und Norwegen, auch in den übri¬ 
gen Ländern christlicher Kultur, in 
England und den Vereinigten Staaten 
von Nordamerika wohl besonders, ist 
sein Name in den hierfür in Betracht 
kommenden Kreisen ebenso bekannt 
wie in Deutschland, und auf den man¬ 
nigfachen Gebieten seines Forschens 
kann fürs erste niemand an ihm vor¬ 
übergehen. 

Auch als Mensch war Wellhausen 
bedeutend. Er hat die Öffentlichkeit 
eher gemieden als gesucht. So ist die 


Eißfeldt. 

Zahl derer, die ihm näher gekommen 
sind, nicht allzu groß, und der gewal¬ 
tigen Wirkung des Forschers gegen¬ 
über ist die Wirkung des Mens>chen 
auf einen verhältnismäßig kleinen 
Kreis beschränkt geblieben. Um so 
mehr ist er mit seiner großen, gütigen 
Persönlichkeit denen gewesen, die zu 
seinen Vertrauten gehört haben. Aus 
Enno Littmanns Worten an Wellhau¬ 
sens Grab 1 ), nicht minder aus Eduard 
Schwartz’ Rede auf Wellhausen in der 
Göttinger Gesellschaft der Wissenschaf¬ 
ten 3 ) spricht tiefer Dank für das. 
was den Rednern der Mensch Wellhau¬ 
sen gewesen ist, und aus Littmanns 
Feder dürfen wir in hoffentlich nicht 
allzu ferner Zeit eine Biographie des 
verehrten Meisters erwarten, die neben 

1) Gedruckt von Ad. Littmann, Olden¬ 
burg i. Gr. 1918. 

2) Berlin 1919, Weidmannsche Buchhand¬ 
lung. — Weiter sei hingewiesen auf C. H. 
Beckers Aufsatz .Julius Wellhausen“ in: 
Der Islam, Bd. IX, 1918, S. 95—99, und auf 
Johannes Meinholds Würdigung der Be¬ 
deutung Wellhausens (Hefte zur „Christ¬ 
lichen Welt“ Nr. 27), Leipzig 1897, J. C. B. 
Mohr, die, weil über zwanzig Jahre zurück¬ 
liegend, nicht erschöpfend sein kann, aber 
doch von Wellhausens alttestamentlichen 
Leistungen ein anschauliches Bild gibt. Ein 
bis 1914 reichendes und darum so gut wie 
vollständiges Verzeichnis der Schriften Julius 
Wellhausens hat Alfred Rahlfs gegeben in: 
„Studien zur semitischen Philologie und 
Religionsgeschichte, Julius Wellhausen zum 
siebzigsten Geburtstag gewidmet.. her¬ 
ausgegeben von Karl Marti. Gießen 1914, 
Töpelmann. 

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Otto Eißfeldt, Julius Wellhausen 


fen. Die Richtigkeit dieser Grundsätze 
erweisen die vielen einleuchtenden 
Emendationen, die ihre Anwendung auf 
die Bücher Samuelis ergibt; ein gro¬ 
ßer Teil dieser Emendationen ist in¬ 
zwischen Gemeingut der alttestament- 
lichen Wissenschaft geworden. 1899 hat 
Wellhausen Bemerkungen wesentlich 
textkritischer Art zu den Psalmen ver¬ 
öffentlicht und ihnen einige allge¬ 
mein gültige Sätze über die Textkritik 
am Alten Testament vorausgeschickt, 
die sehr beachtenswert bleiben.—Auch 
in der Arabistik ist Wellhausen zuerst 
mit einer textkritischen Arbeit hervor¬ 
treten; indem er Väkidis Kitäb al- 
Maghäzi in verkürzter deutscher Wie¬ 
dergabe veröffentlichte; Übersetzung 
und Noten geben viele Proben seines 
textkritischen Urteils. Das gleiche gilt 
von den 1899 erschienenen Noten zum 
Text der Leidener Ausgabe Tabaris. — 
Schließlich beruhen auch seine Arbeiten 
zum Neuen Testament auf selbständi¬ 
ger Durchdringung des textkritischen 
Materials. In dem Sich-Beschränken auf 
die ältesten Handschriften und Über¬ 
setzungen zeigt sich auch hier der Mei¬ 
ster, 'der den Gegenstand in mancher 
Beziehung gefördert hat. 

Wellhausen ist groß als Sprachken¬ 
ner und Textkritiker; er ist auch groß 
als Exeget. Er hat nie einen Kommen¬ 
tar veröffentlicht, wenigstens keinen 
Kommentar der üblichen Art. Er mochte 
nicht, wie das die Herausgabe eines 
Kommentars mit sich bringt, wieder¬ 
holen was andere vor ihm gesagt. So 
hat er, wo er zur Erklärung von Quel¬ 
len beitragen wollte, es immer in der 
Form ganz kurzer, unzusammenhän¬ 
gender Noten getan, die nur solchen 
Stellen beigefügt wurden, zu denen er 
Neues zu sagen hatte. So hat er es 
hei den Liedern der Hudhailiten ge¬ 
macht und bei den Kleinen Propheten, 


bei den Psalmen und bei den Schriften 
des Neuen Testaments. Aber diese 
knappen Noten fördern das Verständ¬ 
nis mehr als mancher dickleibige Kom¬ 
mentar. 

Die beste Erklärung eines Textes ist 
eine gute Übersetzung. Wellhausen hat 
auf das Übersetzen großen Wert ge¬ 
legt. Er hat viel übersetzt und gut 
übersetzt. Seine Übersetzungen, die aus 
dem Arabischen wie Väkidis Kitäb al- 
Maghäzi und die Lieder der Hudhai¬ 
liten, die aus dem Hebräischen wie die 
Kleinen Propheten und die — leider 
nur englisch erschienenen —> Psalmen, 
die aus dem Griechischen wie die drei 
ersten Evangelien sind von vorbild¬ 
licher Schönheit und Kraft. Ohne sich 
sklavisch an das Original zu binden, 
versteht er’s doch, seinen Ton festzu¬ 
halten und der deutschen Wiedergabe 
die gleiche Farbe und die gleiche sinn¬ 
liche Anschaulichkeit zu leihen, die 
das Urbild hat. Hermann Gunkel über¬ 
treibt nicht, wenn er im Vorwort sei¬ 
ner Ausgewählten Psalmen 4 ) sagt: „Ge¬ 
wiß ist es ein undankbares Geschäft, 
nach Luther die Bibel ins Deutsche zu 
übertragen. Kein Moderner — es müßte 
denn Wellhausen sein .. — darf hof¬ 
fen, Kraft und Wärme des Lutherschen 
Ausdrucks zu erreichen.“ 

2 . 

Zu den der historischen Darstellung 
vorangehenden Vorarbeiten gehört wei¬ 
ter die literarkritische Behandlung der 
Quellen; ohne ihre literarkritische Sich¬ 
tung ist historisches Urteil undenkbar. 
Die Literarkritik ist schon eigentlich 
keine Vorarbeit mehr, mit ihr beginnt 
die historische Arbeit selbst. Hier ist 
nun das Feld, auf dem Wellhausen 
noch weit erfolgreicher gearbeitet hat 
als auf den Gebieten, von denen die 

4) 3. Aufl. Göttingen 1911, S. VI. 

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Otto Eißfeldt, Julius Wellhausen 


200 


Rede war. Wellhausen sagt einmal, es 
käme nicht bloß auf die Brille an, son¬ 
dern auch auf die Augen. 6 ) Das ist in 
Wahrheit groß an ihm, seine Augen. 
Andere haben dieselbe Brille getragen 
wie er, d. h. gleich gute sprachliche 
Kenntnisse und gleich gute textkri¬ 
tische und exegetische Fähigkeiten ge¬ 
habt wie er, aber sie haben doch nicht 
gesehen, was er gesehen hat. Einerlei, 
zu welchen Untersuchungen Wellhau¬ 
sens man greift, zu seinen alttesta- 
mentlichen, zu seinen arabistischen 
oder zu seinen neutestamentlichen, im¬ 
mer wieder setzt der Scharfblick in Er¬ 
staunen, mit dem er seine Quellen be¬ 
trachtet. Er sieht Nähte und Risse, die 
man bisher übersehen, deckt Wider¬ 
sprüche auf, über die man bisher hin¬ 
weggelesen, oder die man hinweghar¬ 
monisiert hat, und deutet solche Beob¬ 
achtungen dahin, daß das sich zunächst 
als literarische Einheit darbietende Werk 
in Wahrheit I aus zwei oder mehr Quellen 
zusammengearbeitet sei oder nachträg¬ 
liche Erweiterungen erfahren habe. 
Diese, zur Erklärung formeller Uneben¬ 
heiten aufgestellte, Hypothese, wird dann 
dadurch zur Evidenz erhoben, daß in 
den auf zwei oder mehr Hände aufge¬ 
teilten Stücken durchgehende sprach¬ 
liche und sachliche Verschiedenheiten 
aufgezeigt werden, die eine einheit¬ 
liche Herkunft der Stücke ausschlie¬ 
ßen. Bewundernswert, diese Kunst des 
Sezierens! Aber Wellhausen beruhigt 
sich nicht bei diesen negativen Ergeb¬ 
nissen seiner Kritik. Wenn er den Not¬ 
bau, der aus Trümmern verschiedener 
Bauwerke, eines Tempels etwa und 
eines Palastes und einer Stadtmauer, 
errichtet ist, eingerissen hat, so fügt 
er die zu jedem Bauwerk gehörigen 
Trümmer zum ursprünglichen Bau wie- 

5) Skizzen und Vorarbeiten. VI. 1899, 
S. VIII. 


der zusammen, und wenn die Trüm¬ 
mer zur vollen Wiederherstellung 
nicht reichen, so zeigt er doch seine 
ursprünglichen Maße und Formen. 
Oder aber — wenn es sich nicht um 
ein aus mehreren Quellen komponier¬ 
tes Werk handelt, sondern um eine Ein¬ 
heit, die nur durch wucherungsartige 
Erweiterungen vermehrt ist — er ent¬ 
fernt die Anbauten, die die ursprüng¬ 
liche Anlage verdeckten, und stellt den 
Bau so wieder her, wie ihn sein Mei¬ 
ster geplant hat. Wellhausen ist groß 
im Einreißen, größer im Aufbauen. 

Am bekanntesten sind Wellhausens 
literarkritische Untersuchungen des 
Hexateuchs geworden, die er unter dem 
Titel „Die Composition des Hexa¬ 
teuchs“ zuerst in den Jahrbüchern für 
deutsche Theologie von 1876 und 1877 
veröffentlicht hat. Es sind nicht unbe¬ 
tretene Wege, die Wellhausen hier geht. 
Die Aufteilung des Hexateuchs auf vier 
Quellen — die man heute als den 
Jahvisten (J), den Elohisten (E), das 
Deuteronomium (D) und den Priester¬ 
kodex (P) zu bezeichnen pflegt — war 
schon vor ihm geschehen. Freilich 
war man von einer reinlichen Analyse 
des Stoffes noch weit entfernt, und 
noch ungeklärter war die Vorstellung 
von dem Alter dieser Quellen und 
ihrem gegenseitigen literarischen Ver¬ 
hältnis. Immerhin war schon sehr We¬ 
sentliches geleistet. Dennoch hat Well¬ 
hausen — noch abgesehen von der 
Bestimmung des Alters der Quellen — 
die literarkritische Arbeit am Hexa- 
teuch aufs glücklichste gefördert. An 
vielen Stellen hat er die Tatsache der 
Komposition neu aufgezeigt und mei¬ 
stens die verschiedenen Schichten rich¬ 
tig und reinlich ausgeschieden. Er hat 
weiter das gegenseitige Verhältnis der 
Quellen überzeugend dahin bestimmt 
daß die jeweils jüngere Schicht die 


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Otto Eißfeldt, Julius Wellhausen 


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altere oder die älteren voraussetze 
und von ihnen abhängig sei. Es hängt 
damit zusammen, daß Wellhausen sich 
schon durch diese rein literarkritischen 
Untersuchungen zu einer bestimmten 
Anschauung über die Altersfolge 
der Quellen geführt sieht, eben der, die 
er dann in seinen Prolegomena zur 
Geschichte Israels dargelegt und be¬ 
wiesen hat. Wellhausens Thesen haben 
sich, aufs Ganze gesehen, durchge¬ 
setzt und sind Allgemeingut der alt- 
testamentlichen Wissenschaft gewor¬ 
den. Wo er aber die Arbeit nicht zu 
Ende geführt hat, da haben sich seine 
Aufstellungen als Grundlage für wei¬ 
tere Untersuchungen bewährt. Einen 
solchen neuerdings gemachten Fort¬ 
schritt stellt besonders Rudolf Smends 
Buch dar, „Die Erzählung des Hexa- 
teuch auf ihre Quellen untersucht“ 0 ), 
das nicht einen, sondern zwei Jahvi- 
sten durch den ganzen Hexateuch ver¬ 
folgt (J 1 und J 2 ), auf sie und die an-< 
deren Quellen den gesamten Stoff so 
gut wie restlos aufteilt und so viele Er¬ 
scheinungen erklärt, die Wellhausen 
nicht aufzuhellen vermochte. — 
Anders als beim Alten Testament 
liegen die Dinge in der Arabistik. Beim 
Alten Testament hat. es der Historiker 
mit Quellen zu tun, deren Verfasser, 
Entstehungsort und Zeit unbekannt ist, 
und die zu Kompilationen zusammen¬ 
gestellt sind, deren Herkunft nach Ort 
und Zeit und Autorschaft ebenso dun¬ 
kel ist wie die der Quellen. Hier kann 
nur innere Kritik weiter führen. Dem 
Arabisten hingegen stehen im allgemei¬ 
nen umfangreiche Geschichtswerke be¬ 
kannter Autoren zur Verfügung, die — 
wenigstens gilt das von den älteren und 
wichtigeren — die von ihnen benutzten 
ursprünglichen Berichterstatter aus¬ 


6) Berlin 1912, Reimer. 


drücklich nennen und deutlich vonein¬ 
ander unterscheiden. Hier hat der Ara¬ 
bist weit leichtere Arbeit als der Er¬ 
forscher des Alten Testaments. Aber 
der Arabist ist dodh nicht überall in 
dieser glücklichen Lage. Auch ihm le¬ 
gen sich viele Hemmnisse in den Weg, 
die nur mittels innerer Kritik zu besei¬ 
tigen sind. Da bewährt sich denn auch 
hier Wellhausens literarkritischer 
Scharfblick. Der Leser seiner Hudhai- 
liten-Lieder sieht mit Staunen, mit wel¬ 
cher Sicherheit er auch in diesen schwer 
verständlichen poetischen Erzeugnissen, 
in denen — wie in aller Poesie und 
besonders der arabischen — ein stren¬ 
ger Gedankengang nicht festzustellen 
ist und daher Wucherungen kaum vom 
Stamm zu unterscheiden sind, ausschei¬ 
det, was nicht in den Zusammenhang 
paßt und es seinem richtigen Zusam¬ 
menhang zuweist. — Die in Jakuts 
geographischem Lexikon gegebenen 
ausführlichen Mitteilungen über arabi¬ 
sche Gottheiten und Kultstätten vermag 
er zu sichten und das darin zu bestim¬ 
men, was auf Ibn al-Kalbis Götzen¬ 
buch zurückgeht; auch dessen Anord¬ 
nung glaubt er in den Grundzügen er¬ 
kennen zu können. — In den aus der 
Sira des Ibn Sa‘d mitgeteilten beiden 
Kapiteln über die Schreiben Muhammeds 
und über die Besuche der Araber, die 
er empfing, werden seine drei Haupt¬ 
gewährsmänner Väkidi, Ibn al-Kalbi 
und Madäini mittels innerer Kritik aus¬ 
geschieden und mit ein paar Stri¬ 
chen treffend charakterisiert. Überall 
die gleiche Schärfe des Blicks, überall 
die gleiche Fähigkeit, Nichtzusammen- 
gehörendes zu trennen, Auseinander¬ 
gesprengtes wieder zu vereinen. 

Auch auf dem Felde, dem Wellhau¬ 
sen sich zuletzt zugewandt hat, hat 
sein literarkritischer Blick viel Neues 
gesehen. Das gilt von seinen Arbeiten 



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Otto Eißfeldt, Julius Wellhausen 


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zur Apostelgeschichte und zur Apo¬ 
kalypse, vor allem aber von seinen 
Untersuchungen über die Evangelien. 
Hier ist es noch weniger, als es bei 
der Hexateuchkritik der Fall war, Neu¬ 
land, das er pflügt. Seine Lösung des 
synoptischen Problems: Markus der äl¬ 
teste Evangelist, überwiegend Erzäh¬ 
lungsstoff bietend; nach ihm und von 
ihm abhängig die wesentlich Redestoff 
enthaltende Quelle Q; dann Matthäus 
und Lukas, beide eine Komposition aus 
Markus und Q, und beide durch Son¬ 
dergut vermehrt, das als jüngste lite¬ 
rarische Schicht in Anspruch zu neh¬ 
men ist — weicht von der seiner Vor¬ 
gänger nur in wenigen — freilich be¬ 
deutsamen — Punkten ab. Aber auch 
hier ist ihm manch neue Beobachtung 
zu verdanken, und alles weiß er in 
neue Beleuchtung zu rücken. Wie klar 
werden die Dinge, wenn zu der Ein¬ 
schaltung der Redestücke in den Er¬ 
zählungsfaden des Markus bei Mat¬ 
thäus und Lukas bemerkt wird: „Man 
kann die Einschaltung des gesetzlichen 
Stoffs in den geschichtlichen Zusam¬ 
menhang des Pentateuchs verglei¬ 
chen.“ 7 ) 

Bewußt hat Wellhausen die nahelie¬ 
gende Gefahr gemieden, zu früh, vor 
Erledigung der literarkritischen Arbeit, 
in die Stoffkritik einzutreten. „Wilke 
und Weiße fanden zunächst keinen Bei¬ 
fall, sie wurden von Baur und seinen 
Schülern in den Schatten gestellt, die 
den zweiten Schritt vor dem ersten 
tun und das literarische Problem von 
der Geschichte der kirchlichen Ideen 
und namentlich der Parteitendenzen 
aus lösen wollten“, so bemerkt er in 
einem Überblick über die Geschichte 
der synoptischen Forschung 8 ) und 
spricht sich darin zugleich über die 

7) Einleitung in die drei ersten Evangelien. 
2. Ausg. 1911. S. 49. 8) Ebenda S. 37. 


Grundsätze seiner Arbeit aus. Nicht 
alle seine literarkritischen Ergebnisse 
haben sich Anerkennung zu verschaffen 
vermocht. Namentlich sind seine neu- 
testamentlichen Aufstellungen teilweise 
stark angefochten. Ihn selbst hat das 
nicht irregemacht. Jülicher gegenüber, 
der seinen Beweis dafür, daß Q auf 
Markus folge, nicht überzeugend fin¬ 
det und darauf hinweist, daß etwa die 
Gründe für die Posteriorität des Prie¬ 
sterkodex viel durchschlagender seien, 
sagt er: „Mit besserem Recht läßt sich 
aus der Pentateuchkritik eine andere 
Nutzanwendung ziehen. Dieselbe ist 
von de Wette begründet und von Vatke 
durchgeführt. Es dauerte aber ein hal¬ 
bes Jahrhundert, bis sie zur offiziellen 
Anerkennung gelangte, ohne daß eigent¬ 
lich neue Gründe hinzutraten. Das be¬ 
rechtigt zu der Erwartung, daß auch 
die Kritik von Q durchdringen werde, 
wenn sie nur erst lange genug von den 
berufenen Fachmännern widerlegt 
ist.“») Diese Zuversicht mag nicht in 
jeder Beziehung berechtigt sein. Manche 
Fragen, wie das Verständnis des Mar¬ 
kus-Fadens und die Erklärung der Art 
des Johannes-Evangeliums, lassen eine 
andere Beantwortung zu, als er sie vor¬ 
getragen. Aber auch da, wo sich seine 
Lösungen der Probleme als irrig erwei¬ 
sen sollten, hat er doch die Schwierig¬ 
keiten, um die es sich handelt, gesehen, 
oft gar als erster erkannt, und zu ihrer 
endgültigen Lösung beigetragen. 

3. 

Wellhausens literarkritische Leistun¬ 
gen sind gewaltig. Sie allein schon 
würden ihm einen Ehrenplatz in der 
Geschichte der Wissenschaft sichern. 
Aber sie sind noch nicht das Größte 
in seinem Lebenswerk. Da erst zeigt 
sich die ganze Kraft seines Geistes, wo 

9) Einleitung S. 167 f. 


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Otto Eißfeldt, Julius Wellhausen 


es sich darum handelt, die Quellen 
in historischer Kritik zu ordnen und sie 
für den Aufriß eines Geschichtsbildes 
nutzbar zu machen. In gründlichster 
exegetischer Untersuchung der Quellen 
Herr geworden, hat er nicht nur ihre 
einzelnen Angaben jederzeit gegenwär¬ 
tig, sondern auch als Ganzes stehen 
sie ihm lebendig vor Augen. Jede 
Quelle ist eine Einheit, denn sie ist 
Äußerung einer bestimmten Gesinnung, 
steht im Dienst einer bestimmten Wil¬ 
lensrichtung. Überall sieht er in den 
Quellen Willenskräfte am Werk, sie 
sind ihm nicht etwa naiv zusammen¬ 
gestellte Sagensammlungen oder in ob¬ 
jektiver Unbefangenheit geordnete An¬ 
einanderreihungen von Tatsachen. Jede 
Quelle verfolgt ihm eine Tendenz. Und 
er vermag es, die Triebkräfte, die sich 
in den Quellen Ausdruck verschafft 
haben, zu entdecken, sie zu den Schick¬ 
salen des jeweiligen Volkes, der jewei¬ 
ligen Bewegung in Beziehung zu setzen 
und so in fruchtbarstem gegenseitigen 
Austausch eins aus dem andern zu 
erklären. Ist die in einer geschicht¬ 
lichen Darstellung zutage tretende Wil¬ 
lensrichtung erst in einer späten 
Periode des in Betracht kommenden 
Geschichtsverlaufes denkbar oder aus¬ 
drücklich bezeugt, so wird der Histo¬ 
riker diese Darstellung, soweit sie die 
Vergangenheit im Licht ihrer Gegen¬ 
wart betrachtet, als unglaubwürdig bei¬ 
seite lassen müssen, wobei Einzelhei¬ 
ten dennoch als zuverlässig verwertet 
werden können. Und wertlos ist sie 
auch als Ganzes nicht. Sie ist dem Hi¬ 
storiker Quelle für ihre Gegenwart, in¬ 
sofern die Tendenzen, die sie in der 
Vergangenheit am Werk sein läßt, in 
Wahrheit ihre Gegenwart bewegen. So 
verläuft sich die — vor allem auf ara- 
bistischem Gebiet '— unübersehbare 
Flut der Nachrichten und wird zu 


einem in scharf eingegrabenem Bette 
dahinziehenden Strom, dessen Ur¬ 
sprung, Mittellauf und Mündung klar 
erkennbar ist. Man braucht nur diesem 
Strom zu folgen, so drängen sich die 
wechselnden Bilder des Geschichtsver¬ 
laufs mit Macht dem Auge auf: ra¬ 
gende Berge und rauschende Wälder, 
fruchtbare Felder und belebte Städte, 
ödes Heideland und sumpfige Niederung. 

Wellhausens erste geschichtliche Dar¬ 
stellung, „Die Pharisäer und die Sad¬ 
duzäer" vom Jahre 1874 zeigt seine 
Anlage zu historischer Kritik und hi¬ 
storischer Intuition schon in voller 
Entfaltung. Mit herzerfreuender Frische 
und in einer Sprache, die erwärmt ist 
von der verhaltenen Glut eines edlen 
Pathos, zerreißt er, auf Josephus und 
das Neue Testament gestützt, die Ne¬ 
belschleier, in die eine auf dem Tal¬ 
mud beruhende Geschichtschreibung 
die jüdische Geschichte der beiden 
letzten vorchristlichen Jahrhunderte und 
des ersten nachchristlichen gehüllt 
hatte. Die hierher gehörigen Nachrich¬ 
ten des Talmuds gestalten bewußt oder 
unbewußt die ganze Geschichte der 
Vergangenheit nach dem, was ihrer Zeit 
als Ideal galt. „So wie die Zustände 
damals waren, so sollten sie sein und 
und so waren sie von Rechts wegen 
immer gewesen. Seit Mose hat Israel 
weiter nichts zu tun gehabt, als den 
Talmud zu lernen.“ 10 ) Ganz anders das 
Bild, das sich aus Josephus und dem 
Neuen Testament ergibt. Hier „ist an 
keinen Ausgleich zu denken. Liegt aber 
die Notwendigkeit eines Entweder-Oder 
vor, so ist kein Zweifel, daß die Ent¬ 
scheidung zugunsten des Josephus und 
des Neuen Testaments ausfallen 
muß“. 11 ) Eine große Leistung, die zur 
Hoffnung auf Größeres berechtigte. 

Das Größere blieb nicht aus. Die 

10) S. 40. 


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Max J. Wolff, Karl Voßlers „Dante“ 


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mehr oder weniger willkürliches Zei¬ 
chen, sie beruht also auf einem subjek¬ 
tiven oder objektiven Unvermögen und 
ist mit den Anfängen der Poesie im¬ 
mer und überall verbunden. Auch in 
reiferen Zeiten greift der Dichter zur 
Allegorie, wenn er Vorgänge, für die 
ihm die Darstellungsmöglichkeit fehlt 
oder noch fehlt, darzustellen versucht. 
Statt der Sache gibt er ein Bild. So ver¬ 
fährt Goethe in „Faust II“ und in der 
„Pandora“. Die Entwicklung des Men¬ 
schen oder der Menschheit, also ein 
rein innerlicher Vorgang, wird durch 
äußere Zeichen vermittelt. Diese Zei¬ 
chen können und müssen wir uns ver¬ 
standesmäßig erklären, erst durch den 
Verstand erhalten sie einen Sinn und 
gewinnen die vom Dichter g.ewollten 
Beziehungen zur Sache selber. Aber 
die verstandesmäßige Operation hebt 
die Empfindung auf und unterbricht 
den Strom der Poesie. Bei der „Divina 
Commedia“ sind wir dauernd gezwun¬ 
gen, die Lektüre abzubrechen, um in 
den Kommentaren Aufschluß über die 
von dem Dichter gewählten willkür¬ 
lichen und an sich sinnlosen Zeichen 
zu suchen. Die wilden Tiere des 
ersten Gesanges bleiben ohne die Be¬ 
lehrung der Anmerkung eine unver¬ 
ständliche Menagerie, und je nachdem 
man im Sinne des Verfassers in dem 
einsamen Wanderer einen Einzelmen¬ 
schen, die Menschheit selbst oder die 
politische Menschheit um 1300 erblickt, 
wechseln sie ihre Bedeutung. Die Viel¬ 
deutigkeit der Danteschen Allegorien 
vermehrt die Schwierigkeit des Ver¬ 
ständnisses. Auf einer großen Allegorie 
beruht aber das ganze Gedicht. Es ge¬ 
nügt nicht, das sinnlich Dargestellte zu 
erfassen, sondern wir müssen den ver¬ 
borgenen Sinn dazu enträtseln. Auch 
Michelangelo hat in sein .Jüngstes 
Gericht' alle möglichen theologischen 


Ideen und Spielereien hineingehehn- 
nist, aber sie sind belanglos. Wir brau¬ 
chen uns um diese „tieferen“ Beziehun¬ 
gen nicht zu kümmern und können 
uns ausschließlich an die sinnliche An¬ 
schauung halten. Anders bei Dante. 
Allegorie und Poesie fallen für ihn und 
seine Zeitgenossen zusammen; sie wa¬ 
ren gewohnt, das ganze Leben sub 
specie aeterni zu betrachten. Poesie ist 
Sinnlichkeit, aber die Sinnlichkeit des 
Mittelalters geht in der Todessehnsucht 
auf. Wie der mittelalterliche Mensch 
bei seinem Tun und Lassen beständig 
nach dem Jenseits blickt, so drängt es 
den mittelalterlichen Dichter in Be¬ 
reiche, die nur durch die Allegorie dar¬ 
gestellt werden können. Er und sein 
Publikum vermochten aber im Gegen¬ 
satz zu dem modernen Menschen, der 
in Allegorien nur denken kann, in Alle¬ 
gorien zu empfinden. Diesen Seelenzu¬ 
stand, diese Voraussetzung für das 
poetische Erfassen der Dichtung, kann 
uns kein Kommentar wiedergeben, er 
kann die toten Allegorien wohl erklä¬ 
ren, aber ihnen nicht das Leben ein¬ 
hauchen, das sie vor 600 Jahren be¬ 
saßen. 

Ähnlich verhält es sich mit Dantes 
Liebestheorie. Wenn wir am Schluß 
der Dichtung von der Liebe lesen, die 
Sonne und Gestirne bewegt, so spüren 
wir den ahnungsvollen Schauer eines 
amor mysticus, der das ganze ^Veltall 
erfüllt und zusammenhält, aber der 
heilige Schauer zerreißt, und bei nähe¬ 
rem Zusehen finden wir einen dogma¬ 
tischen Begriff, der in einen amor pu- 
rus und mixtus, einen amor naturalis, 
sensualis und rationalis zerklittert. In 
diesen Spitzfindigkeiten verbarg sich 
die unterdrückte Sinnengier des Mittel¬ 
alters. Die Glut ist längst erloschen 
und heute sind nur tote Schlacken ge¬ 
blieben. Gewiß kann der Literarhisto- 


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Max J. Wolff, Karl Voßlers „Dante“ 


riker das Wesen dieser Liebe erklären; 
aber wie mit diesen scheinbar blutlee¬ 
ren Begriffen tief und echt geliebt wer¬ 
den konnte, wird aus der vollkommen¬ 
sten wissenschaftlichen Darstellung 
schwerlich hervorgehen. Die Schwierig¬ 
keit der Dante-Erklärung liegt darin, 
daß es beinahe unmöglich erscheint, 
den gefühlsmäßigen Kontakt zwischen 
der modernen und der damaligen Welt¬ 
anschauung herzustellen. Eine Dichtung 
will aber nicht verstanden, sondern in 
erster Linie empfunden und erlebt sein. 
Nur durch das Gefühl läßt sich die 
ideelle Einheit zwischen Verfasser und 
Leser, auf die es allein ankommt, her¬ 
beiführen. Ist das bei Dante überhaupt 
möglich? Vermag eine Erläuterung den 
Laien so weit zu fördern, daß er völlig 
in der Dichtung aufgeht? Ich will die 
Frage nicht verneinen, aber ich selbst 
habe einen derartigen Versuch, Dante 
nicht historisch, sondern aus seiner 
Persönlichkeit heraus zu erfassen, als 
unausführbar aufgeben müssen, und 
selbst die besten wie der treffliche De 
Sanctis haben die Hindernisse nicht 
überwunden. 

2 . 

Neuerdings hat Karl Voßler 1 ) den Ver¬ 
such gemacht, „einem weiteren Kreis 
gebildeter Laien das Verständnis der 
Göttlichen Komödie zu erschließen“. Es 
ist anzuerkennen, daß er sich durch 
die Fehlschläge oder halben Erfolge 
seiner Vorgänger nicht hat abschrecken 
lassen, und wenn überhaupt einer von 
den Lebenden sich an diese ungeheure 
Aufgabe heranwagen durfte, so ist es 
Voßler. Er ist Philologe im Geist, nicht 

1) Die göttliche Komödie. Entwicklungs¬ 
geschichte und Erklärung. Heidelberg 1807 
bis 1910. Ich zitiere nach der durchgehen¬ 
den Seitenzählung der zwei Bände, bzw. 
vier Teile. 


214 

im Wort, er ist nicht nur heimisch in 
der Literatur und Kulturgeschichte,son¬ 
dern auch in seltener Weise vertraut 
mit der Philosophie und der Religions¬ 
kunde. Er besitzt eine besondere Nei¬ 
gung und Fähigkeit, schwierige speku¬ 
lative Systeme zu entwirren und ihre 
oft diskrepanten Erscheinungen auf 
einen geistigen Hauptnenner zurückzu¬ 
führen. Es lockt ihn, die gewonnenen Er¬ 
gebnisse, wenn möglich in einen knap¬ 
pen, antithetisch zugespitzten Satz zu¬ 
sammenzufassen. Wenn er dabei ge¬ 
legentlich das Opfer dieser Vorliebe für 
die Antithese wird, so erklärt sich das 
aus den Grundzügen seiner Veran¬ 
lagung. Sie ist intuitiv. Das Beste an 
seinem Werke ist nicht mühsam erar¬ 
beitet, sondern wie überhaupt das Beste 
unseres Wissens und unserer Erkennt¬ 
nis geschaut. Die Kleinarbeit liegt Vo߬ 
ler nicht, er bewegt sich gern in großen 
Zügen und Gedankengängen, und wenn 
gerade das vorliegende Werk in einer 
für meinen Geschmack störenden Weise 
in Abteilungen und Unterabteilungen 
zerteilt ist, so liegt das vor allem im 
eigenen Interesse des Verfassers, der 
offenbar fühlt, daß er mit solchen 
künstlichen Hindernissen seinen Geist 
zügeln und bei den Einzelheiten 
festhalten muß. Aber abgesehen von 
diesen Äußerlichkeiten schreibt Voßler 
immer interessant, zumeist fesselnd, stel¬ 
lenweise sogar hinreißend, vorausge¬ 
setzt, daß der Leser in der Lage ist, sei¬ 
nen Ausführungen mühelos zu folgen. 
Denn die klare Schreibweise kann nicht 
darüber täuschen, daß der Verfasser recht 
hohe Ansprüche sowohl an die Vorkennt¬ 
nisse wie die Auffassungsfähigkeit sei¬ 
ner Leser stellt. Erschwert wird das 
Verständnis durch Verwendung einer 
philosophischen Terminologie, die der 
im Deutschen geläufigen widerspricht 
und von Benedetto Croce stammen 



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Max J. Wolff, Karl Voßlers „Dante“ 


216 


mag, soweit sie nicht eigene Schöpfung 
des Verfassers ist. Voßler unterschätzt 
sein eigenes Werk oder er überschätzt 
das deutsche Publikum, wenn er glaubt, 
daß der berühmte „gebildete Laie“ sei¬ 
nen Anforderungen entspricht. Was uns 
hier geboten wird, ist ein wissenschaft¬ 
liches Werk ersten Ranges, das nur von 
dem Fachmann gewürdigt werden kann. 
Wenn der Verfasser als Maßstab des 
Erfolges die Verbreitung seiner Arbeit 
unter der Laienwelt betrachtet, so 
fürchte ich, hat er mit einem Mißerfolg 
zu rechnen. Man mag das bedauern, auf 
der andern Seite wird man sich dar¬ 
über freuen, denn wenn Voßler wirklich 
den Versuch gemacht hätte, den Bedürf¬ 
nissen weiterer Kreise entgegenzukom¬ 
men, so wäre es zum Schaden seines 
eigenen Werkes geschehen und er hätte 
uns niemals diese glänzende, in vieler 
Beziehung unübertreffliche Leistung bie¬ 
ten können. Sie enthält viel mehr, als 
der Titel verspricht, eine Einführung 
nicht nur in die „Göttliche Komödie“, 
sondern in die gesamten Schriften Dan¬ 
tes. Für den Forscher bilden diese ja 
auch eine unzertrennliche Einheit, wäh¬ 
rend es für den Laien gerade darauf an¬ 
kommt, die schon schwierige Komödie 
möglichst von den noch schwierigeren 
philosophischen Schriften freizuhalten. 
Aber auch damit ist der Inhalt des Voß- 
lerschen Buches noch nicht erschöpft, es 
bietet eine Geistesgeschichte des Mittel¬ 
alters bis zu Dante. 

Es ist bedauerlich, daß der Verfasser 
sich nicht mit klarer Überlegung auf 
diesen Standpunkt gestellt und zu die¬ 
sem Ziele bekannt hat. Ähnlich wie in 
der „Komödie“ selber der Dichter ge¬ 
legentlich in störender Weise durch 
den Theologen unterbrochen wird, so 
muß in der vorliegenden Einführung 
der Forscher häufig das Wort an den 
Popularisator abgeben. Dadurch be¬ 


kommt das Werk etwas Zwiespältiges. 
Bald wird zu viel, bald zu wenig gebo¬ 
ten, je nachdem sich der Verfasser von 
seiner wissenschaftlichen Neigung lei¬ 
ten läßt oder daran denkt, daß er ja 
dem gebildeten Laien die „Komödie“ 
erklären will. Mit einem hörbaren 
Ruck bricht er dann ab. Er sieht zu 
seinem Entsetzen, daß der Eifer ihn 
weit über seine angebliche Absicht hin¬ 
ausgetragen hat und unvermittelt 
schließt er die Ausführungen mit der 
Bemerkung ab, daß sie direkt keine, 
indirekt nur eine recht geringe Be¬ 
ziehung zu Dante haben. Das ist rich¬ 
tig, wenn es sich um Dante, den Dich¬ 
ter, den Verfasser der „Göttlichen Ko¬ 
mödie" handelt, falsch dagegen, wenn 
wir Dante als Ausdruck und Vollen¬ 
dung des Mittelalters ins Auge fassen. 
Voßler erweist sich als guter Kenner 
und temperamentvoller Kritiker der 
Philosophie und der Religionssysteme 
der verschiedenen Völker und Zeiten, 
aber wenn er seine Ausführungen oft 
auf einige spärliche Seiten zusammen¬ 
drängt, so hat man den Eindruck, daß 
er in usum delphini, will sagen des 
gebildeten Laien, schreibt, und daß er 
uns das Beste, was er sagen könnte, 
vorenthält, weil es über den Horizont 
dieses nie und nirgends existierenden 
Unglückswesens hinausgeht. In dem 
literarhistorischen Teil macht sich das 
am wenigsten bemerkbar. Einesteils 
kommt er ja dem allgemeinen Ver¬ 
ständnis mehr entgegen, andererseits 
hat sich der Verfasser hier nicht so 
starke räumliche Beschränkungen auf¬ 
erlegt wie bei den philosophischen und 
religionsgeschichtlichen Auseinander¬ 
setzungen. Die Kunst Guido Guinizel- 
lis läßt sich auf fünf Seiten darlegen, 
für den Jenseitsglauben der Babylonier 
oder Phönizier sind, wenn er über¬ 
haupt erwähnt werden mußte, ein 


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Max J. Wolff, Karl Voßlers „Dante“ 


218 


Dutzend Zeilen von konversationslexi¬ 
konmäßiger Dürftigkeit. 

Auf vier Straßen führt uns Voßler 
zu Dante, auf der religiösen, der philo¬ 
sophischen, der ethischen und litera¬ 
rischen. In diese vier großen Gruppen 
teilt er die Entwicklungsgeschichte des 
heiligen Gedichtes ein; eine besondere 
politische Abteilung lehnt er (S. 22) 
ab mit der Begründung, daß die Po¬ 
litik damals noch mit der Ethik in un¬ 
lösbarem Zusammenhang stand. Auch 
nach De Sanctis war sie noch keine 
selbständige Wissenschaft, sondern nur 
ein Anhang der Ethik und Rhetorik. 
Das ist gewiß richtig, aber es gab doch 
schon Gebiete, auf denen sich der Staat 
im 13. Jahrhundert mit Erfolg von der 
Bevormundung der Kirche freizuma¬ 
chen suchte, besonders in der Jurispru¬ 
denz. Die Bedeutung des römischen 
Rechtes für die Entwicklung des Mit¬ 
telalters wird von Voßler nicht gebüh¬ 
rend gewürdigt. Das gemeinsame Pri¬ 
vatrecht war das letzte Band, das das 
Völkerchaos der untergehenden antiken 
Welt zusammenhielt. Das „civis Roma¬ 
nus sum“ — und römischer Bürger war 
nicht nur der Italiker, sondern auch der 
Syrer, der Afrikaner und Iberer — ging 
in der Rechtsgemeinschaft auf. Das 
einheitliche Recht, untrennbar verbun¬ 
den mit der Idee der Weltmonarchie 
und des universalen Kaisertums, bil¬ 
dete die Sehnsucht des gesamten Mit¬ 
telalters, und wie Thomas von Aquino 
die Katholizität der Philosophie, so 
stellten um dieselbe Zeit die Glossa- 
toren die Katholizität des römischen 
Rechtes her. In der Jurisprudenz liegt 
auch eine der stärksten Wurzeln des 
Humanismus. Voßler sucht dessen Ur¬ 
sprung in der Mystik (789 f.); ich kann 
mich dieser Ansicht nur bedingt an¬ 
schließen, aber mag auch die Bewun¬ 
derung des Mystikers zum Teil den 


Weg zur Antike erschlossen haben, so 
sollte nicht übersehen werden, daß der 
Jurist, der sich mit den Quellenschrif¬ 
ten vertraut machte, ganz von selber 
zum Humanisten wurde. Zu Dantes 
Zeit galt freilich noch der Grundsatz: 
„Graeca non leguntur", aber er fiel, so¬ 
bald man die Fähigkeit besaß, das Grie¬ 
chische zu lesen. Die Bologneser Rechts¬ 
schule war unserem Dichter sicher nicht 
fremd, und wenn er keinen ihrer gro¬ 
ßen Meister nennt, so dürfen wir dar¬ 
aus schließen, daß er ihre Bedeutung 
nicht erkannte, vielleicht weil dieGlossa 
schon über seine theokratische Rechts¬ 
auffassung hinauszuwachsen begann. 
Wir müssen uns schon mit dem Ge¬ 
danken vertraut machen, daß Dante 
nicht überall auf der Höhe des Wis¬ 
sens seiner Zeit steht. Auch der größte 
Gelehrte des 13. Jahrhunderts, der Doc- 
tor mirabilis Roger Bacon, ist ihm un¬ 
bekannt, oder soll man annehmen, daß 
er ihn totschweigt, weil er fühlt, daß 
von dessen Lehre seiner scholastischen 
Grundauffassung der Untergang droht? 
Wie dem auch sei, von der Idee des 
römischen Rechtes ist der Dichter 
durchdrungen, und wenn er gerade Ju- 
stinian im Paradies einen Vortrag über 
römische Geschichte halten läßt, so be¬ 
weist das, daß er in dem gemeinsa¬ 
men Recht das wichtigste Erzeugnis 
der Weltmonarchie erblickte. Man kann 
von einem Literarhistoriker nicht ver¬ 
langen, daß er Jurist ist, aber es dürfte 
doch nicht Vorkommen, daß dolus mit 
Verbrechen, culpa mit Vergehen gleich¬ 
gesetzt werden, wie es S. 295 geschieht. 
Dolus und culpa sind subjektive 
Schuldmomente; die aus dem Code 
pönal stammende Einteilung in Ver¬ 
brechen, Vergehen und Übertretungen 
gründet sich auf die Schwere und Art 
der Bestrafung und ist objektiv. Wer 
doloserweise links fährt, begeht darum 


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Max J. Wolff, Karl Voßlers „Dante“ 


220 


noch lange kein Verbrechen, auch kein 
Vergehen, wenn es in Fahrlässigkeit 
geschieht. Auch was S. 312 über das 
jus naturale gesagt wird, läßt sich 
nicht halten. Ein Naturrecht, quod na¬ 
tura omnia animalia docuit (1. 1 § D. 
1. 3), kennen erst die spätrömischen 
Juristen; in älterer Zeit ist jus naturale 
gleichbedeutend mit jus gentium, ein 
geschriebenes Recht, das nach Gajus 
die naturalis ratio inter omnes homines 
constituit. Diese Natura ist aber die 
Natur des Rechtes oder sogar die des 
einzelnen Rechtsgeschäftes, nicht im 
Sinne der späteren Rechtsphilosophie 
die Vernunft. 

3. 

An die Spitze seines Werkes stellt 
Voßler einen Vergleich zwischen Dante 
und Faust. Die Zusammenstellung ist 
ja keineswegs neu, sie findet sich, so¬ 
weit ich sehe, zum ersten Male bei Schel- 
ling. De Sanctis hat sie dann benutzt, 
um das veränderte Verhältnis des Men¬ 
schen im 13. oder 18. Jahrhundert zum 
Wissen darzulegen. Der eine vertraut 
ihm mit der Hoffnungsfreudigkeit eines 
erwachenden Kindes, der andere stößt 
es angeekelt als zwecklosen Ballast von 
sich. Faust erkennt, daß wir nichts wis¬ 
sen können, Dante dagegen erwartet 
und findet in tiefster Seelennot Trost 
bei der Wissenschaft (Philosophie) und 
lebt des sicheren Glaubens, daß ihn 
die Erkenntnis durch die Gnade zum 
Heil führen werde. Aber De Sanc¬ 
tis steht in keinem sehr innigen Ver¬ 
hältnis zur Dichtung Goethes, er gibt 
selbst zu, daß ihm Mephisto inter¬ 
essanter als Faust ist, während sich der 
Deutsche zunächst in diesem wieder¬ 
findet. So kann Voßler wesentlich mehr 
aus der Parallele Dante-Faust heraus¬ 
holen. Er zeigt uns bei Gleichheit des 
Problems die Verschiedenheit des Zie¬ 


les und der Behandlung und entwickelt 
die Unterschiede zwischen Vision und 
Drama, zwischen Handeln und Schauen, 
zwischen der vita contemplativa und 
activa. Aber über den Ähnlichkeiten 
darf man die fundamentalen Gegensätze 
nicht vergessen. Nach Dantes Auffas¬ 
sung ist die menschliche Natur schlecht, 
nach der Goethes im „Faust“ gut. 
Das ist von Bedeutung sowohl für ihre 
Helden als deren Begleiter. An Faust 
heftet sich der Versucher, denn ohne die¬ 
sen würde er nicht vom „rechten Wege“ 
abirren, der Wanderer der „Komödie“ 
dagegen würde sich in derri dunkeln 
Walde der Leidenschaften und in der 
Hölle rettungslos verlieren, wenn ihm 
sein Lehrer Virgil nicht beständig zur 
Seite bliebe. Dantes Pessimismus ist 
der seiner Zeit, der Fausts dagegen in¬ 
dividualistisch. Der eine ist zum Schluß 
trotz aller Empörung einig mit seinem 
Jahrhundert, der andere fühlt sich von 
der Mitwelt durch die ganze Kluft der 
Idee getrennt. Daraus erklärt sich das 
Verhältnis beider zum Staat. Kaisertum 
und Papsttum sind, wie Voßler treffend 
bemerkt, nur Lumpereien im Vergleich 
zu dem ewigen Problem einer Men- 
schenseele, aber der Staat als solcher 
bildet auch ein ewiges Problem, für das 
nur der staatenlose Deutsche, der Schü¬ 
ler Rousseaus, kein Verständnis hat. Aber 
auch er muß einsehen, daß es für den 
Menschen ein Heil nur mit dem Menschen, 
nur innerhalb der menschlichen Gemein¬ 
schaft gibt, eine Erkenntnis, die der ita¬ 
lienische Faust von Anfang an besitzt, 
mag er auch das Ideal dieser Gemein¬ 
schaft wie alle seine Ideale in das Jen¬ 
seits verlegen. Die Staatsidee ist mäch¬ 
tig in Dante und schafft praktisch in 
seiner Dichtung; selbst in seinen außer¬ 
irdischen Reichen herrschen die strengste 
Gesetzlichkeit und Ordnung, in dem irdi¬ 
schen Staatsgebilde dagegen, das sich 


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Max J. Wolff, Karl Voßlers „Dante“ 


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Faust zum Schluß aufbaut, walten 
Laune und gesetzlose Unbestimmtheit. 

Das gleiche Thema der Goetheschen 
und Danteschen Dichtung bezeichnet 
Voßler mit den Worten Kuno Fischers 
als „Fall und Läuterung des Men¬ 
schen“. Diese Formel des ehemaligen 
Heidelberger Philosophen erscheint we¬ 
nig glücklich. Fall und Läuterung sind 
theologische Begriffe, über die Faust 
längst hinausgewachsen ist, und auch 
für die „Komödie“ passen sie nur be¬ 
dingungsweise und decken sie inhalt¬ 
lich nicht völlig. Die Läuterung Dantes 
ist am Schluß des Purgatoriums voll¬ 
bracht, das Paradies würde danach zu 
einer effektvollen Apotheose herabsin¬ 
ken, es wäre ein accidens, kein essentiale 
der Dichtung. An anderer Stelle spricht 
Voßler von der Vereinigung des Men¬ 
schen mit Gott. Das bringt den Gehalt 
der Wanderung durch die drei Reiche 
gut zum Ausdruck. Aber war es von 
Anfang an der Plan Dantes? Ich 
glaube, man darf an den spärlichen 
Angaben Boccaccios über Beginn, Un¬ 
terbrechung und Wiederaufnahme der 
Dichtung nicht achtlos vorübergehen, 
und aus der „Vita nuova“ geht zwei¬ 
fellos hervor, daß unser Dichter schon 
damals, etwa 1295, an eine Verherr¬ 
lichung der toten Geliebten dachte. Von 
diesem Jugendentwurf läßt sich so viel 
mit Bestimmtheit sagen, daß er un¬ 
möglich den Plan des weltumspannen¬ 
den Lehrgedichtes enthielt, sicherlich 
zielte er nur auf die Vereinigung der 
beiden Liebenden ab. Der irdische, in 
Sünden verstrickte Liebhaber wurde zu 
der verklärten Königin seines Herzens 
emporgehoben. Abgesehen von anderen 
Gründen, die sich im Rahmen einer 
Besprechung nicht ausführen las'sen. 
drängt die verschiedene Stellung, die 
Beatrice in der „Vita nuova" und in der 
..Komödie“ einnimmt, auf ein derartiges 


Zwischenglied und setzt eine Entwick¬ 
lung voraus. Gewiß ist auch die Wahl 
Virgils zum Führer durch Hölle und 
Fegefeuer eine eigenmächtige künstle¬ 
rische Tat Dantes, aber dabei konnte er 
sich auf eine mehrhundertjährige Tra¬ 
dition stützen. Man sah in dem Römer 
den Vollender des Altertums, der das 
Maß von Wissen besaß, das den Men¬ 
schen ohne Offenbarung vergönnt war; 
sub imagine fabularum totius philo- 
sophiae exprimit veritatem, heißt es im 
12. Jahrhundert bei Johannes von Salis¬ 
bury. In seinen „Bucholica“ fand man 
die Darstellung des kontemplativen, in 
den „Georgica“ des sensualen, in der 
„Äneis“ endlich des aktiven Lebens mit 
dem Ausblick auf das Christentum. Virgil 
war eine berufene Persönlichkeit, Bea¬ 
trice dagegen, mag sie nun Portinari 
oder anders geheißen haben, war eine 
Florentinerin, die unzählige von An¬ 
gesicht zu Angesicht gekannt hatten. 
Wie konnte es der Dichter wagen, diese 
mit einem Schlage unter die Heiligen 
erster Klasse zu versetzen? Wohl lag 
es im Stil der Zeit, die Geliebte zu 
sublimieren und die irdische Minne zur 
himmlischen zu steigern, aber eine 
Kühnheit ohnegleichen war es doch, ein 
gewöhnliches Mädchen aus eigener 
Machtvollkommenheit zu einer auser¬ 
wählten Rolle ins Himmelreich zu be¬ 
rufen. Nimmt man aber an, daß der 
erste Entwurf einen Liebessang zur 
Verklärung der Geliebten enthielt und 
daß dieser allmählich zum Kampf- und 
universalen Lehrgedicht ausreifte, so 
wird das beinahe Unbegreifliche ver¬ 
ständlich. Dem Auswachsen der Dich¬ 
tung entsprach ein solches der Bea¬ 
trice und aus dem Ideal des Liebenden 
entwickelte sie sich zum Ideal des Chri¬ 
sten und Philosophen. Demgegenüber 
betont Voßler die Einheitlichkeit der 
Dichtung und weist darauf hin, daß 


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Max J. Wolff, Karl Voßlers „Dante 


schon die ersten Gesänge der „Hölle“ zum krassen Materialismus; es kam so 
Beziehungen auf sehr späte Zeitereig- weit, daß man die Freuden des Para¬ 


nisse enthalten und daß die Topo- dieses als eine ununterbrocheneSchlem- 
graphie der Unterwelt der volkstüm- merei schilderte. Einzelne Lieder des 


liehen Vorstellung des Himmels nach- Jaoopone da Todi, den D’Anoona tref- 


gebildet ist, aber das beweist doch nur, 
daß die Spuren des langsamen Wer¬ 
dens in der jetzigen Fassung nicht 
oder schwer zu entdecken sind. Das 
ist aber bei Dantes methodischer oder, 
wie unser Autor sagt, pedantischer 
Geistesrichtung kaum anders zu er 
warten. 

4. 

So kühn der erste Entwurf war, so 
wenig originell ist der Grundgedanke 
der „Komödie“, wie sie heute vorliegt. 
Voßler bemerkt: Dante war sich be¬ 
wußt, daß die ganze Wirkung von 
dem Wie, nicht von dem Was ab¬ 
hängt. Man kann bezweifeln, daß der 
Dichter diese Einsicht besaß, aber die 
Tatsache selbst ist darum nicht weni¬ 
ger richtig. Das Motiv war im Sinne 
des 13. Jahrhunderts, um es offen aus¬ 
zusprechen, geradezu trivial. Jenseits¬ 
visionen gab es in Hülle und Fülle; in 
der vertieften Frömmigkeit der Zeit und 
der franziskanischen Mystik fanden sie 
einen trefflichen Nährboden. Aber nicht 
nur prophetisch veranlagte Sänger, son¬ 
dern jeder Geistliche auf der Kanzel 
schwelgte in der Ausmalung der 
menschlichen Sündhaftigkeit, des hölli¬ 
schen Strafgerichtes und der himmli¬ 
schen Wonnen. Der Eingang der „Ko¬ 
mödie“, die Verirrung des Menschen 
im Walde der Leidenschaften, klingt 
er nicht wie der erbauliche Text einer 
Sonntagspredigt? Und vielleicht ist 
Dante auf diese Weise dazu gekom¬ 
men. Je tiefer diese Vorstellungen ins 
Volk drangen, desto gröber und sinn¬ 
fälliger wurden sie ausgeführt. Was 
oben spiritualistisch war, wurde unten 


fend als Bänkelsänger des Herrn be¬ 
zeichnet, mit ihrem vermenschlichten 
Gott und ihrer verweltlichten Fröm¬ 
migkeit sind ganz im Stile der Heils¬ 
armee, die ja auch die grobsinnlichen 
Instinkte der Masse in den Dienst einer 
vertieften Religiosität zu stellen sucht. 
Das visionäre Erschauen der drei Jen¬ 
seitsreiche mit ihren Qualen und Freu¬ 
den war im besten Sinne populär. Vo߬ 
ler verkennt das nicht, aber er würdigt 
es nach meinem Empfinden nicht ge¬ 
nügend, wenn er (S. 799) die Allegorie 
als gleichberechtigten Faktor neben 
diese volkstümlichen Vorstellungen 
stellt. In ihnen liegt die Wurzel von 
Dantes Kraft, nur aus dem Empfinden 
eines gesamten Volkes, ja wir können 
sagen, aus dem Empfinden der Masse 
heraus vermag der große Dichter Ewig¬ 
keitswerte zu schaffen. Diese kindischen 
Fabeleien von Hölle und Fegefeuer mit 
all ihren Albernheiten und Geschmack¬ 
losigkeiten enthalten den Keim der 
„Komödie“ wie die Radau- und Prü¬ 
gelstücke der alten englischen Volks¬ 
bühne den des „Hamlet“. In beiden 
lebten die starken volksmäßigen Kräfte, 
die nur auf die Bindung durch die 
überragende Persönlichkeit warteten, 
um sich zum Kunstwerk zu gestalten. 

Als wesentlichsten Vorzug des Bu 
ches möchte ich betrachten, daß der 
Verfasser immer bemüht ist, dem Dich¬ 
ter zu geben, was des Dichters ist, und 
dessen Persönlichkeit in den Vorder¬ 
grund zu stellen sucht. Wenn sie trotz¬ 
dem zuweilen in dem Übermaß von 
philosophischen und religionsgeschicht¬ 
lichen Auseinandersetzungen verschwin¬ 
det, so liegt das an der angewandten 


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Max J. Wolff, Karl Voßlers „Dante“ 


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Methode, die sich, von der Allgemeinheit 
ausgehend, allmählich auf Dante kon¬ 
zentriert. Ich verweise als Beispiel auf 
das Individuationsproblem (S. 157 f.). Es 
wäre eine Lücke in der Darstellung, 
wenn Voßler es nicht behandelt hätte; 
und doch spielt es für den Dichter gar 
keine Rolle. Der Künstler, sei es des 
Wortes, sei es der Farbe, kann nur Indi¬ 
vidualseelen verwenden, die bis zu einem 
gewissen Grade im Besitz ihrer Körper¬ 
lichkeit sind. Mit abstrakten Geistern 
kann die Kunst nichts anfangen, und 
wenn Dante selbst sich Gedanken über 
den Zustand seiner abgestorbenen Seelen 
macht, so ist das einer von den vielen 
Fällen, wo der Theologe an den Grund- 
lagen'der Dichtung rüttelt und den Leser 
ausderIHusionherausreißt.\Theologisch 
betrachtet, mögen, die körperlichen Stra¬ 
fen der Hölle und des Fegefeuers nur 
Symbole sein, in der Dichtung sind sie 
Realitäten, die ein Einzelwesen mit 
Einern empfindlichen Leibe vorausset¬ 
zen. Wenn Voßler die Frage aufwirft, 
mit welchem Recht Dante seinen Cha¬ 
rakter, seine Leidenschaften usw. ins 
Jenseits mitnimmt, so gibt es darauf 
nur eine Antwort: mit dem Recht des 
Dichters! Ein persönliches Recht des 
Dichters ist auch seine Mystik. Gewiß 
ging damals eine mystische Woge über 
die Menschheit, aber das besagt doch 
nur, daß Zeit und Umstände auf eine 
vertiefte Frömmigkeit drängten und 
daß die Religion als Dogma einer Er¬ 
neuerung durch das Gefühl bedurfte. 
Mystik, Religion als Gefühl, läßt sich 
überhaupt nicht lehren, sondern muß 
erlebt werden. Jeder Versuch, die Re¬ 
ligion poetisch zu behandeln, führt zur 
Mystik. Die Bedeutung der franziskani¬ 
schen Bewegung für Dante soll nicht 
unterschätzt werden, aber in erster Linie 
war er aus dichterischer Notwendigkeit 
Mystiker, der sich natürlich bis zu 

Internationale Monatsschrift. 


einem gewissen Grade der Ausdrucks¬ 
mittel seiner Zeit für die Unendlichkeit 
des Gefühles bediente. Bei Voßler er¬ 
scheint die Mystik zu stark als Lehre, 
während wir gerade in ihr das eigenste 
Erlebnis Dantes erblicken müssen. 

Im allgemeinen gehören aber die 
Teile, die der Persönlichkeit des Dich¬ 
ters gewidmet sind, zu den besten des 
gehaltreichen Werkes. Die Ausführun¬ 
gen 512—570 möchte ich besondersemp¬ 
fehlen. Freilich das Bild, das Voßler von 
seinem Helden entwirft, darf nicht auf 
allgemeine Zustimmung rechnen. Es will 
mir nicht einleuchten, daß Dante nach 
der „Vita nuova“, also etwa im Alter 
von dreißig Jahren, „für den Himmel 
und die reinste Beschaulichkeit gewe¬ 
sen war“. Der Florentiner mit dem 
glühenden Haß, der selbst im Paradies 
noch gegen seine Landsleute wettert 
und sich rühmt, wenn er in der Hölle 2 ) 
auf einen Schurken anderthalben setzt? 
Zur Beschaulichkeit hat sich dieser 
rastlose, ungestüme Geist wohl nie¬ 
mals, allenfalls in seinen spätesten Le 
bensjahren, nachdem das Maß der Ent¬ 
täuschungen voll war, durchgerungen. 
Gewiß empfindet er eine starke Nei¬ 
gung zur stoischen Lebensauffassung, 
aber besaß er sie selber? Wir dürfen 
wohl auf Shakespeare verweisen. Bei 
ihm sind die Helden Temperaments- 
menschen, die Freunde Stoiker, die von 
den leidenschaftlichen Protagonisten 
um ihre Seelenruhe beneidet werden. 
So auch Dante. Die kühle Geschlossen¬ 
heit des Stoikers, geheiligt durch die 
römische Tradition, war ein Ideal, das 
er um so tiefer ersehnte, je weiter sein 
ungestümes, leidenschaftlich zuckendes 
Dichterherz davon entfernt war. Da 
zeigt uns De Sanctis einen anderen 
Dante, einen „heldenmütigen Barbaren, 

2) Inf. t. 33. 150. 

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Max J. Wolff, Karl Voßlers „Dante' 


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stolz, rachsüchtig, leidenschaftlich, eine 
freie energische Natur“. Auch dieser 
mag verzagte Stunden gehabt haben, 
aber die Beschaulichkeit, nach seiner 
Auffassung die Tugend der Mönche, 
war nicht seine Sache. Trotz der Größe 
seines Unglücks! dachte er nicht daran, 
ins Kloster zu gehen wie andere Dich¬ 
ter seiner Zeit, wie Guittone d’Arezzo 
oder der von ihm bewunderte Folquet 
de Marseille, sondern er aß lieber das 
Brot der Verbannung, um ein Kämpfer 
bleiben zu können. Er fühlte sich zum 
Politiker und Staatsmann berufen. Sein 
Weltkaisertum gehörte zwar rettungs¬ 
los der Vergangenheit an, aber „un¬ 
beschadet seiner allgemeinen Grund¬ 
sätze“ vermag dieser Italiener recht 
praktisch zu handeln. Das hat er in 
Florenz und gegen Florenz bewiesen. 
Selbst die Wiederaufnahme des Kamp¬ 
fes zwischen Kaiser und Papst war nicht 
so utopisch, wie Voßler sie hinstellt. 
Die Erneuerung des römischen Reiches 
war freilich ausgeschlossen, aber die 
Rache an den Welfen, der Kurie und 
Florenz lag im Bereich des Möglichen 
und hätte dem Dichter zunächst wohl 
genügt. 

5. 

Was die Beurteilung des Werkes an¬ 
betrifft, so hat Voßler den erfreulichen 
Mut, sich völlig auf den Boden der 
ästhetischen Kritik zu stellen. Vor allem 
begeht er nicht das Unrecht an Dante, 
ihn mit dessen eigner Poetik zu mes- 
sen. Die historische viergegliederte Ent¬ 
wicklungsgeschichte dient dem Verfas¬ 
ser nur als Unterlage für das ästhe¬ 
tische Werturteil. Die Bedeutung der 
„Komödie“ kann nicht historisch, sondern 
nur ästhetisch erschlossen werden; ist 
Dante der große Dichter, so muß er es 
auch für uns, die heute Lebenden, sein. 
Dieser Maßstab führt dazu, daß Voß- 


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ler das „Inferno" am höchsten stellt, 
dem „Purgatorio“ eine Zwischenstellung 
einräumt und das „Paradies“ für grund¬ 
sätzlich verfehlt hält. Dante hat hier 
den mißglückten Versuch gemacht, das 
Absolute, das über menschliche Worte 
und Gedanken hinausgeht, darzustel¬ 
len. Der Vorwurf ließe sich gegen das 
ganze Gedicht erheben. Auch die Hölle 
ist nach des Dichters Auffassung ewig, 
also außerhalb von Zeit und Raum, und 
doch hat er sie in der Erde unterge¬ 
bracht und wenn auch nicht behaglich, 
so doch recht menschlich eingerichtet. 
Bei ihr hält er sich an volkstümliche 
Vorstellungen, bei dem Paradies an 
kirchliche und philosophische Begriffe. 
Eine Darstellung des dritten Reiches 
war als Abschluß der Dichtung uner¬ 
läßlich, poetisch wirksam konnte sie 
nur werden, wenn der Dichter so ver¬ 
fuhr wie bei dem „Inferno“, wenn er auf 
den Glauben des Volkes zurückgriff. 
Ob freilich eine solche Schilderung den 
Geboten -der damaligen Kirche ent¬ 
sprochen hätte und ob mit diesen volks¬ 
tümlichen Vorstellungen auch der alle¬ 
gorische Sinn der „Komödie" zu einem 
befriedigenden Ausgang zu bringen 
war, das sind Fragen, auf die wir 
keine Antwort zu geben haben. Aber 
prinzipiell verschlossen ist die Dar¬ 
stellung des Himmelreiches der Dich¬ 
tung so wenig wie der Malerei, nur 
muß der Dichter auch dieselben Wege 
wie der Maler wandeln und mit We¬ 
sen, nicht mit Begriffen, arbeiten. Im¬ 
merhin war auch dieser dritte Teil für 
die Zeitgenossen weniger abstrakt als 
für uns und inniger mit dem Leben 
und der Wirklichkeit verknüpft. Wenn 
z. B. Franziskaner und Dominikaner 
gegenseitig ihr Lob verkünden, so 
mochten die damaligen Italiener, die 
das Gezänk der beiden Orden täglich 
vor Augen hatten, dies mit einem iro- 


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Adolph Hansen, Goethes Arbeiten zur Morphologie • 230 


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nischen Lächeln aufnehmen, und wenn 
sie von den entsagungsvollen Mönchen 
im Saturnhimmel lasen, so klang das 
in ihren Ohren wie eine bittere Satire. 
Selbst der Haß von Guelfen und Ghi- 
bellinen ist inmitten der Seligkeit noch 
nicht geschwunden. Je übler es in der 
Welt aussieht, desto mehr ist die 
Menschheit geneigt, von der Zukunft 
Trost auf Vorschuß zu beziehen. Die 
Völker träumen, die Dichter entwerfen 
dann Bilder eines Zukunftsstaates, der 
den gegenwärtigen negiert, in Wirk¬ 
lichkeit aber nur dessen gereinigtes 
Spiegelbild und verbesserte Auflage 
ist. In diesem Verhältnis steht das 


Paradies zur Welt. Dort sind alle Män¬ 
gel der Gegenwart beseitigt, dort 
herrscht der gerechte Kaiser, dort ist 
die Kirche frei von irdischem Gut, dort 
sind die bedürfnislosen Geistlichen, die 
weisen Lehrer, die gerechten Richter, 
die Krieger, die ihre Waffen für Gott 
und nicht im Bürgerkriege schwingen, 
kurz alles ist vorhanden, was man auf 
Erden vermißte. Das Paradies ist eine 
Utopia. Dante hat eine solche zweimal 
entworfen, in seiner „Monarchie“ und 
in der „Komödie“. Das erstemal er¬ 
wartet er ihre Verwirklichung auf Er¬ 
den, das anderemal verlegt er sie als 
entsagungsvoller Christ ins Jenseits. 


Goethes Arbeiten zur Morphologie. 1 ) 

Von Adolph Hansen. 


Seit dem Jahre 1904, wo ich einige 
k'eine Aufsätze im Goethejahrbuch 
(1904 und 1906) erscheinen ließ, habe 
ich mich stets von neuem mit Goethes 
Naturforschung, besonders seinen bo¬ 
tanischen Arbeiten beschäftigt und im 
Jahre 1907 eine größere Arbeit über 
Goethes Metamorphose der Pflanzen 
veröffentlicht. 2 ) Ich verdanke die¬ 
ser Beschäftigung nicht nur die be¬ 
friedigendsten Stunden stiller Tätigkeit, 
sondern eine so vielseitige Förderung 
des geistigen Ausblickes durch die Hin¬ 
führung auf andere Gebiete, daß ich, 
ohne jede Schwärmerei für Goethe, die¬ 
sen Umgang mit seiner Hinterlassen¬ 
schaft mit dem Gefühl geläutertster 
Dankbarkeit empfinde. Diese Stimmung 

1) A.Hansen, Goethes Morphologie. (Meta¬ 
morphose der Pflanzen und Osteologie.) Ein 
Beitrag zum sachlichen und philosophischen 
Verständnis und zur Kritik der morphologi¬ 
schen Begriffsbildung, Gießen 1919, A. Tö- 
pelmann. 

2) Goethes Metamorphose der Pflanzen 
mit 9 Tafeln von Goethe und 19 Tafeln 
vom Verfasser. Gießen 1907, A. Töpelmann. 


und der Austausch darüber mit den 
Gelehrten des Goethehauses und Goethe¬ 
archivs in Weimar hat es dann gefügt, 
daß ich mich mit an der Aufstellung 
von Goethes naturwissenschaftlichen 
Sammlungen dort beteiligen durfte, und 
dadurch in längst gewünschter Weise 
einen realistischen Einblick in die Art, 
wie Goethe naturwissenschaftlich zu ar¬ 
beiten pflegte, empfing. 

Wenn ich, um Goethe als Natur¬ 
forscher zu beleuchten, nochmals Aus¬ 
kunft üb'er ein schon früher behandel¬ 
tes Thema zu geben mir erlaube, so ist 
das damit zu begründen, daß trotz 
früherer sorgfältiger Untersuchung de¬ 
ren Resultate noch immer nicht in die 
botanischen Fachkreise eingedrungen 
sind, weil bei diesen die Beschäfti¬ 
gung mit historischen oder philosophi¬ 
schen Arbeiten fast ganz aus der Mode 
gekommen ist und dem uneinge¬ 
schränkten Empirismus Platz gemacht 
hat. So findet der Goethefreund und 
-forscher auch in der neueren Botanik 

8 * 


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1 


231 Adolph Hansen, Goethes Arbeiten zur Morphologie 232 


immer noch die für den Einsichtigen 
längst abgedroschenen Meinungen über 
Goethes Metamorphose, weil man dort 
den Wandel der Kritik gar nicht beach¬ 
tet hat. Durch den störenden Eindruck 
des immer wieder sich vordrängenden 
Veralteten und nach der Regel, daß 
kein Baum auf den ersten Hieb fällt, 
wurde ich gedrängt, noch einmal Goe¬ 
thes Morphologie, welche die Meta¬ 
morphose der Pflanzen und die Osteo¬ 
logie enthält, kritisch zu behandeln, 
noch nicht völlig gelösten Fragen nach¬ 
zugehen und ihre Lösung endgültig 
zum Abschluß zu bringen. Man wird, 
wenn man jene beiden oben bezeichne- 
ten Aufsätze mit der jetzigen Arbeit 
vergleicht, keine Änderung der Beur¬ 
teilung, wohl aber eine befriedigende 
Klärung bemerken. Es wurde dabei aber 
auch ein allgemeineres Ziel erstrebt, 
nämlich über in der heutigen Botanik 
übliche morphologische Anschauungen 
und Begriffe und deren Berechtigung 
Aufklärung zu geben. An die Bearbei¬ 
tung der Pflanzenmetamorphose schloß 
sich ein Ausblick auf Goethes osteolo- 
gische Arbeiten, namentlich seine Un¬ 
tersuchung über den Zwischenkiefer, 
über die, wegen der geringen Beteili¬ 
gung der heutigen Anatomen an Goethe¬ 
studien, gleichfalls noch immer wider¬ 
sprechende Meinungen umlaufen. 3 ) Diese 
Untersuchungen Goethes mit*in mein 
Bereich zu ziehen, wurde ich wesent¬ 
lich veranlaßt durch ein merkwürdiges 
Buch eines Holländers namens Kohl- 
brugge, welches an Goethes naturwis¬ 
senschaftlichen Studien kein gutes 
Haar läßt, Goethes Charakter in der 
auch sonst von seinen Gegnern geüb¬ 
ten Weise verdächtigt und den leben- 

3) Auch hier madit sich ein ganz beson¬ 
ders erfreulicher Umschwung durch die Ar¬ 
beiten von W. Lubosch bemerkbar. (Vgl. 
Goethejahrbuch 1919.) 


den Goetheforschern so anzügliche Be¬ 
hauptungen vorsetzt, daß eine Ignorie¬ 
rung dieses bedauerlichen Literatur¬ 
denkmals nicht gut möglich erscheint. 
Da Herr Kohlbrugge Metamorphose 
und Osteologie nebeneinander kritisiert, 
um die gänzliche Wertlosigkeit dieser 
Leistungen zu beweisen, konnte ich 
nicht umhin, für beide Themata die ge¬ 
genteiligen Beweisstücke vorzulegen. 

Das Interesse an Goethes Metamor¬ 
phosenlehre und an der Feststellung, 
welche Bedeutung ihr zukommt, er¬ 
klärt sich sehr einfach daraus, daß 
diese Hypothese noch heute, um den 
Ausdruck des angesehensten botani¬ 
schen Morphologen der Gegenwart 
K. Göbel zu benutzen, „die wichtigste 
Grundlage der Morphologie bildet". 

Über die Notwendigkeit und Bedeu- 
deutung der Metamorphosenlehre 
herrscht daher heute kaum ein Streit, 
was daraus erhellt, daß auch didak¬ 
tisch jedes moderne Lehrbuch der Bo¬ 
tanik von dieser Hypothese, zur Er¬ 
läuterung und Übersicht der Pflanzen¬ 
organisation, ausgeht. (Vgl. z. B. K. Gö¬ 
bel, Organographie der Pflanzen, 
2. Auflage.) 4 ) 

Meinungsverschiedenheiten sind da¬ 
gegen vorhanden über Goethes Origi¬ 
nalität und Eigentumsrecht an dieser 
Hypothese sowie über deren philo¬ 
sophische Grundlagen, denn es behaup¬ 
tet, seitdem Schleiden diese Frage zu 
erst auf die Tagesordnung setzte, eine 
spätere Literatur wiederholt, der Ge¬ 
danke stamme von Kaspar Friedrich 
Wolff und von Linnö und sei keine 

4) Nur ganz selten trifft man noch auf 
die Ansicht, daß es keine Metamorphose 
äbe und z. B. die Teile der Blüte von vorn¬ 
erein als solche angelegt würden, also 
Staubgefäße und Fruchtblätter aus Anlagen 
eigener Art hervorgingen. Diese Ansicht 
ist aber durch Tatsachen leicht abzufertigen 


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Adolph Hansen, Goethes Arbeiten zur Morphologie 


naturwissenschaftliche, sondern eine 
bloß transzendentale Idee. 

Würde es sich nun um eine auch nur 
geringe Anteilnahme jener beiden For¬ 
scher an dem Goetheschen Gedanken 
handeln, so wäre eine Einigung sehr 
leicht, denn bekanntlich sind auch an¬ 
dere große Gedanken in der Wis¬ 
senschaft bei mehreren Forschern auf¬ 
getaucht. Erinnern wir nur an das Ge¬ 
setz der Erhaltung der Energie, dem 
Robert Mayer, Joule und Helmholtz 
zur Anerkennung verhalfen, oder an 
WaJIace und Darwin, an die Begrün¬ 
der der Pflanzenanatomie Malpighi 
und Grew und andere, immer zusam¬ 
men in der Geschichte der Wissen¬ 
schaft genannte Namen. Aber dießehaup- 
tung, K. F. Wolff und Linn6 hätten die 
Metamorphosenlehre vor Goethe aus¬ 
gesprochen, womit Linn&s Priorität von 
selbst hinfällig würde, da Wolff ihm 
vorausging, sind gänzlich falsch und 
unhaltbar, und vollständigen Irrtum 
kann die Wissenschaft nicht bestehen 
lassen. Bei K. F. Wolff handelt es sich 
um eine nur scheinbar ähnliche Ansicht, 
denn Wolffs Gedanke der Organbil¬ 
dung ist ein ganz anderer wie der 
Goethes, ist vielmehr als Gegensatz 
zu Goethes Ansicht von einigen Ver¬ 
tretern der neueren Botanik wieder auf¬ 
gefrischt worden, ohne jedoch in sei¬ 
ner Notwendigkeit bestätigt zu werden. 
Goethe faßt, wie auch die neue Bo¬ 
tanik fast allgemein, die Entstehung 
gewisser Pflanzenorgane, z. B. der Blü¬ 
tenteile, und solcher Organe, die man 
nicht bei allen Pflanzen findet, wie die 
Ranken des Weinstockes und der Legu¬ 
minosen u. a., die Knospenschuppen, die 
knolligen Wurzeln und Stämme (z. B. 
Kohlrabi) usw. als Umwandlungen 
(Metamorphosen) von Laubblättern, 
Sprossen und Wurzeln auf, d. h. von in 
dieser ursprünglichen Form bei allen 


höheren Pflanzen angelegten Grund- 
organen. Dadurch wird es verständ¬ 
lich, wie eine Pflanze, die im Samen nur 
einen aus Wurzel, verkürzter Sproß- 
achse und Keimblättern bestehenden 
Keim (Embryo) besitzt, während von 
allen später auftretenden Organen, na¬ 
mentlich auch den Blüten, im Samen 
keinerlei Anlage zu sehen ist, dennoch 
alle diese Organe später, oft erst, wie die 
Blüten bei vielen Bäumen, nach vielen 
Jahrzehnten, dennoch erhalten kann, um 
ihren Lebensaufgaben nachzukommen. 
Die Pflanze ist also bei ihrem ersten Er¬ 
scheinen ein noch ganz unvollkommen 
ausgerüstetes Lebewesen. Sie entfaltet 
zuerst die wenigen ihr im Keim ver¬ 
liehenen Ernährungsorgane und wenn 
sie später Fortpflanzungsorgane (Blü¬ 
ten), Kletterorgane (Ranken), Speicher¬ 
organe (Wurzel- und Stammknollen. 
Zwiebeln) braucht, so gewinnt sie diese 
durch Umwandlung ihrer primären 
Organe: Stengel, Blatt, Wurzel. 

Dem Leser mag die Hypothese zu¬ 
nächst gar nicht als ein so umwäl¬ 
zender Gedanke erscheinen, weil sie 
bei dem heutigen Bildungsstande so 
überaus einleuchtend ist. Ihre Bedeu¬ 
tung tritt aber sogleich besser hervor, 
wenn man sie mit den damals über 
die Organbildung herrschenden Ansich¬ 
ten vergleicht. Tatsachen über Aus¬ 
bildung der Organe kannte man so gut 
wie gar nicht, Linn6 wußte nichts dar¬ 
über, wie ein Blatt, wie eine Blüte an 
der Pflanze entsteht. Man stellte 
sich bloß vor, daß alle Pflanzen 
schon für unendliche Generationen vom 
Schöpfer im voraus geschaffen (prä- 
formiert) seien und in unsichtbarer 
Kleinheit ineinander geschachtelt schon 
im Samen steckten und sich nun in 
Äonen als Pflanzen auseinander ent¬ 
wickelten, also nach und nach zum 
Vorschein kämen. Diese „Präforma- 



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Adolph Hansen, Goethes Arbeiten zur Morphologie 


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tionstheorie“ war eine reine Erdich¬ 
tung und wurde durch keine einzige 
Tatsache gestützt, daher konnte sie 
denn K. F. Wolff durch bloße mikro¬ 
skopische Beobachtung widerlegen, die 
ergab, daß die Organe anfangs gar 
nicht vorhanden waren, sondern durch 
völlige Neubildung, nach seiner Mei¬ 
nung aus ungeformter Substanz, ent¬ 
stünden. Eine Neubildung war zwar 
richtig, aber nicht im Sinne der Theoria 
generationis von Wolff, die sich als 
unrichtig erwiesen hat, Goethes Hypo¬ 
these dagegen gab den Anstoß zu ge¬ 
nauerer Beobachtung, nachdem man 
auch bessere Mikroskope, als sie K. F. 
Wolff zu Gebote standen, hergestellt 
hatte. Man entdeckte dabei, daß die 
Neubildung in der Weise stattfindet, 
daß die Organe, Blätter, Sprosse, Blü¬ 
tenteile usw., nicht aus ungeformter 
halbflüssiger Masse, wie Wolff sich 
vorgestellt hatte, sondern aus Zel¬ 
len oder einfach gestalteten Zellgrup¬ 
pen, die man Anlagen nennt, ihren 
Anfang nehmen. Auf diesem Wege be¬ 
obachtete man nicht nur die Bildung 
der Anlagen zu den verschiedenen Or¬ 
ganen, sondern auch in manchen Fällen 
eine vollständige Umwandlung der Form 
während ihrer Entwicklung: die Meta¬ 
morphose. Später wurde dann außerdem 
die Metamorphose auch auf experimen¬ 
tellem Wege von Göbel und anderen 
Forschern künstlich hervorgerufen und 
damit Goethes Hypothese besser bewie¬ 
sen. Das eingehendere Studium von 
K. F. Wolffs kaum mehr gelesener la¬ 
teinischer Abhandlung hat ergeben, 
daß die in der Botanik verbreitete Mei¬ 
nung, es käme Wolff eine Priorität in 
der Metamorphosenlehre zu, vollständig 
unhaltbar ist. Der Gedanke, den er an 
seine Beobachtungen knüpfte, ist ein 
ganz anderer wie der Goethesche, so 
daß eine Priorität Wolffs nur existiert 


für eine heute von wenigen Botanikern 
vertretene Ansicht, die man als Diffe¬ 
renzierungstheorie bezeichnet hat. 

Wolff, von seiner mechanischen 
Theorie der Entwicklung, die er erdacht 
hatte, ausgehend, glaubte mit dem Mi¬ 
kroskop beobachtet zu haben, daß die 
Blätter und Blütenteile der Pflanzen 
anfangs zähflüssige Tropfen wären, die 
erst später zu Organen gewissermaßen 
erstarrten; eine vom heutigen Stand¬ 
punkt der Kenntnisse ganz unvollkom¬ 
mene Vorstellung, die niemals recht 
angenommen, heute ganz verlassen ist. 
Wolff hatte nun wohl bemerkt, daß die 
Blütenteile an derselben Stelle ent¬ 
stünden, wo sonst Blätter entstehen 
können, und nahm an, daß der zähflüs¬ 
sige Bildungsstoff in diesem Falle 
durch freilich unbekannte Umstände 
so modifiziert werde, daß an 
Stelle von Blättern Blütenteile dar¬ 
aus würden. Da er nicht angeben 
konnte, worin die Modifikation bestehe, 
suchte er die stoffliche Verwandtschaft 
beider Organkategorien dadurch ver¬ 
ständlich zu machen, daß er die Blü¬ 
tenteile „modifizierte Blätter“ nannte, 
was eine bloß logische Bezeichnung, 
aber keine Hypothese ist. Es war also 
nach seiner Meinung an der Stelle von 
Blättern aus einem veränderten Stoff 
etwas ganz anderes entstanden. Von 
einer Umwandlung von Organen 
ist bei Wolff keine Vorstellung vorhan¬ 
den, weshalb er auch den Begriff der 
Metamorphose gar nicht benutzt. Es 
handelt sich auch bei Wolff nicht um 
eine Umwandlung, sondern von vorn¬ 
herein um einen vollständigen Ersatz 
eines Organs durch ein anderes: nicht 
um Metamorphose, sondern um Stell¬ 
vertretung (Substitution). Ursache der¬ 
selben war eine vorausgehende, aber 
bloß hypothetisch angenommene Än¬ 
derung der Zusammensetzung des Bil- 


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dungsstoffes, der einmal zu Blättern, 
das andere Mal zu Blütenteilen unter 
Bläschen- und Gefäßbildung erstarrte. 

Es ist also leicht einzusehen, daß der 
Gedanke Wolffs ein ganz anderer ist 
als der Goethes, der annimmt, daß von 
Anfang an als Blätter angelegte Or¬ 
gane bei der Blütenbildung allmählich 
eine Zustandsänderung erleiden, welche 
zu einer Formänderung, und zwar zum 
Zwecke einer Funktionsänderung führt. 
Ein Blatt bildet sich z. B., nachdem es 
als Blatt entstanden, wenn es die an¬ 
dere Aufgabe, als Klammerorgan zu 
dienen, übernehmen soll, zu einer fa¬ 
denförmigen Wickelranke um. Auch 
Goethe setzt als Ursache dieser Umbil¬ 
dung stoffliche (chemische) Verände¬ 
rungen voraus, die aber innerhalb der 
schon determinierten Organanlage statt¬ 
finden, nicht bloß vorhergehende Ände¬ 
rungen einer Bildungsflüssigkeit be¬ 
deuten. 

Wollte man nun auch einen leisen 
Anklang an Goethes Metamorphosen¬ 
lehre mit Mühe herausfinden, indem 
man hervorhebt, daß nach Wolff die 
Sproßachse ursprünglich blattbilden¬ 
den Saft aus scheidet 5 ), aber auch blü¬ 
tenbildenden Saft ausscheiden k a n n, so 
stimmt das nur überein mit der von 
einigen heutigen Botanikern noch geteil¬ 
ten Ansicht, daß die Organe von vorn¬ 
herein picht determiniert sind, aber nicht 
mit dem Gedanken einer nachträglichen 
Metamorphose. Auch wäre Wolffs An¬ 
sicht immer noch eine ganz unvoll¬ 
ständige Hypothese, denn er hat sich 
außer mit der Begründung der Ent¬ 
stehung der Blütenteile an Stelle von 
Blattern, mit den anderen ebenso wich¬ 
tigen Organmetamorphosen gar nicht 


5) Wolf bezeichnet die Organbildung am 
Vegetationspunkt ausführlich als „Excre- 
tion“. 


befaßt, was Ursache von Widersprü¬ 
chen geworden ist. Goethe hat sich von 
Anfang an auch mit der Metamorphose 
der Vegetationsorgane befaßt. Auch 
hat Goethe seine Lehre durch Aus¬ 
dehnung auf die Kryptogamen zu einer 
umfassenden, für die heutige Botanik 
brauchbaren Hypothese gemacht. Davon 
finden sich bei Wolff keine Andeutun¬ 
gen. 

In der Prioritätsfrage scheidet also 
Wolff vollständig aus, und die Meta¬ 
morphosenlehre, wie wir sie heute ha¬ 
ben, ist Goethes alleiniges Eigentum. 
Goethe selbst ist aber der Möglichkeit, 
daß man einen Anklang an seinen Ge¬ 
danken bei Wolff finden möchte, da¬ 
durch mehr als ausreichend gerecht 
geworden, daß er Wolff als seinen 
trefflichen Vorarbeiter bezeichnet hat, 
nachdem er ihn nachträglich kennen 
gelernt hatte. Goethes Kritik der 
Wolffschen Ansichten ist außerordent¬ 
lich treffend. 

Daß auch Linnö einen Anteil an der 
Metamorphosenlehre haben sollte, ist 
wesentlich darauf zurückzuführen, daß 
Linnö das Wort Metamorphose benutzt 
hat, aber in einem ganz anderen Sinne. 
Seine diesbezüglichen Ansichten sind 
längst als völlige Erdichtungen von 
der Wissenschaft verlassen worden. 
Trotzdem glaubte man einige inLinnös 
Schriften zerstreute aphoristische latei¬ 
nische Sätze so deuten zu dürfen, daß 
sie zu Goethes Metamorphose passen. 
Diese Deutungen sind aber irrtümlich 
und willkürlich und neuerlich z. T. von 
Dilettanten in der Botanik, z. B. dem 
Schriftsteller Chamberlain, ausgegan¬ 
gen, der zur Begründung dieser An¬ 
sicht einige leicht zu widerlegende Au¬ 
toritäten anführt. Da schon früher von 
mir im Goethejahrbuch 1904 Linnfes 
Anspruch ausführlicher besprochen ist, 
sind die Wiederholungen Chamber- 


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Adolph Hansen, Goethes Arbeiten zur Morphologie 


lains ganz überflüssig und fallen vor 
einer fachmännischen Kritik zusammen, 
was ich in der hier zugrunde liegen¬ 
den Arbeit nochmals ausgeführt habe. 6 ) 

Bei der übertriebenen Einschätzung 
Linnfes wurde es eine Zeitlang Mode, 
bei ihm in zweideutigen Sätzen mo¬ 
derne Gedanken aufzuspüren, sogar 
sollte er endlich ein Vorläufer Darwins 
sein, obwohl dieser wie Lamarck sich 
gerade gegen Linn6s Ansicht von der 
Entstehung der Pflanzenarten gerichtet 
hatte. Solche Versuche finden unter 
wissenschaftlichen Dilettanten gern An¬ 
hänger, die sie dann vertreten. Schon 
1870 hat der hervorragende Botaniker 
Hugo von Mohl gegen solchen Verderb 
ernster Forschung Protest eingelegt. 
Linn6s Talent und Verdienste liegen 
auf einer ganz anderen Seiten dem Ge¬ 
biet der Nomenklatur und Systematik, 
und diese werden ihm bleiben. Der Ver¬ 
such, ihn nachträglich auch zum Bio¬ 
logen zu machen, beruht darauf, daß 
man nicht eingesehen hat, daß da, wo 
Linn6, z. B. in seinen Dissertationen, bio¬ 
logische Tatsachen behandelt, es sich 
gar nicht um biologische Forschung, 
sondern um bloße Klassifikation be¬ 
kannter biologischer Tatsachen handelt. 
So klassifiziert er die Gallen, die Knos¬ 
pen, ohne im mindesten biologische Be¬ 
obachtungen zutage zu fördern. Der von 
Linn6 für die ihm unerklärliche Ent¬ 
stehung der Blüten an der belaubten 
Pflanze benutzte Ausdruck „Metamor- 
phosis“ hatte einen ganz anderen Sinn. 
Er war ein bloßes Bild, indem Linnfe die 
Blütenentstehung mit der Metamorphose 
der Insekten verglich und dabei die 
Pflanze als Larve, die Blüte als das 
Insekt auffaßte, eine ganz künstliche, die 


6) Vgl. auch Naturw. Wochenschrift N. F. 
Bd. 18 Nr. 47. „Die Lebenswege H. St. Cham- 
berlains und die Naturwissenschaft.“ 


Erkenntnis in keiner Weise fördernde 
Meinung. 7 ) 

Daß die Metamorphosenlehre Goethes 
nicht, wie von einigen philosophisch 
ungeschulten Autoren behauptet wurde, 
eine bloße leere Begriffskombination 
von rein logischer Bedeutung, sondern 
eine sachlich und erkenntnistheoretisch 
wohl begründete naturwissenschaftliche 
Hypothese ist, habe ich in meiner Ar¬ 
beit ausführlich begründet. Hier würde 
eine Wiederholung zu viel Raum erfor¬ 
dern, statt deren führe ich lieber die aus 
der Untersuchung mit unumstößlicher 
Sicherheit erlangten Resultate in eini¬ 
gen kurzen Sätzen an: 

1. Goethes Metamorphose ist eine 
wissenschaftliche Hypothese, die zu 
einer richtigen Auffassung der Bedeu¬ 
tung der Organbildung im Pflanzen¬ 
reich geführt hat. Wäre sie eine bloße 
Fiktion, so könnten durch sie keine neuen 
Erfahrungstatsachen aufgefunden wor¬ 
den sein, was in umfassendem Maße 
der Fall gewesen ist. 

2. K. F. Wolff kann zwar mit Goethe 
als ein trefflicher Vorarbeiter bezeich¬ 
net werden, aber eine Priorität in be¬ 
zug auf die Metamorphosenlehre nicht 
in Anspruch nehmen. Seine Beobach¬ 
tungen der Blattanlagen sind unrichtig, 
da er die Anlagen für flüssige Tropfen 
hielt. Außerdem ist er nur auf die Blü¬ 
tenteile eingegangen und hat sie als 

7) Geradezu weltfremd klingt die Be¬ 
hauptung in einem 1919 erschienenen Buche 
von H. Glück (Blatt- und Blütenmorpholog. 
Studien), daß unsere derzeitige Auffassung 
der Blüte als Metamorphose einer Laub¬ 
knospe auf Decandolles Örganographie Bd. I 
S. 489 zurückgehe. Daß ein deutscher Bota¬ 
niker Goethes Metamorphose und die Lite¬ 
ratur darüber ganz unbeachtet läßt, ist um 
so auffallender, als Decandolle an der zi¬ 
tierten Stelle (Bd. I S. 488 deutsche Obers. 
1828) ausführlich genug angibt, daß ihm 
Goethe, Röper, Tujpin und R. Brown in 
der von ihm selbst „teilweise angedeu¬ 
teten“ Auffassung vorangegangen seien. 


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Adolph Hansen, Goethes Arbeiten zur Morphologie 


„modifizierte Blätter" bezeichnet, was 
eine bloße logische Beziehung bedeu¬ 
tet. Auch hielt er die Staubgefäße irr¬ 
tümlich für veränderte Knospen. Goe¬ 
thes Hypothese nahm die reale Um¬ 
wandlung der Organe an und be¬ 
schränkte sich nicht nur auf die Blüte, 
deren Teile er alle als veränderte Blät¬ 
ter ansah, sondern umfaßte auch alle 
Vegetationsorgane, Sprosse, Wurzeln 
und Blätter, und er dehnte auch seine 
Ansicht auf die Kryptogamen aus, stellte 
also die Hypothese in demselben Um¬ 
fange auf, wie sie heute noch gilt. 

3. Falsch ist die Behauptung einiger 
Schriftsteller, Goethe habe den Gedan¬ 
ken der Metamorphose und die Be¬ 
zeichnung von Linn6 übernommen. 
Linn6 hat den Ausdruck selber aus dem 
17. Jahrhundert anderen Forschern ent¬ 
lehnt. seine eigene Metamorphosen¬ 
theorie, die ausschließlich für die Blüte 
Geltung haben konnte, ist eine bloße 
Erdichtung einer Ähnlichkeit von Pflan¬ 
zen mit Insekten und hat mit Goethes 
Lehre von der Umbildung der Organe 
zu anderen Lebenszwecken nicht das ge¬ 
ringste gemein. 

4. Es gibt nur eine Metamorphosen¬ 
lehre, die von Goethe, welche die heu¬ 
tige Botanik fast unverändert übernom¬ 
men hat, die Differenzierungstheorie 
mancher Botaniker ist überhaupt keine 
Metamorphosenlehre. 

5. Die Notwendigkeit der Metamor¬ 
phose im Pflanzenreich kann man da¬ 
mit begründen, daß durch bloße Um¬ 
wandlung Energie erspart wurde und 
außerdem absolute Neubildung für uns 
unbegreiflich wäre. Wenn uns ein 
Haus oder eine Maschine nicht mehr 
genügen, reißen wir sie nicht ein, son¬ 
dern bauen sie um und verändern sie, 
wodurch Energie und Material gespart 
wird. Sind audh Naturvorgänge und 
menschliche Handlungen nicht das¬ 


242 


selbe, so können wir doch nach diesem 
Prinzip das Vorhandensein der Meta¬ 
morphose verständlich machen. 

Wenn man sich nun in Goethes Meta¬ 
morphosenlehre vertieft, so ergibt sich, 
daß das Interessante nicht nur in der 
historischen Beziehung liegt, sondern 
in dem Zusammenklang von Goethes 
grundlegenden Gedankengängen mit 
den Begriffsschöpfungen und -Opera¬ 
tionen der heutigen Botanik. Hat sich 
auch die Sprache der Naturwissen¬ 
schaft stark geändert und sich in einer 
nicht immer erfreulichen Terminologie 
von dem Mittel des Symbolisierens un¬ 
abhängiger gemacht, so finden wir bei 
Goethe nicht nur einen Maßstab des 
Fortschrittes* sondern auch einen An¬ 
trieb zur stets erneuerten Kontrolle un¬ 
serer Erkenntniskräfte und unserer Aus¬ 
drucksweise, um zu erkennen, daß wir 
dennoch gar nicht von ihm so verschie¬ 
den verfahren, wie es den Anschein 
haben könnte. Wie sollte es auch an¬ 
ders sein, da die Probleme, welche 
dieser merkwürdige Geist selbständig 
oder mit anderen zusammen angriff, 
noch immer dieselben und noch im¬ 
mer ungelöst sind. Ich konnte nachwei- 
sen, wie wenig man in der Metamor¬ 
phosenlehre in 129 Jahren über Goethe 
hinausgekommen ist. Es sind zwar na¬ 
mentlich von Göbel und Klebs eine 
Reihe interessanter neuer Tatsachen der 
Metamorphose entdeckt worden, aber 
theoretisch und in bezug auf eine che¬ 
mische Kausalität ist man nicht weiter 
gelangt als Goethe. Wenn man in mo¬ 
dernen botanischen Handbüchern liest, 
man fasse die Metamorphose jetzt im 
Gegensatz zu Goethe real auf, so han¬ 
delt es sich in dieser Darstellung um 
einen erkenntnistheoretischen Irrtum. 
Daß die Umwandlung eines Organs 
in ein anderes zum Zwecke neuer Funk¬ 
tion eine reale ist, war Goethe ebenso 


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Adolph Hansen, Goethes Arbeiten zur Morphologie 


klar wie den heutigen Botanikern, 
denn dieser Vorgang verläuft in vielen 
Fällen vor unseren Augen. Daß aber 
das Substrat der Umwandlung, die An¬ 
lage, ein schon determiniertes Organ 
ist, ist heute noch genau so Hypothese 
wie bei Goethe. Das kann auch nicht 
anders sein, weil z. B. ein Blatt als An¬ 
lage noch gar nicht als solches be¬ 
stimmt an konstanten Merkmalen zu er¬ 
kennen ist. Daß aber eine Blattanlage 
schon Blattcharakter hat, ist dennoch 
keine willkürliche, sondern eine berech¬ 
tigte hypothetische Voraussetzung, weil 
bei manchen anderen Organanlagen, z. B. 
Wurzeln und Sprossen, schon frühzeitig, 
d.h. in der Anlage, der bestimmte Organ - 
Charakter hervortritt. Damit wird die 
Ansicht, daß alle Organanlagen indiffe¬ 
rent seien, und sich aus ihnen bald dies, 
bald jenes entwickeln könne, ohne daß 
eine Metamorphose stattfände, gänzlich 
unwahrscheinlich und kann auch nicht 
für die Blätter besonders gelten. Goethe 
hat diese Ansicht schon als unwahr¬ 
scheinlich abgevviesen. Ebendeshalb, weil 
auch die Umwandlung der Organe in¬ 
einander noch immer einen hypotheti¬ 
schen Charakter besitzt, braucht man da¬ 
für lieber das Wort Metamorphose, als 
Ausdruck für eine wissenschaftliche 
Hypothese, welche die realen Tatsachen 
zusammenfassen soll. — 

Goethes Osteologie und seine Bedeu¬ 
tung als Naturforscher sind in einem 
zweiten Abschnitt des hier angezeigten 
Buches behandelt in der Form einer 
gründlichen Widerlegung der 1913 er¬ 
schienenen Schrift des Holländers J. H. 
F. Kohlbrugge: „Historisch-kritische 
Studien über Goethe als Naturforscher.“ 
Der Raum verbietet, dies umfangreiche 
Kapitel hier auch nur im Auszuge wie¬ 
derzugeben. Das Resultat ist eine völlig 
begründete Ablehnung der Ansichten 
und leeren Behauptungen Kohlbrugges, 


was auch mit einer von Lubosch erschie¬ 
nenen Antikritik zusammenstimmt. Ich 
kann hier auch nicht auf die umfangrei¬ 
chen kritischen und historischen Zu¬ 
sätze eingehen, welche meiner Arbeit 
beigefügt sind und zur Klärung von Fra¬ 
gen über Begriffsbildung in der Botanik 
und von geschichtlicher Auffassung der 
Entwicklung der Morphologie beitragen 
können. Doch möchte ich, um den Cha¬ 
rakter der Arbeit noch hervorzuheben, 
das Schlußwort hier abdrucken. 

„Es handelt sich hier nicht darum 
schließlich auszurufen: „Zurück zu 
Goethe!“ O. Meyerhoff stellt am Schluß 
eines Vortrages (über Goethes Methode 
der Naturforschung 1910, S. 49) die 
Sache so dar, als ob ein solcher Ruf 
von Naturforschern ausgegangen sei. 
Nachweise fehlen. Mir ist davon nichts 
bekannt. Wir sind in der Tat in der 
Technik der Untersuchungsmethoden 
wie in theoretischer Behandlung in den 
Naturwissenschaften so weit über 
Goethe hinausgekommen, daß jener Ruf 
nur ein Lächeln hervorrufen könnte. 
Andererseits glaube ich für die Meta¬ 
morphose deutlich gemacht zu ha¬ 
ben, daß man in der logischen und 
theoretischen Behandlung dieser Frage 
nicht über Goethe hinausgekommen ist. 
Man könnte nun meinen, Goethes Be¬ 
deutung und sein Ruhm seien so groß, 
daß es nicht darauf ankomme, ob auch 
seine naturwissenschaftlichen Studien 
Bedeutung besitzen und ob er auch Na¬ 
turforscher zu nennen sei. Aber darum 
handelt es sich hier nicht, sondern um 
die Bekämpfung einer Literatur, die zu 
falschem Denken erzieht. Was Natorp 
am Schluß seines Vortrages „Uber Pla¬ 
tons Ideenlehre“ (S. 32) von der fal¬ 
schen Beurteilung dieses Genius sagt, 
gilt fast wörtlich von der Beurteilung 
Goethes durch unklare Geister. Wie 
Natorp sehe auch ich in der Geistesge- 


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Felix Niedner, Könige und Skalden in der Heimskringla 


246 


schichte nicht „den Kirchhof, wo auf 
jedem Stein zu lesen steht: Gewesen 
— verwest!“, sondern erblicke gleich¬ 
falls in ihr das Mittel zur „Aufer¬ 
weckung des Geistes, der lebt und le¬ 
bendig macht“. 

So glaube ich hier nicht bloß eine 
Literaturkritik geliefert zu haben, son¬ 
dern vor allem den Beweis, daß das 
Studium Goetheschen Denkens auch 
für unser heutiges wissenschaftliches 
Urteil fruchtbringend ist und eine „Auf¬ 
erweckung des Geistes“ zum Aufsu¬ 
chen richtiger Wege der Erkenntnis 
bedeutet. In seltener Weise hat Goethe 
die Gabe besessen, das Problem der 
Allgemeinheit zu erfassen und Allge¬ 


meines und Einzelnes in Einklang zu 
bringen. Hier liegt auch eine Haupt¬ 
schwierigkeit in der Naturwissenschaft, 
zumal in der Biologie, und so kann 
Goethe in der Lösung „des Konfliktes 
des Denkens und der Anschauung" 
wenn nicht Lehrer, doch Führer und 
Befreier sein, wie er sich einmal selbst 
genannt hat. Denn er hat in allen sei¬ 
nen theoretischen Schriften nicht bloß 
als Metaphysiker, sondern immer an der 
Hand der Erfahrung seine Schlüsse ge¬ 
zogen (vgl. W. A. II 6, S. 348 ff.). Wer 
sich mit Goethes Naturforschung be¬ 
schäftigt, wird das Befreiende seines 
Einflusses nicht leugnen können. 


Könige und Skalden in der Heimskringla. 

Von Felix Niedner. 


• l. 

Die Heimskringla, die Geschichte der 
norwegischen Könige, von dem islän¬ 
dischen Staatsmann, Gelehrten und 
Skalden Snorri Sturlassohn ist für die 
Kenntnis der Kultur des alten Nordens 
von ebenso großer Bedeutung wie die 
etwas ältere Geschichte des SaxoGram- 
maticus über die dänischen Könige 
Weit aber übertrifft Snorri jenen Histo¬ 
riker durch die Gediegenheit seiner wis¬ 
senschaftlichen Forschung und die pla¬ 
stische Gestaltungskraft seiner Darstel¬ 
lung. Der weite Blick und die beson¬ 
nene Kritik, mit der dieses Werk ent¬ 
worfen, der frische Wirklichkeitssinn 
und die strenge Wahrheitsliebe, mit der 
es ausgeführt ist, sichern Snorri seinen 
Rang als Historiker. Als Künstler zeigt 
ihn der schmucke isländische Sagastil, 
in dem er sein Königsbuch schrieb. 
Durch ihn wirkt es im Vergleich mit 
der Lateinschriftstellerei der mittelal¬ 


terlichen Geschichtsliteratur wie eine 
unterhaltende Lektüre. 

Snorri lebte von 1178—1241, also 
zur Zeit der staufischen Kaiser in 
Deutschland. Daß er als Isländer da¬ 
mals ein norwegisches Königsbuch ver¬ 
faßte, ist kein Zufall. Beide Länder, 
Norwegen und Island, waren, nachdem 
ein Teil des Norwegervolkes am Ende 
des 9. Jahrhunderts sich abgezweigt und 
auf Island einen neuen Staat gegründet 
hatte, stets in Fühlung miteinander ge¬ 
blieben. Das Mutterland hatte sich, als 
Harald Schönhaar dort nach Karls des 
Großen Muster den Einheitsstaat ge¬ 
gründet, etwa vierthalb Jahrhunderte 
lang unter großen Königen neben den 
Nachbarreichen Schweden, Dänemark 
und England zu einer politischen Macht 
entwickelt. Das Isländervolk hatte es im 
gleichen Zeiträume zu hoher geistiger 
Kultur gebracht. Es war zum ersten 
Literaturvolk des alten Nordens gewor¬ 
den. Die wechselvollen Vorgänge, un- 


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Felix Niedner, Könige und Skalden in der Heimskringla 


248 


ter denen sich die Ansiedler auf der 
fernen Insel zum selbständigen Volke 
auswuchsen, die mannigfachen für die 
Isländer oft ruhmvollen Ereignisse auf 
ihren häufigen Kriegs- und Handels¬ 
fahrten ins Ausland hatten ihr Selbst¬ 
gefühl mächtig gesteigert. Alle diese 
Erlebnisse klangen wider in der klas¬ 
sischen Prosaerzählung ihrer Saga und 
in den kunstvollen Liedern ihrer Skal¬ 
den. 

Der norwegische Königshof behielt 
für die Isländer eine dauernde Anzie¬ 
hungskraft. Von dort kamen die neuesten 
und interessantesten Nachrichten aus der 
Welt. Dort verdiente sich der junge Is¬ 
länder mit Vorliebe im Königsdienst die 
ersten kriegerischen Sporen. Dort end¬ 
lich fand der Skalde den ausgiebigsten 
Stoff und Lohn für seine Preislieder. So 
spielten die norwegischen Könige auch 
frühzeitig eine große Rolle in der hei¬ 
mischen Sagaerzählung. Umgekehrt war 
der vornehme Isländer in Norwegen 
stets eine willkommene Erscheinung. Sie 
wurde zum Ereignis, wenn ein berühm¬ 
ter Skalde dort eintraf, denn diese Män¬ 
ner, die oft zu Freunden und Ratgebern 
des Königs auf stiegen, trugen in der von 
ihnen damals ausschließlich gepflegten 
Liedkunst den Ruhm Islands in alle 
nordischen Lande. Das norwegische 
Interesse am Isländervolk, das sich bei 
einigen Herrschern fast zu einem per¬ 
sönlichen Freundschaftsverhältnis stei¬ 
gerte, hatte indes doch auch einen po¬ 
litischen Hintergrund. Man hoffte auf 
die Wiedervereinigung der Insel mit 
dem Mutterlande. So eng sich aber die 
Isländer auch sonst in allem mit diesem 
verbunden fühlten, jeden Angriff auf 
seine staatliche Selbständigkeit hatte 
das freiheitliebende Volk, selbst einem 
so angesehenen Herrscher wie Olaf dem 
Heiligen gegenüber, stets abgelehnt. 

Zu Snorris Zeiten hatten sich die Ver¬ 


hältnisse in Norwegen und auf Island 
wesentlich geändert. In Norwegen 
herrschte nach dem Aussterben des alten 
im Königsbuch behandelten Königsge¬ 
schlechtes der aus Ibsens Kronpräten¬ 
denten bekannte König Hakon der Alte. 
Unter ihm schien das Reich in engerer 
Fühlungnahme mit den andern damals 
im Zeichen des Rittertums stehenden 
europäischen Ländern vor einer neuen 
Blüte zu stehen. Island aber, dessen 
Literatur damals durch die schriftliche 
Inventarisierung seiner alten Sagas und 
Skaldenlieder Weltruf bekam, ging po¬ 
litisch seiner Auflösung entgegen. Die 
vornehmsten Geschlechter des Freistaa¬ 
tes, die oligarchisch die Gewalt an 
sich gerissen hatten, befehdeten sich ge¬ 
genseitig im Bürgerkriege und mach¬ 
ten es König Hakon leicht, die alten 
Ansprüche der norwegischen Könige 
auf Island zu erneuern. 

Snorri entstammte dem angesehen¬ 
sten und geistig regsamsten jener Ge¬ 
schlechter, dem der Sturlunge, in des¬ 
sen kriegerische Händel der friedfertige 
Mann zeit seines Lebens verwickelt 
war. Dies und seine langjährige ver¬ 
mittelnde politische Tätigkeit für die 
Unabhängigkeit seines Vaterlandes am 
Hofe König Hakons und daheim als 
Gesetzessprecher der Insel verhüteten 
schon, daß er, der gelehrteste Mann sei¬ 
ner Zeit, Buchgelehrter blieb. 

Den Grund zu seiner umfassenden 
Gelehrsamkeit hatte Snorri in dem al¬ 
ten Gelehrtensitze Odde in Südisland 
gelegt. Er hatte dort vor allem die 
Schriften des ein Jahrhundert älteren 
Vaters der isländischen Geschichte, Ari 
Thorgilssohn, kennengelernt, die später 
den Ausgangspunkt und den ständigen 
kritischen Gradmesser für sein Königs¬ 
buch abgaben. Auf Borg in Westis¬ 
land, dem Sitz seines Ahnen, des grö߬ 
ten Skalden aus der Blütezeit des Frei- 


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Felix Niedner, Könige und Skalden in der Heimskringla 


Staates, Egil Skallagrimssohns, hatte er 
dann dessen Geschichte aufgezeichnet. 
Sie führte ihn schon in die Anfänge der 
norwegischen Königsgeschichte, hatte 
ihn aber auch die Bedeutung der alten 
Skaldenlieder als historische Quelle er¬ 
kennen lassen. Er hatte dann in sei¬ 
nem Skaldenlehrbuch, der sogenannten 
jüngeren Edda, die Eigenart dieser 
Gedichte, die in einer formprächti¬ 
gen mythendurchtränkten Bildersprache 
wahre und lebensvolle Gegenwart spie¬ 
gelten, bis in ihre kleinsten Finessen 
aufgedeckt und, obwohl selbst ohne 
tiefere dichterische Anlage, durch sein 
formvollendetes Preislied auf König 
Hakon und dessen Mitregenten, Jarl 
Skule, den Ruhm des besten Skalden 
seiner Zeit erworben. Seine staatsmän- 
nische Wirksamkeit am Königshof und 
später daheim, obwohl sie auf die 
Dauer nicht von Erfolg gekrönt war 
und dem vaterlandsliebenden Manne 
schließlich sogar das Leben kostete, 
hatte doch seinen politischen Blick für 
die alte Königsgeschichte und die Ver¬ 
gangenheit seines Volkes; die vielfach 
ähnliche Verhältnisse wie die Gegen¬ 
wart zeigten, geschärft. In ausgedehn¬ 
ten an den Königsbesuch angeschlos¬ 
senen Reisen in Norwegen und Schwe¬ 
den hatte er den Schauplatz seines 
Werkes genau studiert und sein histo¬ 
risches Wissen an Ort und Stelle aus 
mündlichen Informationen ergänzt. 
Dies alles kam ihm zustatten, als er 
endlich in der ruhigsten und glücklich¬ 
sten Zeit seines Lebens, in den Jahren 
1220—1230, auf seinem Herrensitz 
Reykjaholt, wo er damals das Leben 
eines begüterten gastfreien bäurischen 
Grandseigneurs führte, seinen Schrei¬ 
bern in die Feder diktierte. 

Aus den kunstlosen Biographien über 
einzelne Könige und den reizlosen 
chronikarti^en Gesamtdarstellungen der 


Königsgeschichte in Schriften vor und 
zu seiner Zeit hat Snorri sein einheit¬ 
lich gegliedertes und künstlerisch ab¬ 
gerundetes Werk geschaffen. So sehr 
er aber auch, hierin unterstützt durch 
seine politischen Erfahrungen, in der 
nüchternen Wertung von Menschen und 
Zuständen der Vergangenheit den oben¬ 
erwähnten Ari sich zum Muster nahm, 
in der Technik seiner Darstellung ist 
er, nach dem Vorbild der alten Saga, 
weit über jenen hinausgegangen. Un¬ 
beschadet der zielsicher angelegten und 
pragmatisch durchgeführten Haupthand¬ 
lung hat er es verstanden, in oft weit¬ 
abschweifenden Episoden durch fes¬ 
selnde Kulturgemälde das allgemeine 
Zeitbild zu beleben und zu vertiefen. 
Er hat die auftretenden Personen nicht 
nur in ihrem Handeln klar und sicher 
gezeichnet. Er vervollständigt ihr Cha¬ 
rakterbild gern durch scharfzuge- 
spitzte Dialoge, ja weitausgesponnene 
Reden in ihrem Munde, so daß sie le¬ 
bendig. als wären sie Kinder der Ge¬ 
genwart, vor uns erscheinen. Einen ähn¬ 
lichen künstlerischen Eindruck ruft die 
oft wörtliche Einfügung der alten als 
historische Quelle verwerteten Skalden¬ 
strophen in uns hervor. 

Im Gegensatz zu den nordischen 
Ländern und England fehlt es bei uns 
an einer vollständigen Übertragung von 
Snorris Werk. Diesem Mangel will das 
Sammelwerk Thule 1 ) abhelfen. Im fol¬ 
genden soll nur an dem Bilde des König¬ 
tums und des Skaldentums, wie es 
Snorri in der Heimskringla zeichnet, 
eine Vorstellung von ihrer Eigenart und 
der ihres Autors gegeben werden. 

2 . 

Als erste festumrissene Gestalt tritt 
im Königsbuch der Begründer des Ein- 

1) Altnordische Dichtung und Prosa. 
Jena 1911 ff., Eugen Diederichs. Snorris 
Königsbuch, Bd. 14—16. 


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Felix Niedner, Könige und Skalden in der Heimskringla 


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heitsstaates, der aus Fontanes schöner 
Ballade bekannte Harald Schönhaar, 
hervor. Auf dem Siegeszuge dieses 
südnorwegischen Kleinfürsten durch 
das ganze Land sehen wir seine selbst¬ 
bewußte Energie, aber auch, besonders 
in den fesselnden Kämpfen in Hardan- 
ger und Sogne den zähen Widerstand 
der einzelnen Landschaften, deren 
Kleinkönige sich dem neuen Joch nicht 
beugen wollen. Schon nach der Un¬ 
terwerfung der mächtigen Drontheimer 
Gaue im Norden aber hatte Harald in 
der Verfassungsänderung den zweiten 
entscheidenden Schritt zum Einigungs¬ 
werk getan. Ein festgefügter Lehnsstaat 
entsteht. Die größeren und kleineren 
Gaufürsten, die Jarle und Hersen, wer¬ 
den Vasallen des Königs. Die bis dahin 
freien Groß- und Kleinbauern dürfen 
ihre Erbgüter nur als königliches Lehen 
behalten. Auf dem neuen Feudalwe¬ 
sen baut sich die Heeresverfassung 
auf. Allerorten im Lande entstehen kö¬ 
nigliche Herrensitze, und Königsvögte 
ziehen überall auf diesen Krongütern 
Steuern und Abgaben ein. Haralds See¬ 
sieg im Bocksfjord bei Stavanger im 
Jahre 872 vollendet das Einigungswerk. 
Die widerstrebenden Elemente verlas¬ 
sen das Land. Islands Geschichte be¬ 
ginnt. Der König aber erweitert die 
Macht des Reiches auch nach außen. 
Er zieht ostwärts bis Schweden und 
nach Westen bis zu den britischen Ei¬ 
landen. 

Der Staatsgründer ist jedoch kein 
Staatserhalter. Des Königs zahlreiche 
Söhne, deren Mütter den verschieden¬ 
sten norwegischen Landschaften ent¬ 
stammen, blieben, in den Sonderinter¬ 
essen ihrer Heimat aufgewachsen, dem 
Einheitsgedanken fremd. Ihr Hader mit 
dem Vater, untereinander und mit den 
Lehnsleuten des Königs schafft unun¬ 
terbrochene innerpolitische Wirren. 


Ihrem Machthunger nachgebend, ver¬ 
leiht ihnen der König den Königstitel 
und beschränkte königliche Rechte. So 
entsteht aus Haralds eignem Ge- 
schlechte das Kleinkönigtum, das der 
Einheitsstaat überwinden sollte, aufs 
neue, und der Grund wird gelegt zu 
dem verhängnisvollen Kronprätenden- 
tentum, das fortan das ganze Königs¬ 
buch hindurch dem Staatsgedanken 
entgegenwirkt. 

Keiner von des Königs Nachfolgern 
wahrt die unbestrittene Königsmacht. 
Der kriegstüchtigste, Erich Blutaxt, fin¬ 
det die Anerkennung seiner zahlreichen 
Brüder nicht und endet als Verbannter 
nach langwierigen Wikingerkämpfen in 
England. Glücklicher ist Harald Schön¬ 
haars Lieblingssohn. Hakon der Gute. 
Aber auch er kann die Zufriedenheit 
des Volkes nur durch Wiederfreigabe 
der von seinem Vater beschlagnahmten 
bäurischen Erbgüter erkaufen, und nur 
die Vermittlung des ihm befreundeten 
klugen Drontheimer Jarls Sigurd schützt 
ihn vor offener Opposition des Vol¬ 
kes gegen seine Christianisierungspläne. 
Vollends kritisch wird die Lage, als 
nach seinem Tode in der Schlacht bei 
Fitje die Königsherrschaft an Erich 
Blutaxts Sohn Harald Graumantel über¬ 
geht. Sein und seiner Brüder grausames 
und engherziges Regiment, dessen Pä- 
den die staatskluge, aber ränkesüchtige 
Königin-Mutter Gunnhild leitet, und 
dem der volksfreundliche Jarl Si¬ 
gurd zum Opfer fällt, lassen den Wi¬ 
derstand gegen die neue Lehre und die 
Selbständigkeitsbestrebungen der Dront¬ 
heimer Gaue, wo das Heidentum am 
tiefsten wurzelte, ständig wachsen. 

In dieser Zeit, wo der Glanz von 
Harald Schönhaars Königshaus zu ver¬ 
bleichen schien, stieg der Stern von 
des ermordeten Jarl Sigurds Sohn, Ha- 
kons des Mächtigen, leuchtend empor. 


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Felix Niedner, Könige und Skalden in der Heimskringla 


Zwanzig Jahre des Interregnums hin¬ 
durch ist dieser kriegstüchtige, vor al¬ 
lem aber staatskluge und verschlagene 
Mann, ohne den Königstitel zu führen, 
tatsächlich -der Herrscher in Norwegen 
gewesen. Am Königshofe in Dänemark, 
bisher dem Halt und der Stütze Harald 
Graumantels und seiner Brüder, wo 
Hakon nach dem Tode seines Vaters 
in der Verbannung lebte, bereitete er 
durch fast machiavellistische Umtriebe 
seinen schrittweisen Aufstieg vor. Ha¬ 
rald Graumantel, unter der Maske der 
Freundschaft an den Königshof ge¬ 
lockt, findet dort durch Hakon seinen 
Untergang. Die andern Brüder besiegt 
dieser in Norwegen. Er selbst nimmt, 
formell als Vasall des Dänenkönigs, 
Besitz vom Reiche. In Wirklichkeit 
vertritt er kraftvoll nach außen die 
Interessen seiner Heimat. Noch einmal 
muß er die widerwillige Rolle des Va¬ 
sallen spielen, als er im Gefolge des 
Dänenkönigs am Danewirke gegen Kai¬ 
ser Otto II. von Deutschland ficht. Ob¬ 
wohl selbst siegreich, muß er, da der 
Feldzug ungünstig für den Dänenkö¬ 
nig endet, mit diesem das Christen¬ 
tum annehmen. Aber schon auf der 
Rückkehr nach Norwegen setzt er in 
den götländischen Schären die mitge¬ 
nommenen christlichen Priester aus. 
Das Volk jubelt ihm zu. Er gebietet da¬ 
heim über sechzehn Jarle. Den Höhe¬ 
punkt seines Ruhmes erreicht er, als 
er die gefürchteten Seekrieger von Joms- 
burg, die von ihrem Wikingernest an 
der pommerschen Küste zur Eroberung 
Norwegens ausgesegelt waren, in einer 
glänzenden Seeschlacht schlägt und den 
Ruf ihrer Unbesiegbarkeit vernichtet. 
Diese Popularität hat sich, der allmäch¬ 
tige Mann durch Willkürherrschaft im 
Lande später selbst zerstört, ja er fand 
durch die erbitterte Bevölkerung, deren 
Frauen er zu ^nahe trat, schließlich 


254 


selbst den Tod. Snorri läßt sich durch 
das allgemeine Verdammungsurteil 
über Hakon wegen dieser letzten Zeit, 
das kirchlicher Eifer sicher förderte, 
seinen unparteiischen Blick als Forscher 
nicht trüben. Er läßt in seinem Urteil 
der Bedeutung dieses ungekrönten Kö¬ 
nigs von Norwegen, der in seiner real- 
politischen Anlage von keinem späte¬ 
ren Herrscher übertroffen wurde, alle 
Gerechtigkeit widerfahren. 

Der eigentliche Held in diesem ersten 
Bande des Königsbuches ist doch Olaf 
Tryggvissohn. Mit der ihm eigenen 
Kunst, gegensätzliche Erscheinungen 
auch in der Darstellung scharf und n - 
wirksam zu kontrastieren, hat Snorri 
ihn, den Urenkel Harald Schönhaars 
aus einer südnorwegischen Linie des 
Geschlechtes, schon wiederholt im Hin¬ 
tergründe von Jarl Hakons Geschichte 
auftreten lassen. Ohne seinen Vorgän : 
ger in der Herrschaft zu kennen, focht 
Olaf gegen jenen als Wikinger auf sei¬ 
ten Kaiser Ottos II. Während dann Ha¬ 
kon nach Aussetzung der christlichen 
Priester den alten Heidengöttern im 
Lande prächtige Opferfeste veranstal¬ 
tet, empfängt Olaf nach Wikingerfahr¬ 
ten in Frankreich und England auf den 
Sdllyinseln die Taufe und die Weis¬ 
sagung seiner künftigen Herrschaft in 
Norwegen. Und in der Zeit, wo der 
große Jarl in einem Schweinestall, wo¬ 
hin er sich vor seinen Verfolgern ge¬ 
flüchtet, ein unrühmliches Ende findet, 
landet Olaf Tryggvissohn als König im 
Lande seiner Väter. 

Während Olaf Tryggvissohn die po¬ 
litische Zusammenfassung des Rei¬ 
ches, nachdem die Sympathie des Vol¬ 
kes für seinen großen Vorgänger auf 
ihn übergegangen war, verhältnismä¬ 
ßig geringe Schwierigkeiten bereitete, 
mußte er für die Christianisierung Nor¬ 
wegens alle Kräfte seiner energischen 



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Felix Niedner, Könige und Skalden in der Heimskringla 


255 


und weltklugen Persönlichkeit einset- 
zen. Am leichtesten gelang ihm im Sü¬ 
den, wo er an dem alten Königtum sei¬ 
nes Vaters einen Anhalt hatte, durch 
harte Strafen der Widerspenstigen das 
Bekehrungswerk, am schwersten im 
Norden bei den Drontheimer Bauern, 
wo schon früher weder Hakons des 
Guten Milde noch Harald Grauman¬ 
tels Schroffheit Erfolge erzielt hatten. 
Erst nachdem er durch weit angelegte 
listige Machinationen die Schürer der 
Aufstände dort als Geiseln in seiner 
Hand hat, kann er es ohne Widerstand 
wagen, auf dem Opferfeste der Bauern 
deren Rädelsführer Eisenskeggi nieder¬ 
hauen zu lassen und die heidnischen 
Götterbilder eigenhändig zu stürzen. 

In Snorris Charakteristik von Olaf 
Tryggvissohn treten seine körperlichen 
und geistigen Vorzüge, die den Zeit¬ 
genossen imponierten, scharf hervor. 
Ein eigentümlicher Zauber, der in sei¬ 
nem Wesen lag, kam ihm, namentlich 
bei der Behandlung der freiheitlieben¬ 
den Großen im Lande und der vorneh¬ 
men isländischen Besucher, die er für 
das Christentum gewinnen wollte, oft 
zustatten. Anderseits! schufen ihm die 
Schattenseiten seines Charakters, Hang 
zur Grausamkeit und gelegentliche Un¬ 
fähigkeit, sich im Jähzorn zu meistern, 
manchen Mißerfolg in seiner Herrscher¬ 
tätigkeit und manche persönliche Feind¬ 
schaft. Die brutale Art, wie er gegen 
die stolze Schwedenkönigin Sigrid, 
weil diese das Christentum nicht an¬ 
nehmen wollte, in deren eignem 
Lande auftrat, zerstörte nicht nur das 
so geschickt im Interesse Norwegens 
eingefädelte Projekt einer Heirat mit 
dieser. Sigrid bringt später nach ihrer 
Vermählung mit dem Dänenkönig 
Svend Gabelbart die gefährliche feind¬ 
liche Koalition gegen ihn zustande, der 
pr im Jahre 1000 in der Seeschlacht 


l>ei Svold an der pommerschen Küste 
erlag. 

Als äußeres Zeichen seiner Macht er¬ 
richtet Olaf Tryggvissohn unfern Lade, 
dem Sitz der Drontheimer Jarle, die 
Königsburg am Nid. Aus dem Han¬ 
delsplatz dort blüht die spätere Stadl 
Nidaros, das heutige Drontheim, em¬ 
por. Des Königs größter Stolz aber 
ist der „Langwurm“, das prächtigste 
Drachenschiff seiner Zeit. Wir sehen 
es unter Hand eines kunstfertigen Bau¬ 
meisters entstehen. Wir erfahren alle 
Einzelheiten seiner Einrichtung und Be¬ 
mannung. Um dies Königsschiff und 
später auf ihm spielt sich der Entschei¬ 
dungskampf bei Svold ab, bis es nach 
König Olafs Fall eine Beute des grö߬ 
ten seiner Feinde, des aufsässigen Dront¬ 
heimer Jarls Erich, wird. Die Schilde¬ 
rung dieser Schlacht ist eine Perle 
Snorrischer Erzählungskunst. In einer 
Art Teichoskopie werden uns die Geg¬ 
ner des Königs vorgeführt. Aus ihren 
bewundernden Gesprächen entfaltet 
sich vor unsern Augen das heranse¬ 
gelnde prächtige Geschwader König 
Olafs. Dieser selbst mustert vom Lang¬ 
wurm aus die Gestalten seiner Feinde 
Spott und Hohn fällt aus seinem Munde 
auf die ruhmredigen Schweden- und 
Dänenkönige, die auch tatsächlich spä¬ 
ter im Angriff versagen. Höchst an 
erkennend äußert er sich über den spä¬ 
teren Sieger, Jarl Erich, und dessen 
Leute. „Das sind Norweger wie wir 
Die werden uns zu schaffen machen.“ 
Wie schon in der Geschichte Hakons 
des Mächtigen, so ist auch hier in des¬ 
sen Sohn Erich der Widersacher des 
Königtums von Snorri unparteiisch ge¬ 
würdigt. Unvergleichlich lebensvoll tritt 
uns dann der König auf seinem Flagg¬ 
schiff kämpfend und kampfanfeuernd 
entgegen. Ein ergreifendes Bild ist es, 
wie er nach dessen Enterung durch die 


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257 Felix Niedner, Könige und Skalden in der Heimskringla 


Übermacht mit den letzten Getreuen 
über Bord springt und in den Wellen 
versinkt. Man versteht danach die 
Volksstimmung, die, im Angedenken 
eines solchen Herrschers den legendä¬ 
ren Fabeleien von seiner wunderbaren 
Rettung Vorschub leistete. Der Histori¬ 
ker Snorri hat sie verworfen, gestützt 
dabei hauptsächlich auf die gleichzei¬ 
tige Skaldendichtung, die auch in man¬ 
chem Einzelzuge Licht und Farbe für 
seine Darstellung abgab. Aber mit Olafs 
Tod stirbt für Snorri nicht der Königs¬ 
gedanke. Seine Auferstehung erfolgt in 
Olaf dem Heiligen. Von Olaf Tryggvis- 
sohn getauft und in wichtigen Momen¬ 
ten seines Lebens von ihm in Traum¬ 
erscheinungen beraten, ist dieser auch 
im geistigen Sinne sein Nachfolger. 

3. 

Das Skaldentum, dessen Kunst schon 
seit Anfang des 9. Jahrhunderts in Nor¬ 
wegen blühte, stand schon bei Harald 
Schönhaar in hoher Gunst. Seine Ver¬ 
treter hatten einen Ehrenplatz in der 
Königshalle. Sie fochten auf dem Vor¬ 
dersteven des Königsschiffes in der 
Schlacht. Einen hohen Rang nahm 
Thjodolf von Kvinnsdalen am Königs¬ 
hof ein. Als eine Art dichterischer Hof¬ 
historiograph sang er das Lied von den 
Ynglingen, den sagenhaften Vorfahren 
des Königsgeschlechtes in Schweden, 
das für Snorris Schilderung dieser 
Vorgeschichte im Eingang der Heims¬ 
kringla eine wesentliche Quelle abgege¬ 
ben hat. Als politischer Berater des 
Königs erscheint er in einer für die 
innere Geschichte des Norwegerrei¬ 
ches kritischen Stunde. Durch des Dä¬ 
nen Holger Drachmann Dichtung ist 
das Liebesabenteuer des Königs mit 
dem schönen Finnenmädchen Snäfrid 
aus der Heimskringla weiter bekannt 
geworden. Nachdem ihr Zauber ihn 

Intemntionale Monatsschrift 


den Regierungsgeschäften lange ent¬ 
fremdet hat, will Harald, wieder zur 
Besinnung gekommen, aus Zorn über 
das Geschehene seine Söhne von ihr 
verstoßen. Durch seine Vertrauensstel¬ 
lung am Königshofe gelingt es Thjo¬ 
dolf, den König von diesem Schritt 
zurückzuhalten und zu verhüten, daß 
der Zwist im Königshause noch durch 
einen besonders gefährlichen vermehrt 
wird. Die Kämpfe des Königs zur 
Einigung Norwegens leben für die 
Nachwelt fort in den Liedern Thor¬ 
björn Homklofis. Sein schönstes feiert 
den entscheidenden Sieg im Bocksfjord, 
den der Skalde, auf dem Königsschiffe 
kämpfend, selbst mit erfochten hat. 
Man fühlt das Selbsterlebnis, denn von 
dem ersten Erscheinen der prächtigen 
Drachenschiffe und der beim Angriffe 
brüllenden und die Speere schüttelnden 
wolfpelzumhüllten Berserker bis zur 
jähen Flucht der Feinde ist hier alles 
Leben, Szene, Bewegung. Eine kühne 
Realistik des Ausdrucks zeigt das Lied 
In der Verhöhnung der Gegner, die sich, 
den Steiß in der Luft, unter die Ruder¬ 
bänke verkriechen und nach der bösen 
Flucht sich auf die heimische Metbank 
freuen. Das dramatische Leben im Ge¬ 
dicht ist erhöht dadurch, daß der Skalde 
die Schlachtschilderung einem von der 
Wahlstatt daherfliegenden Raben in 
den Mund legt, der sie im Wechselge¬ 
spräch mit einer ihn um Auskunft bit¬ 
tenden Walküre berichtet. Aber auch 
bei den Gegnern des Königs blüht die 
Skaldendichtung. Um seinen Vater zu 
rächen, hat der Orkadenjarl Torfeinar 
Halfdan Hochbein, einen Sohn des Kö¬ 
nigs, erschlagen. Dieser Fürst, der sei¬ 
nen Bauern auf den waldarmen Ei¬ 
landen das Torfstechen zur Feuerung 
beibrachte, ein Sohn von Haralds treu¬ 
stem Gehilfen beim Einigungswerk, 
dem Jarl Rögnvald von Möre, war 

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259 


Felix Niedner, Könige und Skalden in der Heimskringla 


260 


selbst eine organisatorische Natur. Er 
gab den Orkaden, nachdem der König 
sich au! seinem Rachezug gegen ihn 
gütlich mit ihm geeinigt, eine dem Nor- 
vvegerreiche ähnliche Verfassung. Den 
seelischen Eindrücken bei seinen Hän¬ 
deln mit dem Königsgeschlecht, dem 
Zorn über seine in der Vaterrache säu¬ 
migen Brüder, der Genugtuung über die 
Erschlagung des übermütigen Halfdan 
und seiner Furchtlosigkeit vor König 
Haralds Rache hat er in formschönen 
epigrammartigen Strophen eine für das 
Krieger- und Rechtsgefühl jener Zeit 
charakteristische Fassung gegeben. 

Die sonnige Zeit Hakons des Guten 
und die schlimmen Tage Harald Grau¬ 
mantels spiegeln sich wider in den 
Gedichten des mit dem norwegischen 
Königsgeschlecht und isländischen Fa¬ 
milien verwandten letzten großen Skal¬ 
den in Norwegen, Eyvind Finnssohns. 
Es kann kaum eine bissigere Satire 
auf die Notlage des Reiches unter Ha¬ 
rald Graumantel geben, als wenn die¬ 
ser einflußreiche Mann, der noch jüngst 
für ein auf alle isländischen Großen ge¬ 
dichtetes Preislied vom ganzen Volk 
dort eine silberne Spange als Ehrenge¬ 
schenk erhalten hatte, im Liede klagt, 
daß er dieses für Schlachtvieh und 
seine Kriegspfeile für Heringe habe 
veräußern müssen. Vergebens sucht Ha¬ 
rald Graumantel den aufrechten Mann 
nach Hakons des Guten Tode in seine 
Dienste zu ziehen. Sein Herz hing an 
diesem Könige, den er durch sein Lied 
zum Sieg bei Fitje angefeuert hatte, 
dem er aber, da der Herrscher der in 
der Schlacht empfangenen tödlichen 
Wunde erlag, zugleich sein Totenlied 
dichten mußte. Dieses schildert das 
Zwiegespräch des Königs mit den hoch 
zu Rosse um ihn haltenden Walküren, 
die ihn zu Odin holen wollen, dann 
seinen Einzug in Walhall und seinen 


Empfang bei den Göttern. Trefflich ist 
der kampffrohe und leutselige Herr¬ 
scher geschildert. Es ist gewiß Ab¬ 
sicht, daß ihn vor Odins Halle nicht 
nur der Kriegsgott Hermod, sondern 
auch der Skaldengott Bragi empfängt. 
Der Gedanke ist, daß auch in Walhall 
der Nachruhm dieses guten Königs von 
Dichtermund gepriesen werden soll. 

Inzwischen hatte schon der erste große 
isländische Skalde Egil Skallagrimssohn 
in einem statuaren Preislied den Ruhm 
von Hakons kriegerischem Bruder 
Erich gesungen, und sein Freund Einar 
Schalenklang ward Herold der Taten 
Jarl Hakons des Mächtigen. AuchKor- 
mak ögmundssohn taucht in der Heims¬ 
kringla am Hofe von Hakons Vater, 
dem volksfreundlichen Jarl Sigurd, auf, 
Aus einer stimmungsvollen Novelle 
des dänischen Dichters J. P. Jacobsen 
ist jener Skalde uns in neuerer Zeit 
durch seine von rastlosen Wikinger¬ 
kämpfen durchflochtene Liebesge¬ 
schichte mit der isländischen Bauern¬ 
tochter Steingerd nähergetreten. Hier 
beleuchtet seine Dichtung die heidni¬ 
schen Opferfeste des freigebigen 
Drontheimer Jarles. 

Als geschlossenste Gestalt unter den 
Skalden erscheint doch hier Hallfred 
Ottarssohn aus dem nördlichen Island. 
Auch dieser hatte, wie Kormak, in feu¬ 
rigen mit kriegerischem Spott auf sei¬ 
nen Rivalen durchwürzten Liedern eine 
Isländerin, die schöne Kolfinna, besun¬ 
gen. Er hatte in der Jugend am Hofe 
Hakons des Mächtigen auf diesen ge¬ 
dichtet. Aber das blieb alles Episode 
im Leben des rastlosen Mannes. Bei 
der ersten Begegnung erliegt er dem 
Zauber von Olaf Tryggvissohns Per¬ 
sönlichkeit, der ihn schon vorher un¬ 
erkannt in einem gefährlichen Seesturm 
aus Lebensgefahr befreit hatte. Jenes 
Zusammentreffen fand auf der Straße 


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Nachrichten und Mitteilungen 


262 


261 


in des Königs Hauptstadt Nidaros 
statt. Hallfred will Skalde des Herr¬ 
schers werden, von dem er auf Island 
so viel gehört hat. Dieser fordert ener¬ 
gisch sein Christentum. In scharfge¬ 
schliffenem Dialog, dessen Worte wie 
Pfeile treffen, prallen diese eigenwil¬ 
ligen Charaktere aufeinander. Aber die 
Einigung gelingt. Und doch hat Olaf 
Tryggvissohn seinem Dichter ahnungs¬ 
voll richtig den Beinamen „Schlimmer 
Skalde“ gegeben. Trotz der sofortigen 
Taufe durch den König selbst bleibt 
Hallfred innerlich Heide. Er führt die 
königlichen Aufträge im Dienste des Chri¬ 
stentums lau aus, freit in Schweden ein 
heidnisch Weib und opfert nach wie 
vor heimlich den alten Göttern. Feier¬ 
lich muß er vor dem aufgebrachten 
König in selbstgedichteten Strophen 
sein Bekenntnis zum neuen Glauben 
ablegen. Aber erst die letzten finden 
den Beifall des Herrschers. Kein Wun¬ 
der, denn der Schalk hat auf die heid¬ 
nischen Äsen, denen er abschwört, auf 
Odin, Thor und Freyja, allen Glanz 
der Dichtersprache gehäuft, das Lob 
Christi, zu dem er gezwungen ist, klingt 
bestimmt, aber dürr und mager. 

Sein Treugelöbnis als Skalde hat 
Hallfred dem Herrscher doch bis zum 
Tode gehalten. Er hat seine Taten ge¬ 
feiert von den Jugendwikingfahrten 
des Königs in Ost- und Nordsee bis zu 
seinem tragischen Ende in der Schlacht 


bei Svold. Ein ganz persönliches Ver¬ 
hältnis zu Olaf trägt sein Totenlied 
auf ihn. In dessen mit einer üppigen 
Bildersprache geschmückten und durch 
kunstvolle Stab- und Binnenreime ge¬ 
zierten Strophen haben sich wahrheits¬ 
getreuer Chronist und individuell emp¬ 
findender Dichter in seltsamer Weise 
zusammengefunden. Nüchterne Wirk¬ 
lichkeit spiegeln die fesselnden Augen¬ 
blicksbilder aus Olafs letztem Helden¬ 
kampfe, kritisch werden die Gerüchte 
von seiner wunderbaren Rettung ge¬ 
mustert. Man versteht die hohe Würdi¬ 
gung, die Snorri gerade der Dichtung 
dieses Skalden als historische Quelle 
zuteil werden läßt. Aber des Gedichtes 
Seele sind doch die Gefühle des Dich¬ 
ters für Olaf, der Stolz über seine Ta¬ 
ten, die Dankbarkeit für seine Wohlta- 
1 ten, der Schmerz um seinen Verlust. 

1 „Sein“ König ist es, den er im Liede 
I preist. Die Gestalt „seines“ Königs 
stand ihm wohl auch in der Stunde 
des eignen Todes vor Augen, wenn er, 
der einst eifrige Heide, dort dichtete: 
Nicht jäh’ End’ mich jammert’,*) 

— Jung war ich scharf von Zunge — 
Säh’ ich meine Seele 
Sorglos nur geborgen. 

Wo dereinst ich weile, 

Walt's, Herrl — mflssen sterben 
Doch all’ — fürcht', sonst furchtlos 
Völlig, nur die Hölle. (Scbius foiRt.) 


Nachrichten und Mitteilungen. 


Deutsche Kunst des 15. und 16. Jahrhunderts. 

Fortschritte der Forschung 1914 bis 1918.*) 

Die deutsche Kunstgeschichte ist nicht 
in der Erforschung heimischer Kunst er- 

*) Für die Überschau der jeweiligen Fort¬ 
schritte kunstgeschichtlicher Forschung ist 
es zwedkmäßig erschienen, Zeitschriften- 
und Buchliteratur, nach Gebieten und Zeit¬ 
abschnitten geordnet, verbunden zu be¬ 
sprechen. Die Red. 


stärkt: sie suchte ihre Anregungen im 
Ausland, sie begeisterte sich an der Kunst 
Italiens und der Niederlande, und ihre 
klassischen Werke — die Arbeiten Karl 
Justis und Jakob Burckhardts — gelten dem 
Spanier Velasquez, dem Florentiner Michel¬ 
angelo, der italienischen Renaissance in 


2) - bedeutet den Stab-, 
reim. 


den Binnen- 


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Nachrichten und Mitteilungen 


264 


ihrer Gesamtheit. Die Erkenntnis, um die 
schon das 17. Jahrhundert gewußt hat, daß 
„gleich Italien Teutschland sich kann sehen 
lassen, kunst-bebauet, kunst-bebildert, kunst- 
vermahlt“ (Quadt von Kinkelbach), die von 
der Romantik mit erneuter Intensität auf- 
gegrifien wurde, hat im Zeitalter eines 
wägenden Historizismus vergleichsweise 
spät Nachfolge gefunden. Einzelforschungen 
über deutscheThemata gab es freilich immer, 
obwohl sich auch hier ein deutliches An¬ 
schwellen während der letzten Jahrzehnte 
bemerkbar macht. Dagegen fehlte es lange 
an zusammenfassenden Darstellungen, die 
das Phänomen der altdeutschen Malerei in 
seiner allgemeinen Bedeutung zu begreifen 
suchen. 

1 . 

Janitschek in seiner „Geschichte der deut¬ 
schen Malerei“ (1890) und vor ihm Wolt- 
mann-Wörmann hatten sich mit im wesent¬ 
lichen kompilatorischen Arbeiten beschie- 
den. Den ersten Versuch einer Darstellung 
dessen, was die Existenz einer hochent¬ 
wickelten deutschen Malerei im 15. und 
16. Jahrhundert für unser Volk bedeutet, 
wie sich die Geschichte dieser Malerei in 
den allgemeinen europäischen kulturellen 
und geschichtlichen Zusammenhang ein¬ 
ordnet, unternahm mit glücklichem Gelingen 
Ernst Heid rieh in seiner bei Diederichs 
erschienenen „Altdeutschen Malerei* (1909). 
Es folgt 1914 Curt Glaser („Zwei Jahrhun¬ 
derte deutscher Malerei“, München, Bruck¬ 
mann), der nicht als Kompilator arbeitet, 
auch nicht als Historiker, dein die Kunst 
nur eine Auswirkung des menschlichen 
Geistes neben anderen ist, sondern als Kri¬ 
tiker, der die Monumente, die als abgelöste 
verselbständigte Wesenheiten gefaßt sind, 
prüft und aus ihnen den Gang der Ent¬ 
wicklung abliest. Die Fortschritte in der 
Kenntnis der Denkmale, Daten, Tatsachen 
seit der Zeit Janitscheks und Wörmanns 
sind verarbeitet, neue Einzelbeobachtungen 
zu bringen lag nicht im Rahmen der Auf¬ 
gabe. Meister und Monumente werden vor 
allem als Vertreter ihrer Zeitstufe betrach¬ 
tet unter Hintansetzung der landestümlich 
beschränkten Grenzen; durch diese neue 
Art der Schichtung rücken Dinge, die sonst 
fern voneinander stehen, zusammen, schein¬ 
bar Fremdes enthüllt gemeinsames Wollen. 
Es ergibt sich jedoch aus der Art der 
Fragestellung, daß das Buch mehr eine Ge¬ 
schichte der Kunstformen als der Persön¬ 


lichkeiten werden mußte, daß die Bedeu¬ 
tung des schöpferischen Einzelindividuums 
öfters dem allgemeinen Zeitcharakter ge¬ 
opfert wurde. Erst im 16. Jahrhundert werden 
den Gestalten porträthafte Züge eingezeich¬ 
net; zu Dürer und Grünewald fügen sich 
Cranach, Altdorfer, Baidung; das Ganze 
klingt aus in einer eindrucksvollen Gestal¬ 
tung des jüngeren Holbein. 

Als Voraussetzung wie als Kontrolle zu¬ 
sammenfassender Werke dieser Art bleibt 
die Notwendigkeit sorgsamer Einzelfor- 
schung bestehen. Ein gutes Beispiel der 
Behandlung eines räumlich abgegrenzten 
Bezirks der deutschen Kunst bietet Carl 
Georg Heises „Norddeutsche Malerei* 
(Kurt Wolff, 1908). Der Stoff ist lokal¬ 
historisch gegliedert: vier etwa gleich große 
Abschnitte behandeln die Tafelmalerei in 
Köln, Westfalen, Niedersachsen und Ham¬ 
burg. Während das Kölner Kapitel sich 
auf Kompilation beschränken konnte, auch 
in Westfalen eine tüchtige Lokalforschung 
den Weg bereitet hatte, war Heise für 
Niedersachsen und Hamburg im wesent¬ 
lichen auf eigene Beobachtung angewie¬ 
sen. In Niedersachsen erschien die Schwie¬ 
rigkeit besonders groß: hier waren zu¬ 
nächst die unpräzisen, nach Heises über¬ 
zeugender Polemik geradezu irreführenden 
Forschungen Habichts beiseite zu räumen, 
ehe ein erfolgreicher Neuaufbau in Angriff 

g enommen werden konnte. Die eigentliche 
berraschung des Heiseschen Buchs aber 
ist für das letzte Kapitel aufgespart: die 
Einführung einer ganz unbekannten Künstler- 
Persönlichkeit in Hinrik Funhof, dem Meister 
der Flügelbilder der Lüneburger Johannes- 
kirche, der in der Folge die deutsche 
Malerei der zweiten Hälfte des 15. Jahr¬ 
hunderts neben dem Meister des Sterzinger 
Altars und dem Meister des Marienlebens, 
neben Herlin und Pleydenwurff in erster 
Linie zu vertreten berufen ist. Die neuere 
Literatur über norddeutsche, vor allem 
hamburgische Kunst ist bei Heise lückenlos 
aufgeführt. 

Einen zweiten Versuch einer Gesamt¬ 
darstellung der Malerei des deutschen Nor¬ 
dens und Westens bietet der Band „Nieder¬ 
deutschland“ von Hermann Schmitz, er¬ 
schienen in dem von Burger begründeten 
„Handbuch der Kunstwissenschaft* (1918). 
Ober der „Deutschen Malerei“ des Hand¬ 
buchs steht ein Unstern. Burger starb dar¬ 
über fort. Nach seinem Tode wurde das 


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Nachrichten und Mitteilungen 


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Material in Nieder- und Oberdeutschland 
gespalten; der Bearbeiter der oberdeutschen 
Hälfte, J. Beth, starb gleichfalls, nachdem 
er ein Heft herausgegeben hatte. So liegt 
bisher nur der niederdeutsche Teil fertig 
vor. Sorgsames Zusammentragen des Ma¬ 
terials, gewissenhafte Berücksichtigung der 
Literatur, möglichst vollständige Aufreihung 
der Künstler und ihrer Werke ist der 
Arbeit nachzurühmen, doch scheint Schmitz 
an scharfsichtiger Beobachtung und selb¬ 
ständigem Urteil Glaser wie Heise unter¬ 
legen. Es ist zu bemerken, daß, während 
die beiden genannten Forscher sich in 
ihrer Darstellung auf das Tafelbild be¬ 
schränken, Schmitz Glasmalerei und Weberei 
als nahezu gleichwertige Dokumente mit¬ 
berücksichtigt. Neue Beiträge zur nieder¬ 
deutschen Kunstgeschichte bringt die „Sun- 
dische und Lübecker Kunst“ von Max Paul 
(Berlin 1914, B. Paul). Von fünf Altären 
des Lübecker Malers Hermann Rode, die 
für Schweden ausgeführt wurden, handelt 
Andreas Lindblom, Nordtysk Skulptur 
och Mäleri i Sverige I./II, Stockholm 1916. 

Auf dem Gebiet der oberdeutschen Ma¬ 
lerei des 15. Jahrhunderts betätigte sich 
vielfach und wenig erfolgreich MelaEsche- 
rich. Ihre Studien gipfeln in dem 1916 
erschienenen Buch über Konrad Witz (Stu¬ 
dien zur deutschen Kunstgesch. Nr. 183), 
dessen Gestalt sie schon früher in allerlei 
Aufsätzen umkreist hatte. Es ist das trau¬ 
rige Ergebnis solcher Bücher, daß sie der 
ernsthaften Forschung für lange Zeit die 
Lust nehmen, sich mit dem verfahrenen 
Thema neu zu befassen, so daß wir auf 
das korrigierende Witz-Buch voraussicht¬ 
lich lange werden warten müssen. Zur 
Nürnberger Malerei gibt einen interes¬ 
santen Beitrag Hans Buch heit (Jahrb. 
d. Vereins f. Christi. Kunst IV. München 
1919): er weist nach, daß das Pleyden- 
wurff zugeschriebene Bildnis des sog. 
Kanonikus Schönbom im Nürnberger Germ. 
Museum vielmehr den Grafen Georg von 
Löwenstein, Domherrn zu Bamberg, dar¬ 
stellt (gest. 1464). Die österreichische Alpen- 
kunst des späten 15. Jahrhunderts findet in 
zwei Aufsätzen der Monatsh.') Beachtung: 
R. W est (X, 1917, S. 238) äußert erneute 


1) Die Kunstzeitschriften werden in fol¬ 
gender Weise abgekürzt: 

Pr. Jhb. = Jahrbuch der König), preuß. 
Kunstsammlungen; 


Zweifel an der Identität des sog. Meisters 
von Großgmain mit Rueland Frueauf, wie 
mir scheint mit Recht (ich hatte im Frueauf- 
Artikel des Thieme-Beckerschen Lexikons 
1915 die Identitätstheorie vertreten, ohne 
noch die Großgmainer Flügel zu kennen); 
Heinz Braune (VIII, 1915, S. 249) bringt 
wertvolle Beiträge zur Pacherforschung. 

2 . 

Die Bibliographie des größten Deutschen 
der ausgehenden Gotik, Matthias Grünewald, 
ist noch nicht alten Datums. Die Äußerun¬ 
gen der älteren Literatur sind spärlich und 
verständnislos; erst als die neuere Kunst 
bei ihrem Bemühen, sich aus der Vergangen¬ 
heit Ahnen zu wählen, auf den großen 
Aschaffenburger „Impressionisten“ traf, trat 
der Umschwung des Urteils ein. Und kaum 
war die Erkenntnis von der hohen und 
einsamen Stellung des Meisters uns selbst¬ 
verständliches Allgemeingut geworden, 
kaum hatten wir geistig ganz Besitz von 
ihm ergriffen, als uns das äußere Eigen¬ 
tumsrecht strittig gemacht wurde: der 
Isenheimer Altar, das Hauptwerk Grüne¬ 
walds, steht nicht mehr auf deutschem 
Boden. Es kann nicht wundernehmen, 
daß die Abschiedsstimmung des letzten 
Jahres, die leichtere Schaubarkeit der Altar¬ 
flügel, die für diese Zeit in der Münchener 
Pinakothek ausgestellt waren, ein beson¬ 
deres Anschwellen der Grünewaldliteratur 
zur Folge hatte: drei neue Grünewaldbücher 
sind allein für 1919 zu verzeichnen, obwohl 
das Tatsachenmaterial seit dem abschließen¬ 
den Werk von H. A. Schmid kaum Zuwachs 
erhalten hat. 0. Hagen, der schon früher 
durch einzelne Grünewaldartikel in der 
Kunstchronik eingehende Beschäftigung mit 
dem Meister bekundet hatte, sucht in 
seiner temperamentvollen, liebevoll vertief- 


Amtl. Ber. = Amtliche Berichte aus den 
Königl. preuß. Kunstsammlungen; 

Wiener Jhb. = Jahrbuch der Sammlungen 
des Allerhöchsten Kaiserhauses; 

Z. f. christl. K. = Zeitschrift für christliche 
Kunst; 

Z. f. b. K. = Zeitschrift für bildende Kunst; 

Kstchr. = Kunstchronik; 

Monatsh. = Monatshefte für die Kunst¬ 
wissenschaft ; 

Rep. = Repertorium für Kunstwissenschaft; 

Burl. Mag. = Burlington Magazine; 

Graph. Mitt. *= Mitteilungen der Gesell¬ 
schaft für vervielfältigende Kunst (Graphi¬ 
sche Künste, Wien). 


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Nachrichten und Mitteilungen 


268 


ten Darstellung (München, Piper) die Form 
Grünewalds neu zu ergründen, die Persön¬ 
lichkeit zu fassen, die hinter dem Werk 
steht, und kommt dabei dem historischen 
Roman öfters bedenklich nahe. Aus kühnen 
Ketten von Kombinationen, vor allem einer 
äußerlich verblüffenden Ähnlichkeit der 
Münchener .Verspottung“ mit einem Pre¬ 
dellenbildchen Pesellinos in Florenz, folgert 
er eine italienische Reise Grünewalds und 
weiß sogar die Etappen der Reise — Man¬ 
tua, Florenz, Rom — lückenlos aufzuführen. 
Neuartig ist weiter Hägens Deutung der 
meisten Handzeichnungen und der Versuch, 
sie zu Gruppen zusammenzufügen und 
unter verschollene Gemälde aufzuteilen. 
Stark betont wird ein Zusammenhang der 
Kunst Grünewalds mit der Glasmalerei. Die 
zweite neue Grünewaldbiographie von A. L. 
M ay er (München, Delphin-Verlag), weniger 
tief schürfend, doch die allzu problema¬ 
tischen Kombinationen Hägens auf ein ver¬ 
ständiges Maß zurückschraubend, scheint 
mit ihrem anregend lehrreichen Text be¬ 
sonders geeignet, das Verständnis des 
Meisters in weitere Kreise des kunstlieben¬ 
den Volkes zu tragen. Ein dritter .Grüne¬ 
wald“ von Hausenstein (München, W. 
Hirth) gibt eine Paraphrase des Isenheimer 
Altars in dichterisch gehobener Sprache. 
Von Einzelforschungen sei genannt ein 
Aufsatz von Friedländer (Pr. Jhb. XXXIX 
1918, S. 261), der neues Material beibringt: 
die bedeutende Zeichnung einer Magdalena, 
die aus der alten Savignysammlung in Ber¬ 
liner Privatbesitz überging, und die bild¬ 
nisartige Studie eines Mannes im National¬ 
museum zu Stockholm. 

3. 

Quantitativ ungleich reicher als die Grüne¬ 
waldliteratur stellt sich die Dürerliteratur 
dar. Doch während die Wertung des 
rätselhaften Aschaffenburgers in stetigem 
Steigen begriffen ist, macht sich ein Ab¬ 
rücken von Dürer fühlbar; das Problema¬ 
tische seines Wesens wird — vornehmlich 
nach Wölfflins grundlegendem Dürerwerk — 
erkannt, das von der Tradition überkom¬ 
mene Material einer neuen kritischen Sich¬ 
tung unterworfen. Gute Übersicht über die 
neueste Dürerbibliographie bietet ein Auf¬ 
satz von Pauli (Rep. XLI, N. F. VI, 1918, 
Heft 1/2); erschöpfende Auskunft über die 
gesamte Literatur sowie den Stand der 
heutigen Forschung gibt in knappster Form 


Friedländlers Dürerartikel in Thieme- 
Beckers Lexikon. Von zusammenfassenden 
Darstellungen seien die drei Waldmann- 
schen Dürerbändchen im lnselverlag ge¬ 
nannt, die zu Abbildungen der Gemälde, 
graphischen Arbeiten und Handzeichnungen 
des Meisters einen gefällig belehrenden 
Text bringen: Band 1 berichtet in fließen¬ 
der Erzählung von Dürers Leben, Band 2 
sucht die Zwiespältigkeit seiner geistigen 
Wesensart zu ergründen, das Ausmaß und 
die Grenzen seiner künstlerischen Begabung 
zu fassen, Band 3 gilt Dürers Form: dem 
Gotiker, seiner Auseinandersetzung mit 
Italien, dem bewußten Aufstieg zur neuen 
Form, zum neuen Bildinhalt. Man darf 
den Angaben Waldmanns auch im ein¬ 
zelnen trauen, die umfangreiche Literatur 
ist treulich durchgearbeitet, die lästigen 
Spuren des gelehrten Apparats sorgsam ge¬ 
tilgt. Um Neudeutungen aller Art bemüht 
sich F. Haack (Funde und Vermutungen zu 
Dürer und zur Plastik seiner Zeit, Erlangen 
1916). 

Als wichtigste Dürerpublikation der 
letzten Jahre muß Panofskys Unter¬ 
suchung über das Verhältnis Dürers zu den 
italienischen Kunsttheoretikern hervorgeho¬ 
ben werden (Berlin 1915, G. Reimer), eine 
Grimmpreisarbeit der Berliner Universität, 
die sich zu einer Gesamtdarstellung der 
Dürerschen Kunstlehre auswuchs. Der 
Problematiker Dürer wird mit den minder 
problematischen italienischen Zeitgenossen 
Lionardo und Raffael konfrontiert, und 
seine praktische, dann seine theoretische 
Kunstlehre eingehend untersucht. Die 
perspektivischen Kenntnisse werden im 
einzelnen auf Piero della Francesca, Lio- 
nardo, Vincenzo Foppa zurückgeführt, das 
Schönheitsproblem der Proportionsstudien 
behandelt. Im Teil II des Buches wird 
die theoretische Kunstlehre Dürers nach 
den Problemen der Richtigkeit, der Schön¬ 
heit und des künstlerischen Wertes er¬ 
örtert. Im Schlußkapitel führt Panofsky 
aus, wie Dürer von der anfänglichen An¬ 
nahme einer unbedingten Schönheit zur 
Theorie einer bedingten Schönheit gelangt. 
Der Begriff „Kunst“ wird zwanglos als 
„Kenntnis“ gedeutet d. h. als theoretische 
Einsicht gegenüber dem „Brauch“, der 
bloßen künstlerischen Praxis. Klaiber 
(Rep. XXXVIII 1916, S. 238) stellt Panofsky 
gegenüber fest, daß Dürers Theorie nicht 
immer konsequent geblieben sei, sondern 


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Nachrichten und Mitteilungen 


sich seiner Praxis öfters habe anpassen 
müssen. Die Perspektive in der Kunst 
Dürers im besonderen behandelt Schuritz 
(Frankfurt 1919). Wätzold bringt in seiner 
Untersuchung der Dürerschen Befestigungs¬ 
lehre (Berlin 1918, Bard) einen wertvollen 
Beitrag zur Erkenntnis der Universalität des 
Meisters und zeigt auf, wie Dürers bauende 
Phantasie auch hier der Praxis voraus¬ 
geeilt ist. Die „Lehre“ enthält neben den 
eigentlichen Befestigungsplänen den Ent¬ 
wurf einer idealen Stadtanlage innerhalb 
des Mauergürtels, einen Plan, den Wätzold 
prüft und in ergebnisreicher Vergleichung 
mit ähnlichen Vorschlägen der italienischen 
Literatur zusammenbringt. Ein abseitiges 
Gebiet der Dürerforschung erzählte Gieh- 
low in der „Ehrenpforte Maximilians“ 
(Wiener Jhb. XXXII 1915, S. 1), die ihn zu 
Untersuchungen über die Hieroglyphen¬ 
kunde der Renaissance veranlaßt. 

Die Frage nach des jungen Dürer Wan¬ 
derjahren ist Gegenstand einer lebhaften 
Polemik geblieben: die Unsicherheit unserer 
Forschung der Handschrift unseres größten 
Meisters gegenüber, die sich im Hin und 
Her der Meinungen äußert, kann erschrecken. 
Selten hat eine kunstgeschichtlich kon¬ 
struierte Gestalt so viel Verwirrung ange« 
richtet wie der sog. „Meister der Berg- 
mannschen Offizin“ („Benediktmeister“), der 
rätselhafte Doppelgänger Dürers, der wie 
Dürer in Nürnberg für Koberger arbeitet, 
mit Dürer zugleich in Basel und Straßburg 
auftaucht, dort seinen ganz persönlichen, 
vom landesüblichen abweichenden Stil ein 
paar Jahre ausübt, um vor 1500 mit Dürer 
nach Nürnberg zurückzukehren; das spätere 
Werk des meteorhaft auftauchenden 
Künstlers bleibt verschollen. In der Dar¬ 
stellung Stadlers (Straßburg 1913, Heitz), 
die Pauli in dem zitierten Repertoriums¬ 
aufsatz gebührend zurückweist, hat dieser 
Doppelgänger während seiner Baseler Tätig¬ 
keit sogar wieder einen Doppelgänger 
inspiriert, auch von scheinbar kurzer Le¬ 
bensdauer, den sog. „Meister der hl. 
Brigitte“, um dessen willen eine stattliche 
Menge der Jugendzeichnungen vom Dürer¬ 
werk abgespalten wurde. Mit Campbell 
Dodgson, der Gebetbuchholzschnitte von 
1503 zuerst als Arbeiten des Benedikt¬ 
meisters publiziert, dann 1917 im Burl. Mag. 
(XXXI, S. 46) mit vornehmer Offenheit als 
möglich zugibt, „that the missing name 
is »Dürer« after all“, hat die Doppelgänger¬ 


theorie einen ihrer gewichtigsten Ver¬ 
treter verloren. Es bleibt schmerzlich, 
auf dieser Seite noch immer Wölfflin zu 
sehen, der seine Stellung 1918 in einer 
Sitzung der Münchener kunsthistorischen 
Gesellschaft dargelegt hat. Um Klärung 
der Frage hat sich vor allem Friedländer 
bemüht (Vortrag in der Berliner kunst- 
gesch. Gesellschaft vom 3. Dez. 18; Kstchr. 
N. F. XXIX 1918, S. 385), um Verunklärung 
u. a. Hans Cürjel (Kstchr. N. F. XXIX, 
S. 417 und 504). Auch der weitere Verlauf 
der Dürerbiographie ist Gegenstand von 
Streitfragen geworden. Hagen (Z. f. b. K.. 
N. F. XXVIII 1917, S. 255) konstruiert mit 
schweifender Phantasie einen Aufenthalt 
Dürers in Rom und Mailand auf seiner 
ersten italienischen Reise 1495 — eine Hy¬ 
pothese, die von Haseloff in einem über¬ 
zeugenden Vortrag der Berliner kunstgesdi. 
Gesellschaft (14. Februar 1919) abgelehnt 
wird. Dürers niederländischer Reise gilt die 
prächtige Monumentalpublikation von Jan 
Veth und Müller (Berlin und Utrecht 1918). 
Band I stellt die Urkunden über die Reise 
zusammen: das Tagebuch, die Briefe, die 
Stellen bei van Mander usw., die die Reise 
betreffen, werden abgedruckt und mit Noten 
versehen, das Skizzenbuch und die übrigen 
Arbeiten Dürers während des niederlän¬ 
dischen Aufenthaltes trefflich reproduziert. 
Band II befaßt sich mit der Geschichte der 
Reise, sucht Dürers Charakter aus dem 
Tagebudi abzulesen, behandelt seine Tätig¬ 
keit in den Niederlanden als Künstler und 
Sammler, sein Verhältnis zur niederlän¬ 
dischen Kunst (wobei der Einfluß, den der 
Nürnberger auf die niederländischen Zeit¬ 
genossen geübt hat, leider ein wenig zu 
kurz kommt), seine Beziehungen zu nieder¬ 
ländischen Gönnern und Freunden (Statt¬ 
halterin Margarete, Erasmus von Rotter¬ 
dam usw.). 

Zu der Reihe der Selbstporträts Dürers 
fügt Roh (Rep. XXXIX 1917, S. 10) mit 
scharfer Beobachtung die Federzeichnung 
eines Männerakts im Weimarer Mus. (um 
1499). Pauli stellt in der Z. f. b. K. (N. F. 
XXVI 1915, S. 69) die Bildnisse der Dü¬ 
rerin zusammen. Die Porträts von Dürers 
Vater behandelt Conway im Burl. Mag. 
(XXXIII 1918, S. 142). Dürers Porträtzeich¬ 
nung im British Mus., die bisher „Hof¬ 
haimer“ hieß, wird nach Analogie mit dem 
weisenden Mann auf dem Provostdiptychon 
des Brügger Museums, in dem Conway das 


tfizedby CjOOQIC 


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271 


Nachrichten und Mitteilungen 


172 


Selbstportrat Provosts erkennt, gleichfalls 
als „Provost“ gedeutet. 

Von Einzelstudien Ober DQrersche Ge¬ 
mälde sei zuerst Friedländers Publikation 
eines neuen Dokuments erwähnt (Z. f. b. K. 
N. F. XXV1I1 1917, S. 131): das Bild, eine 
hl. Familie, tauchte in Lissabon auf und 
gelangte in Berliner Privatbesitz; es trägt 
volle Bezeichnung und das Datum 1509. 
Für den Kopf der Maria lag eine Natur¬ 
studie vor, die Dürer später noch einmal 
für die Wiener .Madonna mit der Birne“ 
verwandt hat. Von negativen Resultaten 
der Gemäldeforschung seien die Darlegun¬ 
gen von Kehrer und Zimmermann (Z. f. 
b. K. N. F. XXVII 1916, S. 163 u. 228, 
XXVIII 1917, S. 204) genannt, die noch ein¬ 
mal bestätigen, daß das einst so populäre 
Kruzifixustäfelchen der Dresdener Galerie 
endgültig aus dem Dürerwerk gestrichen 
werden muß. Mit allzu strenger Krilik 
scheint die neuere Forschung dagegen die 
.grüne Passion* zu verfolgen. Cürlis’ 
Attacke gegen die Echtheit der Blätter (Rep. 
XXXVII 1915, S. 183) wird durch Pauli 
(Rep. XXXVIII 1916, S. 97) überzeugend 
entkräftet. Neue Funde auf dem Gebiet 
der Dürerzeichnungen waren — in 
Anbetracht des scheinbar zum letzten 
durchsiebten Materials — nicht selten: 
Friedländer publiziert (Pr. Jhb. XXXVII 
1916, S. 99) eine übersehene Zeichnung aus 
den Beständen des Berliner Kupferstich- 
kabinetts, ein Urteil Salomonis aus der 
venezianischen Periode zwischen 1506 und 
1508, und läßt dabei die Möglichkeit offen, 
daß es sich um eine flüchtige Notiz nach 
dem Fresko Giorgiones am Fondacho dei 
Tedeschi handelt. Pauli (Z. f. b. K. N. F. 
XXV1914, S. 105) führt die Federzeichnung 
eines Pferdes von 1503 im Kölner Wallraf- 
Richarz-Mus. vor, die als Kopie eines 
lionardesken Entwurfs an die Spitze der 
Dürerschen Proportionsstudien zum Pferde¬ 
körper zu stellen ist. Andere Funde bringen 
Seck er (Z. f. b. K. N. F. XXIX 1918, S. 177), 
Baumeister (Pr. Jhb. XXXV 1914, S. 224), 
Römer (Rep. XXXIX 1917, S. 219). Eine 
Reihe von Blättern, meist Neuerwerbungen 
des British Mus., zeigt im Burl. Mag. 
Dodgson, dessen erfolgreiches Bemühen 
um die Erkundung altdeutscher. Kunst sich 
weder durch Krieg noch durch Propaganda 
aller Art hat beirren lassen. Am wichtigsten 
erscheint die Knabenzeichnung eines Tur¬ 
niers von 1489 (Samml. Sir Th. Lawrence; 


XXVIII 1915/16, S. 7); weiter das Studien¬ 
blatt der niederländischen Reise in Wilton 
House (XXX 1917, S. 231). Die reiche Kom¬ 
position der .ehernen Schlange“ (XXVIIJ. 
S. 213) dürfte hie und da auf leise Zweilei 
stoßen; auf deutlicheren Widerspruch die 
Kostümstudie (ebd. S. 49). Eine Zusammen¬ 
stellung von Dürerzeichnungen (München, 
Piper) wird durch die Einleitung Wölfl¬ 
lins auf ein ungewohntes Niveau ge¬ 
hoben; Jaro Springer begleitet 50 Bild¬ 
niszeichnungen mit wehrhaften Worten 
(Berlin 1915, Bard). Ober die Graphik wurde 
insonderheit viel gehandelt: den Stand¬ 
punkt unserer Zeit zu .Dürers Bilddruck* 
erläutert zusammenfassend ein Vortrag 
Friedländers (kunsthistor. Gesellsch. 
Nürnberg, Sept. 1918). E. Tietze-Conrat 
gibt Beiträge zur Deutung einiger Stiche 
(Z. f. b. K. N. F. XXVII 1916, S. 263), beson¬ 
ders einleuchtend die Kombination des 
sog. .Meerwunders“ mit der Ovidischen 
Fabel von Achelous und Perimela. Hagen 
(Kstchr. XXVIII 1916/17 Sp. 453) vermutet, 
daß der Schlafende im .Traum des Doktors* 
Dürers Freund Pirkheimer wiedergeben 
soll. Ähre ns handelt vom magisches 
Quadrat der .Melancholie“ (Z. f. b. K. N. F. 
XXVI 1915, S. 291), Schillings vom Stich 
der .vier Hexen“ (Rep. XXXIX1917, S. 129). 
Völliges Verkennen künstlerischer Arbeits¬ 
weise verrät M. Escherich in dem Ver¬ 
such, das Vorbild Dürers zum .christlichen 
Reiter“ in einem handwerksmäßigen Ala¬ 
basterrelief des Germ. Mus. zu entdecken; 
(Z. f. Christi. K. XXIX 1916, S. 61). Ober die 
tatsächlich vorhandenen Beziehungen Dürers 
zur Plastik seiner Zeit handeln Stierling 
(Monatsh. VIII 1915, S. 366) und Fr. Tr. 
Schulz (Mitt. d. German. Mus. 1918,S. 187). 

4. 

Der Dürernachfolge gilt vergleichsweise 
geringeres Interesse. Hans Baidungs Werk 
wurde um zwei neue Bildnisse bereichert 
(Friedländer, Pr. Jhb. XXXIX 1918, S.86); 
das eine, das den Sohn des Kurfürsten 
Friedrich I. von der Pfalz, Ludwig zu 
Löwenstein, darstellt, bedeutet eine wich¬ 
tige Neuerwerbung des Berliner K.-Friedr.- 
Museums. Eine brauchbare Baldungbiblio- 
graphie, nur leider verunziert durch die phan¬ 
tastisch blumenreiche Einleitung, gibt M. 
Escherich; ihre Zusammenstellung wird 
ergänzt durch Terey (Kstchr. N. F. XXX 
1918/19, S. 257). 

Insonderheit gefördert wurde unser 


Dia 


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3 


Nachrichten und Mitteilungen 


274 


Wissen über den Meister, der trotz ver¬ 
schiedenster Identifikationsversuche vorläu¬ 
fig noch am sichersten nach seinem Haupt¬ 
werk, dem ehern. Hochaltar der St. Mar¬ 
tinskirche von Meßkirch, benannt wird. 
Paul Ganz (67. Jahresbericht der öffentl. 
Kunstsamml. in Basel, 1916) erkennt den 
Entwurf zu dem Gehäuse eben dieses 
Altars in einer Zeichnung des Baseler 
Museums; er rekonstruiert die gesamte An¬ 
lage. die eine der glänzendsten derdcutschen 
Renaissance gewesen sein muß, aus den 
zersprengten Teilen in Meßkirch, Donau- 
eschingen, München und Berlin (ehemalige 
Samml. von Kaufmann); das Monogramm 
M. W., das Ganz auf einem Glasscheiben- 
entwurf des „Meßkirchers“ findet, löst er in 
Marx Weiß auf, den Namen eines Stadt¬ 
malers von Balingen (vgl. auch Sauer und 
Feurstein, Z. f. christl. K. XXVIII 1915/16, 
S. 49 und 154; Feurstein, Monatsh. X 1917, 
S. 265). 

Spärlich war die Ausbeute der Cranach- 
forschung; nur Friedländer publizierte 
eine Anzahl unbekannter Werke des 
Meisters (Amtl. Ber. XXXVII 1915/16 Nr. 7 
u. Z. f. b. K. N. F. XXX 1918/19, S. 81): 
ein vom Berliner K.-Friedr.-Museum erwor¬ 
benes Männerbildnis, ein Männerporträt in 
amerikanischem Privatbesitz, eine Frau in 
niederländischer Tracht in der Samml. 
Chillingworth zu Nürnberg, alle aus den 
Jahren 1508 bis 1510, in denen Cranachs 
Stil noch beweglich und schwerer zu er¬ 
kennen ist, als in der späteren, mehr 
starren Periode. Einen in Lübeck arbei¬ 
tenden Cranachschüler, Hans Kemmer, 
führt K. Schaefer ein (Monatsh. X 1917, 
S. 1). 

Beiträge zur Kunst der Donaulande 
bringen Tietze (Pr. Jhb. XXXVIII 1917, 
S. 95), der die sog. „ Quirinuslegende“ 
von St. Florian als Florianslegende um¬ 
deutet, und Ph. M. Halm in einem Vortrag 
der Münchener kunstgesch. Gesellsch. vom 
8. April 1919 über Wolf Huber. Die Darm¬ 
städter Madonna Hans Holbeins d. J. deutet 
neuartig Ollendorf (Rep. XXXVII 1915, 
S. 292) und kommt dabei auf die alte ro¬ 
mantische Idee von Tieck zurück, daß das 
Kind auf dem Arm Mariae nicht Christus, 
sondern ein krankes Kind des stiftenden 
Bürgermeisters Meyer darstellt. Jessen 
publiziert einen Pokalentwurf Holbeins in 
der Berliner Gewerbemus. - Bibliothek (Pr. 
Jhb. XXXVII 1916, S. 103). 


Von Künstlern des bisher von der For¬ 
schung arg vernachlässigten ausgehenden 
16. Jahrhunderts fanden Behandlung: der 
Danziger Stadtmaler Anton Möller durch 
Gyssling (Studien zur deutschen Kunst¬ 
geschichte Nr. 197, Straßburg 1917), die 
Familie Lautensack durch Otto Zoff (Graph. 
Mitt. 1917, Heft 1—3) und der heutigem Ge¬ 
schmack von neuem besonders entspre¬ 
chende Hirschvogel durch Karl Schwarz 
(Berlin 1918, Bard). 

5. 

Mit Lautensack und Hirschvogel kommt 
die Forschung bereits im wesentlichen auf 
das Gebiet der Graphik. Im folgenden 
seien die wichtigsten Publikationen über 
die deutsche Graphik der früheren Zeit 
(mit Ausnahme Dürers) aufgeführt. 1915 
bringt Lehrs den dritten Textband zu 
seiner grundlegenden „Geschichte des 
deutschen und niederländischen Kupfer¬ 
stichs im 15. Jahrhundert“ heraus (Gesellsch. 
f. vervielf. Kst.). Die darin behandelten 
Künstler — am wichtigsten die Gruppe des 
sog. „Erasmusmeisters“, den Lehrs in vier 
verschiedene Persönlichkeiten spaltet — 
sind insgesamt am Niederrhein um 1450 
tätig. Die Berliner Graph. Gesellsch. repro¬ 
duziert 1914 als 19. und 20. Publikation die 
deutschen Holzschnitte der Guildhall Bibi, 
zu London und die Illustrationen Cranachs 
zu Adam von Fulda (zuerst gedruckt 1512 
in Wittenberg), 1915 als 21. Publikation Holz¬ 
schnitte des Berliner Kupferstichkabinetts 
(Text von Kristeller). Als Jahresgabe des 
Deutschen Vereins für Kunstwissensch. kom¬ 
mentiert 1918 Friedländer die Illustra¬ 
tionen zur Lübecker Bibel von 1494, das 
Werk eines Niedersachsen, den man sich 
als vom Süden befruchtet zu denken hat. 
Schongauers graphisches Werk wird durch 
Friedländer erneut besprochen und gruppiert 
(Z. f. b. K. N. F. XXVI1915, S. 107): die erste 
Gruppe der Stiche offenbart bei starkem 
niederländischen Einfluß die Entwicklung 
Schongauers vom frühen malerischen Stil zum 
stecherischen, Gruppe 2 enthält die Haupt- 
blätter, am originellsten in der Erfindung, 
doch an stecherischer Qualität den Arbeiten 
der dritten, letzten Gruppe unterlegen. Eine 
Kreuzigungszeichnung des Baseler Meisters 
D. S., die Vorlage zu einem Holzschnitt, 
publiziert Koegler (Rep. XXXIX 1917, S. 1). 
Hildegard Zimmermann bringt im Pr. 
Jhb. (XXXVI 1915, S. 39 und Beiheft) wich- 


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Nachrichten und Mitteilungen 


tige Beiträge zur Kenntnis von Burgkmairs 
Bilddruck: sie fand in der Bibliothek zu 
Wolfenbüttel und in Stuttgart Abdrücke 
aus der seltnen Burgkmairschen Holzschnitt¬ 
folge zur Genealogie Maximilians I. Einen 
weiteren bisher unbekannten Satz der 
gleichen Serie im Ashmolean Mus. zu Oxford 
beschreibt Dodgson (Burl. Mag. XXVII 
1915/16, S. 138); Garber (Wiener Jhb. XXXII 
1915, S. 1) veröffentlicht das Haller Heiltum- 
buch mit den Unika-Holzschnitten Burgk¬ 
mairs. Mit einem seltenen Nürnberger Druck 
von 1526, den Holzschnittillustrationen von 
Hans Sebald Beham zieren, macht Glaser 
bekannt (Amtl. Ber. XXXVII1915/16 Nr. 12). 
Eine wesentliche Bereicherung der Kenntnis 
des deutschen Holzschnitts der Reforma¬ 
tionszeit bringt Röttinger mit dem Nach¬ 
weis, daß ein der Forschung seit langem 
geläufiger, tüchtiger, wenn auch nicht über¬ 
ragender Holzschnittzeichner mit dem be¬ 
kannten Maler und Kupferstecher Georg 
Pencz zu identifizieren ist (Leipzig 1914). 
Im 186. Band der Studien zur deutschen 
Kunstgesch. (Straßburg) durchprüft Röttinger 
kritisch das figurale Holzschnittwerk des 
Peter Flettner (Flötner) und fügt 10 neue 
Nummern, zumeist Illustrationen zu Flug¬ 
blättern, bei. Flötners Möbelentwürfe und 
darüber hinaus den maßgebenden Einfluß, 
den er auf die süddeutsche Tischlerei aus¬ 
übte, behandelt 0. von Falke (Pr. Jhb. 
XXXVII 1916, S. 121). 

6. 

Ein Grenzgebiet zwischen Graphik und 
Kunstgewerbe wird im vergangenen Jahr 
zuerst zur Diskussion gestellt: die Ton- und 
Steinmodeln aus der ersten Hälfte des 
15. Jahrhunderts. Bode und Vollbach 
führen die von der Forschung bisher über¬ 
sehene Gattung in einem grundlegenden 
Aufsatz des Pr. Jhb. ein (XXXIX 1918, S. 90); 
die Beziehungen zwischen den Modeln und 
dem Bilddruck der Zeit werden aufgezeigt 
und so gedeutet, daß die Originalität des 
Modelbildners gegenüber dem Stecher ge¬ 
wahrt bleibt: entweder erscheint die Model 
als das Primäre, nach dem der Stecher ent¬ 
lehnt hat, oder beide stammen von dem¬ 
selben Urheber, der das Motiv zuerst in 
Ton formte und dann auf die Platte stach. 
E. Tietze-Conrat schließt sich in einer 
Besprechung der Modeln in der Sammlung 
Figdor (Kstchr. XXX 1919, S. 689) der Auf¬ 
fassung Bode-Vollbachs an. Dagegen sehen 


276 


H. Zimmermann und Lehrs das Ab¬ 
hängigkeitsverhältnis in umgekehrtem Sinne 
(ebd. S. 471 und 529): nach ihnen sind die 
Modeln vielmehr Kopien nach frühen Kupfer¬ 
stichen und entbehren jeder geistigen 
Selbständigkeit. Über das kunstgewerb¬ 
liche Interesse hinaus zu den wesentlichen 
Zusammenhängen führt ein Aufsatz von 
O. von Falke: „Die Neugotik im deutschen 
Kunstgewerbe der Spätrenaissance“ (Pr. Jhb. 
XXXX 1919, S. 75). Um 1600 taudien in 
Deutschland von neuem gotische Formen 
auf, die keineswegs, wie man anzunehmen 
pflegte, ein Nachschleppen alter Reminis¬ 
zenzen durch rückständige Elemente be¬ 
deuten, sondern einen bewußten neuer¬ 
wachenden Willen zur Gotik. Die Träger 
der neuen Formen sind keine zäh am 
Alten hängenden Handwerker, sondern 
Künstler auf der Höhe ihrer Zeit, die am 
Renaissancekönnen voll teilhaben, und 
hier absichtlich archaisieren. Die Strömung 
tritt gleichzeitig im Norden und Süden, 
Osten und Westen Deutschlands hervor 
und betrifft vor allem die Goldschmiede¬ 
kunst, daneben die Teppichwirkerei u. a. 

* * 

* 

Die Fortschritte in der Erforschung 
deutscher Kunst auf den Gebieten der 
Malerei und Graphik sind damit in den 
wesentlichen Etappen berührt, die Er¬ 
rungenschaften für Architektur und Skulptur 
müssen einer anderen Zusammenstellung 
Vorbehalten bleiben. Es sei nur kurz an¬ 
gemerkt, daß die Erkundung der deutschen 
Bildwerke immer noch hinter der des ma¬ 
lerischen Materials zurücksteht; eine Ge¬ 
schichte der deutschen Plastik wurde seit 
dem Werk Bodes (Berlin 1885, Grote) nicht 
in Angriff genommen, zusammenfassende 
Arbeiten über einzelne Gebiete brachten 
u. a. Habich (Die deutschen Medailleure 
des 16. Jahrhunderts, Halle 1916), Viktor 
Roth (Siebenbürgische Altäre, Studien z. 
deutschen Kunstgesch. Nr. 192, Straßburg), 
Hampe(AllgäuerStudien, Mitt. d. German. 
Mus. 1918/19, S. 3); Lüthgen breitet das 
umfangreiche Material der niederrheinischen 
Plastik von der Gotik zur Renaissance in 
ungebändigter Fülle vor uns aus (Studien 
z. deutschen Kunstgesch. Nr. 200, Stra߬ 
burg 1917). Aus der Menge der Einzel¬ 
studien seien hervorgehoben die vortreff¬ 
lich gearbeitete Adam Kraftbiographie von 
Dorothea Stern (Studien z. deutschen 


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Nachrichten und Mitteilungen 


Kunstgesch. Nr. 191, Straßburg 1916) und 
die ergebnisreichen Vischerstudien von 
Stierling (Monatsh. 1915, 1917/18). 

Noch ist die Fülle der Probleme auf 
keinem Gebiet voll ausgeschöpft und der 
Folgezeit bleibt genug zu schaffen übrig. 
Es ist zu hoffen, daß mit der Anzahl auch 
die Qualität der Arbeiten stetig wächst 
und die deutsche Kunstgeschichte nicht 
nur aushilfsweise in erhöhtem Maße zum 
deutschen Thema greift, weil das Reisen zur 
Zeit erschwert ist, sondern weil sie im Er¬ 
kunden und Ausdeuten heimischen Besitzes 
ihre vornehmste Aufgabe sieht. 

Berlin, Nov. 1919. 

Dr. Grete Ring. 

Das zweite Jahr des Nordischen Instituts der 
Universität Greifswald. 

Das Nordische Institut, das im Mai 1918 
begründet wurde, hat seit der vorigen Jah¬ 
resversammlung am 4. Oktober 1918') zum 
erstenmal ein volles Jahr regelmäßiger 
Tätigkeit hinter sich. Vorlesungen über 
Stoffe aus dem Gebiete der nordischen 
Sprache und Literatur, der Geologie und 
Geographie, des Rechts und der Volkswirt¬ 
schaft wie der Verfassungsgeschichte sind 
mit sehr erfreulicher Teilnahme der Stu¬ 
dierenden im letzten Winter- und Sommer¬ 
semester gehalten worden. Ein schwerer 
Schlag traf das Institut am 23. Januar 1919 
durch den Tod des Professors von Un¬ 
werth, mit dem eine nicht gewöhnliche 
wissenschaftliche Kraft, ein edler Mensch 
und sympathischer Kollege ihm entrissen 
wurde. Im April trat Professor Werner 
Richter an seine Stelle und übernahm 
auch die Geschäftsführung, die nach dem 
Tode Professor von Un werths ganz in den 
Händen des Unterzeichneten gelegen hatte. 
Leider wurde auch Professor Richter wäh¬ 
rend der Herbstferien durch Berufung in 
das Ministerium für Wissenschaft, Kunst 
und Volksbildung erfolgreicher Tätigkeit am 
Institut, hoffentlich nur vorübergehend, wie¬ 
der entnommen. Aber langgehegte Wünsche 
wurden erfüllt, als im April nicht nur in 
der Person des Dr. Norman Balk ein 
Assistent dem Geschäftsführer zur Seite tre¬ 
ten und die Ordnung der Bibliothek des 
Instituts übernehmen konnte, sondern auch 


1) Siehe den damals abgestatteten Be¬ 
richt über die Entstehung des Instituts in 
dieser Zeitschrift, Jahrg. 1918, Sp. 203 ff. 


ein junger schwedischer Gelehrter, Magister 
Gösta Bergman, in den Lehrbetrieb des 
Instituts eintrat und im Sommersemester zahl¬ 
reich besuchte Kurse in schwedischer Sprä¬ 
che und Literatur abhielt. Durch die im 
Juni erfolgte Berufung von Professor Gla- 
gau in den Institutsvorstand ist die Aus¬ 
sicht verstärkt, daß auch die nordische Ge¬ 
schichte und Politik ihren Platz im Institut 
finden wird, und freundliche Zusagen der 
Professoren Bier mann und Jakoby lassen 
hoffen, daß künftig die Volkswirtschaft noch 
mehr als bisher, aber auch die Philosophie 
und Pädagogik des Nordens von uns wer¬ 
den beachtet werden können. Eine Ergän¬ 
zung der geographischen Vorlesungen im 
Rahmen des Instituts bot Anfang August 
eine von Professor Braun geleitete Exkur¬ 
sion nach Südschweden und Kopenhagen, 
bei welcher die hiesige Geographische Ge¬ 
sellschaft mit demNordischen Institut zusam¬ 
menwirkte. Zur Anfachung erhöhten Eifers 
für das Studium der schwedischen Sprache 
und Literatur dienten zwei Stipendien von 
je 500 Mark, welche der schwedische 
„Reichsverein für die Erhaltung des Schwe- 
dentums im Auslande" stiftete mit der Be¬ 
stimmung, daß sie am Jahrestage des To¬ 
des von Professor von Unwerth für her¬ 
vorragende Leistungen auf dem Gebiete 
des Schwedischen verteilt werden sollten. 

Das Heim des Instituts im Hause Dom¬ 
straße 14, das ursprünglich in zwei Stock¬ 
werken zerstreut lag, konnte während der 
Herbstferien endlich eine befriedigende Ge¬ 
stalt gewinnen. Ein sonniger Hörsaal, um 
den sich zwei Bibliotheksräume und ein 
Geschäftszimmer gruppieren, ladet alle Stu¬ 
dierenden und Freunde nordischer Wissen¬ 
schaft zum Besuche ein. Jeden Vormittag 
steht auch unsere Büchersammlung der Be¬ 
nutzung offen. Infolge der Valutaverhältnisse 
hat ihr trotz der vom Hohen Ministerium zur 
Verfügung gestellten Mittel noch nicht die 
wünschenswerte Vollständigkeit gegeben 
werden können. Aber die Freigebigkeit nor¬ 
discher Behörden, wissenschaftlicher An¬ 
stalten und Gesellschaften, Buchhandlungen 
und einzelner Gelehrter und Schriftsteller, zu 
denen auch Selma Lagerlöf gehört, hat 
dafür gesorgt, daß doch jedes fachliche In¬ 
teresse irgendwelchen Stoff zum Studium fin¬ 
det. Ein weites Feld der Tätigkeit bleibt aber 
noch denen, welche hierin dem Institut zu 
Hilfe kommen wollen. Auch ältere nordische 
Literatur ist willkommen. Wenn, etwa aus 


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Nachrichten und Mitteilungen 


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Nachlassen, größere Sendungen angemel¬ 
det werden, trägt das Institut gern die 
Transportkosten. Wärmster Dank sei auch 
hier allen denen ausgesprochen, welche 
bisher geholfen haben. 

Als Geschenkgeber seien hier genannt: 
Die Finnische Gesandtschaft in Berlin, die 
Topographische Abteilung des Königlichen 
Generalstabs in Stockholm und in Kopen¬ 
hagen, das Statistische Zentralbureau in Kri¬ 
stiania und in Stockholm, die Universitäts¬ 
bibliothek in Upsala und in Lund, die Stadt¬ 
verwaltung in Malmö, der Dänische und 
derSchwedischeTouristenverein.derSchwe- 
dische Exportverein, die Technische Hoch¬ 
schule in Stockholm, das Geographische In¬ 
stitut der Universität Königsberg, die Verlags¬ 
buchhandlungen Wahlström & Widstrand, 
A. Bonnier, P. A. Norstedt in Stockholm, 
Söderberg in Helsingfors, Harrassowitz in 
Leipzig, die Herren Dr. J. Bergman in 
Stockholm, Professor Braun, Professor 
Curschmann, Professor Dalman in Greifs¬ 
wald, Oberbibliothekar Hulth in Upsala, 
Dr. Selma Lagerlöf-Falun, Dr. ,F. Guttman- 
Breslau, Professor v.Wrangel-Lund, Erik Lie- 
Kristiania. 

Damit die Tätigkeit des Instituts nicht 
auf dieses Heim beschränkt bleibe, ist die 
Begründung einer Zeitschrift ins Auge 
gefaßt, welche in gemeinverständlichen Auf¬ 
sätzen die nordischen Staaten vor allem in 
ihrer gegenwärtigen äußeren Gestalt und 
inneren Haltung in Deutschland besser be¬ 
kannt machen soll. Die Sorge um die An¬ 
fangsnöte der Zeitschrift hat eben jetzt ein 
hochherziges Geschenk der .Gesellschaft 
der Freunde und Förderer der Universität 
Greifswald* dem Institut abgenommen. Auch 
ihr gilt dafür sein verbindlichster Dank. 
So darf es verheißungsvolle Anfänge ver¬ 
zeichnen, denen der Fortgang nicht fehlen 
wird, je mehr in der akademischen Jugend 
und unserem Volke überhaupt die Über¬ 
zeugung wächst, daß unsere Bildung un¬ 
vollständig ist und ihre Fähigkeit zu natio¬ 
nalem Wirken unvollkommen, wenn für das 
Wesen, die Lage und das Handeln unserer 
germanischen Brudervölker im Norden kein 
Verständnis gewonnen wurde. 

Der Aufgabe des Instituts, auch persön¬ 
liche Beziehungen im Norden anzuknüpfen, 
entsprach es zunächst, daß an den Hoch¬ 
schulen von Upsala, Lund, Gotenburg, Ko¬ 
penhagen, Kristiania und Helsingfors Ver¬ 
treter des Instituts gewonnen worden sind 


mit der Aufgabe als .Akademische Konsuln* 
den dortigen Studierenden Auskunft zu 
geben über die Verhältnisse an deutschen 
Universitäten, vor allem Greifswalds. Da¬ 
gegen versprach das Nordische Institut, in 
derselben Weise auf die nordischen Uni¬ 
versitäten aufmerksam zu machen. Da die 
Valutaverhältnisse den Besuch Deutscher 
im Norden gegenwärtig fast unmöglich 
machen, kam Erzbischof Söderblom in Up¬ 
sala unseren Wünschen entgegen, als er 
auf Anregung von Professor Braun sich 
dafür einsetzte, daß schwedische Gastfreund¬ 
schaft diesen Besuch erleichtern solle. Es 
ist dann den Bemühungen unseres Ver¬ 
treters in Upsala, des Bibliothekdirektors 
Aksel Andersson, zu verdanken, daß 
jetzt ein Theologe und ein Geograph in 
Upsala freundliche Aufnahme gefunden ha¬ 
ben und zunächst während des Herbstse¬ 
mesters dort studieren. Ebenso ist erfreu¬ 
lich, daß einem Schüler Herrn von Un- 
werths, Dr. de Boor, der Weg zu einem 
Lektorat in Gotenburg geebnet wurde und 
er dadurch die Möglichkeit zu erfolgreichen 
Fachstudien auf dem schwedischen Gebiete 
erhielt. Deutsche Wissenschaft wurde in 
den Norden getragen, wenn Mitglieder des 
Nordischen Instituts dort in Mitteilungen 
aus ihrem Fachgebiet größeren Kreisen 
gegenübertraten. Dies geschah durch acht 
Vorlesungen, die Professor Braun in Stock¬ 
holm und Upsala abhielt und durch 13 Vor¬ 
lesungen und Vorträge, mit denen der Unter¬ 
zeichnete eine seit 1916 in Schweden und 
Dänemark geübte Tätigkeit dieses Jahr fort¬ 
setzte und damit die Gesamtzahl der Vor¬ 
träge in 16 verschiedenen Städten (Stock¬ 
holm, Upsala, Oerebro, Kristinehamn, Karl¬ 
stad, Hjo, Skövde, Skara, Fridene, Karls¬ 
borg, Tidaholm, Gotenburg, Helsingborg, 
Lund, Malmö, Kopenhagen) auf 50 brachte. 
Mit der Vortragstätigkeit war naturgemäß 
verknüpft persönlicher Verkehr mit Berufs¬ 
genossen, aber auch vielen anderen Per¬ 
sönlichkeiten aller Stände. Die skandina¬ 
vische Kirchenkonferenz in Stockholm und 
die Zusammenkunft der Professoren von 
Kopenhagen und Lund in der letzteren 
Stadt brachte auch Dänen in den Bereich 
dieses Verkehrs. Er sollte vor allem in 
die Lücke treten, welche die von unseren 
Feinden noch immer betriebene Unterbin¬ 
dung der Beziehungen von Nord und Süd 
geschaffen hat. Dabei brachte er zur Emp¬ 
findung, mit welcher Wärme man in Schwe- 


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Nachrichten und Mitteilungen 


282 


den weithin unsere Lage betrachtet und 
mit welcher Sorge man wahrnimmt, daß 
das politische Gleichgewicht Europas zum 
Schaden aller Mittelmächte, auch der nor¬ 
dischen, verschoben ist. Bestrebungen sind 
vorhanden, die skandinavische Kultur ro¬ 
manisch und angelsächsisch zu beeinflussen. 
Um so wichtiger ist, daß wir wenigstens 
unsererseits die alten Beziehungen zwischen 
den germanischen Völkern zur Festigung 
ihrer Eigenart im Gange erhalten. 

Mit besonderer Freude begrüßen wir es, 
wenn unser Verkehr mit dem Norden da¬ 
durch eine Erwiderung erfährt, daß von dort 
her Vertreter der Wissenschaft zu uns kom¬ 
men und uns aus ihrem Studienbereich An¬ 
regung und Belehrung bieten. Bei der vori¬ 
gen Jahresversammlung hatten wir Reichs¬ 
antiquar Professor Dr. Montelius aus 
Stockholm in unserer Mitte. Diesmal hatte 
der Vertreter der Kunstgeschichte an der 
Universität Lund, Professor Dr. von Wrän¬ 
get, der Bitte des Instituts entsprochen und 
hat durch Mitteilungen aus dem Gebiete der 
schwedischen christlichen Kunst und ihrer 
Beziehungen zu Deutschland die Jahresfeier 
gekrönt. Es ließe sich über Zukunftspläne 
und Zukunftswünsche des Nordischen In¬ 
stituts noch manches sagen, über seine Be¬ 
teiligung an der Volkshochschulbewegung 
unserer Tage, in deren Wesen der Unter¬ 
zeichnete in Schweden Einblick zu gewinnen 
gesucht hat, aber auch an den praktischen 
wirtschaftlichen Beziehungen zum Norden, 
für welche besondere deutsch-nordische Ver¬ 
bände in der Gründung begriffen sind, auch 
über Auskunftserteilung und Beratungen 
derer, die nordische Beziehungen suchen. 
Aber wir bleiben stehen bei dem, was das 
letzte Jahr in sich schloß und die Gegen¬ 
wart bietet, und danken dem Gott, der will, 
daß Menschen und Völker sich nicht be¬ 
feinden, sondern brüderlich einander för¬ 
dern, daß er bis dahin mit dem Institut ge¬ 
wesen ist und durch innere und äußere 
Schwierigkeiten es geführt hat. Möchte das 
Nordische Institut der Universität Greifs¬ 
wald auch weiterhin als eine Stätte und ein 
Werkzeugech ten Friedens ihm dienen dürfen! 

Greifswald, 24. Oktober 1919. 

Geheimrat Professor Dr. D. Dr. Dal man. 

Carl H. Beckers „Kulturpolitische Aufgaben des 
Reiches.“ Eine amtliche Denkschrift 

Wie schon mit seinen im Sommer 1919 
im selben Verlage erschienenen „Gedanken 


zur Hochschulreform“ macht C. H. Becker, 
Unterstaatssekretär im preußischen Unter¬ 
richtsministerium, auch hier wieder eine 
amtliche Denkschrift zur Grundlage öffent¬ 
licher Erörterung. 

In einer kurzen „Einführung“ wird die 
Frage: „Was ist Kulturpolitik“ treffsicher 
behandelt. Völker mit starken nationalen 
Instinkten wie die Angelsachsen, die Fran¬ 
zosen, auch die Russen haben die Pflege 
sogenannter Kulturpolitik von Staats wegen 
nicht nur grundsätzlich anerkannt, sondern 
auch ganz spezifische Arten dieser Kultur¬ 
politik mit Erfolg geübt. Die Nordamerika¬ 
ner stampfen das eingewanderte Völker¬ 
gemisch unter dem ungeheuren Druck ihrer 
großzügigen Wirtschaft ein und stempeln 
es innerhalb ein bis zwei Generationen 
yankeemäßig ab. Die Briten tragen wie 
ihre Schiffe, so ihr Kulturideal in fernste 
Zonen. Die Franzosen missionierten mit¬ 
tels ihrer Alliance frangaise im Orient; 
die Russen durch Rubel und Ikonostase 
in Asien und auf dem Balkan. Überall fand 
„eine bewußte Einsetzung geistiger Werte 
im Dienste des Volkes oder des Staates 
zur Festigung im Innern und zur Ausein¬ 
andersetzung mit anderen Völkern nach 
außen“ statt; an Beispielen schildert der 
Verfasser die verschiedenen Formen solcher 
kulturellen „Berieselung“. 

Sind wir Deutsche zu einer solchen Po¬ 
litik mit geistigen Werten überhaupt fähig, 
oder sind wir wirklich nur ein im Osten 
slawisch, im Westen romanisch gemischtes 
Völkergeschiebe? Haben wir, trotz schon 
2000jähriger Geschichte den Normaltyp des 
Deutschen noch immer nicht geschaffen? 
Im alten Reich war es der fast mystische 
militärische Staatsgedanke, von welchem 
aus unsere Erziehung und die Struktur un¬ 
serer Gesellschaft ihre letzte und höchste 
Prägung erhielt; und die ethischen Werte 
dieses Ideales mögen auch für vergangene 
Zeiten als durchaus notwendig und wert¬ 
voll gelten. Wir mußten eben aus Mangel 
und an Stelle der formalen Volksdisziplin, 
wie sie den genannten Nationen zu eigen 
ist, unsern völkischen Willen für Einheit in 
Form des Militarismus als eines harten 
Schutzschildes gegen uns selbst und gegen 
andere Völker sozusagen ausschwitzen wie 
ein Weichtier seine Schalen. 

In Zukunft aber gilt es ein neues eini¬ 
gendes Band zu suchen, das uns „über un¬ 
seren Stammespartikularismus, über unsere 


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Nachrichten und Mitteilungen 


284 


konfessionelle Spaltung und über unsere 
berufständische und soziale Gliederung 
hinaus zum Einheitsvolk werden läßt. Nöti¬ 
ger wie je braucht Deutschland jetzt eine 
bewußte Kulturpolitik. Und wenn der 
Deutsche seiner Natur nach nicht von selbst 
danach greift, so muß er eben dazu erzo¬ 
gen werden.“ Ein Bildungs- bzw. Schul¬ 
parlament, welches sich mit obigen Fragen 
beschäftigen könnte, lehnt der Verfasser ab, 
aber das Reich als solches muß kulturpoli¬ 
tische Kompetenzen erhalten, denn der Parti¬ 
kularismus, der kulturell soviel geleistet 
hat, der aber auch die Revolution und ihre 
Ausheilungsmöglichkeiten zersplitterte und 
lähmte, kann nur mit geistigen, d. h. kul¬ 
turpolitischen Waffen überwunden werden. 

Das zweite Kapitel enthält die dem Ver¬ 
fassungsausschuß der Nationalversammlung 
vorgelegte Denkschrift über die Zuständig¬ 
keiten des Reiches. Von hoher Warte wer¬ 
tet Becker den anfänglichen, wenn auch er- 
erfolglosen Einspruch der Bundesstaaten 
gegen diese Zuständigkeiten, wie sie der 
Hugo Preußsche Verfassungsentwurf im 
Art. 4 Nr. 12 festlegte. Gerade weil die 
neue Verfassung einen erheblichen Schritt 
weiter zu m Einheitsstaat bedeutet, sollte nach 
Ansicht der Gliedstaaten ihre eigene boden¬ 
ständige kulturelle Autonomie aufrechter¬ 
halten werden. Wo wären wir mit unserer 
Kultur hingekommen, wenn nach Pariser 
Muster Berlin allein ausschlaggebend ge¬ 
worden oder gewesen wäre? Entgegenge¬ 
setzt der altpreußische Standpunkt. Nicht 
aus besonderer Gefälligkeit gegen die 
Reichsregierung war Preußen von Anfang 
an bereit, dem Reiche die gewünschten 
Kompetenzen zuzugestehen, sondern weil 
in Preußen der Staat all den Stämmen, die 
er umfaßt, seit langem übergeordnet ist, 
und so ihre Kulturen sich aneinander an¬ 
zugleichen gelernt haben. Nur im Rhein¬ 
lande regt sich unter dem Druck ausländi¬ 
scher Propaganda der alte Stammeskultur¬ 
gedanke, welcher in Süddeutschland der 
natürliche Ausdruck des Kulturbewußtseins 
überhaupt war und noch ist. In Preußen 
war es die Bureaukratie, welche die kulturelle 
Oberleitung in Händen hatte; für sie aber 
bedeutet die Übertragung ihrer Kompeten¬ 
zen auf das Reich nur einen Gewinn. Das 
kaiserliche Deutschland trieb nach außen 
nichts als Wirtschaftspolitik; im Rausch 
äußerer Erfolge kamen wir nicht zum Be¬ 
wußtsein der Unzulänglichkeit des kultu¬ 


rellen d. h. ideellen Unterbaues unseres 
materiellen Wohlstandes. Preußen hat mit 
bescheidenen Mitteln deutsche Kulturpolitik 
getrieben, z. B. Institute im Ausland unter¬ 
halten, den Professorenaustausch, Ausgra¬ 
bungen und Expeditionen veranstaltet. Weis 
es leistete, wurde dem Reiche gutgeschrie¬ 
ben. Und wenn einmal das Reich sich zu 
betätigen anfing, wurde preußische Hilfe 
angerufen und viele Akten tragen den Ver¬ 
merk „Urschriftlich dem Herrn Preußischen 
Minister der geistlichen und Unterrichtsan¬ 
gelegenheiten zur gefälligen Äußerung oder 
Erledigung.“ (Als Ref. im Kriege deutsche 
Publikationen über Bulgariens Geschichte 
und Kultur anregte, wandte er sich von 
Sofia aus selbstverständlich in erster Linie 
an dieses Ministerium.) Aber was auch 
immer geschah, hält keinen Vergleich aus 
mit ausländischen Vorbildern. Nunmehr 
hat das deutsche Volk, politisch und wirt¬ 
schaftlich ausgeschaltet, im Ringkampf der 
Völker nur noch seinen Ideengehalt als 
Einsatz. Nicht Selbstlob und Pressepropa¬ 
ganda kommen da in Frage, sondern was 
wir vorerst brauchen, ist Verinnerlichung. 
Um diese geistige Wiedergeburt muß sich 
das Reich amtlich kümmern. Und auch nach 
innen, in die Gliedstaaten hinein, muß von 
Reichs wegen Kulturpolitik getrieben werden. 
Die Parolemuß sein: Erziehung der deutschen 
Stämme zur Nation; nicht zu Chauvinisten, 
sondern zum Einheitsvolk. Das Reich braucht 
in Ermanglungeinermilitärischen eine ideelle 
Hausmacht. Die Erziehung muß einheitlich 
sein, sonst entwickeln sich die Gliedstaaten, 
welche das Erziehungswerk als solches zu 
vollenden haben, sei es im ultraradikalen, 
sei es im reaktionären Fahrwasser, nicht zu¬ 
einander, sondern auseinander. Eine be¬ 
grenzte Reichsaufsicht, von erlesener, gro߬ 
zügiger Beamtenschaft geleitet, muß dies 
Erziehungswerk leiten. Auch aus finanziellen 
Rücksichten ist dies nötig. Das Reich hat 
die größten Schulden, das Reich muß die 
Macht haben, überflüssige, nur lokalpatrio¬ 
tisch verankerte Institute und wissenschaft¬ 
liche Gründungen zu verhindern; anderer¬ 
seits muß das Reich den Gliedstaaten helfen, 
die in ihrem Rahmen notwendigen Kultur¬ 
abgaben zu finanzieren. So fordert der 
Verfasser u. a., daß den vor 1914 blühenden 
wissenschaftlichen Zeitschriften Deutsch¬ 
lands, den großen Archiven deutscher Ge¬ 
lehrtenarbeit, welche zurzeit vor Bankrott 
und Untergang stehen, von Reichs wegen 


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286 


Nachrichten und Mitteilungen 


Unterstützung werden muß. Nationales An¬ 
sehen steht auf dem Spiel. Was deutsche 
Fürstenhöfe und private Mäzene vor dem 
Kriege als Kulturzentren geleistet, wird künf¬ 
tig fortfallen und muß ersetzt werden. Die 
1868 begründete Bundes- bzw. Reichsschul¬ 
kommission muß nach nationalpädagogi- 
sehen Gesichtspunkten ausgestaltet werden. 
Aber auch ein Reichsschulgesetz, wie es der 
deutsche Lehrerverein in einer Eingabe an 
die Nationalversammlung vom 16. 2. 1919 
forderte, hält der Verfasser für grundsätzlich 
berechtigt. Auch auf die jährlichen Hoch¬ 
schulkonferenzen, die Friedrich Althoff be¬ 
gründete, und die bisher nur eine zwischen¬ 
staatliche Veranstaltung der größeren Bun¬ 
desstaaten bildeten, weist der Verfasser hin. 
Neben der Schule kommen Kunst und Wis¬ 
senschaft in Frage; und hier ist der wunde 
Punkt ebenfalls der Mangel an Einheitlich¬ 
keit. Ein Beispiel des Verfassers: Das Ar¬ 
chäologische Institut untersteht dem Aus¬ 
wärtigen Amte, das Kunsthistorische dem 
Reichsamt des Innern, das Historische dem 
preußischen Kultusministerium; es fehlt an 
einer festen Zentralstelle, welche leitet und 
ausgleicht, ohne zu bevormunden. Die Or¬ 
gane des Reiches aber, welche solche Kultur¬ 
aufgaben übernehmen, dürfen nicht nur über 
die Dinge reden, sie müssen kulturell mit- 
arbeiten. Men, not measures! Keine Nor¬ 
mativbestimmungen, sondern Spielraum; 
nicht Gesetzgebung, sondern Vereinbarung, 
Konferenzen mit Gedankenaustausch. Zu¬ 
sammenfassend muß aus dem Gesagten ge¬ 
folgert werden: 

1. Daß das Reich in der Verfassung veran¬ 
kerte kulturpolitische Kompetenzen braucht. 

2. Daß die kulturpolitische Führung des 
Reiches nicht gleich beansprucht werden 
kann, aber im Laufe der Entwicklung un¬ 
vermeidbar erscheint. 

3. Auf schulpolitischem Gebiet kein ge¬ 
setzgeberischer Zwang, sondern gütliche 
Vereinbarung mit dem Ziel einheitlicher, 
aber nicht schematischer Entwicklung (stän¬ 
dige Konferenzen). 

4. In Kunst und Wissenschaft Zusammen¬ 
arbeit wie bisher, aber engere Fühlungnahme 
zwischen Reich und Gliedstaaten. 

5. Zur Förderung seiner Bestrebungen und 
zur Erhöhung seines Einflusses braucht das 
Reich neue planmäßige Mittel, möglichst 
ohne zu enge Festlegung der Zweckbestim¬ 
mung. 

6. Auf allen Gebieten aber — und das 


ist die Hauptsache — sachverständige und 
initiativereiche Reichsbeamte. 

So weit die amtliche Denkschrift. 

Kapitel 3 dann enthält Vorschläge und 
Anregungen zu der zukünftigen Organisa¬ 
tion. Die großen Machtmittel, welche trotz 
der anfänglichen Abneigung der Gliedstaaten 
dem Reiche in der neuen Verfassung im 
Art. 10 Nr. 2 unlängst zugesprochen worden 
sind, um Normativbestimmungen auf dem 
Gebiete des Schul- und Hochschulwesens 
zu erlassen, bedeuten den ersten und ent¬ 
scheidenden Schritt zur Reichskulturpolitik. 
Weise Mäßigung vor allem fordert der Ver¬ 
fasser. Er verwirft kulturelle Gleichförmig¬ 
keit und Vergewaltigung, also jeglichen Kul¬ 
turkampf. Die auswärtige Kulturpolitik muß 
dem Auswärtigen Amt überlassen werden, 
aber nur unter vollster Fühlung mit der 
kulturellen Inlandzentrale. Eine eigene Ab¬ 
teilung für Volkshochschulwesen ist notwen¬ 
dig und anderes mehr, worüber wir auf die 
Schrift selber verweisen. 

Wichtiger aber als alle Organisationen, 
so führt das Schlußkapitel aus, sind die 
Kulturinhalte. Ober sie müssen wir uns 
zu allererst klar werden. Grundanschau¬ 
ungen von Volk und Leben, die jenseits 
religiöser oder nichtreligiöser Weltanschau¬ 
ung stehen, müssen bewußt ohne Verach¬ 
tung der Ideale der Vergangenheit neu auf¬ 
gebaut werden. „Tausend Schleier decken, 
was vor uns liegt.“ Uns Deutschen fehlt 
als dezidierten Individualisten der politische 
Sinn, als Volk das Volksbewußtsein oder 
der nationale Gedanke. Also nicht die 
Staatsnation, sondern die Kulturnation muß 
ins Auge gefaßt werden. Wir müssen das 
Wesen unseres Volkes in der Geschichte 
suchen, „der gotische Mensch“ lebt als 
Sehnsucht in den Besten unserer Zeit. (Vgl. 
die Aufsätze des Grafen Keyserling und 
vonE.Troeltsch über „Deutschlands wahre 
politische Mission“ und „Über deutsche Bil¬ 
dung“ in dem Sammelband „Der Leuchter“, 
Darmstadt 1919, Reichls Verlag). Unsere 
inneren Polaritäten und Spannungen sind 
leider Naturnotwendigkeiten deutscher Cha¬ 
rakteranlage. Aber diesen unser Volk spren¬ 
genden Gegensätzen muß durch Aufklärung 
das Gift entzogen werden. Der Mensch kann 
nur dasjenige wollen, „was er liebt“; „seine 
Liebe ist der einzige, zugleich auch der un¬ 
fehlbare Antrieb seines Wollens und aller 
seiner Lebensregung und -bewegung“ 
(Fichte). „Lernen wir überall das Mensch- 


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Nachrichten und Mitteilungen 


liehe verstehen und lieben. Suchen wir den 
deutschen Gedanken zunächst in uns selber, 
dann in unserem Volk, stellen wir ihn her¬ 
aus in seiner irrationalen und rationalisti¬ 
schen Prägung, aber befreien wir ihn — 
bei stärkster individueller Staatsgesinnung 
— von staatlicher Enge, vom Zwang der 
Grenzpfähle, haben wir den Mut, den ge¬ 
segneten Gedanken eines unserer Jüngsten 
in die Tat umzusetzen, indem wir die Staats¬ 
angehörigkeit zurücktreten lassen hinter der 
Volkszugehörigkeit, oder pflegen wir beide 
nebeneinander, ln welcher Form auch immer, 
wir müssen uns erziehen zum Bewußtsein 
unserer selbst.“ Der Verfasser warnt davor, 
die Millionen Deutsche, welche künftig wie¬ 
der ins Ausland abwandern werden, zu 
einer großen Irredenta zu organisieren. Die 
machtpolitische Lösung des deutschen Pro¬ 
blems ist im Weltkrieg gescheitert, aber das 
deutsche Volk ist wichtiger als die deutsche 
Weltmachtstellung. Die Feinde müssen in¬ 
nerlich überwunden werden. Wenn wir uns 
treu bleiben, wird einst der Tag der Scham 
für unsere Gegner kommen. Es wäre ja 
nicht das erstemal, daß durch Leiden die 
Welt überwunden wird. Dann wird es in 
einem neuen Europa weder Herrscher noch 
Sklavenvölker geben, sondern eine zu ge¬ 
meinschaftlicher Arbeit verbundene Völker¬ 
familie. Wir müssen zu einer freieren Wil¬ 
lensbildung hindurch, nur dann wird Raum 
für freie Menschenwürde. Wir haben Bil¬ 
dung und Wissenschaft miteinander ver¬ 
wechselt. „Selbstbewußtsein als Volk, ethi¬ 
sche Gesinnung und innere Einstellung iur 
Sache, insbesondere zur Arbeit, das sind drei 
große Ideale, die zusammen zu einer ge¬ 
schlossenen Lebensaufgabe führen. Sie bil¬ 
den ein Kulturprogramm, das unerreichbar 
und utopisch ist, wie alle letzten Ziele der 
Menschheit es sein müssen, das aber eine 
normative Kraft von packender Wucht ent¬ 
hält, wenn es wirklich vom Willen des ein¬ 
zelnen aufgenommen und von dem Glauben 
einer zur Mitarbeit sich freiwillig zusammen- 
schließenden Kulturgemeinde getragen wird. 
Auf diesem Boden könnten sich alle Par¬ 
teien und Konfessionen zusammenfinden; 


sie werden und sollen diesen Ideen in ihrem 
Kreise ihre besondere Lokalfarbe und Tem¬ 
peratur verleihen, sie werden aber alle be¬ 
reit sein, jeder auf seinem Wege, diesen 
ewigen Zielen zuzustreben und dadurch 
unser zerrissenes Volk sich in einer höheren 
Einheit zusammenfinden lassen. Ideale nicht 
nur zu haben, sondern sie mit dem viel¬ 
gestaltigen kulturpolitischen Apparat bewußt 
dem deutschen Volke als Lebensideale ein- 
zuhämmern — das ist die eigentliche Auf¬ 
gabe der Kulturpolitik des Reiches.“ 

Wiesbaden. Dr. B. Laquer. 

Zur Wiedereröffnung des literarischen Aus¬ 
tausches zwischen Amerika und Deutschland. 

Kürzlich erhielt ich eine Anzeige meiner 
im Jahre 1917 erschienenen »Ursachen der 
Reformation“ (München, R. Oldenbourg) 
von P. Smith aus der American Historical 
Review (Aprilheft vom Jahrgang 1919). Die 
Schlußsätze setze ich hierher: .In closing, 
may the reviewer be allowed to express 
his pleasure at seeing the first German 
publication that has broken through the 
British censorship-blokade to his eyes since 
1915? May German thought, purged but not 
crushed out by the war, again take its due 
place in the light of cosmopolitan culture 
that ( we must all hope is once more begin- 
ning to shine through the clouds.“ 

Indem ich dem Rezensenten meinen Dank 
für seine freundliche Begrüßung ausspreche, 
möchte ich nicht unterlassen hervorzuheben, 
daß einen ausgezeichneten Kommentar zu 
den Worten .purged but not crushed out* 
der Däne Karl Larsen in seinem Aufsatz 
.Das Ende des Militarismus“ in der .Deut¬ 
schen Rundschau“, Oktober- und November¬ 
heft, gegeben hat. Er schildert z. B., wie 
man über den Zusammenbruch des preu¬ 
ßisch-deutschen Militarismus triumphiert und 
wie man dabei doch plötzlich entdeckt, daß 
mit diesem Zusammenbruch ein höchst 
wertvoller Schutz der kleinen Nationen be¬ 
seitigt ist. Es ist dies aber eine Erschei¬ 
nung aus einem Komplex von vielen par¬ 
allelen Erscheinungen. 

Freiburg i. Br. G. von Below. 


Für die Sdiriftleitung verantwortlich: Professor Dr. Max Cornlcellus, Berlin W 30, LultpoldstraBe 4. 

Drude von B. O. Teubner in Leipzig. 


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INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT 

FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK 


14. JAHRGANG 


HEFT 4 


FEBRUAR 1920 


Die Anfänge des Preufsischen Kultusministeriums. 

Von Gunnar Thiele. 


Daß das Kultusministerium in Preu¬ 
ßen eine hochpolitische Behörde ist, 
dürfte in unseren Tagen nicht mehr 
bestritten werden. Nicht zu allen Zei¬ 
ten aber war die Wertung dieses Ver¬ 
waltungszweiges die gleiche; entbehrte 
er doch im 18. Jahrhundert noch gänz¬ 
lich der Selbständigkeit. Erst nach dem 
Zusammenbruche zu Beginn des 19. 
Jahrhunderts besinnt man sich auf 
den großen Gedanken, daß der Mensch, 
der zur Selbsttätigkeit und Selbständig¬ 
keit gebildet wäre, auch den Staat tra¬ 
gen und ihn emporbilden würde. Mußte 
aber nicht diese hohe Bedeutung, die 
eine idealistische Anschauung dem Er¬ 
ziehungswesen beimaß, auch zu einer 
verwaltungstechnischen Selbständigkeit 
jener Behörde führen, der die Pflege des 
inneren Lebensgehaltes der Nation ob¬ 
lag? Die Lösung dieses Problems gibt 
uns Ernst Müsebeck in einer inhalt¬ 
reichen Schrift 1 ), deren Hauptgedan¬ 
ken wir im folgenden skizzieren. 

1 . 

Ganz im Sinne der altprotestanti¬ 
schen Auffassung, daß die Schule einen 
integrierenden Bestandteil des kirchli¬ 
chen Lebens ausmache, zeigt das 18. 
Jahrhundert noch die völlige Abhän¬ 
gigkeit des Unterrichtswesens vom Kul¬ 
tus, und auch die Gründung des Ober¬ 
schulkollegiums im Jahre 1787, welche 

1) Das Preußische Kultusministerium vor 
hundert Jahren. Stuttgart und Berlin 1918, 
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger. 

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eine scharfe Trennung der Kultus- und 
Unterrichtsfragen erstrebte, hatte tat¬ 
sächlich nur eine Verminderung, nicht 
eine Aufhebung des geistlichen Einflus¬ 
ses auf das Schulwesen zur Folge. 
Charakteristisch für das alte Preußen 
bleibt die Verbindung der geistlichen 
Angelegenheiten mit dem Justizmini¬ 
sterium in der obersten Spitze. Wie 
der damaligen Behördenorganisation 
überhaupt, so fehlte auch der Verwal¬ 
tung des Kultus, Unterrichts- und Me¬ 
dizinalwesens, das fast ohne Zusam¬ 
menhang mit den obersten Zentralbe¬ 
hörden geblieben war, die straffe, ein¬ 
heitliche Zentralisation, die zur Durch¬ 
führung eines großen Reformprogram- 
mes notwendig war. 

Während der Reformzeit und der 
Zeit der Freiheitskriege — Müsebeck 
umgrenzt diesen Zeitraum durch die 
Jahre 1807 und 1817 — tritt Kultus, 
Unterricht und Medizinalwesen in Ver¬ 
bindung mit dem Ministerium des In¬ 
nern. Bereits vor dem Zusammenbruche 
des Staates wurden Versuche gemacht, 
das preußische Behördenwesen uruzu- 
gestalten, aus dem unverantwortlichen 
Kabinett ein verantwortliches Mini¬ 
sterium zu schaffen, Fachministerier. 
an Stelle von Provinzialministerien zu 
begründen. Die nämliche Tendenz für 
die künftige Verwaltungsorganisation 
zeigen die großen Denkschriften des 
Jahres 1807, die nach dem Zusammen¬ 
bruche die Reform des neuen Preußens 
einleiteten. Stein hob die Notwendig - 

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242 


Gunnar Thiele, Die Anfänge des Preußischen Kultusministeriums 


291 


keit der Trennung von Kultus und Un¬ 
terricht hervor, Altenstein, der für die 
Einheit in der Leitung des Kultus und 
Erziehungswesens eintrat, wies als er¬ 
ster auf Humboldt als den gegebenen 
Chef des Unterrichtswesens bei der Re¬ 
form hin, Hardenberg forderte zum er¬ 
sten Male das Kultusministerium mit 
seinen zwei großen Zweigen des Kul¬ 
tus und des Unterrichts in seiner spä¬ 
teren selbständigen Stellung als eigne 
Oberbehörde. Durch die gemeinschaft¬ 
liche Arbeit von Stein, Hardenberg und 
Altenstein war die Einheit in der ober¬ 
sten Verwaltung prinzipiell durchge¬ 
führt. Am 24. November 1808, am letz¬ 
ten Tage der Amtsführung Steins, 
wurde die „Verordnung, die veränderte 
Verfassung der obersten Verwaltungs¬ 
behörden in der preußischen Mon¬ 
archie betreffend“, vom Könige - voll¬ 
zogen. Das ehemalige Generaldirek¬ 
torium wurde nach seinen beiden 
Hauptfunktionen getrennt. So entstan¬ 
den das Ministerium des Innern und 
das der Finanzen, welche mit dem Mi¬ 
nisterium der auswärtigen Angelegen¬ 
heiten, dem Kriegs- und Justizmini¬ 
sterium die fünf Hauptvcrwaltungs- 
zweige des Staates bildeten. Die dritte 
Abteilung des Ministeriums des Innern 
bildete das Departement des Kultus 
und des öffentlichen Unterrichtes. Kul¬ 
tus und Unterricht waren endgültig 
von dem Justizdepartement geschieden, 
im.Gegensatz zu den ursprünglichen 
Steinschen Absichten unter einer ein¬ 
heitlichen Spitze vereinigt, einem Ge¬ 
heimen Staatsrate unterstellt. Das Me¬ 
dizinalwesen wurde in der „Verord¬ 
nung“ vom 24. November 1808 einer 
besonderen Departementsabteilung des 
Ministeriums des Innern überwiesen. 
Stein hatte in seiner Nassauer Denk¬ 
schrift als Spitze der gesamten Staats¬ 
verwaltung ein Ministerkonseil gefor- 


I 

dert, da für ihn die Kollegialität der 
obersten Behörde das Fundament der 
künftigen Verwaltung bildete. Alten¬ 
stein und Hardenberg wollten die Re¬ 
gierungsverwaltung von einem Punkte 
ausgehen lassen. Die Leitung des Gan¬ 
zen sollte dem Premierminister zu¬ 
kommen. In der „Verordnung“ vom 24. 
November, die das Kabinett als Zwi¬ 
schenglied zwischen dem Monarchen 
und der obersten Behörde beseitigte, 
mußte der Premierminister einer kol¬ 
legialen Behörde, dem Staatsrate, wei¬ 
chen. Ihm gehörten nicht nur die Mi¬ 
nister, sondern auch die Geheimen 
Staatsräte als Chefs der wichtigsten 
Ministerialsektionen an, die in diesem 
Kollegium gleiches Stimmrecht mit 
ihren Vorgesetzten haben sollten. Aber 
in der eigentlichen Ausführungsverord¬ 
nung, dem Publikandum vom 16. De¬ 
zember 1808, wurde aus der Stein¬ 
schen Verfassung das konzentrische, 
alles zusammenhaltende Herzstück, der 
Staatsrat, herausgerissen, was gerade 
für das Gebiet des Kultus und öffent¬ 
lichen Unterrichts von größter Bedeu¬ 
tung werden sollte. Stein hatte seine 
Aufgabe als eine deutsche Mission an¬ 
gesehen. Er wollte einen politischen 
Organismus schaffen, von dem aus 
einst die Befreiung Deutschlands von 
der Fremdherrschaft ihren Ausgang 
nehmen konnte. Höchste Einheitlich¬ 
keit der Staatsverwaltung mit dem 
stärksten Anteil der Nation am Staats¬ 
leben zu verbinden, war sein hohes 
Ziel. Der Erziehungsgedanke bildete 
die Zentralidee der Steinschen Reform. 

Es war mehr als eine Personenfrage, 
geradezu eine Schicksalsfrage, wer zum 
künftigen Leiter des Kultus und Un¬ 
terrichts berufen würde. Altenstein, der 
spätere erste Kultusminister, trat an die 
Spitze des Finanzministeriums; Graf 
Dohna wurde Minister des Innern. Wil- 


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293 ‘Gunnar Thiele, Die Anfänge des Preußischen Kultusministeriums 294 


heim von Humboldt, damals preußi¬ 
scher Gesandter bei der Kurie in Rom, 
übernahm am 28. Februar 1809 die Lei¬ 
tung der Sektion des Kultus und öf¬ 
fentlichen Unterrichts. Obwohl ihm Graf 
Dohna, sein Jugendfreund und Studien¬ 
genosse, volle Bewegungsfreiheit ge¬ 
währte, klagte Humboldt bald, daß die 
Geschälte ohne einheitliche Leitung 
gingen. Die vorläufige Suspension des 
von Stein geplanten Staatsrates nahm 
ihm die Möglichkeit, seine Anschau¬ 
ungen in der höchsten Landesbehörde 
zum Ausdruck zu bringen, wenn er 
mit seinem Departementschef keine 
Übereinstimmung erzielen konnte. Er 
sah sich in seinem Rechte auf Selb¬ 
ständigkeit und Verantwortlichkeit ge¬ 
schmälert. So hat er während seiner 
ganzen Amtsführung nicht nur durch 
wiederholte Eingaben, sondern auch in 
persönlicher Unterredung mit dem Kö¬ 
nige danach gestrebt, sein wichtiges 
Ressort, dem noch die Medizinalsek¬ 
tion angegliedert wurde, zu einem selb¬ 
ständigen Ministerium zu erheben. Als 
der Staatsrat in einer unwirksamen 
Form, d. h. mit bloß beratender Stel¬ 
lung, angeordnet und damit der Stein- 
sche Plan des Staatsrates aufgegeben 
worden war, reichte Humboldt sein 
Entlassungsgesuch ein, das am 14. Juni 
1810 genehmigt wurde. Nur 16 Mo¬ 
nate hatte er das Amt verwaltet. Aber 
diese kurze Spanne Zeit war für die 
Entwicklung des preußischen Kultus¬ 
ministeriums, seiner Aufgaben und 
Ziele von grundlegendem Werte. Hum¬ 
boldts Schaffenskraft wurzeLe nicht wie 
die Steins in der reichen Erfahrungs¬ 
welt der Geschichte, sondern in einem 
moralisch-ästhetischen Neuhumanismus, 
der aus der Idee heraus schöpferisch 
zu gestalten suchte. Glänzende Mitar¬ 
beiter — um nur Nicolovius in der 
Kultus- und Süvern in der Unterrich.s- 


abteilung zu nennen — standen ihm 
zur Seite. Drei große Aufgaben hatte 
er sich gestellt: die verwalt ungstech- 
nische Organisation der Sektion, die 
Festsetzung eines allgemeinen Schul¬ 
plans und die Regulierung des Fonds 
und der Etats aller Schulen und der 
Besoldung aller Geistlichen. An allen 
prinzipiellen und persönlichen Fragen 
der Kultusabteilung, die Nicolovius in 
relativ selbständiger Weise leitete, ver¬ 
langte er Anteil. Nicht das Verhältnis 
zwischen Staat und Kirche, wie es 
Schleiermacher stark bewegte, sondern 
das Verhältnis zwischen Staat und Re¬ 
ligion war das ihn wie andere Refor¬ 
mer bewegende Problem. Religion be¬ 
deutete für sie ein Stück wahrhafter 
Menschenbildung, deren Entfaltung der 
sittliche Inhalt des Staatszweckes erfor¬ 
derte. Dem Leiter der Unterrichtssek¬ 
tion war das Problem der National¬ 
erziehung als Erbe überliefert worden. 
Der deutsche Idealismus hatte es ver¬ 
kündet, daß nur durch die sittliche 
Vervollkommnung der Träger des 
Staates, der Menschen selbst, eine bes¬ 
sere Verfassung erreicht werden könne. 
Schleiermacher hatte diese Forderung 
auf die kollektivistische Einheit der 
Nation übertragen. Nationalerziehung 
erhielt den Sinn wahrhafter Men¬ 
schenerziehung. Und dann hatte Fichte 
in seinen „Reden“ eine gänzliche Ver¬ 
änderung des bisherigen Erziehungs¬ 
wesens als das einzige Mittel geprie¬ 
sen, das die deutsche Nation in ihrem 
Dasein erhalten könne. In Humboldt 
und seinen Mitarbeitern sollte Fichte 
die Männer finden, die gewillt waren, 
seine Ideen in die Tat umzusetzen. In 
einem wesentlichen Punkte unterschied 
sich Humboldt aber von dem „deut¬ 
schen“ Philosophen. Fichte machte in 
seinen „Reden“ den Staat zum Voll¬ 
strecker seines Erziehungsplanes. Nicht 

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295 


Gunnar Thiele, Die Anfänge des Preußischen Kultusministeriums 


296 


so Humboldt nach seinen letzten Ideen. 
Hatte er früher die Erziehung für eine 
Aufgabe der Nation im Gegensatz zum 
Staate gehalten, so sollte, als er nun 
an die Spitze eines staatlichen Er¬ 
ziehungswesens getreten war, die Na¬ 
tion zwar das Erziehungswesen als hei¬ 
lige Aufgabe auch jetzt noch in ihrem 
Schoße tragen. Aber er wußte jetzt 
diese Tätigkeit der Nation, der Steiri¬ 
schen Idee gemäß, dem Rahmen des 
Staates einzuordnen. Vor allem strebte 
er auf dem Gebiete des Erziehungswe¬ 
sens die harmonische Humanitätsidee 
zur Darstellung zu bringen. Der Schul¬ 
plan Humboldts, wurde die Stelle, an der 
zum ersten Male die pädagogischen 
Strömungen des Neuhumanismus und 
der Pestalozzischen Methode, ver¬ 
schmolzen mit dem deutschen Idea¬ 
lismus, in die neue preußische Schul¬ 
verwaltung überströmten. Allgemeiner 
Unterricht und Berufsbildung dürfen 
hinfort nicht miteinander vermischt 
werden. Die materiale, enzyklopädische 
Vielseitigkeit des rationalistischen Bil- 
dungsprinzipes wird durch ein univer¬ 
sal-formales Prinzip ersetzt, das sich 
allein die allseitige, von innen heraus 
schöpferisch gestaltende Kraftentwick¬ 
lung, die Selbsttätigkeit der einzelnen 
Individuen zum Ziele setzt. 

Es würde zu weit führen, wollten wir 
Müsebeck in seiner Darstellung der Tä¬ 
tigkeit der Unterrichtsabteilung auf dem 
Gebiete des Elementarschulwesens, der 
gelehrten Schulen und des Universitäts¬ 
wesens während der Humb.oldtschen Ära 
folgen. Viele Absichten Humboldts auf 
dem Gebiete der Reform des Elemen¬ 
tarschulwesens und der Gymnasien 
scheiterten an der Mittelbeschaffung. 
Um so heller erstrahlt sein Ruhm, als 
es ihm gelang, trotz aller finanziellen 
Bedrängnisse die schönste Krönung sei¬ 
nes Werkes für das Verbesserungsge¬ 


schäft des Erziehungswesens, die Neu¬ 
begründung der Universität Berlin in 
ihrer Verbindung mit der Akademie 
der Wissenschaften, durchzuführen. 
Humboldt hat der Machtform des preu¬ 
ßischen Staates den Geist des deut 
sehen Idealismus einverleibt und damit 
jene enge Verbindung zwischen dem 
preußischen Staatsgedanken und dem 
deutschen Kulturgedanken geschaffen, 
die allein Preußen zu einer Führerrollt' 
im Leben der Nation befähigen konnte. 
Der deutsche Kulturgedanke aber trug 
universale, menschheitliche Form. Er 
wollte den Deutschen zum wahrhaften 
Menschen bilden auf Grund der natio¬ 
nalen Eigentümlichkeit. Humboldt 
schied aus dem Amte, ehe seine Auf¬ 
gabe vollendet war. Für ihre Lösung 
hat er den festen Grund im preußi¬ 
schen Staate gelegt. Denn der Geist 
der nie vollendeten, aber stets der 
Vollendung entgegenreifenden Wissen¬ 
schaftlichkeit ist es, der die drei Ab¬ 
teilungen des Kultus, des Unterrichts¬ 
und des Medizinalwesens unter seiner 
Leitung zu einem einheitlichen Gan¬ 
zen gebildet hat. Wilhelm von Hum¬ 
boldt wurde mit dieser Tat der eigent¬ 
liche Schöpfer des preußischen Kul¬ 
tusministeriums, wie es einige Jahre 
später tatsächlich im Behördenorganis¬ 
mus durchgeführt werden sollte. 

2 . 

Als Humboldt aus dem Amte schied, 
war auch das Schicksal seiner Geg¬ 
ner, des Ministeriums Dohna-Alten¬ 
stein. entschieden. Hardenberg, der zum 
Staatskanzler ernannt wurde, erhielt die 
obere Leitung sämtlicher Staatsangele¬ 
genheiten. Bevor die Sektion für den 
Kultus und Unterricht am 20. Novem¬ 
ber 1810 ihren selbständigen Leiter in 
der Person des Geheimen Staatsrates 
von Schuckmann erhielt, war ihreVer- 


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297 


Gunnar Thiele, Die Anfänge des Preußischen Kultusministeriums 


298 


bindung mit der Abteilung für das 
Medizinalwesen, die ja unter Humboldt 
nur als Personalunion bestanden hatte, 
gelöst und das Medizinalwesen mit 
dem allgemeinen Polizeidepartement 
vereinigt worden. Der Nachfolger Hum¬ 
boldts war ein ausgezeichneter Ver¬ 
waltungsbeamter. Er kannte nur den 
Machtstaat als letztes und höchstes Or¬ 
gan, dem sich ohne Widerspruch das 
Geistesleben zu beugen hatte. Von einer 
kirchlich-religiösen Erziehung des Vol¬ 
kes erhoffte er allein eine Besserung 
der Zustände. Jede selbständige Re¬ 
gung des Volkes bedeutete ihm eine 
Gefahr für die Regierung. Die Arbeiten 
der Kultusabteilung unter Schuckmann 
befaßten sich mit dem Problem- der 
neuzugestaltenden kirchlichen Verfas¬ 
sung, das bereits unter Humboldt in 
Angriff genommen war. Schleiermacher 
gelang es, die Einheit der protestanti¬ 
schen Kirche herzustellen, unter reger 
Anteilnahme des Königs, dessen Eifer 
für die Union ihren Ursprung in kul¬ 
tischen Freigen hatte. Wenn auf dem 
Gebiete des Schulwesens der Geist 
Humboldts während der Schuckmann- 
schen Verwaltung vorherrschend blieb, 
so ist dies der Wirksamkeit Süvems 
und Natorps, von Nicolovius und 
von Schleiermacher zu verdanken. 
Grundlegende Arbeiten, welche die in¬ 
nere Verfassung der höheren und nie¬ 
deren Schulen regeln sollen, werden 
in den beiden Teilen der „Gesamtin¬ 
struktion über die Verfassung der 
Schulen“ vom 7. Februar 1813 fertig¬ 
gestellt, welche die „Konstitutionsakte“ 
der inneren Einrichtung des neuen Bil¬ 
dungswesens darstellt. Aber noch 
fehlte es an einem allgemeinen Schul¬ 
gesetz, das auch jener Gesamtinstruk¬ 
tion erst allgemeine Rechtsgültigkeit 
verleihen sollte. In seinem berühmten 
Promeinoria vom 8. August 1817 ent¬ 


wickelt Süvern nochmals die allgemei¬ 
nen Prinzipien der Reform. An dem 
Tage, an welchem Schuckmann die Um 
terrichtsverwaltung abgenommen wurde, 
erfolgte die Einsetzung einer Kommis¬ 
sion zur Entwerfung einer allgemei¬ 
nen Schulordnung, zu deren Referenten 
der Staatsrat Süvern bestimmt wird. 
Auf dem Gebiete des Universitätswe¬ 
sens gelangten aber die Humboldtschen 
Gedanken und Pläne unter der Leitung 
Schuckmanns nicht zur Entfaltung. Ge¬ 
waltige Aufgaben harrten seines Nach¬ 
folgers. 

Um das seit 1815 neugeschaffene 

Großpreußen nicht in seine einzelnen 
Teile auseinanderfallen zu lassen, 
glaubte Hardenberg erst die Umgestal¬ 
tung des Verwaltungskörpers zum Ab¬ 
schluß bringen zu müssen, bevor die 
Frage der Nationalrepräsentation auf¬ 
genommen würde. Der Umfang der 
Ministerien war durch den Machtzu¬ 

wachs, den der preußische Staat durch 
die Freiheitskriege erfahren hatte, zu 
groß geworden. Der Finanzminister 

v. Bülow und der Freiherr v. Schuck¬ 
mann, dem 1814 zu seinen früheren 

Ämtern noch das Ministerium des In¬ 
nern übertragen worden war, standen 
nach Schöns und Humboldts Ansicht 
der Besserung der Zustände im Wege. 
Die von so vielen Seiten geforderte, 
am 3. November und 2. Dezember 1817 
sich vollziehende Neubildung des Mi¬ 
nisteriums ging in wesentlichen Punk¬ 
ten auf die Denkschrift Altensteins über 
Verwaltung und Verfassung vom 
8. März 1816 zurück. Am bedeutend¬ 
sten war die Lostrennung der Kultus- 
und Unterrichtsangelegenheiten vom 
Ministerium des Innern, ihre Verselb¬ 
ständigung zu einer besonderen Mi- 
nisterialbehörde, die am 3. November 
1817 dem Staatsminister Freiherrn von 
Altenstein anvertraut wurde. Das Ziel, 


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das Humboldt erstrebt hatte, war er¬ 
reicht. Das Kultusministerium unter 
Altenstein — Müsebecks Darstellung 
umfaßt die Jahre 1817 bis 1823 — hatte 
zu Beginn mit einer schwierigen Ge¬ 
schäftslage zu ringen. Nicht weniger 
erschwerend wirkten die schwache Be¬ 
setzung des Ministeriums sowie Rei¬ 
bungen zwischen den beiden hervor¬ 
ragendsten Mitarbeitern Altensteins, 
Nicolovius und Süvern. Der begin¬ 
nenden Wandlung im politischen Le¬ 
ben Preußens stand der Schöpfer des 
großen Schulgesetzes völlig mißbil¬ 
ligend gegenüber. Er zog sich immer 
mehr von den Geschäften zurück, als 
sich herausstellte, daß sein Gesetzent¬ 
wurf für das gesamte Unterrichtswesen 
nicht durchführbar sei. So war es für 
Altenstein und für die fernere Entwick¬ 
lung des preußischen Unterrichtswe¬ 
sens von entscheidender Bedeutung, 
daß das Ministerium in Johannes 
Schulze bereits einen Mann gewonnen 
hatte, der die bisher Süvern anvertrau¬ 
ten Aufgaben des höheren Schulwesens 
auf sich nehmen konnte. In seltener 
Weise verband sich in ihm, dem treue¬ 
sten Mitarbeiter Altensteins in allen 
Fragen des Unterrichtswesens, der prak¬ 
tische, organisatorisch bewährte Schul¬ 
mann und Verwaltungsbeamte mit dem 
kenntnisreichen Gelehrten. Unberührt 
von den politischen Verhältnissen blieb 
das Medizinal wesen, welches bei der 
Herstellung des Ministeriums des In¬ 
nern unter einem selbständigen Chef 
dieser Behörde zugeteilt worden war, 
um alsdann bei der Verselbständigung 
des Kultusministeriums am 3. Novem¬ 
ber 1817 diesem zugewiesen zu werden. 

Auch die kirchlichen Probleme 
standen zunächst mit den schweren 
politischen Konflikten in keinem Zu¬ 
sammenhänge. Gleich dem Allgemei¬ 
nen Landrechte lag auch Altenstein al¬ 


les daran, die Kirche von dfllPS'taate 
abhängig zu machen. Was die kir- 
chcnrechtlichen Verhältnisse des Ka¬ 
tholizismus in Preußen anbetrifft, so 
ordnete für die kommende Zeit die 
Bulle De Salute animarum vom 16. 
Juli 1821 diese in einer Form, die bei¬ 
den, dem Staate und der Kirche, an¬ 
scheinend ein gedeihliches Miteinander¬ 
wirken versprach. Nicht so günstig ent¬ 
wickelten sich die Angelegenheiten der 
evangelischen Kirche. Von der Synode, 
nicht von der staatlichen Verwaltung 
aus erwartete Altenstein in diesen er¬ 
sten Jahren eine neue Kirchenordnung. 
Die kirchenpolitische Wendung, die in 
den Sitzungen der Provinzialsynoden 
zum Ausdruck kam, führte zu dem 
Beschluß des Ministeriums vom Jahre 
1823, auf die Einberufung einer Landes¬ 
synode als Gesamtvertretung der evan¬ 
gelischen Kirche zu verzichten. Wie 
im politischen Leben mit den Provin¬ 
zialständen, begnügte man sich im 
kirchlichen mit den Provinzialsynoden, 
ohne ihnen eigentliche Aufgaben zu¬ 
zuweisen. Die evangelische Kirche 
wurde in eine Bahn gedrängt, die sie 
von dem Ideal einer Volkskirche, wie 
sie ursprünglich die Reform beabsich¬ 
tigte, immer weiter abführte, sie in 
den nächsten Jahrzehnten zu einer 
Staatskirche umgestaltete. 

Schwierig lagen vom Beginne des 
Ministeriums an die Verhältnisse auf 
dem Gebiete des Erziehungswesens. 
Zwei große Erbschaften hatte Alten¬ 
stein von Schuckmann übernommen: 
die Gründung der Universität Bonn 
und die Arbeiten zu einem allgemei¬ 
nen Schulgesetz. Die am 18. Oktober 
1818 vollzogene Gründung der Univer¬ 
sität Bonn, die nach Süvern dem preu¬ 
ßischen Staate wie „eine positiv wir¬ 
kende Festung“ dienen sollte, war 
schon aufs engste mit den schweren 


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30 t 


Gunnar Thiele, Die Anfänge des Preußischen Kultusministeriums 302 


Problemen der inneren Politik Preu¬ 
ßens verbunden, die bereits auf das ge¬ 
samte Erziehungswesen übergegriffen 
hatten. Den Mittelpunkt der Staatsauf¬ 
fassung Altensteins bildete nicht die 
Nation, der aus ihr heraus geborene 
Wille zur politischen Gemeinschaft, 
sondern die geschichtlich überkommene 
Form der Verwaltung, die alle Betä¬ 
tigungen des Volkes in größter Frei¬ 
heit, aber nach festen Grundsätzen von 
oben herab zu regeln suchte. Aus sol¬ 
chen Erwägungen heraus war Alten¬ 
stein geneigt, gleichsam mit wissen¬ 
schaftlicher Gründlichkeit den letzten 
persönlichen und allgemeinen Ursa¬ 
chen der jugendlichen Irrungen nach¬ 
zugehen, um weiteren Folgen vorzu¬ 
beugen und Raum für eine ungehin¬ 
derte Entfaltung seines Staatsgedan¬ 
kens zu gewinnen. Die Metternich und 
Gentz wollten den national-politischen 
Geist der akademischen Jugend ver¬ 
nichten, die intellektuelle Selbständig¬ 
keit der Universitäten dem Gesetze der 
Autorität unterwerfen, um freie Bahn 
für die Reaktion zu erhalten. Harden¬ 
berg und Altenstein beabsichtigten aber, 
die national-politische Gesinnung durch 
«eine objektiv-wissenschaftliche zu er¬ 
setzen, sie in den Dienst des Staats¬ 
gedankens zu stellen, um Raum für 
das Werk der preußischen Verfassung 
zu gewinnen, dem Könige den Grund 
zum Argwohn, den Gegnern die Un¬ 
terlagen für ihre Verdächtigungen zu 
nehmen. So sehr sich Hardenberg und 
Altenstein in den Beweggründen ihrer 
Politik auf dem Gebiete des Er¬ 
ziehungswesens von den Männern der 
Hofburg unterschieden, in einem Punkte 
trafen sie mit ihnen zusammen: sie 
stellten es in den Dienst augenblick¬ 
licher Staatszwecke. Die Maßnahmen, 
die Altenstein in Übereinstimmung mit 
dem Staatskanzler auf dem Gebiete des 


Erziehungswesens tra c , dürfen und kön¬ 
nen nur aus dem Bestreben verstan¬ 
den werden, sicheren Boden für die 
von der absoluten Monarchie zu ge¬ 
bende Verfassung zu gewinnen. 

Es würde zu weit führen, wollten wir 
der Müsebeckschen Schrift entnehmen, 
wie Altenstein den schädlichen Wir¬ 
kungen vorzubeugen suchte, die bei 
dem wachsenden Einflüsse der reak¬ 
tionären Kreise dem gesamten Er- 
ziehungs- und Unterrichtswesen droh¬ 
ten, von der unglückseligen Tat Sands 
an über die Karlsbader Beschlüsse bis 
zu dem Vorgehen der Reaktion im 
Jahre 1820, welche durch eine neue Re¬ 
form des gesamten Schul- und Unter¬ 
richtswesens die seit dem Jahre 1809 
beginnende „schlimme Entwicklung" 
beenden sollte. Fichte und Schleier¬ 
macher vornehmlich wurden als die 
Verderber der Jugend genannt. Der 
Kampf richtete sich im letzten Grunde 
gegen den Humanitätsgedanken Hum¬ 
boldts und damit auch gegen den Ge¬ 
setzentwurf Süverns vom Jahre 1819, 
der in den Akten liegen geblieben ist. 
Altenstein, Humboldt und Süvern hat¬ 
ten, von den gleichen Prinzipien der 
deutschen idealistischen Philosophie 
ausgehend, das gesamte Schulwesen zu 
der lichten Höhe einer einheitlichen 
Idee, der Erziehung zur Humanität in¬ 
nerhalb des gleichfalls universalen Zie¬ 
len zustrebenden nationalen Staates, 
emporheben wollen. Der Wille war ge¬ 
scheitert an dem noch lebensfähigen 
Glauben der Reaktion, daß gerade diese 
idealistische Auffassung das monarchi¬ 
sche Wesen in dem überlieferten Sinne 
des Absolutismus oder des Ständetums 
als das Wesen des preußischen Staates 
gefährde, die Nation in ihren gebilde¬ 
ten Kreisen revolutioniere. Auch Alten¬ 
stein, der Schüler Fichtes, der außer 
in dem klassischen Idealismus in den 


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303 


Gunnar Thiele, Die Anfänge des Preußischen Kultusministeriums 


304 


Formen des absoluten Staatsideals wur¬ 
zelte, erblickte in der engen Verbin¬ 
dung des Wissenschaftlichen mit dem 
Politischen, wie sie sich in der nationa¬ 
len Bewegung der akademischen Kreise 
vollzog, eine Gefahr. Ihm fehlte der 
Gedanke der Selbsterziehung der Na¬ 
tion, der in der Steinschen Reform au¬ 
ßer der Idee des einheitlichen Staats¬ 
organismus lebendig war. Unvergessen 
wird es Altenstein bleiben, daß er die 
schwersten Angriffe gegen das Werk 
der Reform auf dem Gebiete des Er¬ 
ziehungswesens abgewehrt, die Lehr¬ 
freiheit als Prinzip gegen alle An¬ 
griffe aufrechterhalten hat. Gegensätze 
zwischen nationalem Macht- und na¬ 
tionalem Kulturstaat schienen ihm un¬ 
denkbar, weil beide von universalen 
Tendenzen getragen waren. Die erste 
Periode des Kultusministeriums ver¬ 
band das Erziehungswesen im Gegen¬ 
satz zu dem Wege, den Humboldt einst 
gewiesen hatte, immer enger mit dem 
Wesen des Staates, machte es zu einer 
Aufgabe der behördlichen Verwaltung. 

3. 

Müsebeck gibt uns in seinem Buche, 
dem obige Zusammenstellung in enger 
Anlehnung entnommen ist, ein — un¬ 
ter Benutzung der grundlegenden Ar- 
l)eiten von Bruno Gebhardt, Eduard 
Spranger, Conrad Varrentrapp und 
Erich Foerster — aus reichem Quellen¬ 
material geschöpftes, klares Bild von 
dem Werden, der Entstehung und der 
ersten Altensteinschen Periode des 
preußischen Kultusministeriums. Gerne 
wenden wir unsere Blicke zurück in 
jene schöpferische Epoche zu Beginn 
des 19. Jahrhunderts, die den Grund 
zu unserem heutigen Bildungswesen 
legte, in welcher auch auf dem Gebiete 
des Kultus und des Unterrichtes eine 
Fülle wichtigster Probleme aufgewor¬ 


fen wurde, die in unseren Tagen wie* 
der brennend geworden sind. Treffend 
weiß unser Historiker seine Darstel¬ 
lung des Tatsächlichen mit einer tief 
dringenden Analyse der das geschicht¬ 
liche Geschehen bewegenden und mit¬ 
einander ringenden Ideen und Strö¬ 
mungen zu verbinden. Neues Akten¬ 
material, welches das Geheime Staats¬ 
archiv durch Ankäufe aus dem Alten¬ 
steinschen Nachlasse erworben hat, hat 
der Verfasser verwerten könhen, um 
unsere wissenschaftliche Erkenntnis der 
Altensteinschen Periode, die er bis zum 
Jahre 1823 verfolgt, zu erweitern. Auf 
Grund der jetzt vorliegenden Denk¬ 
schriften Altensteins und seiner vorbe¬ 
reitenden Arbeiten für den Staatskanz¬ 
ler Hardenberg deckt Müsebeck die 
engen Beziehungen auf, die zwischen 
der Tätigkeit Altensteins auf dem Ge¬ 
biete des Erziehungs- und Unterrichts¬ 
wesens und der Verfassungsfrage be¬ 
stehen, und ermöglicht uns dadurch 
eine einheitliche Auffassung der ver¬ 
schiedenartigen Maßnahmen des Mi¬ 
nisters. Auch die Frage des Scheitems 
des Süvernschen Unterrichtsgesetzent¬ 
wurfes vom Jahre 1819 erscheint mir 
durch vorliegende Schrift restlos ge¬ 
klärt worden zu sein. 

Aber so rühmenswert die Darlegun¬ 
gen des Verfassers im ganzen sind, wird 
er doch meines Erachtens der Tätigkeit 
der Unterrichtsabteilung während der 
Reformzeit auf dem Gebiete des Ele- 
mentarschuhvesens nicht völlig gerecht. 
Der Wirksamkeit Ludwig Natorps 
kommt, wie insbesondere aus Akten 
des preußischen Kultusministeriums er¬ 
sichtlich geworden ist, eine höhere Be¬ 
deutung zu, als es die Darstellung 
Müsebecks zum Ausdruck bringt. Wenn 
Müsebeck auf S. 100 schreibt: „Die Be¬ 
gründung des kurmärkischen Lehrer¬ 
seminars ist sein (Natorps) Werk“, so 


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305 J. Hashagen, Neue Veröffentlichungen über d. Vorgeschichte d. Weltkrieges 30& 


könnte dieser Satz zu einer irrigen An¬ 
sicht Anlaß geben, da es sich im Jahre 
1812 um eine „Total- und Radikal-Re¬ 
form" der alten Heckerschen Stiftung 
aus dem Jahre 1748 handelte, die aller¬ 
dings einer Neugründung gleichkam. 
Immerhin verdanken wir Müsebeck, 
dessen umfangreiche Schrift einige Un- 
>,'enauigkeiten aulweist 1 ), ein meister¬ 
haftes Geschichtswerk, welches uns vor¬ 
nehmlich ein Gesamtbild des preußi¬ 
schen Erziehungswesens während der 
Reformzeit, gewissermaßen von oben 
herab, vom Standpunkte der höchsten 
Unterrichtsbehörde aus gesehen, ver¬ 
mittelt. Eine Publikation wichtiger, bis¬ 
her nicht veröffentlichter Aktenstücke 


aus der ganzen Reformzeit für die 
Verwaltungszweige, die dem Kultus¬ 
ministerium zugeteilt waren, erhöht den 
wissenschaftlichen Wert des Buches. 
Seine Entstehung verdankt es der hun¬ 
dertjährigen Feier des Tages, an dem 
das preußische Kultusministerium als 
selbständige Ministerialbehörde dem 
staatlichen Verwaltungsorganismus ein¬ 
gefügt wurde, und an den auch Eduard 
Spranger seine großzügige Darstellung 
in dieser Zeitschrift Nov. 1917 ange¬ 
knüpft hat. Von dem damaligen Unter¬ 
richtsminister Dr. Friedrich Schmidt er¬ 
hielt Emst Müsebeck den ehrenvollen 
Auftrag, diese Gedenkschrift zu ver¬ 
fassen. 


Neue Veröffentlichungen über die Vorgeschichte 

des Weltkrieges. 


Von Justus Hashagen. 


Ph. Hiltebrandt, Das europäische Verhängnis. Die Politik der Großmächte, ihr Wesen 
und ihre Folgen. XI, 324 S. Berlin 1919, Gebrüder Paetel. 

Graf E. Reventlow, Politische Vorgeschichte des Großen Krieges. 2. Auflage. XII,354 S. 
Berlin 1919, Mittler. 

P. Rohrbach, Chauvinismus und Weltkrieg. 2 Bände. Berlin 1919, H. R. Engelmann. 

I: P. Rohrbach und J. Kühn, Die Brandstifter der Entente. 2. Aufl. XV, 371 S. 

II: M. Hobohm und P. Rohrbach, Die Alldeutschen. VII, 314 S. 

8. Schwertfeger, Zur Europäischen Politik 1897—1914. Unveröffentlichte Dokumente, 
im amtlichen Aufträge herausgegeben. 5 Bände. Berlin 1919, Hobbing. 

I: W. Köhler, 1897—1904: Zweibund, englisch-deutscher Gegensatz. VIII, 129 S. 
II: B. Schwertfeger, 1905—1907: Marokkokrisis, König Eduard VII. VIII, 204 S. 
III: A. Dören, 1908—1911: Bosnische Krise, Agadir, Albanien. VIII, 285 S. 

IV: A. Doren, 1912—1914: Kriegstreibereien und Kriegsrüstungen. VIII, 212 S. 

V: W. Köhler, Revancheidee und Panslawismus: Belgische Gesandtschaftsberichte 
zur Entstehungsgeschichte des Zweibundes. VIII, 335 S. 

I. 


Die vier im folgenden besprochenen 
Werke verkörpern verschiedene kriegs- 


1) Müsebeck S. 99: Nicht 1804, sondern 
1803 war Jeziorowski in Burgdorf; a. a. O., 
S. 100: Statt Bernhard Christian Ludwig 
Natorp ist Bernhard Christoph Ludwig Na- 
torp zu lesen; a. a. O., S. 100: Natorp wurde 
nicht 1772, sondern 1774 geboren; a. a. O., 
S. 170: Johannes Schulze nicht 1764, son¬ 
dern 1786 geboren. Vgl. zum letzteren 
Reinhard Lüdicke, Die Preußischen Kul¬ 
tusminister und ihre Beamten im ersten 


politische Richtungen. Ihre Urteile sind 
teils von den Anschauungen der Rech- 

Jahrhundert des Ministeriums 1817—1917, 
Stuttgart und Berlin 1918, J. G. Cotta’sche- 
Buchhandlung Nachfolger. 

Diese Arbeit gibt nicht, wie aus dem 
Titel gefolgert werden könnte, eine Dar¬ 
stellung und Würdigung der in Betracht 
kommenden Persönlichkeiten, sondern be¬ 
schränkt sich allein „auf eine Aneinander¬ 
reihung der hauptsächlichsten Lebensdaten, 
vor allem über die amtliche Laufbahn“ der- 


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307 J- Hashagen, Neue Veröffentlichungen über d. Vorgeschichte d. Weltkrieges 308 


\ 


ten, teils von denen der Linken be¬ 
stimmt. Sie ermöglichen also eine Art 
abgekürzter Übersicht über ganz ver¬ 
schiedene Würdigungen der Vorge¬ 
schichte des Weltkrieges, wie sie vor¬ 
nehmlich während des Krieges selbst 
zutage getreten sind; denn, wenn diese 
Arbeiten auch sämtlich erst nach dem 
Zusammenbruche veröffentlicht worden 
sind, so hat doch dieser Zusammenbruch 
auf ihre Anlage und Richtung offenbar 
keinen bestimmenden Einfluß mehr aus¬ 
geübt; ein Teil des Wertes dieser 
Zeugnisse liegt vielmehr darin, daß sie 
die von den Kriegserfahrungen beein¬ 
flußten Beurteilungen der Vorge¬ 
schichte des Krieges in ihrer Verschie¬ 
denartigkeit zum Ausdruck bringen. 
Nebeneinander erscheinen kriegspoli¬ 
tisch so gegensätzliche Publizisten wie 
P. Rohrbach und Graf E. Reventlow. 
Und doch ist das allgemeine Ergebnis 
der in den neun Bänden niedergeleg¬ 
ten Arbeit beinahe ausnahmslos das¬ 
selbe: für die Vorgeschichte des Krie¬ 
ges im weiteren Sinne, d. h. für die 
Zeit vor dem Attentate von Sarajevo 
(nur Hiltebrandt geht noch auf die spä¬ 
teren Kriegsverhandlungen ein) wird 
die Schuldfrage fast einhellig zugun¬ 
sten Deutschlands und zuungunsten 
des Verbandes beantwortet. Die Aus 1 - 
nahme, die Rohrbach im zweiten Bande 
seiner Sammlung für die sogenannten 
Alldeutschen feststellen will, fällt ge¬ 
genüber dem erdrückenden sonstigen 
Massenmateriale kaum ins Gewicht. Die 
Einwände, die sich im ganzen und im 
einzelnen gegen diese neuen Veröffent¬ 
lichungen machen ließen, treffen dies 

seioen. ln einleitenden Bemerkungen wer¬ 
den wir über die Abteilungen und Regi¬ 
straturverwaltungen im Ministerium der 
geistlichen, Unterrichts- (und Medizinal-) An¬ 
gelegenheiten unterrichtet. Als Nachschlage¬ 
werk zur schnellen Orientierung möchte ich 
die fleißige Zusammenstellung Lüdickes 
recht empfehlen. 


allgemeine Ergebnis an keinem we¬ 
sentlichen Punkte. Nun versteht man 
noch besser, warum der feindliche Viel¬ 
verband bei Erörterung der Schuldfrage 
die kurze Zeitspanne zwischen dem 
Attentate von Sarajevo und dem tat¬ 
sächlichen Ausbruche des Krieges in 
so einseLiger Weisa bevorzugt und die 
kritische Betrachtung der Vorgeschichte 
im weiteren Sinne wenigstens in der 
neusten Publizistik am liebsten bei¬ 
seite schiebt. 

Während der Hauptertrag der vor¬ 
liegenden Werke vornehmlich der po¬ 
litischen und der diplomatischen Vor¬ 
geschichte des Weltkrieges zugute 
kommt, bemüht sich Rohrbach, auch 
in die Entwicklung der politischen An¬ 
schauungen einzudringen. 

Jedoch schon die Gesamtanlage und 
die Gesamtgruppierung der beiden 
Hälften seiner Publikation wird allge¬ 
mein bekannten und offenkundigen Tat¬ 
sachen kaum gerecht. Wenn unter dem 
gemeinsamen Obertitel „Chauvinismus 
und Weltkrieg“ der erste Band auf 357 
Seiten die „Brandstifter der Entente“ 
behandelt und der zweite auf dem l>ei- 
nähe ebenso großen Raume von 314 
Seiten „die Alldeutschen“, so liegt darin 
schon quantitativ ein handgreifliches 
Mißverhältnis. Aber auch qualitativ 
soll, trotz gelegentlicher Einschränkun¬ 
gen im Text, der Anschein einer Art 
von Gleichartigkeit und Gleichwertig¬ 
keit dadurch erweckt werden, daß den 
beiden Teilen dieselbe, übrigens nicht 
einmal formal einwandfreie Disposition 
zugrunde gelegt wird: 1. Kriegsdrohun¬ 
gen. 2. Die Verherrlichung des Krieges. 

3. Die Lehre vom auserwählten Volk. 

4. Land- und Machthunger. 5. Der ent¬ 
fesselte Vernichtungswille gegen 
Deutschland. Der letzte Abschnitt fin¬ 
det natürlich nur im ersten Bande Ver¬ 
wendung. 


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PRINCETON UNIVERSITY || 



309 J H ashagen, Neue Veröffentlichungen über d. Vorgeschichte d. Weltkrieges 310 


Dieser irreführende, mit den Tatsa¬ 
chen der neusten Geschichte der poli¬ 
tischen Anschauungen kaum vereinbare 
Parallelismus beruht nicht nur aufeiner 
kurzsichtigen Überschätzung einzelner 
sogenannter alldeutscher, in Deutsch¬ 
land öfters weithin einflußloser, wenn 
nicht ganz unbekannter Utopisten, son¬ 
dern auch auf einer Unterschätzung der 
ententistischen Kriegshetze. Der Grad 
der Vollständigkeit, der in den beiden 
Bänden erstrebt und erreicht wird, ist 
durchaus verschieden. Während im 
zweiten Bande die verborgensten Ent¬ 
gleisungen sogenannter alldeutscher 
Winkelskribenten aufs schärfste be¬ 
leuchtet werden, ist das im ersten 
Bande gezeichnete Bild trotz der Fülle 
von abschreckenden Zügen, die es auch 
in der vorliegenden Fassung schon auf¬ 
weist, außerordentlich lückenhaft. Ein 
Grund dafür liegt auch darin, daß der 
allerdings überaus umfassende und 
weitschichtige Stoff für den ersten Teil 
nicht annähernd so planmäßig gesam¬ 
melt worden ist wie für den zweiten, 
wofür es u. a. bezeichnend ist, daß sich 
die Herausgeber auch in wichtigen Fäl¬ 
len den Weg zu den Quellen gespart 
haben und sich mit der Anführung von 
Literatur begnügen. Man gewinnt den 
Eindruck, daß im ersten Teile mehr 
oder minder nur mit Zufallsmaterial 
gearbeitet wird, ja daß er sein Dasein 
vielleicht nur dem Wunsche verdankt, 
dem zweiten Teile ehrenhalber eine 
Art von Gegengewicht zu schaffen, was 
ein vielsagendes „alsbald" in der Vor¬ 
rede des Herausgebers zum ersten 
Bande (S. VIII) nur dürftig verschleiert. 

Das feindliche Material ist in keiner 
Weise gleichmäßig ausgebeutet. Zwar 
steht die Broschüren- und Buchlitera¬ 
tur im Vordergründe. Aber erste Na¬ 
men, besonders von englischen und 
französischen Historikern, sucht man 


gleichwohl vergebens. Auch ist das ge¬ 
botene Bild schon deshalb zu günstig 
ausgefallen, weil die feindliche Tages¬ 
presse zu wenig berücksichtigt wird. 
Auch die feindlichen Reden innerhalb 
und außerhalb der Parlamente werden 
auffallend vernachlässigt. Wollte man 
die Auswahl, was natürlich geboten 
war, sichten und einschränken, so mußte 
man doch wenigstens denjenigen feind¬ 
lichen Äußerungen die meiste Aufmerk¬ 
samkeit schenken, die notorisch den 
größten praktischen Einfluß gehabt ha¬ 
ben. Die Auswahl ist aber gerade darin 
im schlechten Sinne echt deutsch, daß 
die feindlichen Zeugnisse ohne ständige 
Rücksicht auf ihre praktische Bedeu¬ 
tung ziemlich wahllos aneinanderge¬ 
reiht werden. Auf bleibenden wissen¬ 
schaftlichen Wert konnte eine solche 
Sammlung, für deren befriedigende 
Ausgestaltung freilich einige wenige 
unruhige Kriegsjahre kaum ausreichen, 
nur dann Anspruch machen, wenn die 
Herausgeber in die Grundsätze einen 
Einblick gewähren würden, die von 
ihnen» bei ihrer Sammlungs- und Sich¬ 
tungsarbeit angewandt worden sind. 
Da das nirgends geschieht, kommt der 
Leser in dieser Richtung aus den Zwei¬ 
feln nie heraus. 

Aber auch sonst ist diese Übersicht 
weder in zeitlicher noch in örtlicher 
noch in sachlicher Beziehung frei von 
fühlbaren Lücken. Ohne den jetzt be¬ 
anspruchten Raum wesentlich zu über¬ 
schreiten, hätten sie ausgefüllt werden 
können, wenn man sich zur Streichung 
allbekannter, namentlich indirekter 
deutscher Zeugnisse hätte entschließen 
können. Zeitlich ist der Rahmen so 
weit gespannt, daß er unmöglich gleich¬ 
mäßig ausgefüllt werden konnte. Es 
wird nämlich sowohl die Vorkriegs- 
wie die Kriegsliteratur berücksichtigt. 
Von beiden Gruppen auf so engem 


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PRINCETON UNIVERSITY 






311 J. Hashagen, Neue Veröffentlichungen über d. Vorgeschichte d. Weltkrieges 312 


Raume ein ausreichendes Bild zu ge¬ 
ben, ist ein Ding der Unmöglichkeit, 
zumal der erste Band nach Mitteilung 
der Vorrede des Herausgebers schon 
Anfang 1917 abgeschlossen worden ist. 
Man hätte am besten nur die viel be¬ 
weiskräftigere Vorkriegsliteratur be¬ 
rücksichtigt und dann, besonders bei 
der französischen Hetzliteratur, nach 
rückwärts leicht einen weiteren Spiel¬ 
raum lassen können. Wer sich an¬ 
dererseits von der feindlichen Kriegs- 
literatur auch nur der ersten fünf 
Kriegshalbjahre nach dieser spärlichen 
Sammlung ein Bild machen wollte, 
käme nicht auf seine Rechnung. 

Örtlich aber ist der Begriff „Entente“ 
zu eng gefaßt. Für Rohrbach und 
Kühn ist der Verband noch im Jahre 
1919 oder wenigstens 1917 identisch 
mit dem Vierverband. Das entspricht 
auch schon für Anfang 1917 nicht mehr 
den Tatsachen. Mindestens von den 
Vereinigten Staaten von Amerika hätte 
im ersten Bande in einem besonderen 
Abschnitte ausgiebig gehandelt werden 
müssen; denn es gab auch in der Union 
„Brandstifter“. Diese Lücke ist um so 
weniger zu billigen, als im zweiten 
Bande nach dem Vorgänge des in 
gleichen Einseitigkeiten befangenen 
O. Baumgarten von der nordamerikani¬ 
schen Kritik der sogenannten Alldeut¬ 
schen mit Vorliebe Gebrauch gemacht 
wird. Auch von einer so handfesten 
Größe wie dem japanischen Imperia¬ 
lismus wird nicht gesprochen. Warum 
ist ferner von den „neutralen“ Tra¬ 
banten und Vasallen der Entente so 
wenig die Rede? Haben beispielsweise 
Polen und Tschechen 1 ) zu dieser Lite¬ 
ratur der Vergiftung keine Beiträge ge¬ 
liefert? Haben die Blätter der wel¬ 
schen Schweiz oder der niederländi- 


1) Kramarsdi wird nur beiläufig erwähnt. 


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scheTelegraaf, um nur diese zu nennen, 
Anspruch darauf, daß man sie mit 
Stillschweigen übergeht? Diese und 
viele andere ähnliche Fragen bleiben 
ohne Antwort 

Aber auch sachlich werden nur einige 
wenige literarische Hauptleistungendes 
feindlichen Chauvinismus näher ver¬ 
folgt. Es sind in der Hauptsache die 
der Kriegshetze und des Imperialismus. 
Die allgemeinen Äußerungen des Deut¬ 
schenhasses werden dabei durchweg 
häufiger berücksichtigt. Nur hätte hierin 
noch mehr geschehen müssen, wenn 
ausschlaggebende Richtungen der chau¬ 
vinistischen Hetzarbeit der Feinde mit 
der nötigen Deutlichkeit hätten ans 
Licht gebracht werden sollen. Die feind¬ 
liche Vorkriegs- und Kriegsliteratur hat 
gerade der von ihr betriebenen imperia¬ 
listischen Kriegshetze besonders da¬ 
durch eine so weite Verbreitung ge¬ 
sichert, daß sie über Deutschland und 
das Deutschtum eine ganz bestimmte 
Abschreckungslehre bis in alle Einzel¬ 
heiten hinein entwickelt hat. Gewiß 
gehen die Herausgeber an den hier ein¬ 
schlägigen Äußerungen nicht ganz 
achtlos vorüber. Aber von ihrer zentra¬ 
len. besonders kriegspolitischen Bedeu¬ 
tung erhält man bei ihnen keine aus¬ 
reichende Vorstellung. Auch darüber 
hinaus sind aber Kriegshetze und im¬ 
perialistische Werbearbeit keineswegs 
die einzigen Betätigungen auf feind¬ 
licher Seite. Von der chauvinistischen 
Literatur zur Schuldfrage, deren Um¬ 
fang außerordentlich groß ist, erfährt 
man fast nichts. 

Wie gegen die Auswahl, so kann 
man auch gegen die Darbietung des 
Stoffes Bedenken kaum zurückhalten. 
Wer einen zuverlässigen Führer durch 
die feindliche Gedankenwelt bieten 
will, darf sich nicht damit zufrieden 
geben, die betreffenden Äußerungen 


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PRINCETON UMYER^gUNI 







313 J. Hashagen, Neue Veröffentlichungen über d. Vorgeschichte d. Weltkrieges 314 


nur zu sachlichen Gruppen zu ver¬ 
einigen. Man muß sich vielmehr auch 
mit ihrer Entwicklungsgeschichte und 
ihrer zeitgeschichtlichen Charakteristik 
im einzelnen näher beschäftigen, we¬ 
nigstens wenn man wissenschaftlichen 
Wünschen Rechnung tragen will. Eine 
lediglich unter sachliche Überschriften 
gebrachte Zettelansammlung mit einem 
ziemlich mageren verbindenden Text 
genügt diesen Wünschen nicht. Wie 
wenig Sorgfalt man auf die Charakte¬ 
ristik im einzelnen verwendet hat, er¬ 
hellt äußerlich beispielsweise auch dar¬ 
aus, daß bei Buchzitaten zuweilen die 
Jahreszahlen fehlen. Auch genügt es 
zur Charakteristik der einzelnen Gei¬ 
stesprodukte natürlich nicht, aus ihnen 
nur einzelne Zitate zu bieten. Es be¬ 
darf vielmehr vollständiger Analysen, 
die sich auch in begrenztem Rahmen 
geben lassen, um von den führenden 
chauvinistischen Schriftstellern einen 
wirklich lebendigen Eindruck zu ver¬ 
mitteln. 

Doch ist es vielleicht schon unberech¬ 
tigt, an Rohrbachs wesentlich noch als 
„Aufklärungsschrift" zu charakterisie¬ 
rendes Werk überhaupt einen wissen¬ 
schaftlichen Maßstab anzulegen. Für 
das Gebotene wird man gleichwohl 
dankbar sein. Neben vielem allgemein 
Bekannten findet man hier doch auch 
manches Entlegene. Der von Kühn 
verfaßte Abschnitt über die Verherr¬ 
lichung des Krieges aus gefühls- und 
verstandesmäßigen Gründen mit den 
Folgerungen hinsichtlich der Verach¬ 
tung des Völkerrechts, des Nationali¬ 
tätsprinzips u. a. ist ebenso lehrreich , 
wie der über das auserwählte Volk. | 
Jedoch wird nicht einmal die Ideen- 
geschichte des englischen Imperialis- 1 
mus trotz der guten darüber vorhan¬ 
denen Literatur ausreichend klargelegt. 
Im übrigen aber ist ausdrücklich anzu¬ 


erkennen, daß der erste Band eine will¬ 
kommene Bereicherung der Kenntnis 
ententistischer Seelenverfassung be¬ 
deutet. 

Der verbindende Text ist nicht frei 
von Irrtümern und Willkürlichkeiten 
Nach S. 17 hat die „eigentliche Ein¬ 
kreisung Deutschlands“ mit dem anglo- 
russischen Vertrage von 1907 begon¬ 
nen. Nun bringt aber der Band selbst 
Zeugnisse genug zur Widerlegung die¬ 
ses Ansatzes, und der Herausgeber 
weiß ja selbst am besten und hat es 
früher auch öffentlich ausgesprochen, 
daß auch die „eigentliche“ Einkreisung 
viel älter ist. Auch die S. 70 angestell- 
ten allgemeinen Betrachtungen überdas 
am spätesten zu beobachtende Auftre¬ 
ten des russischen Kriegswillcns über¬ 
zeugen nicht, um so weniger, als spä¬ 
ter (S. 231 ff.) gerade der viel ältere 
Danilewskij zu Worte kommt. Daß fer¬ 
ner, wie S.73 behauptet wird, der anglo- 
russische Geheimvertrag von 1907 den 
Russen Konstantinopel in Aussicht ge¬ 
stellt habe, ist angesichts der während 
der wenig späteren bosnischen An¬ 
nexionskrise zutage getretenen schar¬ 
fen anglorussischen Meerengendifferen¬ 
zen so gut wie ausgeschlossen. Auch 
sonst hat der Herausgeber seinen we¬ 
niger gut unterrichteten Mitarbeitern 
vielleicht etwas zuviel Freiheit gelas¬ 
sen und von seinem reichen Wissen 
auf zeitgeschichtlichem Gebiete nicht 
immer den nötigen Gebrauch gemacht. 

Der zweite Band, der sich mit den 
sogenannten Alldeutschen beschäftigt, 
hätte wohl Gelegenheit nehmen kön¬ 
nen, nun von ihnen auch ein möglichst 
allseitiges Bild zu geben. Das ist je¬ 
doch nicht der Fall. Auf die hier teil¬ 
weise in Betracht kommende Tages¬ 
presse wird fast gar nicht eingegan¬ 
gen. Auch die Alldeutschen Blätter 
stehen nicht eigentlich im Mittelpunkte 


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PRINCETON UNIVERSITY 







315 J. Hashagen, Neue Veröffentlichungen über d. Vorgeschichte d. Weltkrieges 316 


dieser kritischen Untersuchung, sondern 
mehr die Schriften einer Anzahl von 
meist obskuren Pamphletisten, deren 
Zusammenhang mit der alldeutschen 
Zentrale nicht immer so eng ist, wie 
die Herausgeber glauben. Überhaupt 
sind sie auf das eifrigste bemüht, nur 
das sozusagen Utopistisch-Verbreche- 
rische dieser ganzen Literatur an den 
Pranger zu stellen. Wenn sie auch in 
ein paar widerwilligen Sätzen auch der 
positiven Arbeit dieser Kreise Aner¬ 
kennung zollen, so sind sie doch weit 
davon entfernt, von dieser positiven 
Arbeit z.B. zugunsten des Auslands- 
deutschtums irgendeine Vorstellung zu 
geben. Der Untertitel des zweiten Ban¬ 
des trifft also nicht zu. 

Eine zu mancher Nachlässigkeit des 
ersten Bandes in charakteristischen Ge¬ 
gensatz tretende Sorgfalt wird auf den 
zitatenmäßigen Nachweis des Schadens 
verwendet, den diese Literatur im Aus¬ 
lande angerichtet hat. Dadurch wird 
der Anschein erweckt, als wenn dieser 
Schaden wesentlich nur durch diese 
Literatur hervorgerufen sei, und als 
wenn die Mühlen der feindlichen Pro¬ 
paganda nicht annähernd so gewinn¬ 
reich hätten arbeiten können, wenn 
ihnen nicht die Alldeutschen immer 
wieder das zum Betriebe erforderliche 
Wasser geliefert hätten. 2 ) Allein auch 
dieser Schein trügt und läßt von neuem 
erkennen, daß sich die Herausgeber mit 
den feindlichen Gedankengängen, wie 
sie sich besonders in der Kriegslitera¬ 
tur der Entente finden, nicht eingehend 
genug vertraut gemacht haben. Um 
nur ein Gegenbeispiel herauszugreifen, 
so hat vielleicht kein Erzeugnis der 
deutschen Kriegsliteratur der feindli- 

2) Auch der Mißbrauch, den das Ausland 
mit dieser Literatur getrieben hat, wird 
nicht scharf genug gegeißelt. Reventlow 
S. 148 meint sogar, % der alldeutschen Pläne 
seien in London erfunden worden. 


chen Propaganda und insbesondere der 
Hetze gegen den angeblichen deutschen 
Imperialismus so dankbaren Stoff ge¬ 
boten wie Naumanns des Alldeutsch¬ 
tums ganz unverdächtiges Mitteleu¬ 
ropabuch. Das ist aber nur ein Gegen¬ 
beispiel für viele. Es wäre durchaus 
irrig, zu glauben, die feindliche Pro¬ 
paganda habe nur oder auch nur vor¬ 
wiegend aus den alldeutschen Blüten 
Honig gesogen. Rohrbachs eigenes „im¬ 
perialistisches“ Buch über den deut¬ 
schen Gedanken in der Welt ist bei¬ 
spielsweise drüben beinahe derselben 
Verurteilung verfallen. Überhaupt sollte 
man die Frage, wer im Auslande den 
größeren Schaden angerichtet hat, der 
deutsche „Chau\inismus“ oder der deut¬ 
sche Pazifismus und Sozialismus, nicht 
so beiseite schieben, wie diese Schrift¬ 
steller es tun. Zu den pazifistischen 
Schädlingen gehört auch Otfried Nip¬ 
pold, der gelegentlich ohne ein Wort 
des Tadels erwähnt wird. 

Auch der zweite Band versäumt es 
fast ganz, die geistesgeschichtlichen 
Wurzeln des sogenannten Alldeutsch¬ 
tums bloßzulegen. Ohne eine genauere 
Behandlung Lagardes, Treitschkes, Go- 
biueaus, H. St. Chamberlains, um nur 
diese zu nennen, kann man aber nicht 
über die Alldeutschen schreiben. 

Daß sich, davon abgesehen, in der im 
zweiten Bande kritisierten Literatur 
manche bedauerliche Auswüchse fin¬ 
den, wird kein Verständiger leugnen. 
Insbesondere die laienhaften Übertrei¬ 
bungen des Rassegedankens verdienen 
gerade vom wissenschaftlichen Stand¬ 
punkt eine rückhaltlose Ablehnung. An¬ 
deres freilich, was die Herausgeber 
für unerhört erklären, ist das doch nur 
von einem grundsätzlich pazifistischen 
Standpunkte aus, den nicht jeder zu 
teilen braucht. So kann man dem 
Werke den Vorwurf tendenziöser Auf- 


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PRINCETON UNIVERS 








317 J. Hashagen, Neue Veröffentlichungen über d. Vorgeschichte d. Weltkrieges 318 


machung nicht ersparen und wird es 
begreiflich finden, wenn sich die All¬ 
deutschen gegen diese karikierende Mu¬ 
sterkarte ihrer Anschauungen zur Wehr 
setzen. — 

Wissenschaftlich höher steht die von 
Schwertfeger herausgegebene um¬ 
fangreiche Veröffentlichung aus dem 
Archive des auswärtigen Ministeriums 
in Brüssel. Auf fünf Bände verteilt, 
werden hier 514 neue Aktenstücke zur 
Vorgeschichte des Weltkrieges seit 1897 
vorgelegt. Sie bringen, wie man auch 
im einzelnen zu ihnen stehen mag, 
eine wertvolle Ergänzung zu den 119 
5m Jahre 1915 vom Auswärtigen Amte 
herausgegebenen „Eelgischen Akten¬ 
stücken*. Die Gesamtzahl der auf diese 
Weise der Öffentlichkeit zugänglich ge¬ 
machten Brüsseler Dokumente ist damit 
auf 633 gestiegen, und man darf rüh¬ 
mend hervorheben, daß zur Vorge¬ 
schichte des Krieges bisher kein aus¬ 
wärtiges Ministerium ein so reiches 
Material beigesteuert hat wie das Brüs¬ 
seler. Es ist eine Kriegsbeute, von der 
die Wissenschaft der Vorgeschichte des 
Krieges noch lange zehren wird. 

Der Gattung nach zerfallen diese 
neuen Dokumente in zwei Gruppen. 
Während sich insbesondere der letzte 
Band den „Belgischen Aktenstücken“ 
von 1915 insofern am genauesten an¬ 
gliedert, als er die Einzelberichte bel¬ 
gischer Diplomaten vorlegt und ver¬ 
wertet, werden die ersten vier Bände 
durch sogenannte Zirkulare ausgefüllt, 
die zur Information der belgischen Ver¬ 
treter im Ausland auf Grund eines 
oder mehrerer Einzelberichte von der 
Brüsseler Zentrale ausgearbeitet wor¬ 
den sind. Diese Zirkulare sollen also 
den einzelnen Diplomaten die zur Zeit 
an der Brüsseler Zentrale herrschenden 
Anschauungen auf dem Gebiete der 
äußeren Politik klarlegen. Da ihre Vor¬ 


lagen, die Einzelberichte, durchweg 
zum Vergleiche herangezogen werden 
können, so bietet dieser Vergleich eine 
erwünschte Handhabe, in die in Brüs¬ 
sel herrschenden Anschauungen und 
mit ihnen zusammenhängenden, an die 
einzelnen Diplomaten weitergegebenen 
Direktiven noch tiefer einzudringen. 
Die Änderungen und Auslassungen, de¬ 
nen die Einzelberichte in Brüssel viel¬ 
fach unterworfen wurden, erlauben 
Rückschlüsse auf die besondere For¬ 
mung des äußerpolitischen Urteils und 
Willens. Ein wichtiges Einzelergebnis 
ist dabei, daß während der Marokko¬ 
krise diese Redaktion durchaus die Ab¬ 
sicht verfolgt, England zu schonen und 
seine Politik, zu deren kritischer Beur¬ 
teilung auch diese belgischen Akten¬ 
stücke sonst so zahlreiche Anhalts¬ 
punkte bieten, in möglichst güns.igem 
Lichte erscheinen zu lassen (111 37 ff.). 
So sind diese Zirkulare zur Kenntnis 
der auswärtigen Politik der belgischen 
Regierung zweifellos eine Quel'e ersten 
Ranges. Freilich hängt es mit ihrer 
Entstehung und ihrem geschäftlichen 
Zwecke zusammen, wenn sie die 
frische Lokal- oder Personalfarbe der 
Einzelberichte mehr verwischen und 
sich anstatt der greifbaren Äußerungen 
ihrer Vorlagen mehr mit phrasenhaften 
Wendungen durchhelfen. Dadurch wird 
ihr Quellenwert wenigstens zur Ge¬ 
schichte der allgemeinen internationa¬ 
len Politik vor dem Kriege doch wohl 
mehr beeinträchtigt, als das Vorwort 
des Herausgebers zugeben will. 

Die den einzelnen Bänden beigege¬ 
benen Einleitungen der Herausgeber 
vermeiden mit Recht eine politische 
Stellungnahme im einzelnen und be¬ 
schränken sich auf eine Aktenrelation. 
Leider ist auch von einer sachlichen 
Kommentierung der einzelnen Zirkulare 
Abstand genommen worden. Noch in 


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319 J- Hashagen, Neue Veröffentlichungen über d. Vorgeschichte dJ 


TB 

k. 


rtfc 


320 


einem andern Punkte haben die Her¬ 
ausgeber ihre Enthaltsamkeit zu weit 
getrieben. Zur richtigen Würdigung der 
Einzelberichte und auch der Zirkulare 
wäre es sehr erwünscht, wenn nicht 
notwendig gewesen, von den Persön¬ 
lichkeiten der einzelnen Berichterstat¬ 
ter ein wenn auch nur flüchtiges Bild 
zu zeichnen. Die Versuche, die der 
fünfte Band auf diesem Gebiete macht, 
sind in den Anfängen stecken geblie¬ 
ben. Es darf aber insbesondere nach¬ 
gerade als ein unhaltbarer Zustand be¬ 
zeichnet werden, daß wir vielleicht von 
keinem Diplomaten der Vorkriegszeit 
so viele Originalberichte besitzen wie 
von dem als belgischen Gesandten in 
Berlin von 1888 -1912 akkreditierten 
Baron Greindl, daß es aber bisher alle 
Herausgeber seiner Relationen ver¬ 
säumt haben, von diesem einflußreichen 
Vertreter der belgischen Regierung im 
Auslande eine selbständige politische 
und dann auch persönliche Charakte¬ 
ristik zu geben. 

Das Fehlen einer solchen einführen¬ 
den Charakteristik kann aber gerade in 
diesem Falle leicht zu der auch schon 
durch Greindls zahlreiche Beiträge zu 
den „Belgischen Aktenstücken" hervor¬ 
gerufenen bedenklichen Vorstellung 
verführen, als wenn seine Berichterstat¬ 
tung wirklich ausnahmslos als „objek¬ 
tiv" oder „unparteiisch“ gelten könnte, 
wie das der Herausgeber im Vorworte 
sogar von den meisten Zirkularen und 
Einzelberichten anzunehmen scheint. 
Nun machen zwar die Herausgeber 
selbst aef tendenziöse Stellen in den 
belgischen Depeschen öfters aufmerk¬ 
sam. Aber an den Baron Greindl wa¬ 
gen sie sich nicht recht heran. Und 
doch war dieser hervorragende bel¬ 
gische Diplomat, was seiner allgemei¬ 
nen Bedeutung durchaus keinen Ab¬ 
bruch tut, nach allem, was wir jetzt 


von ihm wissen, nicht so unptnBtisch. 
wie es auf den ersten Blick scheinen 
könnte; denn bei genauerem Studium 
seiner Originaldepeschen oder seiner 
Beiträge zu den Zirkularen bemerkt 
man allmählich, daß er sich in die 
reichsdeutschen Gedankengänge, ja in 
die Gedankengänge gewisser Parteien 
des Auswärtigen Amtes so weit hin¬ 
eingelebt hat, daß er sie gelegentlich 
weitergibt, ohne daß er freilich den 
Pflichten eines neutralen Gesandten da¬ 
mit zuwider'handelte. Vielleicht haben 
seine nahen Beziehungen zum Auswär¬ 
tigen Amt es schließlich sogar ermög¬ 
licht, daß er von der Berliner Regierung 
als Sprachrohr benutzt wurde. Es ist 
auch sonst nicht überflüssig zu betonen, 
daß auch diese neuen Gesandtschaftsbc 
richte bzw. -instruktionen, wenn man die 
Zirkulare so bezeichnen darf, der Kritik 
unterliegen. Es sind ja nicht primäre, 
sondern nur sekundäre Quellen; man 
findet in ihnen in der Regel nur den Wi¬ 
derschein der Ereignisse, wenn auch 
einen sehr treuen, nicht die Ereignisse 
selbst. Auch daraus ergibt sich eine 
Herabminderung des Quellenwertes, 
die vom Herausgeber noch deutlicher 
hätte hervorgehoben werden können. 

Im Zusammenhang damit sei noch 
ein Wort über den politischen Wert 
dieser im amtlichen Aufträge zusam- 
inengestellten Bände gestattet. Es ist 
ja gewiß außerordentlich erfreulich, 
daß auch aus dieser weit schichtigen 
Publikation ebenso wie aus den früher 
bekanntgegebenen „Belgischen Akten¬ 
stücken" zu einwandfreier Charakteri¬ 
stik einerseits der Friedensliebe der 
Mittelmächte und andererseits des 
Kriegswillens des Verbandes zahlreiche 
überzeugende Beweise beigebracht wer¬ 
den können, die schon wegen der blo¬ 
ßen Tatsache der belgischen Pro¬ 
venienz vielleicht eine höhere Über- 




Origiral from 

PRINCETON UNIVERSI 



321 J. Hashagen, Neue Veröffentlichungen über d. Vorgeschichte d. Weltkrieges 322 


zengungskraft besitzen als irgendeine 
deutsche oder österreichische Stimme. 
Insofern dürfte die politische Wirkung 
dieser Veröffentlichung zu unseren 
Gunsten ausfallen. Andererseits kann 
man aber in einer ganz bestimmten 
Richtung auch schon eine schädliche 
Wirkung mit um so größerer Sicher¬ 
heit Voraussagen, als die feindlichen 
Pressestimmen zu den während des 
Krieges bekanntgegebenen „Belgischen 
Aktenstücken“, die von der Entente 
keineswegs totgeschwiegen worden 
sind, kaum noch einen Zweifel lassen. 
Die deutsche Regierung hat zwar die 
Tatsache immer zu ihren Gunsten ge¬ 
bucht, daß diese belgischen Diplomaten 
fast ausnahmslos der deutschen Frie¬ 
denspolitik so weitgehende Gerechtig¬ 
keit widerfahren lassen und anderer¬ 
seits für die feindliche Kriegspolitik ein 
so wachsames Auge haben. Aber diese 
Zeugnisse sind sofort auch zuungun¬ 
sten Deutschlands! ausgebeutet worden. 
Man hat darauf hingewiesen, daß ein¬ 
mal die deutsche Behauptung von der 
belgischen Mitschuld an der Durch¬ 
löcherung der belgischen Neutralität 
vor dem Kriege eben durch diese im 
besten Sinne neutralen Akten bündig 
widerlegt werde. Der deutsche Neutra¬ 
litätsbruch aber erscheine jetzt nur in 
noch ungünstigerem Lichte. So hat man 
angesichts der Publikation von 1915 
im feindlichen Lager geschrieben, und 
diese Parole wird man sich auch jetzt 
nicht entgehen lassen, obwohl die pu¬ 
blizistische Meute jetzt längst zurück¬ 
gepfiffen werden kann, da sie ihre mör¬ 
derische Vergiftungsarbeit mit bestem 
und durchschlagendem Erfolge voll¬ 
führt hat. Gegen das am Boden lie¬ 
gende Deutschland bedürfte es ihrer 
eigentlich nicht mehr. 

Ähnlich wie bei den „Belgischen Ak¬ 
tenstücken“ von 1915 ist der sachliche 

Intemationalr Monatsschrift. 


Gesamtertrag der fünf Bände an Neuem 
nicht übermäßig groß. Irgendwelche 
sensationelle „Enthüllungen“ wird man 
von den Zirkularen am wenigsten er¬ 
warten. Ähnlich wie bei der früheren 
Veröffentlichung besteht der Ertrag an 
Neuem weniger in einzelnen Tatsachen 
als in einzelnen Gesichtspunkten und 
Urteilen. Der Quellenwert besonders 
der Zirkulare kommt eben am meisten 
der Charakteristik der belgischen Aus¬ 
landspolitik selbst zugute. Immerhin 
sind die neuen Beiträge zur Geschichte 
der internationalen Politik und damit 
zur Vorgeschichte des Krieges, die sich 
in dieser großen Dokumentensamm¬ 
lung finden, zahlreich genug, wenn sie 
sich auch mehr auf einzelne Schat¬ 
tierungen schon bekannter Tatsachen 
als auf ganz neue und überraschende 
Ausblicke beziehen. Nur einzelnes kann 
hier noch erwähnt werden. Beachtung 
verdienen aus den ersten Bänden u.a. 
die Mitteilungen über den Festlands¬ 
bund von 1900, über die Dreibund- 
krise von 1901/02, über Clemenceaus 
erstes Ministerium von 1907/09 und 
über die Vorgeschichte des anglo- 
russischen Abkommens von 1907. Vom 
dritten Bande ab spielt die orientali¬ 
sche Frage eine beherrschende Rolle. 
Auf den rastlosen Fortgang der groß- 
serbischen Bewegung vor, während und 
nach der Annexionskrise fällt neues 
Licht, ebenso auf die in Deutschland 
noch immer weithin unbekannte ge¬ 
heime Vorgeschichte des Balkanbun¬ 
des. Auch über einzelne Wendungen 
wie über den austro-russischen Ver- 
ständigungsversuch von 1910 kann man 
an der Hand der Zirkulare jetzt siche¬ 
rer urteilen. Im allgemeinen kommt 
aber auch auf dem heißen Boden des 
europäischen Wetterwinkels die deut¬ 
sche Zurückhaltung und Friedensliebe 
und die den Frieden gefährdende eng- 

11 


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323 J. Hashagen, Neue Veröffentlichungen Ober d. Vorgeschichte d. Weltkrieges 324 


lische Geschäftigkeit (III 13 ff.) den 
belgischen Gesandten ziemlich deut¬ 
lich zum Bewußtsein. Hie und da fin¬ 
det in den Zirkularen auch die neutrale 
Politik Beachtung. Wie England aus 
naheliegenden Gründen seit 1909 die 
belgische Heeresreform begünstigt, so 
zur selben Zeit auch die dänische 
(III23). Auch die im vierten Bande ent¬ 
haltenen Zirkulare aus den letzten bei¬ 
den Jahren vor dem Kriege mit ihren 
reichhaltigen Mitteilungen über russi¬ 
schen und französischen Kriegswillen 
einerseits und deutsche und österrei¬ 
chisch-ungarische Vermittlungspolitik 
andererseits fesseln die Aufmerksam¬ 
keit. Die englische Politik wird in die¬ 
sen belgischen Quellen hier und an¬ 
derswo, sei es ausdrücklich, sei es still¬ 
schweigend, zu günstig beurteilt. Auch 
sind die Gesandten gerne geneigt, die 
englische Einkreisungspolitik vornehm¬ 
lich als die höchst persönliche Schöp¬ 
fung König Eduards hinzustellen. Auch 
gegenüber dieser allzu persönlichen 
Motivierung hätten in den Einleitungen 
Warnungstafeln angebracht werden 
können. 

Der w'ie der erste von W. Köhler be¬ 
arbeitete umfangreichste fünfte Band 
der Schwertfegerschen Publikation 
nimmt insofern eine Sonderstellung 
ein, als er nicht mit Zirkularen, son¬ 
dern mit Einzelberichten arbeitet und 
diese nicht bloß zu einer Aktenrelation, 
sondern zu einer selbständigen Ge- 
schichtsdarstellüng verarbeitet. Sie be¬ 
schäftigt sich mit einer Ausführlich¬ 
keit, wie sie bisher in keinem deut¬ 
schen Buche zu finden gewesen ist, mit 
der Entstehungsgeschichte des russisch¬ 
französischen Bündnisses, einer der äl¬ 
testen und kräftigsten Wurzeln des, 
Weltkrieges. Man könnte nur wün¬ 
schen, daß diese wissenschaftlich so 
förderliche Einzeluntersuchung, für die 


hier ein gutes Muster aufgestellt wird, 
auf dem weiten Gebiete der Vorge¬ 
schichte des Krieges mehr als bisher 
gepflegt werden möchte, zumal da die 
feindlichen Literaturen, soweit sie 
ernst genommen werden können, der 
deutschen auf diesem Gebiete weit 
überlegen sind. Köhlers Leistung hat 
allerdings insofern ein vorläufiges Aus¬ 
sehen, als sie das umfassende über 
diesen beliebten Gegenstand vorlie¬ 
gende feindliche Schrifttum nur ne¬ 
benbei berücksichtigt, und als sie außer¬ 
dem unglücklicherweise vor Erscheinen 
des ausschlaggebenden dritten franzö¬ 
sischen (übrigens schon bald beinahe 
sekretierten) Gelbbuches erschienen ist, 
das nur noch einleitungsweise verwer¬ 
tet werden konnte. Auch die schon vor¬ 
liegende deutsche Literatur hätte z.B. 
über Bismarcks damalige Englandpoli¬ 
tik bestimmtere Angaben erlaubt. Daß 
die Entstehungsgeschichte des franzö¬ 
sisch-russischen Bündnisses in die Zeit 
der Amtsführung Bismarcks zurückver¬ 
folgt wird, ist nur zu billigen. Nur 
hätte die schicksalsschwere finanzpo¬ 
litische Annäherung der beiden Mächte 
noch mehr in den Vordergrund ge¬ 
stellt werden sollen, was besonders 
auf Grund der schon vor Jahrzehnten 
erschienenen französischen Literatur 
möglich gewesen wäre. Der Verfasser 
hat in dieser und anderer Richtung 
seine Bearbeitung absichtlich be¬ 
schränkt und im wesentlichen nur die 
für seinen Gegenstand recht ergiebigen 
belgischen Gesandtschaftsberichte her¬ 
angezogen. Schon damit hat er sich 
den dauernden Dank der Forschung 
verdient. 

Dieser könnte gegenüber der ganzen 
wertvollen Veröffentlichung Schwertfe¬ 
gers noch rückhaltloser zum Ausdruck 
gebracht werden, wenn für die be¬ 
queme Erschließung dieses diplomati- 


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325 


Otto Eißfeldt, Julius Wellhausen 


326 


sehen Materials mehr geschehen wäre. 
Das Fehlen jeder Art von ausführ¬ 
lichem Inhaltsverzeichnis und jeder Art 
von Register beeinträchtigt die Benutz¬ 


barkeit dieser Bände empfindlich. Und 
es wäre lebhaft zu wünschen, daß diese 
bei einem Neudruck hinzugefügt wür¬ 
den. (Ein zweiter Artikel folgt.) 


Julius Wellhausen. 

(geb. am 17. Mai 1844 in Hameln, gest. am 7. Januar 1918 in Göttingen.) 

Von Otto Eißfeldt*) 


Wellhausens Arbeiten zur israelitisch- 
jüdischen Geschichte haben am weite¬ 
sten gewirkt. Aber Becker wird recht 
haben: „Die Genialität der individuel¬ 
len Leistung war auf arabistischem Ge¬ 
biet wahrscheinlich stärker. Im Alten 
Testament hatte er Vorläufer, die Frage¬ 
stellung war dort gegeben, das Pro¬ 
blem lag in der Luft, wenn auch erst 
sein Eintreten den Stein ins Rollen 
brachte. Ganz anders bei seinem Auf¬ 
riß der Geschichte des arabischen Rei¬ 
ches. Hier hat er mit bisher unerhör¬ 
ter Kraft Richtschneisen durch einen 
undurchdringlichen Urwald geschlagen 
und einzelne Teile in einen wohlge¬ 
pflegten Park umzuschaffen begon¬ 
nen“. 12 ) Schon seine Editionen lassen 
oft das historische Urteilsvermögendes 
Herausgebers erkennen. In den Vorbe¬ 
merkungen zu der Übersetzung des 
Väkidi wird in knapper, aber inhalt- 
reicher Erörterung Väkidi dem Ibn Is- 
häk gegenübergestellt. In einzelnen 
Fällen mag — so wird hier festgestellt 
— Väkidi das Ursprüngliche bieten, 
aber in den weitaus meisten Fällen, 
wo Väkidi und Ibn Ishäk auseinander¬ 
sehen, hat Ibn Ishäk das Bessere und 
'las Ursprünglichere. „Die Tradition, 
wie Väkidi sie wiedergibt, ist einen 
Schritt über Ibn Ishäk hinausgegangen: 
in der Richtung, wie sie sich überhaupt 
entwickelt, von dem, was wahr ist, zu 

*) Siehe Heft 3. 

12) Der Islam Bd. IX, S. 95. 


dem, was für schön gilt. Die Wunder 
nehmen zu, Engel und Teufel bekom¬ 
men mehr zu tun, der ganze Ton wird 
geistlicher. Die Linien der Zeichnung 
werden derber nachgezogen, die Farben 
des Bildes stärker aufgetragen. Charak¬ 
teristische Geschichten, markante Züge 
wiederholen sich immer öfter.“ 13 ) Die 
Lieder der Hudhailiten wie die Schrei¬ 
ben Muhammeds und die Gesandtschaf¬ 
ten an ihn sind von einer historischen 
Würdigung begleitet. „Im allgemeinen 

— so wird zu den letzteren bemerkt 

— .. hat man keinen Grund, an der 
Echtheit der Schreiben zu zweifeln. Sie 
sind größtenteils an unbedeutende ent¬ 
legene Geschlechter, an unbekannte und 
wenig interessante Personen gerichtet... 
Sie entsprechen nicht den Vorstellun¬ 
gen der Späteren, sofern sie uns Mu- 
hammed nicht als rigorosen Prophe¬ 
ten, sondern als opportunistischen Po¬ 
litiker zeigen, der die Stellung derer, 
die zum Islam übertreten, nicht nach 
allgemeinen und gleichen Prinzipien, 
sondern nach unter sich ziemlich ver¬ 
schiedenen Spezialverträgen regelt und 
je nach Personen und Umständen mehr 
oder weniger verlangt, mehr oder we¬ 
niger bietet.“ 11 ) 

Die erste historische Darstellung auf 
arabistisdiem Gebiet, „Reste arabischen 
Heidentums gesammelt und erläutert“, 
von 1887 bezieht sich auf die Religions¬ 
geschichte. Das Buch stellt eine gewal- 

13) S. 14. 14) S. 90 f. 

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Otto Eißfeldt, Julius Wellhausen 



327 


tige historisch-kritische Leistung dar. 
Die Nachrichten über das arabische 
Heidentum, die wir haben, stammen so 
gut wie ganz aus islamischer Zeit. So 
sind sie islamisch gefärbt. Das Heiden¬ 
tum ist entstellt, nach der schlechten 
Seite hin, wenn es sich um Dinge han¬ 
delt, die der Islam ablehnt, nach der gu¬ 
ten Seite hin, wo der Islam Heidnisches 
.übernommen hat. Beides, islamische 
Verklärung und islamische Verdunke¬ 
lung, entfernt Wellhausen mit gleichem 
Geschick. So dringt er bis zum wirk¬ 
lichen Heidentum vor: Die heidnischen 
Gottheiten und Opfer, die altarabischen 
Feste und Märkte, Geisterglaube und 
Zauberwesen werden vor den Augen 
des Lesers lebendig, und dabei fallen 
helle Schlaglichter auf Altisraels Re¬ 
ligion, und umgekehrt hilft Alttesta- 
mentliches Arabisches verstehen. 

Auch noch auf die Vorgeschichte des 
Islams, aber mehr die politische als 
die religiöse, bezieht sich die im vierten 
Heft der Skizzen und Vorarbeiten 1889 
erschienene Abhandlung „Medina vor 
dem Islam“. Mit den im sechsten Heft 
der Skizzen und Vorarbeiten 1899 ab¬ 
gedruckten „Prolegomena zur ältesten 
Geschichte des Islams“ geht Wellhau¬ 
sen zum Islam selbst über. Diese Prole¬ 
gomena verfolgen die Geschichte des 
Islams bis zur Kamelsschlacht (656 
n.Chr.), wobei die Periode Muhammeds 
selbst ausgeschlossen wird. Das Haupt¬ 
problem, um das es sich hier handelt, 
wird gleich auf den ersten Seiten der 
Abhandlung deutlich. Zwei, sich im we¬ 
sentlichen abschließende, Stränge der 
Überlieferung kommen hier in Betracht: 
Saif einerseits — Ibn Ishäk, Väkidi, 
Madäini, Ibn Kalbi andererseits. „Für 
oder wider Saif? Das ist die Frage, 
auf deren Beantwortung unsere Auf¬ 
gabe .. zumeist 'hinausläuft.“ 15 ) Bei der 

15) S. 5. 


Prüfung der Frage erweist sfdh^Hf 
als Vertreter der tendenziös-irakischen 
Tradition, während die anderen gute 
alte medinische Tradition wiedergeben: 
diese verdienen also den Vorzug vor 
jenem. Zwei den Ereignissen gleich¬ 
zeitige oder nahezu gleichzeitige Be¬ 
richte christlicher Kleriker bestätigen 
die Zuverlässigkeit der medinischen 
Tradition gegenüber der irakischen 
Mit dieser Feststellung ist, wenn auch 
im einzelnen noch viel zu tun übrig¬ 
bleibt, die Hauptarbeit für die Ge¬ 
schichtschreibung dieser Periode ge¬ 
tan: die medinische Tradition ist dis 
Führerin zu wählen. 

Die beiden Aufsätze „Die religiös¬ 
politischen Oppositionsparteien im al¬ 
ten Islam“ und „Die Kämpfe der Ara¬ 
ber mit den Romäern in der Zeit der 
Umaijiden“ in den Abhandlungen und 
Nachrichten der Göttinger Gesellschaft 
der Wissenschaften vom Jahre 1901 
führen die Arbeit an der Geschichte 
des Islams weiter. Ihren Abschluß und 
ihre Krönung findet sie 1902 in den) 
Monumental werk „Das arabische Reich 
und sein Sturz“, dessen Darstellung 
bis zum Ende der Umaijidendynastie 
(750 n.Chr.) reicht. Eine ganz kurze, 
aber um so wertvollere Übersicht über 
die für diesen Zeitraum zur Verfü¬ 
gung stehenden Quellen, ihre Tendenz 
und ihre Bedeutung ist der Darstellung 
vorangeschickt. Abu Michnaf ist Ver¬ 
treter der irakisch-kufischen Tradition; 
„seine Sympathien sind auf seiten des 
Irak gegen Syrien, auf seiten Alis ge¬ 
gen die Umaijiden“. 1 '’’) Abu Ma'schar 
und Väkidi sind Repräsentanten der 
medinischen Gelehrsamkeit, die, ohne 
sich für die Umaijiden sonderlich er¬ 
wärmen zu können, doch in wissen¬ 
schaftlicher Objektivität die Geschichte 
des Reichs verfolgt. Die syrische, mit 

16) S. V. 


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329 


Otto Eißieldt, Julius Wellhausen 


330 


den Umaijiden sympathisierende, Tra¬ 
dition ist verloren gegangen, aber in 
christlichen Chroniken haben sich we¬ 
nigstens Spuren davon erhalten. Ma- 
däini schließlich steht auf abbasidi- 
schem Standpunkt. Mit diesen paar 
Strichen sind die Grundsätze festgelegt, 
an die sich die Verwertung dieser Quel¬ 
len im allgemeinen zu halten hat. Im 
einzelnen liegen hier freilich die Dinge 
wesentlich komplizierter als bei der 
Zeit der großen Eroberungen. Die Be¬ 
achtung jener allgemeinen Regeln für 
die Benutzung der Quellen führt sehr 
oft nicht zum Ziel; da muß dann von 
Fall zu Fall nach sachlichen Gesichts¬ 
punkten entschieden werden. Auf die¬ 
sen Prinzipien ist das Budi aufge¬ 
baut, das, zunächst kaum beachtet, 
dann — wie Becker sagt 17 ) — „für 
den Historiker des alten Islams zu einer 
Art von Bibel geworden“ ist. 

Der alsbaldige Erfolg oder Mißerfolg 
eines Buches ist niemals ein zutreffen¬ 
der Maßstab für seine Bedeutung. So ist 
mit der Feststellung, daß Wellhausens 
Studien zur Geschichte des Urchristen¬ 
tums, seine Bemühungen, die Urkun¬ 
den des Neuen Testaments; besonders 
die Evangelien, als Niederschlag be¬ 
stimmter geistiger Bewegungen und 
Kräfte zu begreifen und sie so als Quel¬ 
len für die Geschichte des Christen¬ 
tums im ersten Jahrhundert nutzbar zu 
machen, verhältnismäßig wenig ge¬ 
wirkt haben, noch nichts gesagt. In 
Wahrheit verdienen sie die gleiche Be¬ 
achtung wie seine Arbeiten zur israe¬ 
litischen und zur arabischen Ge¬ 
schichte. Eine zusammenfassende Dar¬ 
stellung der Geschichte des ersten Chri¬ 
stentums hat Well hausen nicht gege¬ 
ben. Aber dem Leser seiner Einleitung 
in die drei ersten Evangelien drängen 


17) S. 96. 


sich mit Macht die großen Linien des 
Bildes auf, das er sich von diesem Ge¬ 
schichtsverlauf gemacht hat, so stark 
und so deutlich, daß er ohne weiteres 
imstande ist, die Linien zum Bilde zu 
ergänzen. Wie von Wellhausens lite- 
rarkritischer Arbeit am Neuen Testa¬ 
ment, so gilt es auch von der histori¬ 
schen, daß vor ihm viele erfolgreich 
daran tätig gewesen, und daß seine 
Fragestellungen meistens nicht neu 
sind. Andere haben gesät, er hat ge¬ 
erntet. So energisch wie er hatte doch 
wohl keiner bisher die Evangelien, auch 
das älteste, Markus, und die Redequelle 
Q, als Niederschlag des „Evangeliums“ 
— das er als Evangelium vom ge¬ 
kreuzigten und auferstandenen Jesus 
scharf von Jesu eigener Verkündigung 
scheidet — verstehen gelehrt und das 
darin von Jesus Stammende auf ein 
Minimum reduziert; so entschieden 
noch niemand ein „Leben Jesu“ für un¬ 
möglich erklärt; so überzeugend noch 
niemand die Folge der Evangelien von 
Markus zu Johannes als eine stän¬ 
dige Zunahme der Verchristlichungund 
Verkirchlichung des Jesusbildes nach¬ 
gewiesen; so rücksichtslos noch nie¬ 
mand die Dürftigkeit einer sich auf den 
„historischen Jesus" allein aufbauenden 
Religion aufgedeckt. Das scheint, mag 
auch die wissenschaftliche Erkenntnis 
gefördert sein, eine Entleerung des re¬ 
ligiösen Besitzes zu bedeuten. Das Ge¬ 
genteil trifft zu. Und hier muß gesagt 
werden, daß Wellhausen, der sich dem 
kirchlichen Leben gegenüber wohl neu¬ 
tral verhalten hat, mit dieser Beseiti¬ 
gung des Dogmas vom historischen Je¬ 
sus der Kirche und dem Christentum 
einen Dienst erwiesen hat, dessen Größe 
erst die Zukunft erkennen lassen wird. 
Die Richtung der systematisch-prakti¬ 
schen Theologie, die ganz unbefangen 
auf die Ergebnisse der historisch-kriti- 


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331 


Otto Eißfeldt, Julius Wellhausen 


sehen Forschung eingeht, hat vielfach 
den historischen Jesus als Quell der 
Religion betrachtet, und diese Betrach¬ 
tung hat den religiösen Besitz nicht be¬ 
reichert, sondern entleert, nicht gekräf- 
tigt, sondern geschwächt. Indem nun 
die Historie in einem Forscher, der 
ganz und gar nicht apologetischer 
Tendenzen verdächtig ist, ihr den histo¬ 
rischen Jesus nimmt, wird sie sich ver¬ 
anlaßt sehen müssen, nach tiefer lie¬ 
genden Quellen zu graben. Aber auch 
abgesehen von diesen noch ausstehen¬ 
den Wirkungen, reißen Wellhausens 
Aufstellungen nicht nur nieder, sie 
bauen auch auf. Das Bild des ge¬ 
schichtlichen Jesus bleibt, auch wenn 
die Farben der späteren Übermalung 
entfernt und nur wenige Striche gelas¬ 
sen werden, anziehend und leuchtend 
genug. „Er verkündet keinen neuen 
Glauben, sondern lehrt den Willen Got¬ 
tes tun. Der Wille Gottes steht für ihn 
wie für die Juden im Gesetz und in 
den übrigen heiligen Schriften, die dazu 
gerechnet wurden. Doch weist er einen 
anderen Weg ihn zu erfüllen als den, 
welchen die jüdischen Frommen nach 
Anleitung ihrer berufenen Führer für 
den richtigen hielten und peinlich be¬ 
folgten... Er hob den Dekalog aus 
dem Ganzen heraus und reduzierte des¬ 
sen Summe auf die Liebe zu Gott und 
dem Nächsten... Er legte an die Statute 
einen übergeordneten Maßstab an und 
beurteilte sie nach ihrem inneren Wert, 
nämlich ob sie das Leben der Men¬ 
schen förderten oder hemmten... Er 
forderte Reinheit des Herzens und Lei¬ 
stungen, die nicht Gott, sondern den Men¬ 
schen zugute kamen. Denn eben diese 
sehe Gott als sich geleistet an, und 
darin bestehe der wahre Gottesdienst 
— die Moral blieb religiös motiviert 
und unabhängig von dem variablen 
Götzen Kultur. Man wird durchaus an 


332 

die alten Propheten erinnert... Man 
darf das Nichtjüdische in ihm, das 
Menschliche, für charakteristischer hal¬ 
ten als das Jüdische." 18 ) Und indem 
das Evangelium von dem historischen 
Jesus geschieden und als Evangelium 
von dem gekreuzigten und auferstan¬ 
denen Jesus bestimmt wird, gewinnt 
es nur an Größe. Hier, wo des Histo¬ 
rikers Forschen seine Grenze hat, 
braucht Wellhausen nicht viel Worte, 
hier sucht er nicht zu erklären, hier 
geht er in schweigender Verehrung vor¬ 
über. — 

Diese Darlegung und Würdigung der 
historischen Methode Wellhausens und 
ihrer Ergebnisse bedeutet keineswegs 
eine Verkennung der Gefahren, die die 
Methode mit sich bringt, und noch we¬ 
niger ein uneingeschränktes Bekennt 
nis zu ihren Ergebnissen. Nicht ohne 
Grund hat man Wellhausen vorgewor¬ 
fen, daß seine Parteinahme für diese 
Quelle gegen jene hier und da zu 
entschieden und zu unbedingt sei; er 
folge der einen auch da, wo sie in 
Wahrheit kein Vertrauen verdiene, und 
lehne die andere auch in solchen Fäl¬ 
len ab, in denen sie glaubwürdige Nach¬ 
richten biete. Hier bedürfen dann Well¬ 
hausens Aufstellungen der Korrektur 
Weiter hat man es ihm verdacht, daß 
er die geschichtliche Entwicklung so 
gut wie ausschließlich aus den ihr im¬ 
manenten Kräften abzuleiten versuche 
und zu wenig Blick habe für die von 
außen kommenden Einflüsse. Viel stär¬ 
ker, als er sich’s gedacht, sei der Ein¬ 
fluß babylonisch-assyrischen Geistes auf 
das Alte Testament, der des Hellenis¬ 
mus auf den Ausgang der jüdischen 
Geschichte und aufs Neue Testament, 
der des südarabischen Kulturkreises 
und des christianisierten Hellenismus 


18) Einleitung S. 1021. 


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aufs altarabische Heidentum und auf 
den Islam. Aber diese Einwendungen 
sind nur zum Teil berechtigt. Verkannt 
hat er die Einflüsse von außen her 
nidht. Freilich hat er gemeint — und 
nicht immer mit Unrecht — daß sie 
überschätzt würden; auch hat ihn der 
Dilettantismus abgestoßen, der auf die¬ 
sem Gebiet üppige Blüten treibt. In wei¬ 
ser Selbstbeschränkung ist er auf dem 
Gebiet geblieben, auf dem er Meister 
war, und hat das andere anderen über¬ 
lassen. 

4. 

Well hausen war Historiker. Er hat 
auch Blick gehabt für Einzelheiten, für 
die „Antiquitäten”. Die einzelnen Perio¬ 
den des Geschichtsverlaufs haben ihm 
in lebendigster Anschaulichkeit vor Au¬ 
gen gestanden. Die politischen Verhält¬ 
nisse und die wirtschaftlichen Zu¬ 
stände, die Art der Wohnung und der 
Ernährung, Kleidung und Haartracht, 
Recht und Sitte — mit allem war er 
vertraut. Zu den komplizierten Fragen 
der Chronologie hat er überall selb¬ 
ständig Stellung genommen. In den An¬ 
merkungen seiner Schriften steht eine 
Fülle von Notizen, die ahnen lassen, 
wie konkret und farbig die Geschichte 
für ihn Gestalt gewonnen hat. Auch 
eigene Abhandlungen über hierher ge¬ 
hörige Einzelheiten hat er geschrieben. 
Aber das Ziel seines Forschens war im¬ 
mer dies, die großen Linien der Ent¬ 
wicklung zu erschauen, die Haupt¬ 
kräfte des Werdens zu erfassen. Die 
Worte, in denen er seine „Pharisäer 
und Sadduzäer“ der Göttinger Theolo¬ 
gischen Fakultät als Dank für die ihm 
verliehene Doktorwürde darbringt, ent¬ 
halten den Satz; „Ein innerer Grund, 
eben diese Untersuchungen jetzt zu ver¬ 
öffentlichen, lag für mich in der Vor¬ 
aussetzung, daß das innere Kräftespiel 



jener Geschichte Ihrer Teilnahme sicher 
sein werde.“ Erfassung und Darstel¬ 
lung des inneren Kräftespiels eines Ge¬ 
schichtsverlaufs — das hat er immer 
erstrebt und immer erreicht. Geschichte 
ist ihm nicht ein Nebeneinander und 
Nacheinander von Ereignissen und Per¬ 
sonen, Geschichte ist ihm ein Mitein¬ 
einander und Gegeneinander von Kräf¬ 
ten und Ideen. So hat er Israels Ge¬ 
schichte geschaut, so die Geschichte 
des entstehenden Christentums, so die 
Geschichte des Islams. Das ist im letz¬ 
ten Falle besonders deutlich. Die Po¬ 
larität von Staat und Religion, von ara¬ 
bischem Nationalismus und islami¬ 
schem Universalismus, von Menschen¬ 
herrschaft und Gottesherrschaft ist ihm 
die treibende Kraft des Islams im er¬ 
sten Jahrhundert seiner Geschichte. So¬ 
bald er den Kampf dieser Gegensätz¬ 
lichkeiten ausgekämpft sieht, mit dem 
Hochkommen der Iranier und der Ab- 
basiden, bricht er seine Darstellung ab. 

Wellhausen hat auch politisches Ge¬ 
schehen zu erforschen und darzustel¬ 
len vermocht. Den krausen Irrgängen 
höfischer und diplomatischer Intrigen 
kann er folgen, das Getriebe politischer 
Parteien weiß er bloßzulegen, Schlach¬ 
ten vermag er anschaulich zu schildern. 
Man lese etwa die Geschichte des gro¬ 
ßen Herodes und blättere in der Ge¬ 
schichte des arabischen Reiches, um 
das bestätigt zu finden. Aber nicht die 
politische Geschichte ist ihm die Haupt¬ 
sache, sondern die Geistesgeschichte 
oder genauer: die Religionsgeschichte; 
denn auf seinen Gebieten ist Geistes¬ 
geschichte Religionsgeschichte. Becker 
sagt; „Auch seine religionsgeschicht¬ 
liche Forschung ist, wenigstens auf dem 
Gebiete des Islams; völlig dem politi¬ 
schen Gesichtspunkt untergeordnet. Ihm 
war Geschichte politische Geschichte.“ 19 ) 
19) S. 98. 


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335 


Otto Eißfeldt, Julius Wellhausen 


336 


Aufs Ganze gesehen, trifft dies Urteil 
entschieden nicht zu. Becker schränkt es 
ja auch auf das Gebiet des Islams ein. 
Aber auch da müssen, wie mir scheint, 
die Akzente anders gesetzt werden. 
Das liegt ja auf der Hand, daß Well¬ 
hausen hier weite Strecken politischen 
Geschehens durchmessen hat. Die Na¬ 
tur der Sache bringt das mit sich. Der 
Islam hat ungleich stärker politisch ge¬ 
wirkt als die Religion des Alten Testa¬ 
ments und das Christentum. Diese ha¬ 
ben kirchliche Bildungen gezeitigt, der 
Islam politische. So konnte Wellhau¬ 
sen an ihnen nicht vorübergehen. Aber 
die Darstellung der politischen Ge¬ 
schichte ist der der Religionsgeschichte 
untergeordnet, nicht umgekehrt. In den 
Vorbemerkungen zu Väkidi sagt er: 
„Den Übergang vom Alten Testament 
zu den Arabern habe ich gemacht in 
der Absicht, den Wildling kennen zu 
lernen, auf den von Priestern und Pro¬ 
pheten das Reis der Thora Jahves ge¬ 
pfropft ist. Denn ich zweifle nicht 
daran, daß von der ursprünglichen Aus¬ 
stattung, mit der die Hebräer in die Ge¬ 
schichte getreten sind, sich durch die 
Vergleichung des arabischen Altertums 
am ehesten eine Vorstellung gewan¬ 
nen läßt.“ 20 ) Hiernach hat der Wunsch, 
das Alte Testament tiefer zu erfassen, 
ihn zum Studium des arabischen Hei¬ 
dentums und des Islams geführt. Dann 
haben ihn die Probleme des arabischen 
Heidentums und des Islams um ihrer 
selbst willen gepackt, und wenn er — 
im weiteren Verfolg dieser Probleme 
- auch zur Darstellung politischen Ge¬ 
schehens überging, so hat doch das 
religionsgeschichtliche Problem die Füh¬ 
rung behalten. 

Im Grunde ist es ein religionsge¬ 
schichtliches — aber der Ausdruck ist 


20) S. 5. 


zu eng: ein menschheitsgeschichtliches 
— Phänomen, dem seine Aufmerksam¬ 
keit gilt, das Phänomen, wie aus den 
Tiefen des Seins religiöse Urgewalten 
emporbrechen, alte Kultus- und Kultur¬ 
institutionen zerschmettern und dann 
allmählich zu geistlichen Institutionen 
erstarren. Und damit steht ein anderes 
Phänomen im Zusammenhang, das aber 
wohl nur eine besondere Seite des er¬ 
sten ist: Im Stadium ihrer Jugend¬ 
frische kennen diese religiösen Ur¬ 
kräfte keinen Gegensatz zu Welt und 
Leben; sie durchdringen alles Leben 
und Handeln, aber bilden keinen be¬ 
sonderen Teil von ihm. Dann altem 
sie und konsolidieren sich zu einer 
eigenen Welt, der geistlichen, die der 
profanen gegenübersteht. Die Prophe¬ 
ten des Alten Testaments, Jesus und 
die an der Gewißheit seiner Aufer¬ 
stehung sich entzündende Bewegung, 
Muhammed — das sind in dem Well¬ 
hausen naheliegenden Ausschnitt der 
Menschheitsgeschichte die Stellen, da 
in vulkanartigen Eruptionen religiöse 
Urgewalten emporgeschleudert werden, 
mit ihrer feurig-flüssigen Glut ihren 
Umkreis bedeckend und dann zu festen 
Formen erkaltend. Die enthusiastische 
Kraft der Propheten, des ersten Chri¬ 
stentums, Muhammeds wird eingefan¬ 
gen und aufbewahrt in der nachexili- 
schen Gemeinde, in der christlichen 
Kirche, in den religiös-kulturellen In¬ 
stitutionen des internationalen Islams. 

Hier ist offenbar der Punkt, wo Fra¬ 
gen und Antworten des Forschers Zu¬ 
sammenhängen mit dem Innenleben 
des Menschen. Es drängt sich dem Le¬ 
ser nicht auf, aber es ist oft zu spüren 
als erleuchtendes und erwärmendes 
Feuer. „Am größten ist er, wo er nicht 
mehr quellenmäßig beweist, sondern 
bekennt“, sagt Becker 21 )- und solches 

21) S. 98. 


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lix Niedner, Könige und Skalden in der Heimskringla 


338 


len ist am ehesten da zu finden, 
wo es sich um die Darstellung kraft¬ 
voller und ungebrochener, weltoffener 
und unbefangener Frömmigkeit han¬ 
delt, oder um die Schilderung bedeu¬ 
tenden Menschentums — denn das 
deckt sich meistens mit dem ersten. 
Der künftige Biograph Wellhausens 
wird das als seine größte und schönste 
Aufgabe betrachten müssen, die Ein¬ 
heit des Forschers und des Menschen 
zu zeigen, darzutun, wie sein literari¬ 
sches Werk im allertiefsten Grunde 
nichts ist als eine Entfaltung seines 
Menschentums. 

So steht Wellhausen da als einer der 


Großen im Reiche des,Geistes. Mit dem 
Jahre 1918 ist eine Epoche der politi¬ 
schen deutschen Geschichte zu Ende 
gegangen und eine neue hat begonnen. 
Auch in der deutschen Geistesge¬ 
schichte bedeutet wohl dies Jahr einen 
Einschnitt. Mit vielen Männern politi¬ 
schen und militärischen Handelns wird 
dann auch mancher Mann des gelehr¬ 
ten Forschens und des künstlerischen 
Gestaltens zu der Epoche zu rechnen 
sein, die nun zu Ende gegangen ist. 
Wellhausen gehört nicht der Vergan¬ 
genheit an. Er wirkt in der Gegenwart 
und er hat auch dem kommenden Ge- 
schlechte viel zu geben. 


Könige und Skalden 

Von Felix 

4 . 

Die Geschichte Olafs des Heiligen bil¬ 
det den Mittel- und Höhepunkt von 
Snorris Werk. Seinem Autor war sie 
so ans Herz gewachsen, daß er sie, die 
Keimzelle seiner ganzen Arbeit, aus 
der sich ihm der tiefere Sinn seines 
Königsbuches nach rück- und vorwärts 
entwickelte, noch einmal in einer beson¬ 
deren Monographie behandelte. Seine 
Aufgabe als Forscher war hier beson¬ 
ders schwer. Ihm stand ein reiches, 
aber vielfach unzuverlässiges Quellen¬ 
material zur Verfügung. Zwei Auffas¬ 
sungen von dem König fand er vor. 
Die ältere kirchliche ging auf Homi- 
lienbücher und Heiligenlegenden zu¬ 
rück, in denen der König frühzeitig 
eine Lieblingsfigur wurde. Hier war 
alles in majorem Dei gloriam gestal¬ 
tet. Der König spielte als christlicher 
Kämpfer etw’a die Rolle wie der frän¬ 
kische Herrscher im altdeutschen Lud- 

*) Siehe Heft 3. 


in der Heimskringla. 

Niedner*) 

wigsliede. Die jüngere weltliche Vor¬ 
stellung vom Könige stand der Wirk¬ 
lichkeit näher. Die Selbständigkeit des 
Kriegers und Staatsmanns trat stärker 
hervor, der mit dem „heiligen König“ 
verknüpfte Wunderglaube mehr zurück. 
Dem Politiker Snorri lag diese Auffas¬ 
sung näher als die der geistlichen Tra¬ 
dition. Der Historiker in ihm konnte 
doch auch diese als geschichtliches Mo¬ 
ment nicht übergehen. Schon ein mo¬ 
derner Geschichtschreiber, der Kreuz¬ 
züge etwa, kommt um die Einschätzung 
gewisser mit dem Wunderglauben des 
Mittelalters zusammenhängender Im¬ 
ponderabilien als geschichtlich wirk¬ 
samer Kräfte nicht herum. Viel weniger 
Snorri, der bei aller Unbefangenheit 
seiner Forschung als Christ damaliger 
Zeit doch der kirchlichen Tradition 
viel näher stand. So nahm er naturge¬ 
mäß einen vermittelnden Standpunkt 
ein. Sein Bestreben ging dahin, zwi¬ 
schen dem weltlichen Herrscher und 
dem christlichen Glaubenshelden einen 



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340 


Felix Niedncr, Könige und Skalden in der Heimskringia 


339 


inneren Zusammenhang herzustellen, 

beide Seiten aus dem Charakterbilde 
des Königs im ganzen zu motivieren. 
Man mag zweifelhaft sein, ob ihm dies, 
rein historisch genommen, restlos ge¬ 
glückt ist, ja ob diese Aufgabe bei der 
Zwiespältigkeit seiner Quellen über¬ 
haupt möglich war. Künstlerisch ge¬ 
staltend hat er sie jedenfalls! glänzend 
gelöst. In dem Bilde, wie es Snorri hier 
von dem norwegischen Nationalheros 
des Mittelalters gezeichnet hat, ist dieser 
In das Gedächtnis der Nachwelt über¬ 
gegangen. 

Wie Olaf Tryggvissohn stammte auch 
Olaf Haraldssohn von König Harald 
Schönhaar durch eine südnorwegische 
Linie des Königsgeschlechtes. Wie sein 
Vorgänger wuchs er aus einer Führer¬ 
stellung auf weitausgedehnten Wikin¬ 
gerfahrten, aus ruhmvollen Kämpfen 
in Frankreich, an der Londoner Brücke 
und auf den britischen und nordischen 
Eilanden durch eigene Tüchtigkeit in 
sein Königtum hinein. Vielleicht nicht 
so genial veranlagt wie Olaf Tryggvis¬ 
sohn, hat er doch durch zähe zielsichere 
Ausdauer im großen, durch kluge Be¬ 
rechnung und Nachgiebigkeit im klei¬ 
nen dem Königsgedanken und der Be¬ 
kehrung Norwegens im höheren Maße 
wie jener zum Siege verholten. 

Zunächst hatte ihm Olaf Tryggvissohn 
eine schlimme Erbschaft hinterlassen. 
Nach der Svoldschlacht war das Reich 
_ unter Schweden- und Dänenkönig und 
Drontheimer Jarl geteilt. Der Kampf 
gegen den Dänenkönig, dem Olafs 
eigene Heimat, der Süden Norwegens, 
zugefallen war, verquickte sich hier für 
ihn eng mit den inneren Wirren des 
Reiches. Denn die dortigen Kleinkönige 
benutzten ihre Stellung als Vasallen 
des Dänenkönigs, der, Norwegen fern, 
ihnen ziemlich freie Hand ließ, um ge¬ 
schlossen gegen Olaf als Usurpator 


aufzutreten. Mit Hilfe des klügsten von 
ihnen, Olafs Stiefvater Sigurd Sau, 
gelingt dem König deren freiwillige 
Anerkennung seiner Oberhoheit, dann 
bei späterer Empörung ihre Entthro¬ 
nung. Damit ist auch die dänische 
Herrschaft im Süden beseitigt. Schwie¬ 
riger gestaltet sich die Lage im Osten 
des Reiches. Der Schwedenkönig, ein 
Namensvetter Olafs, ein energischer, 
aber geistig beschränkter Autokrat 
kann nur durch langwierige politische 
Verhandlungen zu einem Verzicht auf 
seinen Anteil am Norwegerreiche ge¬ 
bracht werden. Nur durch Waffenge¬ 
walt aber war die Oberhoheit des Kö¬ 
nigs im Norden des Reiches wieder¬ 
herzustellen. Dies erfolgt durch den 
glänzenden Sieg bei Vesjar im Christi- 
aniafjord, der den Bruder und Nach¬ 
folger des verstorbenen Drontheimer 
Jarls Erich außer Landes zu gehen 
zwingt. 

Diese drei Unternehmungen des Kö¬ 
nigs, die ihn, seine Vertrauten und Wi¬ 
dersacher redend und handelnd in einer 
Frische und Gegenständlichkeit zeigen, 
als hätte Snorri selbst ihren Thingen 
und Taten beigewohnt, stellen zugleich 
farbenreiche, liebevoll bis ins Detail 
ausgeführte Kulturgemälde dar. Vor¬ 
trefflich ist besonders das staatliche 
und häusliche Leben des südnorwegi¬ 
schen Kleinfürstentums und der stolze 
und unabhängige Sinn der damaligen 
schwedischen Großbauern gezeichnet- 
Man versteht es, wie im Süden Norwe¬ 
gens die innere Haltlosigkeit jener 
Kleinkönige, in Schweden der Zwie¬ 
spalt zwischen König und Bauerntum 
der in glücklicher Weise Tatkraft 
und Nachgiebigkeit vereinigenden Poli¬ 
tik Olafs in die Hände arbeiteten. Die 
gleiche geistige Überlegenheit Olafs tritt 
auch hervor in der Art, wie er nach 
Vertreibung des Drontheimer Jarles 


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341 


Felix Niedner, Könige und Skalden in der Heimskringla 


342 


dem alten Heidentum im Norden den 
letzten Stoß versetzt. Snorri hat uns 
dieses hier auf seinen Opferfesten, die 
im Mittwinter ihren Höhepunkt errei¬ 
chen, noch einmal unparteiisch in sei¬ 
ner ganzen Kraft und Lebensfülle ge¬ 
zeichnet. Und doch wirkt die Zertrüm¬ 
merung des Thorbildes im Auftrag des 
Königs nach dessen ganzem Auftreten 
vor versammeltem Volke nicht wie bei 
Olaf Tryggvissohn als brutaler Gewalt¬ 
akt. Aus den Worten des bekehrten 
mächtigen Häuptlings Gudbrand im 
gleichnamigen Tale klingt deutlich die 
Anerkennung von einem moralischen 
Siege Olafs heraus. Einen solchen stellt 
auch die Antwort dar, die Olaf seinem 
großen Gegner, dem Könige Knut von 
Dänemark und England, auf dessen An¬ 
sinnen, Norwegen von ihm als Lehn zu 
nehmen, erteilt. Aus ihr spricht das 
Bewußtsein, nicht nur durch seine Ge¬ 
burt der legitime Herrscher Norwegens 
zu sein, sondern dieses Anrecht auch 
durch gerechtes und unparteiisches 
Walten, durch Schutz der Schwachen 
im Lande im Sinne des Christentums 
verdient zu haben. 

König Knut, den Snorri vielleicht zu 
einseitig als ländergierigen Eroberer 
aufgefaßt hat, erreicht seinen Zweck 
weniger durch Waffengewalt als durch 
skrupellose Bestechung aller der Ele¬ 
mente im Norwegerreiche, die sich 
durch Olafs straffes Regiment in ihrem 
Eigenwillen oder ihrem Eigennutz ge¬ 
kränkt glaubten. Snorri hat neben den 
königstreuen Männern am Hofe, vor 
allem dem trefflichen Marschall Björn, 
auch diese Unzufriedenen unter den 
norwegischen Großen lebensvoll ge¬ 
zeichnet. Er führt in einer Fülle von 
Episoden uns die mannigfachen Mo¬ 
tive ihrer Parteinahme für oder wider 
den König vor. Bei den vier Arnissöh¬ 
nen spielen sich, mit den Ereignissen 


wechselnd, alle Schattierungen dieser 
Königsfreundschaft und -feindschaft 
auf dem Boden ein und derselben Fa¬ 
milie ab. Andere Große hängen durch 
Verschwägerung oder persönliche 
Freundschaft eng miteinander zusam¬ 
men. Wir lernen sie auf Wiking- und 
Handelsfahrten, in ihren Gauen beim 
Thing und am häuslichen Herde ken¬ 
nen, und wir beobachten, wie das Netz 
geheimer Verschwörung sich um den 
nach außen noch kraftvoll dastehenden 
Herrscher allmählich zusammenzieht. 
Als der König nach Dänemark gegen 
Knut zieht, versagen die einflußreich¬ 
sten der Großen. Der eigennützige Ei- 
nar Bogenschüttler wartet in England 
auf Beförderung durch den Feind, der 
eigenwillige Harek von Tjöttö aus dem 
Nordland segelt, durch Knut bestochen, 
in Dänemark aus des Königs Flotte da¬ 
von, während dieser dort erfolgreich 
kämpft und nur durch die Unfähigkeit 
seines Bundesgenossen, des Königs 
önund von Schweden, gezwungen wird, 
nach Norwegen zurückzugehen. Hier 
stellt sich ihm Erling Skjalgssohn, der 
mächtigste Mann aus dem südwest¬ 
lichen Norwegen, entgegen, muß aber, 
im Kampfe besiegt, seinen Verrat mit 
dem Tode büßen.^Snorri hat ihn nicht 
beschönigt, und doch glaubt man in 
seiner liebevollen Zeichnung dieses 
selbstgemachten Mannes, der in seinem 
Unabhängigkeitsdrange stets jede äu¬ 
ßere Würde verschmäht hatte, die Sym¬ 
pathie des freien Isländers für ihn zu 
spüren. Am schärfsten aber kommt der 
Bürger des Freistaats in Snorri zum 
Ausdruck, als er nach Olafs großen 
Waffen- und Missionserfolgen auf den 
nordischen Inseln bis Grönland hin auf 
seine Heimat zu sprechen kommt. In 
feierlicher Allthingssitzung wird dort 
Königs Olafs Forderung einer politi¬ 
schen Unterwerfung der Insel abge- 


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lehnt. In der Rede des Häuptlings Ei- 
nar spricht offenbar Snorri selbst zu 
seinem Volke im Hinblick auf die ana¬ 
logen Zustände der Gegenwart. 

Am Hofe König Jaroslaws von Now¬ 
gorod, wo Olaf während seiner völli¬ 
gen Verlassenheit weilt, reift der Plan 
seiner Wiedereroberung Norwegens. 
Anschaulich malt uns hier Snorri, wie 
nüchterne staatsmännische Erwägung 
und durch sein Unglück geläuterter 
Glaubenseifer ihn gleichmäßig zu die¬ 
sem Entschlüsse führen. So zieht er, 
vorerst nur mit wenigen Getreuer», zu 
seinem letzten Waffengange in Nor¬ 
wegen aus, der ihm dort im Jahre 
1030 in der Schlacht bei Stiklestad zwar 
Niederlage und Tod, aber doch mora¬ 
lisch den Sieg über seine uneinigen 
Gegner einträgt. 

Das Schlußgemälde, das Snorri hier 
vor und in dieser Schlacht vom Herr¬ 
scher entwirft, gestaltet die Gegensätze 
des nordischen Volkskönigs und des 
christlichen Glaubenshelden zu einem 
überraschend einheitlichen Bilde. Ver¬ 
sonnen, schon in einer andern Welt, 
reitet Olaf von Nordschweden nach 
Norwegen hinab. Er trifft für den Fall 
seines Todes alle Anordnungen bis auf 
die Bestimmungen der Seelenmessen 
für die gefallenen Feinde, er verspricht 
seinen Anhängern nach seinem Ende, 
das er im Traum von der Himmels¬ 
leiter vorausahnt, Vereinigung mit sich 
im Jenseits. Und doch hofft er wieder 
in echter Kämpenfreude auf Sieg, be¬ 
reitet in dieser Voraussicht weltkluge 
Maßnahmen vor, kämpft dann wie 
seine heidnischen Vorfahren gleich 
einem Löwen in der Schlacht wider die 
Übermacht und wird noch im Tode 
der Schrecken seiner Gegner. Snorri hat 
auch diese trefflich charakterisiert. Er 
macht uns vor der Schlacht durch die 
glänzende Rede des in Knuts Solde 


stehenden schlauen Pfaffen SHJtBJT'mit 
allem bekannt, was die Gegenpartei 
an berechtigten Vorwürfen gegen den 
Usurpator Olaf glaubt Vorbringen zu 
müssen. Anderseits tritt gegenüber dem 
geschlossenen Auftreten Olafs die Un¬ 
einheitlichkeit und innere Haltlosigkeit 
der Führer des feindlichen Bauernhee¬ 
res scharf hervor. Schon die histori¬ 
schen Quellen vor Snorri ließen ahnen, 
daß durch sie wie durch die Härte des 
von Knut eingesetzten Nachfolgers 
Olafs und durch die Verbreitung des 
Gerüchtes von des Königs Heiligkeit 
eine Wandlung der Volksstimmung zu 
seinen Gunsten eintreten würde. Aber 
erst die Gestalt des Herrschers, wie 
Snorri ihn hier gezeichnet hat, macht 
es doch begreiflich, daß dieser Um¬ 
schwung schon gleich bei seinem Tode 
so elementar einsetzt, und erklärt die 
beherrschende Rolle, die er nach sei¬ 
nem Ende durch Traumerscheinungen 
und Weissagungen noch in den spä¬ 
teren Königsgeschichten spielt. 

Snorris Leistung in der Schilderung 
dieser letzten Vorgänge ist um so be¬ 
wundernswerter, als ihn hier seine 
beste weltliche Quelle fast ganz im 
Stich ließ. Diese war über die für das 
norwegische Königtum peinliche Nie¬ 
derlage bei Stiklestad ganz kurz hin¬ 
weggegangen. Bei seiner mit dem di- 
vinatorischen Scharfblick des großen 
Historikers aufgebauten Darstellung 
hat wieder die genaue kritische Kennt¬ 
nis der einschlägigen Skaldendichtung 
Snorri die größten Dienste geleistet. 

5. 

Der bedeutendste Skalde aus der Zeit 
Olafs des Heiligen ist Sigvat Thords- 
sohn aus Südisland. Seine Lieder 
haben einen hohen Wert als Quelle 
und Schmuck für Snorris Prosadar¬ 
stellung. Aber auch das ganze Leben 


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Felix Niedner, Könige und Skalden in der Heimskringla 


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des Dichters ist aufs engste mit den 
Schicksalen des Herrschers verknüpft. 
Eine ursprünglich selbständige Saga 
von Sigvat ist mit größter Kunst in 
die Lebensgeschichte des Königs ver¬ 
woben. Anders als Hallfred kam Sig¬ 
vat bereits mit 20 Jahren an den Hof 
seines Herrschers, für den schon sein 
Vater Thord gedichtet hatte, und sein 
Leben spielt sich fortan in Norwegen 
ab. Durch keckes Auftreten erreicht 
er beim König die Aufsagung seiner 
„Wikingerweisen“, in denen er dessen 
Jugendfahrten besungen hatte. Von 
nun an bleibt er allein seinem Dienste 
geweiht, ja er überträgt diese Treue 
auch auf den Sohn und Nachfolger 
Magnus bis zu seinem eigenen Tode. 

Sigvats erstes bedeutendes Gedicht 
sind die „Nesjarweisen“, in denen er 
den für die Wiedervereinigung des 
Reiches entscheidenden Sieg des Kö¬ 
nigs feiert. Den Höhepunkt der hoch¬ 
stilisierten Handlung bildet die Ente¬ 
rung von des Drontheimer Jarls Schiff 
durch den kühn der goldverzierten 
Fahnenstange nachstürmenden König. 
Aber sie und alle Momente der Schlacht 
sind belebt von selbsterschauten Ein¬ 
zelzügen. Der Dichter malt im Kampfe 
sich und seine Bankgenossen aus der 
Königshalle, deren einen er im Eifer 
der Schilderung namentlich als Zeu¬ 
gen aufruft, wie sie alle im Gefolge 
des Herrschers mitfochten und stolz 
auf dessen Leistungen, aber auch auf 
ihre eignen waren. „Da barg ich im Sturm 
der Pfeile unter dem welschen (kost¬ 
baren. ausländischen) Helm mein 
schwarzes Haar. Wir folgten dem jun¬ 
gen Könige. Der Kampfvogel (Rabe) 
bekam Blut zu trinken. Es war anders, 
als wenn (in der Königshalle) die Maid 
den Männern Met schenkt.“ Man ver¬ 
steht, wie ein Gedicht wie dieses nach 
heißer Schlacht beim festlichen Gelage 


vorgetragen, König, Gefolge und Skal¬ 
den in der Erinnerung gemeinsamer 
Ruhmestat, aber auch in der wahrheit- 
lichen Kontrolle des zusammen Erleb¬ 
ten innerlich zusammenschloß. 

Sigvat hatte in der Schlacht wacker 
seinen Mann gestellt, aber er war doch 
keine Kämpennatur wie Egil Skalla- 
grimssohn und kein steifnackiger Heide 
wie Hallfred. Er war schon im Chri¬ 
stenglauben erwachsen und von Na¬ 
tur friedfertig und versöhnlich. Diese 
Eigenschaften machten ihn für poli¬ 
tische Missionen in des Königs Dienste 
besonders geeignet. Marschall Björn 
und ein anderer Skalde Olafs hatten 
mit ihrem Aufträge, bei dem wider¬ 
spenstigen Schwedenherrscher in des 
Königs Sinn zu wirken, wenig Glück 
gehabt. Sigvat befestigt nicht nur auf 
einer Mission an den Hof des götlän- 
dischen Jarls Rögnvald mit großem 
Geschick Olafs alte Freundschaft mit 
diesem, er hat dem König auch mit 
Rögnvalds Hilfe wider den Willen des 
Schwedenkönigs dessen Tochter als 
Gattin zugeführt, eine Verschwägerung, 
die Olaf später in seinem Kampfe ge¬ 
gen Knut von England zustatten kam. 
Sigvat hat dies Schwedenabenteuer in 
einem humordurchwürzten Liede be¬ 
sungen. In das dichterische Gemälde 
von dieser ernsten Staatsmission hat er 
scherzhafte Augenblicksbilder aus den 
Mühen und Fährnissen, die ihn unter¬ 
wegs heimsuchten, eingefügt. Der 
lange Marsch durch den Eidawald, 
Schiffahrt auf halsbrecherischem Boot, 
seine ständige Abweisung als Christ 
durch die ungastliche heidnische Be¬ 
völkerung liefern ihm reichlichen Stoff 
zu gutmütigem Spott, und seinen aus¬ 
geglichenen Charakter spiegelt die hei¬ 
tere Selbstironie, mit der er diese Un¬ 
bilden erträgt. Auch Fahrten nach dem 
Westen hat er in dieser Reisestimmung 


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Felix Niedner, Könige und Skalden in der Heiniskringla 


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besungen. Sie führten ihn an den Hof 
Knuts von England, dessen Liebens¬ 
würdigkeit und Goldspenden andere 
Skalden Olafs in seinen Dienst gelockt 
hatten. Sigvat aber blieb fest. „Nur 
einem Könige könne man dienen“, 
sang er im Liede und kehrte an König 
Olafs Hof zurück. Schon vorher hatte 
Olaf Sigvat zum Marschall dort er¬ 
nannt. Er ist fortan am Königshofe 
neben dem ihm befreundeten Marschall 
Björn dessen festeste Stütze und 
höchste Zierde. Wiederholt schafft er 
dem König in kritischen Situationen 
Rat und spielt auch in heiklen Lagen 
der Hofgesellschaft zwischen ihr und 
dem streng auf seine äußere Würde 
haltenden Herrscher den gern gesehe¬ 
nen Vermittler. Am besten mit Olafs 
Seelenleben vertraut, darf er manches 
wagen, was andern verhängnisvoll ge¬ 
worden wäre. So tauft er auf eigene 
Gefahr hin dessen neugeborenen Sohn, 
und zwar auf den für die norwegische 
Dynastie ganz ungewöhnlichen Namen 
Magnus. Der König verzeiht ihm diese 
doppelte Eigenmächtigkeit, als er hört, 
daß Sigvat den Namen im Hinblick 
auf Karl den Großen, „den besten Mann 
dieser Welt“, gewählt habe. Durch 
hohe Kunst dichterischer Improvisation, 
die ihm so leicht von der Lippe floß 
wie andern die Alltagsrede, hielt Sigvat 
manches ernste und heitere Stimmungs¬ 
bild aus seiner Umgebung fest. In der 
Unglückszeit des Königs wandte er sie 
an, um für die Treue zu diesem Stim¬ 
mung zu machen. Hier lodert aus dem 
friedfertigen Mann wohl auch der 
Zorn, der Olafs Verräter zur Hölle 
wünscht. Im ganzen tragen doch auch 
diese Liedweisen, Sigvats vermitteln¬ 
der Natur entsprechend, mehr den Cha¬ 
rakter politischer Aufklärung und der 
Mahnung zur Versöhnlichkeit. In sol¬ 
cher Friedensstimmung vertauscht er 


dann, um für seinen König zu beten, 
das noch eben von diesem als Ge¬ 
schenk erhaltene goldgeschmückte 
Schwert mit dem Pilgerstab zur Rom¬ 
fahrt. 

In der Schlacht bei Stiklestad, der 
Sigvat, noch jenseits der Alpen wei¬ 
lend, fern bleiben mußte, tritt ein an¬ 
derer Dichter des Königs, Thormod 
Bersissohn, nach der Isländerin, die er 
besang, der „Schwarzbrauenskalde“ ge¬ 
nannt, mächtig in den Vordergrund. Die¬ 
ser ist im Gegensatz zu dem friedfer¬ 
tigen Lieblingsskalden des Herrschers 
eine leidenschaftliche Kämpen- und 
Skaldennatur alten Stils. Ergreifend ist 
die Schilderung am Morgen der 
Schlacht, wo König Olaf ihn auffordert, 
zur Anfeuerung der Truppen einen 
Schlachtgesang anzustimmen. Da trägt 
er das alte Bjarkilied vor, in dem der 
berühmteste Recke des Dänenkönigs 
Rolf Krake die Gefährten zum Vertei¬ 
digungskampf für ihren in seiner Halle 
überfallenen König aufruft und dann 
später, selbst im Streite gefällt, zu 
Häupten seines toten Herrschers sich 
zur letzten Ruhe bettet. Dieser Liedvor¬ 
trag bringt Thormod die letzte Gabe 
seines Königs und den Dank des gan¬ 
zen Heeres ein. Im Sinne des eben 
vorgetragenen Gedichtes erneuert er 
dem Herrscher das Gelübde seiner 
Treue bis zum Tod, das er schon vor¬ 
her im Wettgesang mit andern Skal¬ 
den im eignen Liede ausgesprochen 
hat. Dann ficht er mit diesen in der 
Schildburg um den König aufs tap¬ 
ferste, bis seine Liedgenossen fallen 
und er selbst die tödliche Wunde emp¬ 
fängt. Aber selbst dann verläßt ihn 
nicht sein Heldenmut und seine Kunst 
als Dichter. Den Doppelschmerz der 
Wunde und um den Tod des Königs 
erträgt er unter grimmigen Qualen, und 
noch der Sterbende spielt in einer Skal- 


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Felix Niedner, Könige und Skalden in der Heimskringla 


350 


denweise einer die Verwundeten hei¬ 
lenden Frau gegenüber, der sein blas¬ 
ses Aussehen aufgefallen war, mit bit¬ 
terem Humor auf seinen hoffnungs¬ 
losen Zustand an: 

Umsonst — blick’ nur! — bin ich 
Bleich nicht, Falk-Lands Eiche. 1 ) 

Schau, Wunden verschönen 
Schwer: weilt' ja im Pfeilsturm! 

Denk’, daß Eisen, dunkles. 

Dort jäh midi durchbohrte. 

Durch fraß es sich, fürcht’ ich, 

Dies Erz, an mein Herze. 

Dem Herrscher war aus Äußerungen 
seiner Skalden vor der Schlacht ihr 
Berufsneid auf Sigvat nicht entgan¬ 
gen. Selbst aus des ritterlichen Thor- 
mod letzter Weise an ihn tönte er her¬ 
aus. Der König hatte aber keinen Zwei¬ 
fel darüber gelassen, daß Sigvat, der 
in Rom für ihrer aller Seelenheil wirke, 
nach wie vor sein Vertrauen besitze. 
Sie aber, hatte er dann zu den Skalden 
t gesagt, wolle er neben sich haben in 
, der Schildburg. Sie sollten für späte¬ 
ren Skaldengesang nicht erst durch an¬ 
dere über die Vorgänge der Schlacht 
unterrichtet werden. Sie sollten sie aus 
eigenem Erlebnis in nächster Nähe 
schauen. Es war anders gekommen. 
Thormod und seine Mitskalden waren 
gefallen, aber Sigvat, den sie in ihren 
Gesprächen vor dem Kampf wegen sei¬ 
ner unverschuldeten Abwesenheit ge¬ 
schmäht hatten, brachte das Bild der 
tur ihren König trotz der Niederlage 
so ruhmreichen Schlacht in seinem 
schönsten Skaldenliede auf die Nach¬ 
welt. Er schildert den Eindruck, den 
der Herrscher dort machte: 

Mein’, schrecklich den Männern 
Mocht’s sein, wenn sie fochten, 

In allkQhnen Olafs 
Ehern Aug’ zu sehen. 

Sein Bli ck wurmgleidi *) beugte 

1) Falkland ist der Arm (Sitz des Falken 
auf der Jagd). Das Ganze eine Umschrei¬ 
bung für Frau. 2) Wie der Blick eines Dra¬ 
chen. 


Bondenvolk’), dich, Drontheims. 

Der Gaufürsten Gönner 1 ) 

Grau’nvoll war zu schauen, 

weiter schildert er das Eintreten der 

— historisch ungefähr gleichzeitigen 

— Sonnenfinsternis, die das düstere 
Schlachtgemälde Wirkungsvoll ab¬ 
schließt: 

Die Sonne nicht sandte — 

Seltsam Wunder erzählt man — 
Warmen Strahl, obwohl sie 
Wolkenlos, dem Volke. 

Kund da ward des Königs 
Kennzeichen ’) den Männern. 

Lichter Tag sein Leuchten 
Ließ. — Von Ost so hieß es. 6 ) 

Auch dem später zur Erinnerung an 
den Tod des Königs in dieser Schlacht 
eingesetzten St. Olafsfesttag gab Sig¬ 
vat die dichterische Weihe: 

Schon ruht in dem Schreine 7 ), 
Schöngüld'nem, mein König. 

Bei Gott jetzt der Güt'ge 
Ganz weilt, nenn' ihn heilig... 

Olafs Meßtag 8 ) muß ich, 

Magnus 9 )vaters, dankbar 
Hier im Hause feiern. 

Herr, Kraft ihm beschert’st du. 

Das Gedächtnislied auf Olaf, aus dem 
die obigen Strophen stammen, ist ein 
Jahrzehnt nach dem Ende des Herr¬ 
schers, kurz vor Sigvats eigenem Tode, 
entstanden. Schmerz um den Verlust 
seines alten Königs, aber auch der 
Wunsch, dessen Nachfolger Magnus in 
ihm ein Vorbild hinzustellen, haben 
es geboren. 

Ein eigentümlich weicher Ton durch¬ 
zieht die Weisen, die Sigvat auf und 
nach seiner Rückkehr von Rom auf 
seinen toten König dichtete. Sie sind 
fast wie ein Vorklang mittelalterlicher 
Minnesangsstimmung. Man denkt an 
Friedrich von Hausens, Barbarossas 

3) Bauernvolk. 4) Der König. 5) Sein 
Tod. 6) Aus Norwegen hörte ich dies. 
7) Im Sarge. 8) Erinnerungstag. 9) Mag¬ 
nus' des Guten. Er hatte den kostbaren 
Sarg anfertigen lassen. 



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351 Felix Niedner, Könige und Skalden in der Heimskringla 



treuen Lehnsmanns, dichterische Seelen¬ 
not zurück, wenn man Sigvat, noch 
auf Alpenfirste, um seinen gefallenen 
Herrscher klagen hört. Freilich, Frauen¬ 
liebe bringt ihm nicht Schmerz. Die 
Pein des verwaisten Königsmannen er¬ 
scheint ihm größer. Sigvat meidet un¬ 
stet Haus und Hof daheim in Dront- 
heim. Er flieht den Freundeskreis der 
alten Hofgesellschaft. Sein König fehlt 
bei ihren Spielen. Rastlos durch¬ 
schweift er das Land, an alten Erin¬ 
nerungsstätten Olafs gedenkend. Die 
kreischenden Raben und Adler imHillar- 
sund rufen ihm das Bild des Königs s der 
sie dort im Kampf von seinem Drachen¬ 
schiff aus labte, ins Gedächtnis zurück. 
Er fährt die norwegische Küste ent¬ 
lang. Sie scheint ihm ganz verändert. 
Das ödeste Klippenland kam ihm köst¬ 
lich vor zu Olafs Zeiten. Jetzt dünkt 
ihm schal selbst das schönste Grün det 
Almen. Diese sentimentale Stimmung 
hält auch noch an in den Versen, in 
denen er sich gegen alte Neider am 
Königshof verteidigt. Man erwartet 
flammenden Protest gegen die Ver¬ 
leumdungen, die den treuen Mann we¬ 
gen seines Fernbleibens von der 
Schlacht bei Stiklestad der Untreue ge¬ 
gen König Olaf ziehen. Aber auch seine 
beteuernden Verwahrungen zeigen die 
Niedergedrücktheit und Fassungslosig¬ 
keit, die ihn damals beherrschte, und 
beweisen, wie wenig diese Klagestim¬ 
mung dichterisches Spiel war. Dann 
aber erwacht mit der neuen Aufgabe, 
die ihm erwächst, in Sigvat plötzlich 
wieder die alte Frische und Tatkraft. Es 
galt für den jungen Königssohn einzu¬ 
treten, den er einst selbst hoffnungsvoll 
auf den Namen Karls des Großen ge¬ 
tauft hatte. Sehnsüchtig harrt er auf 
des Königskindes Rückkehr von dem 
Hofe zu Nowgorod, wo es während 
der Wirren der letzten Jahre Aufnahme 


gefunden hatte. Als dann infolge der 
allgemeinen Mißstimmung, die im 
Lande über die harten Gewaltmaßre¬ 
geln des von Knut eingesetzten Nach¬ 
folgers herrschte, die ehemaligen Geg¬ 
ner des Königs, Einar Bogenschüttler 
und Kalf Arnissohn, den jungen Magnus 
aus Rußland in die Heimat zurück¬ 
holten, da jubelt Sigvats Herz ihm ent¬ 
gegen. Er wird wie früher die Stützp 
der Königsfamilie und macht für sein 
Patenkind auch in der Dichtung die 
lebhafteste Propaganda. 

Man bekommt selbst in Snorris mei¬ 
sterhafter Darstellung kein sehr ein¬ 
drucksvolles Bild von diesem Herr¬ 
scher. Durch die wundertätige und be¬ 
ratende Einwirkung Olafs des Heiligen 
allzusehr in den Schatten seines gro¬ 
ßen Vaters gerückt, erweckt er nicht 
die Vorstellung einer starken und selb¬ 
ständigen Persönlichkeit. Trotz kriege¬ 
rischer Lorbeeren und vorübergehender 
politischer Erfolge stellt Magnus’Herr¬ 
schaft keinen Fortschritt in der Ent¬ 
wicklung des Reiches dar. Besonders 
gefährlich aber wurde er dieser, als er. 
einer Art tyrannischer Anwandlung 
nachgebend, in hartem Auftreten ge¬ 
igen die Großen, die gegen seinen Va¬ 
ter in der Schlacht bei Stiklestad ge¬ 
fachten hatten, und in der Vergewal¬ 
tigung der freien Bauern des Landes 
den Bogen seiner Herrschaft über¬ 
spannte. In dieser Notlage des Rei¬ 
ches, wo offener Aufruhr unmittelbar 
bevorstand, wurde Sigvat, der väter¬ 
liche Freund des Königs, der schon bei 
Olaf dem Heiligen so oft Rat gewußt 
hatte, von den einflußreichen Männern 
im Lande mit der heiklen Aufgabe be¬ 
traut, am Königshofe den Rater und 
Warner zu spielen. Er hat diese durch 
seine „Freimutweisen" in einer ebenso 
politisch wirksamen wie dichterisch 
vollendeten Art gelöst. 


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Felix Niedner, Könige und Skalden in der Heimskringla 


354 


» In dieser Miniatur eines poetischen 
Fürstenspiegels, wie man das Gedicht 
wohl am besten kennzeichnet, hält der 
Dichter dem jungen König zunächst 
ohne jede Schroffheit das gerechte 
Walten seiner Vorfahren, vor allem 
seines großen Vaters vor Augen: 
Wohl richtig die Wahl einst 
War der Bau’rn und Jarle. 

Die Olafe 10 ) aller 
Eigen Frieden zeigten. 

Der hehre Sohn Haralds") 

Halten ließ wie Aleif 1 ") 

Satzung all’, die setzten 
Sie, der’n Namen glichen. 

Er verweist ihn dann auf den Unmut 
der Bauern, die ihm Bruch seines Kö- 
nigsversprechens, ein gerechter Wal¬ 
ter im Lande zu sein, vorwerfen, und 
zürnt: 

Wer reizt’ auf dich, — oft du 
Allzu grimm dilnnstahl’ge 
Kling’ ,s ) hobst — ihnen zu künd’gen 
Königswort so schönes? 
Heerraubs-Sel’ger 14 ), heilig 
Halten muß Volks Walter 
Sein Wort. Ganz unwürdig 
Wär’s, wenn du’s versehrtest! 

Wer zu fäll’n dem Volke 
Vieh’s so reichlich hieß dich? 

Willkür, so gewalt’gc, 

Wann frommt sie dem Lande?... 
Freund ist, wer dich warnet! 

Wohl der Bitt’ des Volkes 
Lausch’, der du durstlöschend 
Labst den Wundenhabicht. ,6 ) 

Hört’ alle Grauhaar’gen 
Hier schon drohen. Schwierig 
Ständ's, wenn sie aufstünden. 

Schnell wahr’ vor Gefahr dich. 

Schlimm traun ist’s, wenn Thingvolk'") 
Treu sonst, senkt die Häupter, 

Männer, die Nas’ im Mantel, 

Murr’n, schweigend sich zeigen. 

Das Gedicht vollendet nicht nur das 
sympat hische Bild von Sigvats unab- 

10) Olaf Tryggvissohn und Olaf der Hei¬ 
lige. 11) Olaf der Heilige. 12) Nebenform, 
für Olaf (Tryggvissohn). 13) Das Schwert 
14) Glücklicher Beutemacher (der kriegeri¬ 
sche König) 15) Den Raben, d. h. Feinde 
tötest. 16) Leute auf der Volksversammlung. 

Internationale Monatsschrift 


hängigem Charakter, sein Erfolg, der 
König Magnus nach seiner Sinnes¬ 
wandlung den Beinamen des Guten 
eintrug, zeigt zugleich, welche poli¬ 
tische Macht das alte Skaldentum in 
seinen besten Vertretern im Lande dar¬ 
stellte. 

Die Selbständigkeit Sigvats als 
Künstler äußert sich auch darin, daß 
er, wo er dies mit seiner Dienstpflicht 
gegen das Herrscherhaus vereinigen 
konnte, auch dessen politischen Geg¬ 
nern seine dichterische Huldigung nicht 
versagte. Er hat nicht nur Marschall 
Björn an Olafs Hofe, sondern auch 
des Königs Widersacher im Lande. 
Erling Skjalgssohn, mit dem ihn per¬ 
sönliche Freundschaft verband, durch 
sein Lied geehrt. In dessen Bewunde¬ 
rung war er allerdings mit seinem Kö¬ 
nig einig. Denn auch dieser war in 
der Schonung des selbstherrlichen 
Mannes, der ihm imponierte, bis an 
die Grenze des Möglichen gegangen. 
Er hatte in all seinem Zorn noch seine 
stille Freude an dem Verräter gehabt, 
der ihm mit dem Ausruf: „Aare klauen 
sich Brust an Brust“ im letzten 
Kampfe gegenübertrat, und wider sei¬ 
nen Willen war der gefangene Erling 
von einem unbesonnenen Königsmannen 
erschlagen. So sah er ihn wohl auch 
gern in Sigvats Totenliede gefeiert. 
Aber auch König Knut von England 
hat Sigvat, als er und König Olaf tot 
waren, und dieser durch den Glauben 
an seine Heiligkeit dem politischen 
Haß seiner Gegner entrückt war, noch 
ein spätes Gedächtnislied gewidmet. 
Besonders schön malt er darin die in 
die dänischen Gewässer segelnde Flotte 
des Herrschers: „Blausegel — die 
bläh’n Brisen man hißt’. Darbot 
Dänenherr’ns Drach’ in Pracht sich. 
Von West kamen Kiele gar viel. Bald 
sie los lustig zum Limfjord schwim- 

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Felix Niedner, Könige und Skalden in der Heimskringla 


356 


men.“ Aus den schwingenden Rhyth¬ 
men dieser Verse glaubt man die Lust 

der freigewordnen Künstlerseele zu 
spüren, die nun, da der Dichter nicht 
mehr durch Mannesehre und politische 
Rücksichten gebunden ist, auch diesem 
großen Zeitgenossen den Skaldenpreis 
zollen darf. 

6 . 

Mit Ausnahme Haralds des Harten, 
einer Königsgestalt ganz eigner Art, 
auf die wir zurückkommen, zeigt das 
Herrschergeschlecht im dritten Bande 
von Snorris Werk nicht mehr so fes¬ 
selnde Erscheinungen wie früher. Das 
geschlossene Kulturbild, das noch das 
Zeitalter Olafs des Heiligen kennzeich¬ 
nete, erhält in den etwa hundertfünf¬ 
zig Jahren, in denen sich die weiteren 
Königsgeschichten abspielen, manche 
Veränderung durch neue Zeitströmun¬ 
gen. Der nähere Zusammenhang mit 
den anderen europäischen Ländern, wie 
er zu Snorris Zeit unter Hakon dem 
Alten bestand, bereitet sich allmählich 
vor. Vor allem wird jetzt das Christen¬ 
tum, dessen Einfluß namentlich durch 
die Anerkennung Olafs als heiliger Kö¬ 
nig im ganzen Norden gefördert war 
und durch den Glauben an dessen 
Wundertaten nach dem Tode weitere 
Stärkung erfuhr, eine Macht neben der 
staatlichen, ja über diese hinaus. So 
rücken die Könige, besonders gegen 
das Ende hin, immer mehr aus dem 
Mittelpunkt der Ereignisse. 

Sie stellen mehr typische Repräsen¬ 
tanten des Zeitbildes dar. Unter Magnus 
Erlingssohn, dem letzten Herrscher, 
der noch mütterlicherseits von Harald 
Schönhaar stammt, ist längst die Macht 
in Händen einiger Großen des Reiches. 
Auch das Skaldentum, das unter Harald 
dem Harten noch einmal eine präch¬ 
tige Blüte zeitigt, sinkt allmählich von 


seiner Höhe herab. Seine Strophen ver¬ 
schwinden gegen Ende fast ganz als 

Schmuck von Snorris Prosadarstellung. 
Der namhafteste Dichter dieser Spät¬ 
zeit ist Einar Skulissohn, aus Egil Skal- 
lagrimssohns Geschlecht. Sein Haupt¬ 
gedicht war ein geistliches Lied auf 
Olaf den Heiligen, vor einer glänzen¬ 
den Prälaten- und Notablenversamm- 
lung im Drontheimer Dom feierlich 
vorgetragen. 

Die Machtstellung des alten König¬ 
tums faßt vorübergehend noch einmal 
Magnus Barfuß in seiner Person zu¬ 
sammen. Von ihm, der nach siegrei¬ 
chen Kämpfen in Irland den Helden¬ 
tod erlitt, lief das schöne Wort um: 
„Einen König soll man zum Ruhme 
haben, nicht zu langem Leben.“ Aber 
auch er tritt an Charakter und Bega¬ 
bung zurück hinter dem Priestersohn 
Sigurd Slembi, der, als sein angeblicher 
Sohn, den glänzendsten Vertreter des 
für jene spätere Zeit der Königsge¬ 
schichte typisch werdenden Kronprä- 
tendententums darstellt. Dieser alle 
seine Zeitgenossen weit überragende 
Mann verrät die geborene Herrscher¬ 
natur nicht nur in seinen ruhmvollen 
Taten, echt königlich ist vor allem die 
seelische Spannkraft, mit der er lange 
Zeit hindurch gegen die Schwierigkei¬ 
ten seiner Demetriusstellung ankämpft, 
und die Charaktergröße, mit der er 
nach dem Mißlingen seiner Lebensauf¬ 
gabe in der Gefangenschaft die ihm 
von seinen Feinden bereiteten ausge¬ 
suchten Todesmartern erträgt. Unter 
seinen Stücken aus dieser letzten Zeit 
der alten Königsgeschichte Norwegens 
hat Björns jerne Björnson auch diesem 
unglücklichen Prätendenten in der Tri¬ 
logie „Sigurd der Schlimme“ ein Denk¬ 
mal gesetzt und gezeigt, welch seeli¬ 
scher Gehalt auch in moderner Fas¬ 
sung aus dem alten Stoffe zu schöpfen 


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Felix Niedner, Könige und Skalden in der Heimskringla 


war. Als typischer Vertreter einer 
neuen Zeitströmung erscheint, wie 
schon sein Name besagt, Olaf „der 
Stille“. Snorris Darstellung dieses Herr¬ 
schers nach all seinen kriegerischen 
Vorgängern hat einen eignen Reiz. Ein 
Vortragskünstler der Heimskringla 
würde hier seine Freude haben. Er 
würde tief Atem holen. Ein ganz neues 
Bild. Die Symbole der alten Krieger¬ 
zeit verblassen. Die Gestalt der Kö¬ 
nigshalle mit dem Hochsitz in der 
Mitte ändert sich. Das Zeremoniell wird 
prächtiger. Der König fördert die Archi¬ 
tektur durch neue Kirchenbauten. Auch 
in die Art der Städtegründung, die 
früher vornehmlich kriegerischen 
Zwecken diente, kommt ein neuer Zug. 
Die neue Stadt Bergen ist in erster 
Linie als überseeischer Handelsplatz 
gedacht. Prächtige Gildehäuser ent¬ 
stehen, und die öffentlichen Zusammen¬ 
künfte der Städter dort werden vom 
König begünstigt. Ein äußeres Zeichen 
des gehobenen Verkehrs sind die präch¬ 
tigen Kleidertrachten, die am Königs¬ 
hofe wie in den Städten Mode werden. 
Weht in Olafs des Stillen Regierung 
Frühluft der Hansa, so spielt Kreuz¬ 
zugsstimmung hinein in die Sigurds 
des Jerusalemfahrers. Er hat auf sei¬ 
nem Zuge, der ihn über Lissabon und 
Sizilien nach dem Heiligen Lande führt, 
mit König Balduin, dem Nachfolger 
Gottfrieds von Bouillon, Sidon erobert, 
aus Jerusalem einen Splitter vom 
Kreuze Christi mitgebracht und dort 
versprochen, für die Errichtung eines 
Erzbischofssitzes in Drontheim zu wir¬ 
ken. 

Alle diese Herrscher überragt durch 
die Geschlossenheit seiner Persönlich¬ 
keit und durch die Vielseitigkeit seiner 
Begabung ihr Ahn Harald der Harte. 
Schon in der Geschichte Olafs des 
Heiligen war dieser Bruder von ihm, 


der jüngste Sohn seines Stiefvaters 
Sigurd Sau, rühmlich hervorgetreten. 
Olaf hatte seinen mannhaften Sinn 
schon im kindlichen Spiele beobachtet 
und seiner Mutter Asta geweissagt, 
daß sie einen König in ihm großzöge. 
Fünfzehnjährig hatte er trotz Olafs 
Weigerung, der ihn wegen seiner Ju¬ 
gend schonen wollte, eine Kampfstel¬ 
lung in der Schlacht bei Stiklestad er¬ 
trotzt. Nach seiner Verwundung dort 
irrt er als heimatloser Flüchtling durch 
die Wälder und spricht in eigen ge¬ 
dichteten Versen die Ahnung einer gro¬ 
ßen Zukunft aus. 

Mit Harald dem Harten tritt Byzanz 
zuerst in den Bereich der norwegischen 
Königsgeschichte. Anders als Olaf 
Tryggvissohn und Olaf der Heilige, 
die die Wikingzeit ihrer Jugend in 
Ost- und Nordsee verbrachten, eilt er 
durch Rußland an den Hof des grie¬ 
chischen Kaisers. Seine Normannen¬ 
schar führt er erst als kaiserliche Elite¬ 
truppe, dann aber macht er sich dort 
frei und unternimmt, unerschöpflich an 
Tatkraft und Kriegslist, Züge nach Si¬ 
zilien und nach Afrika ins Sarazenen¬ 
land. Endlich zieht er nach Jerusa¬ 
lem und besucht dort die heiligen Stät¬ 
ten. Auf seiner Rückkehr wird Harald 
in Byzanz mit seinem Normannenheer 
aufs höchste geehrt, dann aber in die 
Intrigen am griechischen Kaiserhofe 
verwickelt. Aus dem Gefängnis, in das 
ihn der Herrscher von Byzanz gewor¬ 
fen, befreit, blendet er diesen und 
taucht, mit ungeheuren Schätzen be¬ 
laden, am Hofe von Nowgorod auf. 
In launigem Liede besingt der Erfolg¬ 
reiche die Tochter König Jaroslaws und 
erhält sie zur Gemahlin. Byzanz mit 
seiner märchenhaften Pracht wird von 
jetzt ab ein Anziehungsplatz für die 
Nordländer. Sigurd der Jerusalemfah¬ 
rer weilt dort später unter ähnlichen 

12 * 


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Felix Niedner, Könige und Skalden in der Heimskringla 


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Ehrenbezeigungen wie König Harald. 
Die kaiserliche Kerntruppe nordischer 
Krieger bekam einen Ruf. Sie erfoch¬ 
ten in St. Olafs Namen herrliche Siege. 
Dessen Schwert aus der Schlacht bei 
Stiklestad wurde in der St. Olafskirche 
zu Byzanz aufbewahrt. Kein Wunder, 
daß auch Olafs Bruder Harald, der 
Held, der im Sarazenenland „achtzehn 
Siege erfochten und achtzig Burgen 
gebrochen hatte", später durch die Le¬ 
gende ein Schützling des heiligen Kö¬ 
nigs wurde. 

Haralds etwa zwanzigjährige Allein¬ 
herrschaft nach dem Tode seines Nef¬ 
fen Magnus des Guten ist durch un¬ 
ausgesetzte Kämpfe gekennzeichnet. Im 
Innern waren seine Widersacher die 
alten Feinde seines Bruders Olaf, na¬ 
mentlich in offner Empörung Einar 
Bogenschüttler, mehr versteckt Kalf 
Arnissohn. Im Ausland waren es der 
Dänenkönig Svend Ulfssohn und der 
Schwedenherrscher Steinkel, die, wie 
früher, die unzufriedenen Großen aus 
Norwegen an ihren Höfen sammelten. 
Die Seele aller Umtriebe gegen den 
König aber war Hakon Ivarssohn, der 
Urenkel Hakons des Mächtigen, in dem 
das zähe Drontheimer Jarlgeschlecht 
damals dem Königtum noch einmal 
einen mächtigen Rivalen stellte. Wäh¬ 
rend Harald seiner andern Gegner im¬ 
mer wieder Herr wurde, scheiterten alle 
seine Versuche, so weitblickend sie an¬ 
gelegt waren, diesen gefährlichen Ne¬ 
benbuhler, dessen Bedeutung er wohl 
durchschaute, für sich zu gewinnen. 
Hier wurde Harald der stolze aben¬ 
teuerliche Zug in seinem Wesen, der 
wiederholt in Willkür und Härte aus¬ 
artete, verhängnisvoll. Nach der allge¬ 
meinen Erbitterung, die sich im Lande 
gegen ihn wegen der hinterlistigen Er- 
schlagung Einar Bogenschüttlers, des 
Führers der Oberländer Bauern, erhob, 


hatte er, trotzdem er ein Verwandter 
des Getöteten war, Hakon Ivarssohn 
durch das Versprechen der Hand sei¬ 
ner Großnichte und der Jarlswürde auf 
seine Seite gebracht. Durch die Hin¬ 
auszögerung dieser Zusage trieb er ihn 
in das Lager seiner Feinde. Noch ein¬ 
mal gelang es ihm, in kritischer Lage, 
die er sich durch die Beseitigung 
Kalf Arnissohns geschaffen hatte,durch 
nachträgliche Erfüllung seiner Verspre¬ 
chungen den eigenwilligen Mann in 
seine Dienste zu spannen. Aber der 
durch die frühere hoffärtige Behand¬ 
lung Gekränkte rächte sich. Er verei¬ 
telte den vollen Erfolg von Haralds 
glänzendem Seesieg an der Nizä in 
Hailand, indem er dessen Gegner, Kö¬ 
nig Svend, heimlich entkommen ließ. 
Er verdrängt dann den König durch 
sein bestechendes Wesen aus der 
Gunst seiner Mannen und wird später 
nach seiner Flucht zum Schwedenkönig 
Steinkel dort für ihn der Herd aller 
Schwierigkeiten. Haralds Abenteuertum 
spielte ihm den letzten Streich auf seiner 
Fahrt nach England zur Erwerbung der 
dortigen Königskrone. Ohne Brünne in 
die Schlacht gehend ist er dort nach 
ruhmvollen Kämpfen bei Stamford- 
bridge im Jahre 1065 gefallen, kurz be¬ 
vor Wilhelm der Eroberer von England 
Besitz nahm. 

Schon in der bisherigen Schilderung 
des Königs ist seine künstlerische Be¬ 
gabung hervorgetreten. In ihr steht er 
unter den norwegischen Herrschern der 
alten Zeit allein da. Auch jene schmie¬ 
deten einmal Verse. Harald ist ein 
wirklicher Dichter. Seine satirische 
Weise auf den überheblichen Einar ßo- 
genschiittler, seine diplomatisch gehal¬ 
tenen Triumphverse auf den Tod Kalf 
Arnissohns spiegeln innerstes Erlebnis. 
Zweimal finden wir ihn mitten int 
Kriegsleben dichtend zusammen mit 


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Felix Niedner, Könige und Skalden in der Heimskringla 


seinem Lieblingsskalden und Kampf¬ 
genossen Thjodolf Arnorssohn. Zuerst 
in Dänemark, wo dieser eine Improvi¬ 
sation des Königs, die seine Ankerung 
im Godsfjord ankündigt, prompt durch 
Stegreifdichtung zu Ende führt. Dann 
in England. Kurz vor seinem ruhm¬ 
vollen Tode ringt König Harald da¬ 
nach, den Ausdruck seines Siegeswil¬ 
lens im Skaldenliede festzuhalten. Erst 
die zweite der gedichteten Strophen 
genügt ihm. Der Skalde aber legt dort 
dem Könige für den Fall seines Todes 
das Gelübde der unentwegten Treue 
zu dessen Söhnen in seiner Dich¬ 
tung ab. 

Diese Augenblicksbilder aus ernster 
Kriegszeit empfangen ihre volle Be¬ 
leuchtung erst aus Haralds angeregtem 
und künstlerisch interessiertem Hofle¬ 
ben. Unter dem etwa ein Dutzend nam¬ 
hafter Dichter, die dessen Geselligkeit 
belebten, war der genannte Thjodolf 
der bedeutendste, in der chroni¬ 
stisch getreuen Schilderung der 
Schlachten des Königs für dessen Ge¬ 
schichte noch wertvoller als Hallfred 
für Olaf Tryggvissohn. Aber auch mun¬ 
terer Scherz kam an Haralds Hofe zu 
Wort. Der König stellte seinen Skalden 
dichterische Aufgaben. Er verlangte, 
daß sie von ihm begonnene Stegreif¬ 
weisen im Augenblick vollendeten. Das 
Urteil dieses Herrschers, der selber ein 
Kenner war, fiel in Lob und Tadel 
schwer ins Gewicht und entfachte in 
seinem Dichterkreis rührigen Wettei¬ 
fer. Es mag dem Historiker Snorri, 
der den König in der Heimskringla in 
erster Linie in seinem Staatsleben zu 
schildern hatte, schwer geworden sein, 
den Kranz von Erzählungen und Sagen, 
der sich über das anziehende Hofleben 
des Königs gebildet hatte, hier über¬ 
gehen zu müssen. Für seine Landsleute 
war dies kein Schade. Sie kannten die¬ 


sen König, den sie wie auch Snorri 
selbst vor allen liebten, der ihnen die 
schönen Glocken für die Kirche auf der 
Stätte ihrer Allthingsversammlungen 
gestiftet hatte, aus anderen Berichten. 
Von seinen Geschenken an die Insel 
oder einzelne Männer von dort, die 
sich an seinem Hofe aufhielten, wurde 
noch zu Snorris Zeiten viel gespro¬ 
chen. Auch von den Heldentaten des 
Königs, besonders auf seinen Wiking¬ 
fahrten im Mittelmeer und im Orient, 
wußten isländische Männer, die dabei 
gewesen waren, zu singen und zu sa¬ 
gen. Mit einer solchen Saga aus dem 
Leben des Königs vertrieb einmal ein 
isländischer Erzähler jenem und sei¬ 
nen Mannen die ganze Weihnachtszeit 
hindurch auf die angenehmste Weise 
die Zeit. Ein besonders anschauliches 
Beispiel aus dem künstlerisch gesinn¬ 
ten Hofleben Haralds mag hier noch 

dazu dienen, das Bild von dem Skai- 

» 

denkönig und von dem Königsskalden 
Thjodolf zu vervollständigen. Der Kö¬ 
nig geht eines Tages mit seinem Ge¬ 
folge durch die Straßen von Dront- 
heim. Da sieht er einen Schmied und 
einen Schuster sich unflätig zanken. 
Lustig verlangt er. daß sein Skalde 
Thjodolf eine Strophe über die beiden 
Kampfhähne dichten soll. Thjodolf 
meint erst, daß diese Aufgabe seiner 
Stellung als erstem Skalden am Hofe 
nicht zieme, ist aber sofort beffeit, sie 
zu erfüllen, als er die Schwierigkeit 
ihrer Ausführung erkennt. Der König 
wünscht nämlich, er soll den einen als 
Sigurd, den andern als Drachen Fafnir 
fassen, beide aber doch in ihrem Hand¬ 
werk schildern. Thjodolf dichtet so¬ 
fort: 

Schmiedhanmiers Sigurd 17 ) schlimmen 

Schuhwerk-Wurm ,s ) reizt’ wutvoll. 


17) Der Schmied. 18) den Schuster 


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Felix Niedner, Könige und Skalden in der Heimskringla 


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Vielgerbender Fell-Drach’ 19 ) 

Vor von Sock’ns Heid’ ’°) schritt bockend. 
Volk scheu vor der schnöden 
Schlang’ der Fußhüll’n 51 ) bangte, 

Bis Rindleders Lindwurm !J ) 

Langnas’ schlug, Fürst der Zange .-*) 

Diese Strophe fand der König leidlich, 
er gab aber Thjodolf noch eine zweite 
auf, in der der eine der Zänker als 
Thor, der andere als Riese Geirröd ge¬ 
faßt sein und beide wiederum in ihrem 
Handwerk veranschaulicht werden soll¬ 
ten. Der Skalde improvisierte sofort 
diese Strophe: 

Hoh’n Schmiedbalgs Thor 53 ) schmettert' 
Schnell’n Mundblitz 5 *) von der Schwelle 
Des Streifs’ 6 ) auf starrtrotz’gen 
Schinder Bockfleisch’s * 8 ) hin da. 

Stramm Gerberwerk-Geirröds ’ 7 ) 
Greifklau’ der Wort' *“) auffing 
Lachend das Wetterleuchten 
Liedergesang-Schmiedwerks. ’") 

Diese Strophe fand König Harald vor¬ 
züglich, und er erklärte Thjodolf unter 
dem Beifall des Gefolges als den Mei¬ 
ster unter den Skalden.*) 

7. 

Die Heimskringla hätte es mit ihren 
gewaltigen Königs- und Skaldenge¬ 
stalten weit mehr verdient Gegenstand 
einer großen modernen Dichtung zu 

19) Der Schuster. 20) Der Schusterwerk¬ 
stätte (Anspielung auf die Geitaheide, wo 
Fafnir lag). 21) dem Schuster (die Fußhüll’n 
sind die Schuhe). 22) den Schuster. 23) Der 
Schmied. 24) Das Schmähwort. 25) dem 
Munde. 26) den Schuster (Gerber). 27) Des 
Schuhwerk-Riesen, d. h. des Schusters. 
28) das Ohr. 29) Die Schmiede des Liedes 
ist der Mund, dessen Wetterleuchten (Blitz) 
das Schmähwort. 

*) Die kühnen dichterischen Umschrei¬ 
bungen bringen, wenn sie auch hier der 
Travestie dienen, die reiche Bilderpracht 
der älteren Skaldendichtung zur Anschau¬ 
ung, mit der Dichter wie Egil Skallagrims- 
sohn und Kormak Ögmundssohn in ernsten 
Gedichten ihre größten künstlerischen Wir¬ 
kungen erzielten. Näheres Thule Einlei¬ 
tungsband 1913 und 1920, Band 3, Geschichte 
des Skalden Egil 1911 und 1914 und Band 9, 
Vier Skaldengeschichten, 1914. 


werden als die Geschichte von Snorris 
Zeitgenossen, König Hakons des Al¬ 
ten, dem dies Glück in Ibsens Kron¬ 
prätendenten zuteil wurde. Jenes Werk, 
von Snorris geistesverwandtem Neffen 
Sturla Thordssohn, bestellte Arbeit und 
vielfach schon aus königlichen Archi¬ 
ven schöpfend, reicht in seinem chro¬ 
nikartigen Stil, der nur selten durch 
lebhafteres Tempo der Schilderung un¬ 
terbrochen wird, an Snorris belebte 
buntfarbige Darstellungskunst nicht 
heran. Sein bestes Können hat dieser 
dritte und letzte große Historiker Is¬ 
lands in der Geschichte seiner Fa¬ 
milie, der Sturlunge, niedergelegt, wo 
er auch seinem Oheim Snorri ein Denk¬ 
mal setzte. Sturlas Stärke ist die Rein¬ 
heit und Lauterkeit seines Wesens, in 
der er, auch im privaten Leben, sein 
großes Vorbild Snorri übertraf. Sie 
kommt nicht nur in seinem politischen 
Wirken zum Ausdruck, wo er, Snorris 
vermittelnde Tätigkeit fortsetzend, na¬ 
mentlich nach dem Untergange des 
Freistaates, unter der Oberhoheit des 
Norwegerkönigs der beste Anwalt der 
Interessen seines Volkes wurde. Stur¬ 
las sympathische Persönlichkeit spürt 
man auch in seinen sonst so sachlich 
gehaltenen Schriften. In der Geschichte 
seiner Familie fühlt man aus der dra¬ 
matisch bewegten Schilderung von 
Snorris Überfall und feiger Ermordung 
deutlich die Anteilnahme an dem 
Schicksal dieses von ihm geliebten und 
verehrten Oheims heraus. In der Ha- 
konssaga ist sein Herz bei dem tapfe¬ 
ren, aber unglücklichen Jarl Skule. 
Diese Gestalt erweckt ja auch in Ibsens 
Stück bei weitem die meiste Anteil¬ 
nahme. Sie stand dem seelischen Aus¬ 
gangspunkt der Dichtung, Ibsens zeit¬ 
weiliger innerer Niedergedrücktheit ge¬ 
genüber dem glücklicheren und erfolg¬ 
reicheren Björnson, am nächsten. Daß 


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Nachrichten und Mitteilungen 


366 


er sie am echtesten aus den Andeu¬ 
tungen, die der alte Stoff bot, heraus¬ 
gestalten konnte, hat mit zum Gelin¬ 
gen gerade dieser Figur des Dramas 
beigetragen. Aber auch Königtum und 
Skaldentum haben dort aus der älte¬ 
ren norwegischen Königsgesdliichte 
manche Beleuchtung empfangen. Kö¬ 
nig Hakon, der im Stück so lebhaft 
gegen die Wiederholung der alten 
Saga protestiert, trägt bei Ibsen wohl 
mehr Züge des Königtums der Heims>- 
kringla als sein historisches Urbild. 
Typisch vortrefflich im Sinne des al¬ 
ten Skaldentums ist auch sein Skalde 
Jatgeir gezeichnet. Von der alten Skal¬ 
dendichtung gibt allerdings dessen 
Skaldensang im Stück ebensowenig 
eihen Begriff wie Ibsens Nachbildung 
von Egil Skallagrimssohns großartigem 
Totenlied auf seine Söhne in den „Hel¬ 
den von Helgeland'“. Und doch 
schmücken Ibsens Vorlage, aus der er 
die Kronprätendenten gestaltete, die 
Liedweisen eines wirklichen Dichters. 
Der Historiker Sturla hat diese, die 
aus einem Zyklus eigner Preislieder 


auf den König stammen, als dekora¬ 
tiven Schmuck in seine Prosadarstel¬ 
lung verwoben. Wie als Politiker und 
Geschichtschreiber knüpfte Sturla auch 
als Skalde an seinen Oheim Snorri an. 
Aber so sehr hier auch Snorris glän¬ 
zende Technik auf ihn wirkte, als 
Dichter übertraf er den Meister. Noch 
in so später Zeit hat er in vier Liedern 
die Jugend des Königs, seine Krönung 
durch den päpstlichen Kardinal, seine 
Heereszüge nach den Orkaden und He¬ 
briden und seine Bestattung in Bergen 
| in kunstvollen, dem jeweiligen Vor- 
j würfe mit eminentem Kunstverstand 
! angepaßten Strophenformen lebensvoll 
besungen. Es war die Mitte des 13. 
Jahrhunderts. Wolfram und Walther 
hatten in Deutschland ausgedichtet. Das 
deutsche Nibelungenlied war da. Im 
Norden erfuhren die Artusromane 
durch Bearbeitungen im Aufträge des 
Königs lebhafte Förderung. Damals 
lebte im Norden in Sturlas Liedern 
die alte große Königsskalden-Dichtung 
noch einmal auf, um dann für immer 
zu verstummen. 


Nachrichten und Mitteilungen. 


J. B. Sägmiilller, Der apostolische Stuhl 
und der Wiederaufbau des Völkerrechts und 
Volkerfriedens. „Das Völkerrecht“ im Auf¬ 
träge der Kommission für christliches Völ¬ 
kerrecht herausg. von G. J. Ebers, Heft 6. 
Freiburg i. B. 1919, Herder. 

Nachdem der Verfasser in einem ersten 
Kapitel auf den nachgerade von niemandem 
mehr bezweifelten „Ruin des Völkerrechts 
im Weltkrieg“ hingewiesen hat, legt er in 
einem zweiten „die Bemühungen der Päpste 
im letztvergangenen Halbjahrhundert um 
das Völkerrecht und den Völkerfrieden“ so¬ 
wie „das Programm Papst Benedikts XV.“ 
dar. Es ist zwar nur die Aneinanderreihung 
zum Teil allgemein bekannter, jedenfalls 
seit langem veröffentlichter Äußerungen der 
Päpste seit Pius IX. unter Einschaltung eines 
Kurzen verbindenden Textes. Doch der Ein¬ 
druck dieser Zusammenstellung ist über¬ 


raschend stark und nachhaltig. Wie achtlos 
sind wird nicht alle — gläubige Katholiken 
vielleicht ausgenommen — an diesen macht¬ 
vollen Kundgebungen vorbeigegangen, als 
die Sonne des Friedens uns noch leuchtete 
und eine verwöhnte Phantasie die Finsternis 
kommenden Krieges nicht einmal zu ahnen 
vermochte. Besonders die Persönlichkeit 
Leos XIII. tritt auch hier wieder in ihrer 
ganzen Größe feiner Diplomatie und welt¬ 
geschichtlichen Weitblicks markant hervor. 

Hieran schließt sich die Darlegung des 
Programms Benedikts XV.: „1. Abrüstung 
zu Lande und zu Wasser; 2. Freiheit der 
Meere; 3. Das obligatorische internationale 
Schiedsgericht; 4. Das sittliche Wesen des 
Rechts an sich und so auch desVölkerrechts.“ 

In dem letzten, dritten Kapitel behandelt 
der Verfasser „das Programm des apostoli¬ 
schen Stuhles, besonders Papst Benedikts XV. 


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Zeitschriftenschau 


368 


für den Wiederaufbau des Völkerrechts und 
des Völkerfriedens im Urteil der Wissen¬ 
schaft und Staatsmänner.“ Wieder eine Zu¬ 
sammenstellung von Bekanntem mit ver¬ 
bindendem Text. 

Das Buch ist nicht unparteiisch und gibt 
nicht vor, es zu sein. Es soll eine Wider¬ 
legung der vielfach abfälligen Kritik geben, 
der die Politik der Kurie im Weltkrieg aus¬ 
gesetzt gewesen ist. Und doch verspürt man 
keinen Hauch feindseliger Polemik in dem 
Buch. Nur Tatsachen werden schlicht neben¬ 
einandergestellt. Gewiß sind sie ausge¬ 
wählt; gewiß sind sie sorgfältig aneinander¬ 
gefügt, gewiß sehen wir hier einen Meister 


[ der Dialektik an der Arbeit, der geschieht 
hinter seinem Werk zu verschwinden ver¬ 
steht; aber trotz alledem: es sind Tatsachen, 
mit denen jeder Ehrliche sich auseinander¬ 
setzen muß, ehe er sie verwirft. Wer aber 
möchte heute diejenigen verwerfen, die 
den Frieden gepredigt haben, als es noch 
Zeit war? 

Ich bin kein Katholik und war kein Pa¬ 
zifist; aber ich habe das Buch mit Ehrfurcht 
vor dem ehrlichen Streben der Kurie nach 
Frieden und Versöhnung aus der Hand ge¬ 
legt. Ich bin überzeugt, daß der Verfasser 
vom Leser eine weitere Anerkennung nicht 
begehrt. —t—. 


Zeitschriftenschau. 


Pädagogik. 

Der Zeitraum, den die vorliegende Zeit¬ 
schriftenschau überblickt, hat eine außeror¬ 
dentlich lebhafte Erörterung pädagogischer 
Fragen hervorgerufen. Viele der Reformbe¬ 
strebungen, die seit langem die pädagogische 
Weit bewegten, erhielten durch die innerpoli¬ 
tische Neugestaltung mit einem Schlage den 
Wert größerer Lebensnähe und Aussicht auf 
haldige Verwirklichung. Schneller, als es die 
kühnsten Schulpolitiker zu hoffen gewagt hat¬ 
ten, war die Zeit des Handelns gekommen, 
die Zeit, die mit dem Umbau des Staatsgebäu¬ 
des auch dielangegeforderte Neuordnungsei¬ 
ner innern Kultureinrichtungen als unmittel¬ 
bar bevorstehend ankündigte. Diese Aus¬ 
sicht beflügelte den Eifer der schulpoliti- 
sehen Erörterungen, unter den Berufsorga¬ 
nisationen der Fachmänner ebenso wie unter 
den pädagogischen Führern und Vorkämp¬ 
fern. Alle Einzelforderungen der Schulpoli¬ 
tik der letzten Jahrzehnte sind in dem 
großen Entscheidungskampfe der vergange¬ 
nen Monate aufs neue wieder erhoben und 
vertreten worden, allen voran die große 
Frage der Schulorganisation, die durch die 
soziale Umwälzung den Boden bereitet sah 
für die Vereinheitlichung des Schulwesens 
im Sinne der Einheitsschule. Damit waren 
aber zugleich eine Reihe anderer Reform¬ 
forderungen spruchreif geworden: der Aus¬ 
bau der Volksschule und der Fortbildungs¬ 
schule, die Neugestaltung der Lehrerbildung, 
der Ausbau des Fachschulwesens, die Hoch¬ 
schulreform. Heftige Kämpfe besonders ent¬ 
fachte die Frage des Religions- und Moral¬ 
unterrichts. Indem die Demokratisierung 
des öffentlichen Lebens auch das Leben 
der Schule zu beeinflussen begann, ge¬ 


wannen weitere Fragen Bedeutung: die 
Psychologie der Jugendlichen, Schulaufsicht 
und Selbstverwaltung, das Verhältnis von 
Schule und Haus, Elternrechte, Eltembei- 
räte u. a. Überreich ist die Fülle der Re¬ 
formwünsche, die die pädagogische Fach¬ 
presse und Zeitschriftenliteratur ausstreut, 
und schwer ist die Wahl, aus dem engeren 
Kreise unserer Zeitschriftenauslese einiges 
vom Wichtigsten herauszugreifen. 

Am reichhaltigsten ist wohl die Ausbeute 
der „Deutschen Schule“, der Monats¬ 
schrift des Deutschen Lehrervereins. 1 ) Im 


1) Inhalt: 12. Heft 1918: H. E. Timerding, 
Grenz- und Auslandsschulen — eine Frage 
der Schulpolitik. — Ernst Krieck, Die Auf¬ 
gabe der Geschichtsphilosophie. — E. Rei¬ 
chel, Neuordnung der Volkserziehung. 

1. Heft 1919: C. L. A. Pretzel, Arbeiten 
und nicht verzweifeln. — Georg Kerschen- 
steiner, Die Bildungswerte der Volksschule 

— W. Ostermann, William Sterns Persona¬ 
lismus. — Paul Samuleit, Vom Kampf gegen 
die Schundliteratur. 

2. Heft: Hermann Rolle, Erziehung zu 
deutscher Staatsgesinnung. — Gustav Häuß- 
ler, Eduard von Hartmanns Weltanschau¬ 
ung. — Werner Mohr, Die fremden Spra¬ 
chen in der deutschen Oberschule. 

3. Heft: Richard Trentzsch, Die christliche 
deutsche Schule. — Erich Schönebeck, Er¬ 
fahrungen in einer Berliner Begabtenklasse. 

— Karl Huber, Vom Einleben in die Natur. 

4. Heft: Konrad Albrich, Die Seelenlehre 
des Comenius. — Albert Schülke, Hindert 
uns die Sprache, bessere Zahlwörter ein¬ 
zuführen? 

5 Heft: G. Reinhardt, Weltenwende und 
Hochschule. — Ernst v. Sallwürk sen., Welt¬ 
kunde und Humanitätsbildung. — Oskar 
Hübner, Die Gründung der Arbeitsgemein- 


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Zeitschriftenschau 


369 


Januarheft erörtert Oberstudienrat Professor 
Dr. Georg Kerschensteiner „die Bil¬ 
dungswerte der Volksschule“. Es ist 
eine grundlegende Untersuchung des We¬ 
sens des Bildungsvorganges, das aus der 
Vereinigung eines objektiven und eines 
subjektiven Faktors, des Kulturgutes und 
der Bildungsfähigkeit des Individuums, er¬ 
klärt wird als das „Wieder-Lebendig-Wer- 
den des im Kulturgute latent gewordenen 
Geistes im einzelnen Individuum“, welcher 
Vorgang aber stets der Beschränkung unter¬ 
liegt, daß immer nur die der besonderen 
geistigen Struktur des Individuums ent¬ 
sprechenden Kulturgüter für dieses wirk¬ 
liche Bildungskraft gewinnen können. So 
allein vollzieht sich der Prozeß der Persön¬ 
lichkeitsbildung, in dem also zwei gegen¬ 
sätzliche Deutungen der Erziehungsaufgabe 

schaft sozialdemokratischer Lehrer. und 
Lehrerinnen Deutschlands. 

6. Heft: Oskar Hübner, Gesichtspunkte 
für die Gestaltung der Fortbildungsschule 
in der Gegenwart. — Vinzenz Adler, Fünf¬ 
zig Jahre österreichischer Lehrerbildung auf 
Grund des Reichsvolksschulgesetzes vom 
14. Mai 1869- 

7. Heft: Otto Karstadt, Wilhelm Oster¬ 
mann. — Alfred Bogen, Hugo Gaudigs 
Wirken im Dienste des Arbeitsschulgedan¬ 
kens. — Anton Ritthaler, „Ruhende“ und 
„fortschreitende“ Rechenbeziehungen. 

8. Heft: Friedrich Fürle, Das Verantwort¬ 

lichkeitsgefühl. — Die Schulforderungen des 
Deutschen Lehrervereins. — H. Schreiber, 
Die künstlerische Erziehung, besonders die 
Ptlege des Gesanges im Laufe des natür¬ 
lichen Jahres auf der Unterstufe. — M. Zei- 
big, Deutsche Sprachpflege im fremdsprach¬ 
lichen Unterricht. „ 

9. Heft: Stimmen zur Neugestaltung des 
Geschichtsunterrichts: Erich Witte, Reform 
des Geschichtsunterrichts. — Siegfried Braun, 
Ober Geschichte und Geschichtsunterricht. 
— Walter Jentzsch, Das Auslandsdeutsch¬ 
tum im Geschichtsunterricht. 

10. Heft: Karl Möckel, Neuer Erziehungs¬ 
idealismus. — Carl Kerl, Religiös-sittliche 
oder nur sittliche Willensbildung? — Otto 
Tumlirz, Das Wesen der Frage. 

11. Heit: Otto Schreiter, Zur Selbstbe¬ 
sinnung der Pädagogik. — Otto Tumlirz, 
Das Problem der „Einheitsschule“ und des 
„Aufstiegs der Begabten“. — Th. Wunder» 
lieh, Die Ausgangspunkte für eine Reform 
des Zeichenunterrichts nach den Forderun¬ 
gen der neueren Kunstanschauung und der 
wirtschaftlichen Lage der Gegenwart. — 
Johannes Günther, Eduard von Hartmann 
und die Neugestaltung des Raumlehre- 
Unterrichts. 


370 


in Einklang gebracht sind: die Erziehungs¬ 
auffassung, die, wie die Herbart-Reinsche, 
ihren Standpunkt im objektiven Kulturgute 
nimmt und die ihre Aufgabe als „Über¬ 
lieferung der Kultur an die nachwachsenden 
Geschlechter“ bezeichnet, und die andere 
Anschauung, die zuerst Rousseau, Pesta¬ 
lozzi, Wilhelm von Humboldt und Schleier¬ 
macher verkündet haben, daß die Erziehung 
„Weckung und Bildung der Kräfte zu einem 
proportionierlichen Ganzen“, oder kürzer: 
formale Kräfteentwicklung sei. Für die 
Überwindung dieses Gegensatzes sieht 
Kerschensteiner den subjektiven Standpunkt 
für den günstigeren an, denn die Schwie¬ 
rigkeiten, aus dein ungeheuren Reiche der 
Werte den Weg zum einzelnen Individuum 
zu finden, und die Gefahren, ihn dabei zu 
verfehlen, seien ganz unvergleichlich grö¬ 
ßer, als vom Individuum aus durch das 
seiner Natur entsprechende Tor den Zugang 
zu der Welt der Werte zu gewinnen. Weil 
die Volksschule von dem objektiven Stand¬ 
punkte her, ausgehend von den Kultur¬ 
gütern, die sie in einer Auswahl des sach¬ 
lich Wichtigsten mitteilen will, an die Ju¬ 
gend herantritt, verfehlt sie so oft den Weg 
zur Individualität der Kinder. Denn sie 
übersieht dabei die psychologische Grund¬ 
tatsache, daß das ursprüngliche Verhalten 
des Kindes ein rein praktisches ist, das sich 
erst allmählich im Laufe der Jahre nach 
Maßgabe der Veranlagung zu einem theo¬ 
retischen, ästhetischen oder religiösen In¬ 
teresse entwickelt, während die Dinge, die 
man heute als die wesentlichen Bildungs¬ 
mittel der Volksschule verwendet, fast aus¬ 
schließlich dem theoretischen Verhalten 
des Menschen entsprechen, also einem Teile 
des objektiven Wertsystems entnommen 
sind, auf den nach der erst später eintreten¬ 
den Besonderung der jugendlichen Bean¬ 
lagungen sich auch nur ein bestimmter 
Bruchteil der Menschen hingewiesen sieht. 
Auf die von dem subjektiven Standpunkte 
aus gewonnene psychologische Einsicht, 
daß im Seelenrelief des Kindes durchaus 
das praktische Verhalten vorwaltet, stützt 
darum Kerschensteiner die fundamentale 
pädagogische Forderung, die Bildungs- 
leistung der Volksschule nach der Richtung 
der Arbeitsschule auszugestalten, wie er 
dies selbst in der großzügigen Neuorgani¬ 
sation des Münchener Volksschulwesens in 
vorbildlicher Weise ausgeführt hat. Ker¬ 
schensteiner fühlt sich in der Verkündung 
solcher Bildungsbestrebungen als Erben 


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Zeitschriftenschau 


Pestalozzischer Erziehungsideen. Jene älte¬ 
ren Gedanken, vertieft durch eine neuere 
psychologische und kulturphilosophische 
Betrachtungsweise, für die Organisation 
des modernen Bildungswesens fruchtbar 
gemacht zu haben, darin liegt die Lebens¬ 
leistung des als Theoretiker und praktischer 
Organisator gleich großen Pädagogen, der 
eben jetzt vom Schauplatze seines so er¬ 
folgreichen Wirkens zurückgetreten ist. — 
Die „Vierteljahrsschrift für philo- 
sophischePädagogik“, 5 ) herausgegeben 
von Wilhelm Rein, Jena, bringt in ihrem 

2. Hefte einen Aufsatz von Gymnasialdirektor 



rungen gelangt wie KerschenstdflHBVon der 
psychologischen Seite her. Vor oder unter 
den Kulturprovinzen der Religion, der Ge¬ 
sittung, der Kunst und der Wissenschaft, 
bei deren Förderung die menschliche Lei¬ 
stung von den Zweckgedanken oder Idealen 
des Heiligen, des Guten, des Schönen und 
des Wahren geleitet wird, steht das Gebiet 
der Wirtschaft mit seinen Teilfunktionen 
der Urproduktion, der Stoffveredelung und 
des Handels, die sämtlich bestimmt und 
regiert werden von dem Ideal des Nütz¬ 
lichen. Es ist gegenüber jenen eine ele¬ 
mentarere, reale Kulturfunktion, die ein 


Dr. Alfred Rausch und Lehrer Friedrich 
Rausch über „die wirtschaftliche Er¬ 
ziehung der deutschen Jugend“, der 
von der Seite der Wertgebiete oder Kultur¬ 
güter aus zu ähnlichen, wenn auch nicht so 
weitgehenden bildungstheoretischen Forde- 


2) Inhalt: 2. Heft (Januar 1919): O. Götze, 
Friedrich Fröbels Stellung zur Heimat¬ 
kunde. — F. Neubauer, Kants „Grund¬ 
legung zur Metaphysik der Sitten“ im Unter¬ 
richt. — Alfred Rausch und Friedrich Rausch, 
Die wirtschaftliche Erziehung der deutschen 
Jugend. — W. Rein, Die deutsche Einheits¬ 
schule. — H. Weber, Ferienkurs für staats¬ 
bürgerliche Unterweisung in München. — 
E. Katzer, Die Doppelreligion der christ¬ 
lichen Kulturvölker. — Baronin P. W. v. 
Bülow, Kinderheimstätten. — E. Bonebakker, 
Schulorganisationspläne in Holland. — Paul 
Menge, Konzentration zwischen dem deut¬ 
schen und altsprachlichen Unterricht in der 
Prima des Gymnasiums. — A. Volkmer, 
Eigene Beobachtungen über die Klärung 
von Tätigkeitsbegriffen bei Kindern polni¬ 
scher Haussprache. 

3. Heft (April 1919): Paul Oldendorff, 
Eine Rüstkammer deutscher Kultur. — Vogel¬ 
sang, Wie Dörpfeld über Herbart urteilte. 
— H. Löbmann, Ober die musikalische Ap¬ 
perzeption. — Fr. Förster, Zwanzig Jahre 
Landerziehungsheim. — Eberhard, Schleier¬ 
machers Gedanken zum Aufbau des Bil¬ 
dungswesens. — Joh. Meyer, Das Verhältnis 
des Robinson zur Pädagogik. — Gertrud 
Janke, Zum Problem der Unterrichtsfrage. 

4. Heft (Juli 1919): Hermann Schwarz, 
Aphorismen über intellektuelle Bildung. — 
W. Rein, Die Volkshochschule. — W. Klatt, 
Die höhere Schule als Schulgemeinde. — 
Scholz, Universitäts-Übungsschulen oder 
nicht? — Luise Rhenius, Überblick über 
die Reformpläne auf dem Gebiet des Bil¬ 
dungswesens während der französischen 
Revolution. — H. Lietz Deutsche Volks¬ 
hochschulen. — Bruno Bauch, Kant als 
Deutscher, ein Erzieher zum Deutschtum. 


Reich der Lebenserhaltung darstellt, wie 
jene höheren oder idealen Kulturgebiete 
die Sphäre der Lebenserhöhung ausmachen. 
Diese verschiedenen Kulturreiche bilden 
einen natürlichen Zweckzusammenhang, 
eine organische Ordnung von Werten, die 
erst in ihrer Verbindung das Ganze des 
Lebens erschöpfen. Zur Bewältigung des 
Lebens gehört das Hineinwachsen in alle 
diese Wertgebiete. Weder Realisten noch 
Idealisten haben für sich allein recht, son¬ 
dern erst die gegenseitige Durchdringung 
dieser Lebensmüchte gewährleistet das Be¬ 
stehen der Lebensprobe. In der Entwick¬ 
lung des Bildungslebens ist der Weg in 
der Würdigung dieser Kulturgüter von oben 
nach unten gegangen: der jahrhunderte¬ 
langen ausschließlichen Pflege der rein 
geistigen Güter folgte seit dem 17. Jahr¬ 
hundert auch die Fürsorge für das ökono¬ 
mische Gebiet, die sich dann im 18. Jahr¬ 
hundert organisatorisch in dem Entstehen 
der Realschule auswirkte. So gilt für die 
Schide der Gegenwart ganz allgemein die 
pädagogische Forderung, daß sie neben 
dem, was sittlich und religiös wertvoll, was 
schön und wahr ist, auch dem wirtschaft¬ 
lich Wertvollen Beachtung zu schenken hat, 
freilich mit dem Abmaße, daß unter diesen 
Wertgebieten die rechte Rangordnung her¬ 
zustellen ist, so, daß sich die niederen 
Kulturzwccke den höheren unterordnen, wie 
entsprechend auch das Leben der Völker 
nicht bloß von den sich hier mehr als dort 
vordrängenden Zielen der Lebenserhaltung 
beherrscht bleiben darf, sondern darüber 
hinaus mehr und mehr die höheren Kultur¬ 
ideale zur Anerkennung bringen muß. Erst 
zuletzt mündet dieser wesentlich kultur¬ 
philosophische Gedankengang in die psy¬ 
chologische Überlegung aus, daß auf den 
frühesten Stufen der Schulbildung gerade 
die Pflege des Wirtschaftlichen durch Vor- 


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Zeitschriftenschau 


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anstellung der praktischen Betätigung in 
ihren verschiedenfachen Formen (wie gärt¬ 
nerische, hauswirtschaftliche, gewerbliche 
Arbeiten) der Eigenart der kindlichen In¬ 
teressen und Bedürfnisse besser entspreche 
als die einseitige Hinlenkung auf die höhe¬ 
ren Wertgebiete. Für die nähere Aus¬ 
führung all dieser Gedanken verweisen die 
Verfasser auf das bald zu erwartende Er¬ 
scheinen einer selbständigen Schrift, die 
gleichmäßig die Theorie und die Praxis der 
wirtschaftlichen Erziehung der Jugend be¬ 
handeln werde.*) Erst in dieser besonderen 
Anwendung auf das unmittelbare Leben 
der Schule werden die hier kurz skizzierten 
grundlegenden kulturphilosophischen Ideen 
ihre pädagogische Fruchtbarkeit zu erwei¬ 
sen haben. — 

Eine pädagogische Notwendigkeit, die 
der Krieg klargelegt und sein tragischer 
Ausgang nur noch mehr erhärtet hat, findet 
in dem im 3. und 4. Heft der „Vierteljahrs¬ 
schrift für philosophische Pädagogik“ ent¬ 
haltenen Aufsatze des Studienrates Paul 
Oldendorff: „Eine Rüstkammer deut¬ 
scher Kultur“ ihre Darstellung: das Ver¬ 
langen nach einer innigen Vertiefung in 
deutsche Art und deutsches Wesen, dem 
nicht nur in der engeren Welt des Schul¬ 
lebens, sondern auch auf dem Wege freier 
Bildungsvermittlung Geltung verschafft wer¬ 
den soll. Als den naturgegebenen Boden 
für diese Bemühungen betrachtet der Ver¬ 
fasser die Pflege des Heimatsinnes durch 
die Schule, für die eine ganze Gruppe von 
Fächern: Deutsch, Geschichte, Erdkunde, 
Naturkunde, Zeichnen und Gesang, sich 
gegenseitig helfend, wirken können. Darüber 
hinaus aber fordert er die Errichtung einer 
Zentralstelle zur Pflege des heimatkund¬ 
lichen Interesses, der eine ganze Reihe vor¬ 
zugsweise organisatorischer Aufgaben zu¬ 
gewiesen werden. So hätte sie etwa die 
der Pflege des vaterländischen und heimat¬ 
lichen Sinnes am besten dienenden An¬ 
schauungsmittel zu sammeln, ein Buch von 
der deutschen Heimat zu schaffen, das Na¬ 
tur und Kultur des Vaterlandes, das deut¬ 
sche Volksleben nach Stämmen und Stän¬ 
den wie Persönlichkeiten von ausgeprägtem 
Deutschtum zur Darstellung brächte, Samm¬ 
lungen heimatkundlicher und deutschkund- 
licher Literatur wie ein heimatkundliches 
Lichtbilderarchiv einzurichten, die Begrün¬ 
dung von Heimatsarchiven an den höheren 


3) Osterwieck a. Harz, A. W. Zickfeldt. 


Schulen zu befördern, die Erfahrungen zu 
sammeln, die die verschiedenen Anstalten 
mit heimatkundlichen, geologischen, natur¬ 
kundlichen oder kulturgeschichtlichen Aus¬ 
flügen gemacht haben, Lehrgänge an Mu¬ 
seen zu veranstalten, den Besuch bedeut¬ 
samer Kunststätten durch Lehrer in die 
Wege zu leiten u. ä. Aber alle diese der 
sog. Volkskunde dienenden Bemühungen 
müssen in Zusammenhang gebracht werden 
mit den allgemeinen kulturellen Problemen 
unseres Volkstums, d. h. das Bild des deut¬ 
schen Volkslebens muß verstanden werden 
durch die ganze innere Geschichte unseres 
Volkes, aus den Wurzeln und Bedingungen 
unseres ganzen geistigen und sozialen 
Lebens heraus. So muß, um der Pflege 
der Volkskunde den rechten Resonanzboden 
zu geben, die Kulturphilosophie und die 
Kulturgeschichte die Grundkräfte für das 
organische Wachstum deutschen Lebens 
und Wesens zu enthüllen suchen. Die 
Zentralstelle hätte für diesen Zweck vor 
allem ein reiches Vortragswesen auszu¬ 
bauen und in einer Bibliothek der Deutsch¬ 
kunde alle Literatur zur Erkenntnis des 
Deutschtums zu sammeln. So würde sie 
zuletzt die Bedeutung einer „Rüstkammer 
deutscher Kultur zur Belebung bewußtdeut¬ 
schen Empfindens und Denkens“ gewinnen. 
Ihre Tätigkeit würde vor allem auch auf 
das Leben der Schule zurückwirken und 
dieses endlich inniger mit dem Leben der 
Nation verknüpfen, dadurch, daß sie inner¬ 
halb ihrer Fächer die seit langem ersehnte 
Einheit herstellt in der von einem einflu߬ 
reichen Mittelpunkt aus geförderten Pflege 
volkskundlichen und deutschkundlichen In¬ 
teresses. Der Verfasser erblickt in dieser 
innern Wandlung den sichersten Weg für 
die humanistische Ausgestaltung der Schule 
in nationalem Geiste, insofern hier alles 
darauf angelegt wäre, eine innere Anschau¬ 
ung vom Deutschtum zu gewinnen. Die 
Zentralstelle glaubt er am besten mit dem 
„Zentralinstitut für Erziehung und Unter¬ 
richt“ in Berlin verbinden zu können, das 
mit seinen „Deutschen Abenden“ und man¬ 
cherlei anderen Veranstaltungen ja schon 
das Ziel verfolge, die Schule zu einer 
Pflegestätte deutscher Kulturideale auszuge¬ 
stalten. — Es bedürfte noch einer näheren 
Auseinandersetzung mit dem Bildungsberuf 
der Schule, besonders auch der verschie¬ 
denen Formen der höheren Schule, etwa 
in der Art, wie sie Hermann Itschner in 
seinem Buche: „Lehrerbildung und Volks- 


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Zeitschriftenschau 


tum“ 4 ) gegeben hat, um die Anwendbar¬ 
keit der in ihrem Kern gewiß durchaus be¬ 
rechtigten Forderungen auf die einzelnen 
Funktionen der Sdiularbeit prüfen zu kön¬ 
nen. Weiterhin tritt an den Keformwün- 
schen Oldendorffs der für die Eigenart un¬ 
seres Reformzoitalters ganz allgemein cha¬ 
rakteristische Grundzug hervor, daß aller 
Fortschritt wesentlich von der Schaffung 
neuer Organisationsformen erwartet wird. 
Während man die Hoffnungen oft zu ein¬ 
seitig auf neue Einrichtungen setzt, über¬ 
sieht man zuweilen, daß alles pädagogische 
Wirken doch zuletzt eine Tat der Persön¬ 
lichkeit ist, die wohl durch äußere An¬ 
regungen bereichert werden kann, die aber 
doch den besten Teil ihrer Kraft aus der 
Tiefe der eigenen Seele schöpft. — 

Unter den zahlreichen wertvollen Ar¬ 
tikeln, die die Katholische Monatsschrift 
„Pharus“, herausgegeben von der Päda¬ 
gogischen Stiftung Cassianeum in Donau¬ 
wörth, im laufenden Berichtsjahre veröffent¬ 
licht hat 4 ), erscheint uns besonders beach- 


4) Leipzig 1917, Quelle & Meyer. 

5) Inhalt: 11. 12. Heft 1918: Kiefl, Foer- 
sters Kritik an der Religionspädagogik und 
Seelsorge der Kirche. — J. Göttler, Vom 
Geist der Kleinkinderanstalts-Erziehung in 
Vergangenheit und Gegenwart. — A. Luible, 
Die Jugendwehr nach dem Kriege. 

1./2. Heft 1919: Remigius Stöizle, Päda¬ 
gogische Neuorientierung und unser Er¬ 
ziehungsziel. — Josef Weber, Fr. W. Foer- 
sters Bedeutung für die praktische Er¬ 
ziehung. — J. Hoffmann, Elterntypen. — 
Joseph Schröteler, Zur Frage der Jugend¬ 
ideale. 

3./4. Heft: W. Toischer, Willmanns Le¬ 
benswerk und die moderne Pädagogik. — 
Fr. Sawicki, Zur Ethik der Gesinnungen. — 
P. Kasperczyk, Das Problem der Schwer- 
erziehbarkeit in seiner Beziehung zur Für¬ 
sorge- und zur Normalerziehung. — J. Hoff¬ 
mann, Schülerautonomie. — Hugo Löb- 
mann, Zur Sicherung der Schuldisziplin. 

5.6. Heft: Heinrich Kautz, Der neue Geist 
und die Pädagogik. — Hermann Rolle, Die 
Fortbildung der höheren Lehrer. — Her¬ 
mann Dimmler, Karl May als Jugend- und 
Volksschriftsteller. — M. E. Peters, Umler¬ 
nen in der Mädchenerziehung. — Rudolf 
Prantl, Ober die Grenzen des erziehenden 
Unterrichts und der Erziehung überhaupt. 

7.<8. Heft: G. Grunwald, Gedanken zur 
besseren Erziehung der Erzieher. — Her¬ 
mann Dimmler, Der konfessionslose Sitten¬ 
unterricht. — Engert, Foerster als Pädagog. 
— W. Matthiesen, Der erzieherische Wert 
des Märchens. — J. Orth, Bildungsziele und 


tenswert der Aufsatz: „Bildungsziele 
und Berufsfortbildungsschule“ von 
Lehrer Dr. J. Orth. In der Bestimmung 
der Aufgabe der Fortbildungsschulen strei¬ 
ten sich seit längerer Zeit zwei gegensätz¬ 
liche Auffassungen. Die eine argumentiert 
so: Da die Volksschule ihre Zöglinge ge¬ 
rade im bildungsfähigsten und bildungsbe¬ 
dürftigsten Lebensalter, in der Pubertäts¬ 
periode, entläßt, in der nicht nur der phy¬ 
sische, sondern auch der geistige Mensch 
feste Formen annimmt, fordert diese im 
wesentlichen erziehungslose Zeit eine Aus¬ 
füllung durch Bildungsveranstaltungen, die 
effte allgemein menschliche Ertüchtigung 
erstreben durch Erziehung des Menschen 
zum Wahren, Guten und Schönen, d. h. 
durch Charakter- und Persönlichkeitsbil¬ 
dung. Für diese Ansicht hat die Fortbil¬ 
dungsschule wesentlich die allgemein 
menschliche Bildung der Volkschule fortzu¬ 
setzen und zu vertiefen. Die zweite Ge¬ 
dankenrichtung geht von dem werktätigen 
Leben des Volkes aus, dessen Erfolge sie 
abhängig sieht von der innigen Verbindung 
von Wissenschaft und Technik und von 
der persönlichen Tüchtigkeit der wirtschaft¬ 
lich tätigen Personen. Die wirtschaftliche 
Leistungsfähigkeit wird daher um so wirk¬ 
samer gefördert werden, je mehr die werk¬ 
tätige Hand sich dem denkenden und fin¬ 
denden Geiste nähert und sein fähiges und 
williges Organ wird. So erscheint eine 
neben der Lehre herlaufende gründliche 
berufstheoretische Durchbildung und beruf¬ 
liche Ertüchtigung der werktätigen Jugend 
in einer Berufsfortbildungsschule als wich¬ 
tiges Mittel für die Beförderung des wirt¬ 
schaftlichen Fortschritts. Der Verfasser ent¬ 
scheidet sich dahin, daß beide Bildungs- 


Berufsfortbildungsschule. — Ferdinand 
Eckert, Strömungen und Strebungen im 
Gymnasial-Schulwesen. 

9./10. Heft: G. Grunwald, Gedanken über 
Scheinbildung und wahre Bildung. — Mat¬ 
thias Lechner, Die personalistische Psycho¬ 
logie W. Sterns. — A. Böhm, Haus und 
Schule — Elternräte, Elternabende. — P. Jo¬ 
sef Hettwer, Eine Schicksalsfrage der Inter¬ 
natserziehung. 

11.12. Heft: Johann Ude, Der Lehrberuf. 

— R. Guardini, Ober die Bedeutung der 
reflexiven und direkten Akte für das reli¬ 
giöse Leben. — Franz Weigl, Elternrecht 
und Schulkind. — E. Leitl, Akademische 
Schulräte für großstädtische Volksschulen? 

— A. Volkmer, Innere Fragen der Lehrer¬ 
bildung. 


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Zeitschriftenschau 


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ziele, das allgemein menschliche und das 
berufliche, in der Fortbildungsschule ver¬ 
eint erstrebt werden müssen, da für den 
einzelnen wie für die Gesamtheit ebenso¬ 
wohl die menschliche Vervollkommnung 
wie die berufliche Tüchtigkeit eine unab- 
weisliche Notwendigkeit sind. Damit aber 
entsteht das schwierige Problem, wie in 
der Fortbildungsschule allgemein-mensch¬ 
liche und Berufsbildung, ohne sich gegen¬ 
seitig zu beeinträchtigen, nebeneinander 
bestehen können. Das aber ist eine Lehr¬ 
planfrage, die, wie der Verfasser meint, sich 
lösen lasse, sobald es möglich ist, die eine 
Aufgabe in den Dienst der andern zu stellen. 

Soll die Allgemeinbildung der beruflichen 
dienstbar werden, dann müssen aus den 
im Lehrplan der Fortbildungsschule wieder¬ 
kehrenden Volksschulfächern diejenigen 
Lehrgüter besondere Bevorzugung erfahren, 
die für den Beruf der einzelnen Schüler¬ 
gruppen besonders bedeutungsvoll und 
nützlich sind. Will man umgekehrt vom 
Berufe aus zum allgemein Menschlichen 
gelangen, dann muß der Beruf selbst in all 
seinen Einzelheiten, der ganze Mensch, wie 
er in seinem Berufe lebt und wirkt, Gegen¬ 
stand des Unterrichts werden. Aber in der 
Bestimmung der Lehrziele für die einzelnen 
Berufsfächer dürfte man sich dann nicht 
nur auf das Maß der für den Beruf un¬ 
mittelbar erforderlichen Kenntnisse be¬ 
schränken, sondern müßte überall vom Be¬ 
ruflichen zum allgemein Menschlichen fort¬ 
schreiten: so etwa in der Material-, Waren- 
und Produktenkunde zur Berücksichtigung 
der volkswirtschaftlichen, wirtschaftsgeo¬ 
graphischen und historischen Momente, in 
der Werkzeug- und Maschinenkunde zur 
Ableitung und Würdigung der in ihnen zur 
Anwendung kommenden Naturgesetze, im 
Berufszeichnen zur Weckung des Ge¬ 
schmacks und künstlerischen Empfindens, 
in der Geschäftsverkehrskunde zur Betonung 
moralischer Gesichtspunkte, in der beruf- 
lidien Gesetzeskunde und der Berufsge¬ 
schichte zur Erweckung staatsbürgerlicher 
und vaterländischer Gesinnung usw. So 
tritt dann mittelbar die Berufsbildung in 
den Dienst der Allgemeinbildung und bietet 
in spezifisdi beruflichen Fächern die Lehr¬ 
güter und das Bildungsmaterial zu einer 
Erziehung zum Wahren, Guten und Schö¬ 
nen. Diese zwei Wege, die beiden Bil¬ 
dungsziele zu vereinen, sind sowohl metho¬ 
disch entgegengesetzt wie audi in ihrem 
Ergebnis verschieden. Der erste stellt ein 


deduktives Lehrverfahren dar, bei dem aus 
dem allgemeinen Bildungsgut das in die 
Berufsinteressen fallende Besondere aus¬ 
gewählt wird, d. h. die allgemein mensch- 
lichen Werte an Berufswerten gemessen 
und unter den Gesichtswinkel des persön- 
lidi Nützlichen gestellt werden, so daß bei 
diesem Wege die Gefahr eines engherzigen 
Berufsegoismus naherückt. Der andere Weg 
bedient sidi eines induktiven Verfahrens, 
das dem im Berufe tätigen Menschen die 
Perspektive zu allem Wissens- und Erstre¬ 
benswerten eröffnet, die Berufssphäre in 
die allgemeine Kultursphäre erweitert, da¬ 
durch, daß es die Berufswerte an den höhe¬ 
ren geistigen und sittlichen Werten mißt. 
Das ist der Weg, auf dem der Jüngling 
den gewählten Beruf in seinem Zusammen¬ 
hänge mit der gesamten Kulturgemeinschaft 
erfassen lernt, sich seiner Abhängigkeit von 
ihr bewußt wird und so die Notwendigkeit 
begreift, sich als dienendes Glied in das 
soziale Ganze einzuordnen. So wird der 
zum allgemein Menschlichen fortschreitende 
Unterricht der Berufsfortbildungsschule zu¬ 
letzt zu einer „Erziehung zum Volke.“ Des¬ 
halb, aber auch weil durch dieses induktive 
Verfahren gleichzeitig auch die eigentliche 
Berufsbildung sicherer fundiert wird als 
durch das deduktive, verdient die Ausge¬ 
staltung der Fortbildungsschule als beson¬ 
dere Berufsfortbildungsschule den Vorzug 
vor jener, die in ihrer Verfassung wesent¬ 
lich in der Nähe der Volksschule bleibt. 

Es ist lehrreich, zu beobachten, wie in 
dieser Lösung des Fortbildungsschulpro¬ 
blems allgemeinere pädagogische Gegen¬ 
wartsströmungen zur Geltung kommen. 
Denn dieses ist ja nur ein besonderer Fall 
für die pädagogische Antinomie von in¬ 
dividueller Bestimmung und universaler 
Ausweitung, die für alle Berufsarten, die 
höheren geistigen ebenso wie die werk¬ 
tätigen, gilt. Dafür aber haben schon vor 
hundert Jahren (im Gegensatz zu den mei¬ 
sten der zeitgenössischen Vertreter der 
idealistischen Philosophie) Pestalozzi und 
Goethe die Lösung angedeutet, deren Her¬ 
übernahme in die gegenwärtige Bildungs¬ 
theorie") mehr und mehr die Organisation 

6) Namentlich Georg Kerschensteiner 
(Das Grundaxiom des Bildungsprozesses 
und seine Folgerungen für die Schulorga¬ 
nisation. Pädagogische Blätter, 1917) und 
Eduard Spranger (Grundlegende Bildung, 
Berufsbildung, Allgemeinbildung. Preußi¬ 
sche Fortbildungsschulzeitung, März 1918: 


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PRINCETON UNIVERSIT 





379 


Zeitschriftenscliau 


3*0 


unserer Schule zu beeinflussen beginnt: 
nicht in einem unbestimmten Menschentum 
liegt für sie das eigentliche Ziel der Bil¬ 
dung, sondern es gilt, den Menschen zuerst 
in den vollen Besitz seiner selbst zu brin¬ 
gen, damit er von seinem Kreise aus die 
allgemeine und ideale Bildung ergreife, 
die sich dann wie ein Kranz um den Mittel¬ 
punkt der eigenen Lebensnotwendigkeit 
herumlagern werde. So offenbart sich in 
diesem induktiven Gange ein allgemeines 
Bildungsgesetz, das aber erst die landläu¬ 
fige Auffassung von der Vornehmheit der 
reinen Allgemeinbildung und die historisch 
ererbte „Furcht vor der Berufsschule“ über¬ 
winden muß, ehe es wird seine volle or¬ 
ganisatorische Auswirkung finden können. - 

Die „Pädagogischen Blätter“, Zeit¬ 
schrift für Lehrerbildung und Schulaufsicht, 
herausgegeben von Karl Muthesius, haben, 
ihrem Sonderzwecke entsprechend, in dem 
zu überschauenden pädagogisch so beweg¬ 
ten Zeitabschnitte sich vor allem lebhaft 
an der Erörterung über die Neugestaltung 
der Lehrerbildung beteiligt. 7 ) In Heft 1 
und 2'3 beschäftigt sich mit dieser Frage 
der Aufsatz des Herausgebers über „die 
Zukunft der Volksschullehrerbil- 
dung.“ Muthesius kämpft hier für sein 
altes Ziel, die Lehrerbildung aus ihrer bis- 

auch in der Aufssatzsammlung „Kultur und 
Erziehung“, Quelle & Meyer, Leipzig 1919, 
enthalten) haben an diese Bildungsphilo¬ 
sophie angeknüpft und sie zu ihren speziel¬ 
len pädagogischen Folgerungen hingeleitet, 

7) Inhalt: Heft 1M2, 1918: Karl Muthe¬ 
sius, Ansprache, gehalten am 11. November 
im Seminar zu Weimar. — Friedrich Nie¬ 
bergall, Die Zeichen der Zeit. — Hermann 
Rolle, Schleiermachers Bildungstheorie. 

Heft 1, 1919: Karl Muthesius, Die Zukunft 
der Volksschullehrerbildung. — Walter Vor- 
brodt, Das erste Berliner Seminar für Stadt- 
schuliehrer. 

Heft 2/3: Schluß, bzw. Forts, obiger Auf¬ 
sätze. — Friedrich Niebergall, Die Zukunft 
des Religionsunterrichtes. 

Heft 4: Sigismund Rauh, Befreiung von 
der Schulaufsicht. — W. Vorbrodt, Schluß 
ob. Aufs. 

Heft 5/6: S. Rauh, Schluß d. ob. Aufs. — 
Karl Reumuth, Zur Psychologie und Er¬ 
ziehung der Jugendlichen. 

Heft 7: Hermann Schwartz, Die Lehrer¬ 
bildungsfrage. — Hermann Rolle, Erzie¬ 
hungsnotwendigkeiten im neuen Volksstaate. 

Heft 8 9: Karl Muthesius, Die Lehrerbil¬ 
dung in der Reichsverfassung. — Paul 
Brohmer, Vererbung und Erziehung. 


herigen Abgeschlossenheit zu befreien durch 
ihre Eingliederung in den Gesamtorganis¬ 
mus des nationalen Bildungswesens. Das 
soll dadurch erreicht werden, daß man die 
wissenschaftliche Allgemeinbildung auf eine 
höhere Schule verlegt und für die berufs¬ 
mäßige Fachbildung dann völlig neue For¬ 
men schafft. Ersteres kann nicht einfach 
durch eine mechanische Übertragung auf 
eine der bestehenden höheren Schulen ge¬ 
schehen. Denn deren Bildungscharakter 
entbehrt der direkten Beziehung zur deut¬ 
schen Kultur, während gerade für die be¬ 
sonderen Zwecke der Lehrerbildung eine 
breite national-volkstümlicheBildungsgrund- 
lage ein wesenhaftes Erfordernis ist. Aber 
auch ganz unabhängig davon wird durch 
die Bedürfnisse des nationalen Lebens die 
Schaffung einer neuen Art der höheren 
Schule gefordert, deren Bildungsplan sein 
Lehrgut um seiner Wichtigkeit für die 
deutsche Kultur willen auswählt. Diese 
höhere deutsche Schule (deutsche Ober¬ 
schule, deutsches Gymnasium), die in ihrem 
Lehrplan nur eine fremde Sprache führt, 
soll sich zugleich im Sinne der Einheits¬ 
schulidee organisch aus der deutschen Volks¬ 
schule entwickeln als geradlinige Fortsetzung 
der dort gepflegten Bildung und deshalb 
als Hauptstamm der über Grundschule und 
mittlere Schule hinausgehenden Schulorga¬ 
nisation. Sie soll eine höhere deutsch-volks¬ 
tümliche oder bürgerlich-deutsche Bildung 
vermitteln, die ebendeshalb, weil sie we¬ 
sentlich im deutschen Volkstum wurzelt, 
zugleich auch den besonderen Bedürfnissen 
des Lehrers, der ja den innigsten Zusammen¬ 
hang mit dem Volke erstreben soll, am 
besten gerecht werden wird. 8 ) 

Für die berufsmäßige Fachbildung des 
Lehrers bedarf es dann besonderer neuer 
Veranstaltungen, die sowohl das gesamte 
Gebiet der pädagogischen Theorie (Psy¬ 
chologie, Äslhetik, Ethik, Jugendkunde, 
allgemeine Erziehungswissenschaft, Unter¬ 
richtslehre und Geschichte der Pädagogik) 
wie auch die praktische Berufsvorbereitung 
in einer besonderen Übungsschule umfassen 
müssen. Muthesius lehnt die von einem 
großen Teile der Lehrerschaft geforderte 


8) Einen völligen Um- und Neubau des 
gesamten höheren Schulwesens fordert 
neuerdings Walter Kühn in seiner Schrift: 
„Die neue höhere Schule für die männliche 
Jugend.“ Frankfurt a. M. 1919, Franz Ben¬ 
jamin Auffarth. 


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381 


Zeitschriftenschau 


Verlegung der pädagogischen Berufsbildung 
an die Universität ab, weil diese weder 
die Einrichtungen für die volle pädagogi¬ 
sche Ausbildung, am wenigsten für die 
praktische Vorbereitung, besitzt, noch auch 
die Neigung hat, künftig die Pädagogik in 
der für die Lehrerbildung erforderten Weise 
auszubauen. Es bleibe daher nur übrig, 
eigene Anstalten für diesen Zweck zu grün¬ 
den, pädagogische Hochschulen, die das 
Gesamtgebiet der theoretischen und prak- > 
tischen Berufsausbildung umfassen. Wenn 
diese zugleich in die Universitätsstädte ver¬ 
legt würden, könnten sie sich in enger An¬ 
lehnung an die Universitäten als eine Art 
Zweiganstalten entwickeln, um so auf die 
von einer späteren Zukunft zu erwartende 
Vereinigung mit jenen hinzuarbeiten. — 

Die hier entwickelten Forderungen sieht 
ein weiterer in Heft 8/9 enthaltener Aufsatz 
des Herausgebers: „Die Lehrerbildung 
in der Reichsverfassung“ durch die 
verfassunggebende Arbeit der Deutschen 
Nationalversammlung um ein gutes Stück 
der Verwirklichung entgegengeführt. Denn 
Artikel 143, Absatz 2 der neuen Reichs¬ 
verfassung: „Die Lehrerbildung ist nach den 
Grundsätzen, die für die höhere Bildung 
allgQmein gelten, für das Reich einheitlich 
zu regeln“, kann Muthesius als die end¬ 
liche Anerkennung seines schulpolitischen 
Programms begrüßen, die Lehrerbildung 
durch Verlegung ihres allgemeinwissen¬ 
schaftlichen Teils auf eine höhere Schule 
und der beruflichen Vorbereitung auf eine 
Hochschule aus ihrer bisherigen Isolierung 
zu befreien. Diesen bedeutsamen Entwick¬ 
lungsfortschritt, der zugleich für die Lehrer¬ 
schaft die Anerkennung ihrer seit Jahrzehn¬ 
ten vertretenen Ansprüche auf eine den 
andern wissenschaftlichen Berufen gleich¬ 
wertige Bildung bedeutet, glaubt Muthesius 
für die Sonderbedürfnisse der Lehrerbildung 
am fruchtbarsten machen zu können, indem 
er für diese beiden Teile der Ausbildung 
die deutsche Oberschule und die pädagogi¬ 
sche Hochschule in Anspruch nimmt. In 
dem Ausbau dieser beiden neuen Schulformen 
habe man daher die gegenwärtig wichtigste 
Aufgabe der Schulpolitik zu erblichen. — 

Mit dem gleichen Problem beschäftigt 
sidi in Heft 7 Geh. Oberregierungsrat Her¬ 
mann Schwartz in seinem Aufsatze: 
.Die Lehrerbildungsfrage“. Auch er 
verteilt die Lehrerbildung auf die beiden 
Anstalten des deutschen Gymnasiums und 
der pädagogischen Hochschule. Die allge¬ 


382 


meine Bildung, die das deutsche Gymna¬ 
sium vermittelt und die für den Volksschul¬ 
lehrer zugleich auch ein wesentlicher Teil 
der Berufsbildung sein wird, will der Ver¬ 
fasser aber gegenüber dem Kursus der be¬ 
stehenden drei höheren Schulen um zwei 
Jahre verlängern, da sie nur so für die Auf¬ 
gabe des Lehramts ausreichend sein würde. 
Denn die wissenschaftliche, technische und 
künstlerische Ausbildung, die dazu nötig 
ist, daß der Lehrer in allen Fächern der 
Volksschule unterrichten kann, vermöge die 
pädagogische Hochschule nicht selbst zu 
übernehmen. Diese müsse sich auf die 
theoretische und praktische pädagogische 
Ausbildung der Lehrer beschränken, die 
niemals eine Nebenaufgabe der philosophi¬ 
schen Universität werden könne, sondern 
bei der großen Anzahl der auszubildenden 
Lehrer und Lehrerinnen nur in weitgehen¬ 
der Dezentralisation auf einer größeren 
Anzahl von pädagogischen Hochschulen zu 
leisten sei. — 

Für den Nachweis dieser letzteren Not¬ 
wendigkeit ist besonders lehrreich der Be¬ 
richt, den Muthesius im gleichen Hefte über 
eine Denkschrift: „Zur Reform der Leh¬ 
rerbildung“ gibt, die Seminardirektor Bär 
auf Grund von Beratungen der Konferenz 
preußischer Seminardirektoren und Lehrer¬ 
bildner bearbeitet hat. Bär erhärtet die 
Unmöglichkeit, die Berufsbildung der Leh¬ 
rer an die Universität zu verlegen, durch 
den Hinweis auf zwei Haupthindernisse: 
auf die viel zu große Zahl der studierenden 
Lehrer und Lehrerinnen und die innere 
Unvereinbarkeit der Erfordernisse der be¬ 
ruflichen Bildung mit der speziellen Sonder¬ 
funktion der philosophischen Fakultät. Ein 
Vergleich der Zahl der in den einzelnen 
Provinzen Preußens vorhandenen studieren¬ 
den Lehrer und Lehrerinnen mit der Be¬ 
sucherzahl der philosophischen Fakultät 
der betreffenden Provinzialuniversitäten er¬ 
gibt bei der Annahme einer dreijährigen 
Dauer der pädagogischen Universitätskurse 
eine Vermehrung der Besucherzahl der ver¬ 
schiedenen Fakultäten um etwa 68 % (Ber¬ 
lin) bis 350°/ 0 (Breslau) 9 ). Ein so unge- 


9) Die Vergleichszahlen lauten 



Stud. d. 

Stud. d. 

Vermeh¬ 


phil. Fak. 

päd. Fak. 

rung um 

für Berlin 

4392 

3027 

68% 

„ Kiel 

837 

996 

119% 

„ Königsberg 714 

1594 

223% 

„ Bonn 

2150 

5465 

254% 

„ Breslau 

1108 

3856 

350 V* 


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383 


Zeitschriftenschau 


heures Anschwellen der Besucherzahl müßte das Wesen der pädagogischen oder Bildner 
die philosophische Fakultät völlig umge- hochschule, die eine wissenschaftliche Ab- 
stalten. Gänzlich unmöglich wäre es auch, teilung (zu der auch die theoretische Päda- 
für solche Zahlen von Kandidaten die Ein- gogik gehört), eine technische und künst- 
richtungen für die praktische Ausbildung lerische und eine praktisch-pädagogische 
zu schaffen, was ja schon für die Bewerber umschließt, sie alle bezogen auf^>dbn Ein- 
> um das höhere Schulamt nicht durchführbar heitspunkt der Selbstbildung und der Er- 
war. Namentlich zeigt auch das reiche Ar- Ziehungsaufgabe, der ihr Gravitationszen 
beitsprogramm, das die Denkschrift der I trum ist. Im Gegensatz zu den Organisa- 
Übungsschule zuweist, die absolute Unmög- ! tionsentwürfen von Muthesius, Bär und 
lichkeit, diese Arbeit so nebenher der phi- auch Schwarte, die den allgemeinbildenden 
losophischen Fakultät anzuhängen. - Teil der Lehrerbildung ganz der deutschen 

Zu derselben Ablehnung dieser schul- ! Oberschule zuweisen, wird hier eine er- 
politischen Programmforderung des Deut- j höhte Form derselben in wesenseigene Ver¬ 
sehen Lehrervereins gelangt von einer noch bindung mit dem pädagogischen Teil der 
breiteren Basis aus die soeben erschienene Aufgabe gebracht und so die pädagogische 
Schrift Eduard Sprangers: „Gedanken Hochschule gegenüber jenen andern Kon- 
über Lehrerbildung“, 10 ) die um der struktionen zu einer weit bedeutsameren 
hohen Bedeutung willen, die ihr für dieses j Anstalt erhoben. Zugleich ist mit dieser 
Problem zukommt, auch in diesem Zusain- Neugestaltung eine glückliche Möglichkeit 
menhange kurz erwähnt sei. Spranger fol- i gefunden, die Gefahr der enzyklopädischen 
gert aus der Zweckwidrigkeit der philoso- I Ausbreitung der Sachbildung, die für die 
phischen Fakultät, die durchaus im Dienste Lehrerbildung die Hauptschwiengkeit ist. 

theoretischer Wissenskultui steht, für die zu vermeiden durch die vorgesehene Spal- 

Erregung der vom Lehrer geforderten Bild- tung in eine geisteswissenschaftliche und 

nergesinnung die Errichtung einer neuen eine naturwissenschaftliche Abteilung, deren 

Stätte, an der der eigentliche Bildungsge- jede wieder mit ihren wissenschaftlichen 

danke, der nicht gleichbedeutend ist mit Stammfächern eine Gruppe von Wahlfächern 

dem theoretisch-wissenschaftlichen Geiste, ihres Gebietes oder von technisch-künstle- 

als solcher zu seiner höchsten Darstellung rischen Wahlfächern verbinden kann. Mit 

kommt: einer Bildnorhochschuie. Wie der dieser zwei Jahre umfassenden Sachbildung 

Techniker aus den Wissenschaften das her- geht Hand in Hand die theoretisch-päda- 

auslöst, was technisch bedeutsam ist, so löst gogische Bildung; denn „Pädagogik für sich 

der Menschenbildner aus ihnen heraus, was allein kann man ebensowenig studieren wie 

zur Bildung verhilft, d. h. zur Formung des Philosophie allein“. ") Ein drittes Jahr, das 

Menschen, zur Herausbildung seiner idealen s °g- praktische Jahr, bringt dann eine 

Persönlichkeit. Dazu helfen aber im Kreise aus der Theorie erwachsende praktische 

der Volksschule neben den Wissenschaften Einführung in den Beruf, die, soll es mög- 

auch technische Fertigkeiten, Musik und lieh werden, die Teilnehmerzahl an den 

Turnen mit, zu deren Erwerbung man den verschiedenen Unterrichtsübungenden durch 

Lehrer, ebenso wie für die Wissenschaften d * e Sache selbst gegebenen Bedingungen 

auf die Universität, dann konsequenterweise anzupassen, nur bei starker Dezentralisation 

auch auf die Technische Hochschule, in die der neuen Einrichtung durchführbar ist. - 

Musikhochschule und in die Turnakademie Wir haben in dem Sprangerschen Programm 

schicken müßte. Aber weder Wissenschaft der Lehrerbildung, das aus dem Wesen des 

noch Technik und Kunst vermögen den Er- Bildungsvorganges selbst die neue Orga- 

zieher zu schaffen, sondern die Erziehung nisationsform herauszugestalten weiß, die 

besteht darin, „die objektiven Werte, die am tiefsten durchdachte Behandlung des 

jene erzeugen, in die menschliche Seele Problems zu begrüßen, die, in der Abwei- 

hineinzubilden und ihnen dort eine Einheit sung aller Beweisgründe, die von Macbt- 

zu geben, die nirgends anders möglich ist Einsprüchen und Standesgegensätzen herge- 

als in der lebendigen formenden Seele.“ ") nommen zu werden pflegen, sich als ein 

Von diesem Punkte aus erfaßt Spranger reines Bild der sie gestaltenden Idee dar- 

10) Leipzig 1920, Quelle & Meyer. Ste i—— - 

11) E. Spranger, a. a. 0. S. 44. 12) S. 47. 

Für die Schrittieitung verantwortlich: Professor Dr. Max Cornlcellus, Berlin W 30, LultpoldstraBe 4 

Druck von B. G. Teubner in Leipzig. 






RNATIONALE MONATSSCHRIFT 

WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK 


14. JAHRGANG 


HEFT 5 


APRIL 1920 


Die Zukunft der morgenländischen Studien 

in Deutschland. 

Von Franz Babinger. 


Bis vor hundert Jahren etwa war 
es das natürliche Schicksal der morgen- 
ländischen Studien*) in Deutschland ge- 

1) Unter morgenländischen Studien 
verstehe ich hier zunächst die Beschäfti¬ 
gung mit dem Vorderen Orient. Eine 
Erörterung der Aussigen etwa der In¬ 
dienkunde oder gaijMer Ostasienkunde 
liegt somit nicht Tm Plane dieser Skizze. 
Nur so viel sei darüber zu sagen verstattet, 
daß die unerfreulichen Aussichten, die 
C. H. Becker in seinen „Gedanken zur 
Hochschulreform“ (Leipzig 1919), auf S. 54 
u. a. der Sanskritwissenschaft eröffnet, vom 
rein zahlenmäßigen Gesichtspunkt aus 
mir zu schwarz erscheinen. Die deutsche 
indienforschung hat sich im Laufe der 
letzten Jahrzehnte, nicht zu ihrem Nachteil 
In steter engster Fühlungnahme mit der 
englischen Indologie, zu einer glänzenden 
Schule entwickelt und eine stattliche Reihe 
von jüngeren Kräften herangezogen: nie¬ 
mals wohl gab es so viele Privatdozenten 
für Sanskrit wie heutzutage, womit gleich¬ 
zeitig wieder einmal bewiesen wird, ein 
wie großes Stück deutschen Hochsinns den 
fürchterlichen Zeiten zum Trotz noch im 
Privatdozententum steckt. Wie freilich sich 
deren Aussichten gestalten, wo man, durch 
praktische Rücksichten gezwungen, wenig¬ 
stens an kleineren Hochschulen immer mehr 
die sog. Sprachvergleicher den reinen Sans¬ 
kritisten vorzuziehen beginnt, ist eine an¬ 
dere Sache. (Dieses Bestreben muß letzten 
Endes doch wohl dazu führen, die deutschen 
Indologen von dem Wettbewerb um das 
Sanskrit auszuschalten und an seine Stelle 
eine öde, unfruchtbare Lautschieberei zu 
setzen, zu der man freilich die ausländische 
Wissenschaft ganz und gar nicht nötig hat. 
Gerade die Sanskritkunde wäre geeignet 
dem Ausland zu zeigen, daß es ohne die 
deutsche Beteiligung und Förderung ein¬ 
fach nicht auskommen kann.) Was nun end¬ 
lich die Chinakunde belangt, so kann für 


wesen, daß sie nur von den theologi¬ 
schen Fakultäten getragen, gepflegt 
und gefördert wurden. Lediglich in 
Österreich, wo Handels- und politische 
Verbindungen die Staatsleitung und die 
Bevölkerung praktisch mit den Ländern 
des Ostens in Beziehung brachten, 
konnten und mußten Pflanzschulen zur 
Ausbildung von Dolmetschen und 
Diplomaten entstehen; so ist Wien 
schon sehr frühe eine tüchtige Pfleg¬ 
stätte für die Sprachen der islamischen 
Welt geworden. Im Reiche hingegen, 
wo diese Berührungen sich nur selten 
ergaben, lag ein solches Bedürfnis 
nicht vor, und es waren in der Haupt¬ 
sache gelehrte, vor allem mit dem Al¬ 
ten Testamente gegebene Notwendig¬ 
keiten, die den Blick dem Morgenlande 
zuwandten. Da brachte um die Wende 
des 19. Jahrhunderts die von Sil- 
vestre de Sacy zu Paris begründete 
Orientalistenschule einen plötzlichen 
Umschwung in die Verhältnisse. Aus 
allen Ländern strömten lernbegierige 


dieses sehr zeitgemäße Gebiet auf die Schrift 
des Heidelberger Privatdozenten F. E. A. 
Krause .Die Aufgaben und Methoden der 
Sinologie* (Heidelberg 1919, Weiß) verwie¬ 
sen werden, Ausführungen, denen man von 
einem höheren Gesichtspunkt aus im gro¬ 
ßen ganzen nur beipfiichten muß. Der .Die 
sinologischen Studien in Deutschland“ über- 
schriebene Anhang zu dem ausgezeichne¬ 
ten Werke des Hamburger Chinaforschers 
Otto Franke .Ostasiatisdie Neubildungen“ 
(Hamburg 1911) ist auch jetzt noch in die¬ 
sem Zusammenhang höchst beachtenswert 

13 


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387 Franz Babinger, Die Zukunft der morgenländ. Studien in Deutschland 388 


Jünglinge in die französische Haupt¬ 
stadt, um sich bei dem Meister Beleh¬ 
rung zu holen und mit reichem Wissen 
beladen in die Heimat zurückzukehren 
und eigne Stätten zur Pflege der mor¬ 
genländischen Studien ins Dasein zu 
rufen. Heinrich Leberecht Fleischer, 
der größte deutsche Orientalist des ver¬ 
flossenen Jahrhunderts, zählte zu den 
gelehrigsten Jüngern S. de Sacys, und 
dem Kreis von Schülern, die er in 
Leipzig mehr als fünfzig Jahr hindurch 
um sich scharte, gehören wiederum die 
bedeutendsten Forscher des ln- und 
Auslandes an. Eine unheimliche Be¬ 
triebsamkeit setzte in Deutschland ein. 
Die arabische Sprache, bisher nur als 
Nebensache meistens von Bibelfor¬ 
schern und zum Zwecke ihrer Wissen¬ 
schaft gepflegt, ward zum Gegen¬ 
stand gründlichster sprachlicher Durdh- 
spürung, das geschichtliche, erdkund¬ 
liche, vor allem das dichtenscheSchrift- 
tum : der Araber ward in gelehrten Text¬ 
ausgaben und Erläuterungen verbrei¬ 
tet und in Europa eingebürgert, Glaube 
und Weltweisheit der Anhänger Mo¬ 
hammeds fanden eifrige Ergründer in 
deutschen Gelehrten. An diesem Ort, 
wo von der Zukunft gehandelt wer¬ 
den soll, kann füglich nicht von den 
Großtaten der Vergangenheit gespro¬ 
chen werden. Nur so viel sei vermerkt, 
daß es in der Mehrzahl deutsche Na¬ 
men waren, die jenen Zeitabschnitt ver¬ 
herrlichten und die zur Vertiefung mor¬ 
genländischer Gelehrsamkeit beitrugen; 
in einer Zeit, in der die Phrase 
Triumphe feiert und jenseits der Voge¬ 
sen, selbst in bisher ernst genommenen 
Köpfen, der nationalistische Wortschwall 
derer Beachtung findet, die als Franzo¬ 
sen, mit weiß Gott wieviel germanischem 
Blut im Leibe, von der Herrlichkeit der 
„lateinischen Rasse“ reden, in einer sol¬ 
chen Zeit können auch derartige Bin¬ 


senwahrheiten nicht oft genug wieder¬ 
holt und ins Gedächtnis gerufen wer¬ 
den. So ward im Laufe des 19. Jahr¬ 
hunderts eine Überfülle wissenschaft¬ 
lichen Stoffes angesammelt. Dazu trat, 
daß schon im letzten Viertel des 18. 
Jahrhunderts durch das Bekanntwer¬ 
den der indischen Sprachen die Vor¬ 
stellung, die, wenigstens an den Hoch¬ 
schulen, unter morgenländischen Stu¬ 
dien praktisch nur die semitische 
Gruppe nebst den Literatursprachen 
des Islam, also Türkisch und Persisch, 
verstand, erschüttert und durchbro¬ 
chen wurde. Freilich hatte gerade die¬ 
ser Zweig der Orientalistik besonders 
lange zu kämpfen, bis er sich aus den 
Fesseln romantisch-ästhetischer Ver¬ 
himmelung nicht richtig verstandener 
Lebensformen emporrang zur geschicht¬ 
lich wahren und durchgeistigten Dar¬ 
stellung des Tatsächlichen. 

J. V. v. Scheffel hat in der köstlichen 
Vorrede zu seinem „Ekkehard“ in un¬ 
vergeßlichen Worten über die damals 
drohende Verknöcherung in den alt¬ 
deutschen Studien gespottet. Das Sam¬ 
meln altertümlichen Stoffes könne zu 
einer Leidenschaft werden, meinte der 
Dichter, die zusammenträgt und zusam¬ 
menscharrt, eben um zusammenzuschar¬ 
ren, und ganz vergißt, daß das ge¬ 
wonnene Metall auch gereinigt, ge¬ 
schmolzen und verwertet werden soll. 
Damit werde nichts anderes erreicht 
als ein ewiges Befangenbleiben im Roh¬ 
stoff, eine Gleichwertschätzung des Un¬ 
bedeutenden wie des Bedeutenden, eine 
Scheu vor irgendeinem fertigen Ab¬ 
schließen, weil ja da oder dort noch 
ein Fetzen beigebracht werden könnte, 
der neuen Aufschluß gibt, und im gan¬ 
zen eine Literatur von Gelehrten für 
Gelehrte, an der die Mehrzahl der Na¬ 
tion teilnahmlos vorübergeht und mit 
einem Blick zum blauen Himmel ihrem 


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PRINCETON UNIVERSlTr““"'* 



389 Franz Babinger, Die Zukunft der morgenländ. Studien in Deutschland 390 


Schöpfer dankt, daß sie nichts davon 
zu lesen braucht. So wenig die Bedeu¬ 
tung morgenländischer Gelehrsamkeit 
für die Belange des Staates und des 
Volkes überschätzt werden soll, so si¬ 
cher begründet ist die Meinung derer, 
die auf den bisherigen Betrieb unserer 
orientalischen Studien den Vorwurf 
Scheffels mutatis mutandis anzuwen¬ 
den berechtigt sein wollen. Hat mit 
Ausnahme der Politik auf allen andern 
Gebieten geistigen Schaffens die Er¬ 
kenntnis bereits erfreulich an Boden 
gewonnen, wie unsäglich unser Den¬ 
ken und Empfinden unter der Herr¬ 
schaft der Begriffe und Schlagwörter 
geschädigt wurde, so daß sich bereits 
da und dort Rüstung zur Abkehr aus 
dem Abgezogenen, Blassen, Gedank¬ 
lichen zum Greifbaren, Sinnlichen, Far¬ 
bigen, statt müßiger Selbstbeschauung 
des Geistes Beziehung auf das Leben 
und die Gegenwart, statt der Zerglie¬ 
derung die Zusammenfassung voll¬ 
zieht, so haben vor allem die letzten 
Kriegsjahre gezeigt, wie erschreckend 
richtig das Volksempfinden urteilt, 
wenn sich mit seiner Vorstellung vom 
Orientalisten der Begriff des Ausbun-, 
des weltfremden, überflüssigen Gelehr¬ 
tentums unangenehm zwanglos ver¬ 
bindet. 

Um denen, die auf diese Worte hin 
einen Vorschlag zur Vervolkstümli- 
chung und Verflachung der morgen¬ 
ländischen Studien erwarten, indem 
man sie etwa aus dem Hochschulbe¬ 
trieb heraus in den der Handels- oder 
gar der Volkshochschulen verweist, von 
vornherein den Grund zu dieser Be¬ 
fürchtung zu nehmen, sei gesagt, daß 
man damit der Orientalistik wohl den 
schlechtesten Dienst erwiese und sie 
jenes Ansehens und jener Größe be¬ 
raubte, das gerade die Vertreter dieser 
Wissenschaft auch im Auslande zu 


Verkündern deutscher Geistesgröße als 
einer unzerstörbaren Macht seit langem 
gestempelt hat. Aber gerade der sehn¬ 
liche Wunsch, daß die deutsche Orien¬ 
talistik auch fürderhin dazu beitrage, 
den Ruf des so schmählich geschände¬ 
ten deutschen Namens weiter macht¬ 
voll zu künden, darf die Augen nicht 
blind machen gegenüber den Forderun¬ 
gen der Gegenwart, der auf die Dauer 
sich zu entziehen nur mit der Schädi¬ 
gung zeitgemäßer wissenschaftlicher 
Geltung erkauft werden könnte. 

Dem etwaigen Einwand, daß man in 
der Ansicht des Volkes nicht einen 
Gradmesser für die Wertung einer Wis¬ 
senschaft erblicken könne, läßt sich die 
gewiß berechtigte, vom Volk erhobene 
Forderung entgegenhalten, daß in der 
Gegenwart mit Fug und Recht die mög¬ 
lichste Dienstbarmachung verlangt wer¬ 
den dürfe, jeder Pfennig vor seiner 
Verausgabung angesehen werden müsse. 
Mit der Anerkennung dieses Verlangens 
setzt man sich noch lange nicht jenen 
unentwegten „Politikern“ gleich, die in 
der Beseitigung aller nicht rein prak¬ 
tischen Nutzfächer vom Lehrplane der 
Universitäten ein Endziel ihrer partei¬ 
lichen Ansprüche erblicken. 

2 . 

Der Weltkrieg hat wie in so vielem 
auch in der Orientalistik gezeigt, daß 
die Ausnützung unserer wissenschaft¬ 
lichen Kenntnisse vom Morgenland zum 
Wohle des Vaterlandes nicht das Er¬ 
gebnis zeitigte, das hoffnungsfreudige 
Seelen von ihr erwarteten. Als gleich 
im Herbst des Jahres 1914 die Frage 
des sog. Heiligen Krieges die deutsche 
Allgemeinheit beschäftigte, ließen sich 
zwar im Blätterwalde häufig Stimmen 
vernehmen, die von dieser Einrichtung 
zu sprechen die Berechtigung zu ha¬ 
ben glaubten. In all dem bekundete 

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393 Franz Babinger, Die Zukunft der morgenländ. Studien in Deutschland 394 


sit auribusl, nein .. .!) 3 ); daß sich aber 
ein süddeutscher Lyzealprofessor da¬ 
zu hergab, vor etwa 300 Zuhörern 
das Osmanische (in altbayrischer Beto¬ 
nung!) zu lehren, ist eine geradezu un¬ 
entschuldbare Bloßstellung eines aka¬ 
demischen Grades gewesen und ein 
von keuschen Gelehrten beseufzter 
Skandal. Unus multorum! Wenn auch 
an deutschen Hochschulen das Tür¬ 
kische Mode wurde, so sind daran sicher¬ 
lich nicht in dem Maße die Orientalisten 
schuld, die diesen Wünschen glaubten 
Rechnung tragen zu sollen, sondern wohl 
eher die Unterrichtsverwaltung, die 
etwa vom Professor für Assyrisch ver¬ 
langte, daß er einen Lehrauftrag für 
Türkisch übernehme. 4 ) Die weitere Folge 


3) Für Einbildungskräftige sei gesagt, daß 
er den Ausdruck lautlich mit einer alt- 
testamentlichen Person (vgl. 1. Mos. 38, 4, 
8—10) in Verbindung brachte und auch den 
Begriff in Beziehung zu jener Figur setzte. 

4) Während zu Ausgang des 19. Jahr¬ 
hunderts in den morgenländischen Studien 
wie überall die Pfade, auf denen Gelehrte 
und Forscher wandelten, sich immer stren¬ 
ger schieden, immer schmäler wurden, auf 
stets kleinere Ziele hinführten, indem ge¬ 
naue sprachliche und sachliche Ermittlungen 
in unermeßlicher Zahl sich häuften und eine 
immer weitergehende Spaltung der Ein¬ 
sichten und der geistigen Arbeit überhand 
nahm, erwartet, ja verlangt man anderseits 
nicht selten heute noch vom Orientalisten 
schlechtweg, daß er auf den verschieden¬ 
sten Gebieten dieser ungeheuren Wissen¬ 
schaft beschlagen, daß er „Mädchen für alles“ 
sei. Der frühverstorbene Straßburger Iranist 
und Turkologe Paul Horn hat gerade die¬ 
sen Übelstand in einem beweglichen Klage¬ 
ruf einmal grell beleuchtet (vgl. W. Gei¬ 
er und E. Kuhn, Grundriß der iranischen 
hilologie II, 551 ff., Straßburg 1904). Solch 

übertriebene Anforderungen an das Fach¬ 
wissen des einzelnen mußten dann eben 
bei überheblichen und selbstüberzeugten 
Naturen den weiteren, wegen seines uner¬ 
quicklichen Gefolges von Abgeschmackt¬ 
heiten, Unzulänglichkeiten, ja Ungeheuer¬ 
lichkeiten, womöglich noch betrüblicheren 
Mißstand zeitigen, daß diese, in fester Über¬ 
zeugung von ihrer Allwissenheit, über al¬ 
les das Morgenland Betreffende ein zustän¬ 
diges Urteil sich bilden zu können und zu 


war eine Flut von Lehrbüchern für das 
Türkische, mit denen sich mancher Ge¬ 
lehrte um das auf anderm Gebiete 
wohlbegründete wissenschaftliche An¬ 
sehen brachte. Die Überzeugung frei¬ 
lich, daß das frohe Bewußtsein nicht 
genüge, auf einer flüchtigen Fahrt nach 
Stambul mit einem Lastträger sich zur 
Not verständigt zu haben, um mit Er¬ 
folg und Nachhaltigkeit im Osmani- 
schen unterrichten zu können, setzte 
sich bei Lehrenden und Lernenden er¬ 
freulich bald durch und machte jener 
Tragikomödie ein verhältnismäßig ra¬ 
sches Ende, die ein unerfreuliches 
Schlaglicht auf die sonst so gründ¬ 
liche deutsche Wissenschaft warf. Man 
erhielte eine völlig falsche Vorstellung, 
wenn man etwa vermutete, daß in 
Deutschland sich nicht Gelehrte fan¬ 
den, die jene Sprachen auch wirklich 
verstanden und mit einer Geläufigkeit 
redeten, die sie in nichts von dem Ein- 
gebornen unterschied. Aber man hat 
diese Männer fast niemals auf den Platz 
gestellt, auf dem sie dem Vaterland 
und nebenbei ihrer eignen Wissen¬ 
schaft unschätzbare Dienste hätten lei¬ 
sten können. Zum Beweis dessen sei an 
Enno Littmann in Bonn erinnert, ein 
Sprachgenie sondergleichen, der nicht 
nur fast alle europäischen Sprachen, 
sondern auch die östlichen (darunter 
eine Anzahl arabischer Mundarten) mit 
einer unerreichten Meisterschaft be¬ 
herrscht. Statt ihn nach dem Osten zu 
schicken, mußte er Jahre hindurch auf 


müssen währiten. Auf diesen Umstand mag, 
zum Teil wenigstens, die unleugbare Tat¬ 
sache zurückzuführen sein, daß in wenig 
Wissensgebieten seit alters (über einen be¬ 
sonders grassen Fall aus dem 17. Jahrh. 
vgl. meine Ausführungen in „Die Welt 
des Islams“, VII. Jahrg. Berlin 1919, S. 124ff.) 
die gelehrte Fehde so unerquickliche For¬ 
men an- und einen so breiten, so unver¬ 
hältnismäßig breiten Raum eingenommen 
hat wie in der Orientalistik. 


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39 => Franz Babinger, Die Zukunft der morgenländ. Studien in Deutschland 396 


einer Berliner Kanzlei in einer Stelle 
seiner vaterländischen Pflicht genügen, 
Idie ein Anfänger in einer Wissenschaft 
gut hätte ausfüllen können, in der er 
König und Meister ist. 

Fas est et ab hoste doceri. Der alte 
Spruch des Ovid kann uns auch heute 
noch nutzen, wenn auch die Belehrung 
reichlich spät kommt. Es war den Ken¬ 
nern der östlichen Verhältnisse schon 
während des Krieges kein Geheimnis 
mehr, daß die Gegner, vorab die Eng¬ 
länder, alle Orientalisten und Orient¬ 
reisenden, Frauen eingeschlossen, in 
das Kampfgebiet entsandten, wo sie der 
gemeinsamen Sache unbeschreibliche 
Förderung brachten. Erst jetzt wird 
beispielsweise der ungeheure Einfluß 
des Oxforder Arabienforschers und 
Archäologen T. E. Lawrence in Ein¬ 
zelheiten bekannt 5 ) Dieser Orientalist 
ist einer der romantischen Figuren des 
Weltkrieges, der auf einem der weniger 
beachteten, aber keineswegs unwichti¬ 
gen Kriegsschauplätze seine Hand ent¬ 
scheidend im Spiele hatte. Den „unge¬ 
krönten König von Arabien“ nannte man 
ihn nicht ohne guten Grund. War er es 
doch, der die Araber auf Seite des Viel¬ 
verbandes brachte, das Königreich Hed- 
schaz begründete und ein arabisches 
Heer auf die Beine brachte, das in die 
Kämpfe um Syrien erfolgreich eingriff. 
Lawrence ist wohl einer der größten le¬ 
benden Kenner Arabiens und seiner Al¬ 
tertümer, der die sämtlichen Mundarten 

5) Thomas Edward Lawrences (geb. 
1888 zu Carnarvon, Wales) so abenteuerlich 
bewegten Lebenslauf führt soeben der ame¬ 
rikanische Zeitungsschreiber Lowell Tho¬ 
mas der britischen Welt mündlich (Albert 
Hall und Covent Garden Opera House vor 
angeblich einer halben Million Zuhörern) 
und schriftlich (vgl. The Strand Magazine, 
59. Band, 1. u. 2. Heft, London 1920, „to be 
continued“!), Dichtung und Wahrheit an¬ 
mutig und bedachtsam mengend, als den 
einer „of the most remarkable and roman- 
tic figures of modern times“ vor Augen. 


Mittelarabiens geläufig spricht. Auf die¬ 
ser seltenen Fähigkeit, auf diesem Ver¬ 
ständnis des arabischen Wesens und sei¬ 
nen Kenntnissen beruhten seine Erfolge. 
Bei Eintritt des Krieges unterbrach er 
seine Forschungsreise im Innern Ara¬ 
biens und diente zunächst als Leutnant 
in der Kartenabteilung des britischen 
Hauptquartiers zu Kairo. Aber knir¬ 
schend unter dem zopfigen Zwang der 
Armeeverordnungen und nach man¬ 
cherlei Reibungen mit dem General 
Sir Archibald Murray, dem damaligen 
Oberbefehlshaber der englischen Trup¬ 
pen im' Osten, nahm er Urlaub, um einen 
Vertreter des englischen Auswärtigen 
Amtes nach dem Roten Meere hinunter 
zu begleiten. Hier war die arabische Um- 
sturzbewegung mit zeitweiligen Erfol¬ 
gen gerade im Gang, und nachdem er 
zwei Wochen im Lande geweilt hatte, 
gewann Lawrence die Überzeugung, daß 
die Möglichkeit, ein ansehnliches ara¬ 
bisches Freischärlerheer zu bilden, ge¬ 
geben sei. Es gelang denn auch dem 
jungen Offizier, nicht nur eine einzig¬ 
artige Armee von rund 200000 Mann 
aufzustellen und sich ihr Vertrauen zu 
erhalten, sondern auch einen wirkungs¬ 
vollen Kleinkrieg gegen die türkischen 
Verbindungslinien einzuleiten. Auf je¬ 
den Fall verursachte er den Osmanen 
derartigen Schaden, daß sie eine Be¬ 
lohnung von 100000 Pfund auf seinen 
Kopf aussetzten. Mit allen Kriegsorden 
geschmückt, die die englische und die 
französische Regierung zu vergeben 
hatten, begab sich Lawrence, nach ein¬ 
zigartiger erfolgreicher Tätigkeit zum 
Oberst befördert, in die Heimat 
zurück; mit der gleichen Selbstver¬ 
ständlichkeit, mit der er seine Alter¬ 
tumsforschungen aufsteckte, als der 
Kriegsruf an ihn erging, hängte er das 
Soldatenhandwerk an den Nagel, als er 
seine Aufgaben erfüllt hatte, und kehrte 


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397 F ranz Babinger, Die Zukunft der morgenländ. Studien in Deutschland 398 


in die Weltabgeschiedenheit seiner Ox- 
forder Studierstube zurück. 

Gewiß, auch bei uns hatte man aben¬ 
teuerliche Pläne, und an Unterneh¬ 
mungslust hat es hier so wenig ge¬ 
fehlt wie drüben auf feindlicher Seite. 
Aber all die kühnen Taten, mit denen 
man orientkundige Deutsche während 
des Weltkrieges betraute, zeigen zumeist 
schon in ihren Plänen und dann in ihren 
Ausführungen, daß sie mit einerschwer 
beschreibbaren Unkenntnis der Verhält¬ 
nisse ins Werk gesetzt worden waren 
und alle Voraussetzungen vermissen 
ließen, die einen nachhaltigen und der 
Opfer werten Erfolg vefbürgten. Es ge¬ 
nügt hier den Namen Oskar v. Nie¬ 
dermayers zu nennen, der, in ähn¬ 
licher Eigenschaft wie Lawrence ver¬ 
wendet, gerüstet und unterstützt, dem 
Krieg im Orient unabsehbare Wendun¬ 
gen hätte geben können. 

Ein Grundfehler wäre es, wollte man 
für all diese Mißgriffe in unseren po¬ 
litischen und kriegerischen Maßnahmen 
im Morgenland etwa die deutschen 
Orientalisten verantwortlich machen. 
Daß unsere völlig unzureichende diplo¬ 
matische Vertretung im Orient, vor al¬ 
lem aber die nun schwer gerächte Ver¬ 
nachlässigung unserer Orientdeutschen 
die Hauptschuld an diesen Unverständ¬ 
lichkeiten tragen, ist heute wohl unbe¬ 
strittene Tatsache. Trotz alledem hätte 
manche Enttäuschung, mancher fol¬ 
genschwere Fehlschlag vermieden wer¬ 
den können, wenn bei uns der Betrieb 
der morgenländischen Studien nicht seit 
langen Jahren eine Richtung genommen 
hätte, die nicht immer mit praktisch 
Verwertbarem gleichlief. Die Ursachen 
liegen offen zutage. Während man in 
Frankreich und in England seit lan¬ 
gem zum orientalischen Lehrbetrieb 
Gelehrte verwendet, die sich durch län¬ 
geren Aufenthalt im Morgenland eine 


hinreichende Sachkenntnis von Land, 
Leuten und Sprachen erworben hat¬ 
ten, hat man in Deutschland auf derlei 
Dinge erstaunlich wenig Wert gelegt. 
Dem Einwurf, daß bei den Englän¬ 
dern die weltumspannenden Beziehun¬ 
gen es ermöglichten, ihre Orientalisten 
mit den Ländern des Aufgangs leichter 
in engere Fühlungnahme zu bringen, 
kann man die unumstößliche Tatsache 
entgegenhalten, daß es eben Zweige 
der Wissenschaft gibt, die nicht von 
der Stube aus gefördert und nutzbar 
gemacht werden können. 6 ) So gut man 
beispielsweise bei einem Geographen, 
der über Südamerika eine brauchbare 
Vorlesung halten muß, billigerweise 
die vorherige Bereisung des Landes zur 
Voraussetzung nimmt, ebensogut darf 
man fordern, daß ein Orientalist sich 
wenigstens einmal im Leben gründlich 
und nicht als Cook-Reisender („Kuki“) 
5n den Zonen umgesehen habe, die er 
zum Gegenstand seines Berufes erwählt 
hat. Daß S. de Sacy etwa oder un¬ 
ser verehrter Altmeister, der 84 jährige 
Theodor Nöldeke in Straßburg, in 
.seinem langen Leben, wie er oft scher¬ 
zend meint, nach Osten niemals über 
Wien vorgedrungen sei, scheint mir 
ebensowenig gegen die Berechtigung 
jener Forderung zu beweisen, da, nun 
da eben nicht jeder mit der gleichen 
erstaunlichen Anpassungsfähigkeit und 
Vergegenwärtigungskraft sich in die 
Gedankenwelt des Ostens einzuleben 
versteht, wie dies Nöldeke, Fleischer 
oder de Sacy gelang. Dann liegt gewiß 
auch nicht die Hauptstärke dieser Ge- 

6 ) Was Aloys Sprenger, der glänzende 
Orientforscher, vor mehr als 50 Jahren auf 
S. XX—XXI des 1. Bandes seines Werkes 
„Das Leben und die Lehre des Mohammed“ 
(2. Ausg., Berlin 1869) sagte, gilt leider heute 
noch. Für unsäglich viele bedeutet das 
Morgenland eben nicht mehr als eine statt¬ 
liche Zahl sprachlicher und geschichtlicher 
dcnoglai. 


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399 Franz Babinger, Die Zukunft der morgenländ. Studien in Deutschland 400 


lehrten in der Richtung orientalisti- 
scher Betätigung, wie sie die Zukunft 
mit größerem Nachdruck denn jemals 
fordern wird. Daß ein Verweilen im 
Lande selbst überdies das Verständnis 
morgenländischer Schriftsteller erleich¬ 
tert, ist selbstverständlich. Mit den Wor¬ 
ten: 

Wer den Dichter will verstehen. 

Muß in Dichters Lande gehen 

leitet Goethe seine Noten zum Westöst¬ 
lichen Diwan ein. Sie gelten gewiß auch 
von den morgenländischen Studien, 
die das Einleben in eine Welt ver¬ 
langen, die von der unsrigen durch 
Denkart, Sitte, Gefühl und Glaube un¬ 
endlich weit entfernt ist. Die Erkennt¬ 
nis davon scheint freilich in weitesten 
Volkskreisen noch nicht zu der wün¬ 
schenswerten Tiefe durchgedrungen zu 
sein. Sonst wäre während des Krieges 
wohl das unsäglich dreiste Treiben je¬ 
ner Persönlichkeiten nicht in dem Maße 
erfolgreich gewesen, „deren Namen die 
Erwähnung nicht verdienen, die jeder¬ 
mann kennt, die unter dem Anschein 
wissenschaftlicher oder wirtschaftlicher 
Interessen und, so unberufen sie waren, 
allein von der alten Regierung heran¬ 
gezogen und unterstützt, schon ein 
Jahrzehnt vor dem Kriege und vor al¬ 
lem während des Krieges ihr unerhört 
verderbliches Wesen in der Türkei ge¬ 
trieben haben“. In diesem Satz hat sich 
ein so gewissenhafter Forscher und 
Orientkenner wie E. Herzfeld in sei¬ 
nem lesenswerten Aufsatz über „Ver¬ 
gangenheit und Zukunft der Erfor¬ 
schung Vorderasiens“ (Der neue Orient- 
IV. Bd., 1919, 7./8. Heft) gegen diese 
Leute gewandt, die die deutsche Öffent¬ 
lichkeit so lang in verheerender Weise 
über Fragen des Orients irreführen 
durften. Der ehrliche Blick erschrickt 
vor dem Wüste von Unwahrheiten, 
Flachheiten, Unrichtigkeiten, durch den 


die öffentliche Meinung bei uns ge¬ 
fälschtwurde. Schriften und Abhandlun¬ 
gen über die schwierigsten Fragen der 
Orientpolitik und -Wirtschaft flössen 
aus der Feder gewissenloser Dilettanten, 
und ein gewiegtes Urteil über türkisch¬ 
arabische Zustände schien eine Spie¬ 
lerei für jeden, der einmal im Leben 
etwa die Halbmonde der Moscheen von 
Stambul oder gar Damaskus im Schein 
der östlichen Sonne erglänzen sah. 
Also, daß ein gutmütiger Gesell über 
all dem Gerede und Geschreibe zu dem 
Glauben gelangen mußte, in Deutsch¬ 
land wimmle es von erfahrenen Orient¬ 
kennern. Wenn diesem unerwünschten 
Gebaren seitens der zünftigen Erfor¬ 
scher des Morgenlandes nicht mit der 
gebührenden Schärfe entgegengetreten 
wurde, so liegt dies wohl weniger an 
der bescheidenen Zurückhaltung unse¬ 
rer Orientalisten oder etwa an der Ver¬ 
bitterung, daß sie nicht befragt und 
zu Rate gezogen wurden, sondern wohl 
eher daran, daß die Zahl der wirklich 
gründlichen Landeskenner bei uns nicht 
so zahlreich ist, als man gemeiniglich 
annehmen möchte. 

3. 

Erhebt sich also für die Zukunft die 
unabweisbare Forderung einer mehr 
praktischen Veräußerlichung im mor¬ 
genländischen Studienbetrieb, so tritt in 
diesem Zusammenhang die Frage auf, 
(wie sie sich im Rahmen der bestehenden 
Verhältnisse am besten erfüllen läßt 
Daß wir nicht nur kaufmännisch, son¬ 
dern auch wissenschaftlich, für die 
nächste Zeit wenigstens, von einer Be¬ 
tätigung im Orient selbst ausgeschlos¬ 
sen bleiben, darüber haben uns z. B. 
die Gewaltverfügungen der Engländer 
gegen F. Sarre, dem man die Einreise 
nach Persien rundweg verwehrte, nicht 
im unklaren gelassen. Nicht einmal die 


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401 Franz Babinger, Die Zukunft der morgenländ. Studien in Deutschland 402 


Bergung der wissenschaftlichen Aus¬ 
beute gestattet man, indem man Herz¬ 
felds und Sarres prachtvolle Grabungs¬ 
funde von Samarra ohne auch nur den 
Schein eines Rechtes nach London ver¬ 
schleppte, So wenig also von dieser 
Seite Rücksichten zu erwarten sind, so 
wenig können wir durch sie an be¬ 
scheidenen praktischen Umgestaltungen 
im orientalistischen Lehrbetrieb gehin¬ 
dert werden. Im Ausland, vorab in Eng¬ 
land, hat man schon seit langem den 
morgenländischen Sprachunterricht in 
die Hände sogenannter Lektoren ge¬ 
legt. Welche Entlastung diese Ma߬ 
nahme bedeutet, kann ein Blick in die 
Vorlesungsverzeichnisse lehren, wo 
mancher Gelehrte, der gerne einem grö¬ 
ßeren Teilnehmerkreis durch Abhalten 
zusammenfassender Sachvorträge ent¬ 
gegenkäme, im Drange philologischer 
Betätigung nicht die Zeit dazu findet. 
Die reichere Ausnützung der Lektor- 
Einrichtung (man hat bisher an einigen 
Universitäten bereits türkische Lekto¬ 
ren zugezogen) käme sicherlich auch 
dem praktischen Sprachunterricht zu¬ 
gute. Daß eine gründliche, allseitige 
Kenntnis vom Sprachbau nicht gleich¬ 
bedeutend mit der Fähigkeit ist, sich in 
der betreffenden Zunge auch geläufig 
auszudrücken, ist eine alte Tatsache. 
Eine praktisch verwertbare Sprach- 
kenntnis wird also in der Hauptsache 
wohl nur auf Hochschulen vermit¬ 
telt werden können, an denen ein 
sprechgeübter, landerfahrener Gelehrter 
wirkt. Wenn die Zahl solcher Leute 
in nichtdeutschen Ländern auffallend 
groß ist, so ist daran gewiß auch der 
Umstand schuld, daß man eine statt¬ 
liche Anzahl früher im Konsulatsdienst 
tätig gewesener Männer zuzog. Ein 
Blick in die Geschichte etwa der fran¬ 
zösischen Orientalistik lehrt zur Ge¬ 
nüge, daß gerade die bedeutendsten 


Forscher aus dieser Laufbahn hervor¬ 
gegangen sind. Auch wir besitzen eine 
Reihe glänzender Gelehrter, die sich 
durch langes Verweilen im Morgen¬ 
land eine beneidenswerte Kenntnis von 
Land, Leuten und Sprachen erworben 
haben; es sei hier nur an Namen wie 
(f) A. D. und J. M. Mordtmann, (f) P. 
Schröder, (f) J. G. Wetzstein erinnert 
die Heranziehung von Kräften wie diese, 
die an wissenschaftlicher Bedeutung hin¬ 
ter wenigen zurückstehen, könnte nur 
Sm Interesse unserer Wissenschaft lie¬ 
gen. Da neuerdings die Meinung, daß 
lediglich ein Jurist zur Übernahme der 
Konsulatsgeschäfte geeignet sei, nicht 
unbegründeten Zweifeln begegnet, so 
wäre vielleicht der Orientalistik in 
der Weise ein guter Dienst erwie¬ 
sen, daß man jüngere Forscher, denen 
eigne Mittel ausgedehnte und kostspie¬ 
lige Reisen nicht erlauben, zum Konsu¬ 
latsdienst heranzieht und ihnen später 
etwa den Übertritt an eine Hochschule 
gestattet. Die ohnedies nicht sehr zahl¬ 
reichen Stiftungen zur Förderung orien¬ 
talischer Studien haben bei der derzei¬ 
tigen Geldentwertung nahezu jegliche 
Bedeutung verloren. Zur Unterstützung 
von Forschungsreisen kommen sie hin- 
für ebensowenig in Betracht wie für 
die Drucklegung morgenländischer 
Werke. Der zumal während des Krie¬ 
ges ernstlich erwogene Plan, in Stam- 
bul, ähnlich wie in Athen und Rom, 
eine Anstalt zu begründen, an der jün¬ 
gere Gelehrte ihren Studien obliegen 
und durch Reichsunterstützung die 
Muße zu wissenschaftlichen Arbeiten 
aufbringen können, hat durch die grau¬ 
same Wendung des Geschickes eine 
jähe Zerstörung erfahren. Dennoch wäre 
vielleicht die Schaffung sog. wissen¬ 
schaftlicher Attaches an den Haupt¬ 
gesandtschaften des Orients ein Vor¬ 
schlag, dem nicht allein um der öst- 


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403 Franz Babinger, Die Zukunft der morgenländ. Studien in Deut 


liehen Studien willen näherzutreten ; Museum für Völkerkunde, auch 



sich empfehlen dürfte. Wird auch der einige neuorientalisch gerichtete Ge- 
Umschwung der Verhältnisse nicht ver- lehrte eine dauernde und lohnende 
hindern können, daß den neuorientali- Stätte. Die Lehrtätigkeit ist nicht nach 
sehen Studien an deutschen Hochschu- jedermanns Neigung und Geschmack. 


len nach wie vor die Teilnahme und Nach wie vor macht allein der Vortrag 


Unterstützung erhalten bleiben muß, 
so kann man nicht ohne bange Sorgen 
der Zukunft der altmorgenländischen 
Wissenschaft entgegensehen. Abgesehen 
davon, daß fürderhin nur ganz wenige 
große Universitäten sich den Luxus 
einer Zweiteilung des orientalischen 
Lehrstuhls werden gestatten dürfen, in¬ 
dem ein Gelehrter etwa Assyrisch, Su¬ 
merisch usw., der andere aber die isla¬ 
mischen Studien pflegt, wird die not¬ 
wendige Betonung praktischer Ge¬ 
sichtspunkte wohl dazu führen, den 
einen oder andern mit einem Assyrio- 
logen besetzten Lehrstuhl nach seiner 
Erledigung etwa durch einen Islam- 
forscher zu besetzen. Eine gewisse Ent¬ 
schädigung freilich bilden die Mu¬ 
seen, die für ihren Betrieb assyrio- 
logisch und altorientalisch geschulte 
Kräfte benötigen. Aber abgesehen da¬ 
von, daß diese Gelehrten dann als Leh¬ 
rer nicht in Frage kommen, weil an 
den Museumsorten wie Berlin, Leipzig, 
München ohnedies im Lehrplan der 
Assyriologie Rechnung getragen wird, 
ist die Zahl dieser Unterbringungsmög¬ 
lichkeiten eben auch nur beschränkt. 
Schließlich wird aber an vielen Hoch¬ 
schulen die Assyriologie von Alttesta¬ 
mentlern mitversorgt, deren fachliche 
Gebundenheit durchaus nicht hindert, 
daß unter ihnen sich eine Reihe glän¬ 
zender Sprachkenner befindet, und je¬ 
mand, der sich tiefer in dieses Gebiet 
hineinzuarbeiten beabsichtigt, wird nicht 
um den Zwang herumkommen, an einer 
großen Hochschule einen Sonderfach¬ 
mann zu hören. Die Museen bieten, wie 
das Kaiser-Friedrich-Museum oder das 


des Redners Glück, und es mag man¬ 
chen Orientalisten geben, der zwar ein 
angesehner Forscher und Büchergelehr¬ 
ter ist, dessen Stärke aber auf einem 
ganz andern Gebiet als auf dem des 
Vortrags liegt. Diesem Schlag von Ge¬ 
lehrten müßte in erster Linie der Zu¬ 
tritt zur Museumslaufbahn offen ge¬ 
halten werden, wo sie, umgeben von 
ihren Sammlungen und Büchern, sich 
weit wohler und sichrer fühlen würden 
als auf der Lehrkanzel. 

In diesem Zusammenhang wäre wohl 
auch der schwierigen Frage näherzu¬ 
treten, inwieweit sich etwa die Aus¬ 
gestaltung des Orientalischen Seminars 
in Berlin zu einer Ausland-Hochschule 
empfiehlt. Die Einwände, die Adolf 
v. Harnack vor zwei Jahren in dieser 
Zeitschrift 7 ) mit guten Gründen dage¬ 
gen erhoben hat, lassen sich in ihrer 
Gesamtheit jetzt vielleicht nicht mehr 
aufrechterhalten. Die Überzeugung von 
der Notwendigkeit der Auslandstudien 
hat sich längst durchgesetzt; eine be¬ 
sondere Betonung des Morgenlandes 
wird sich dabei auch trotz des gewalt¬ 
sam unterdrückten deutschen Einflus¬ 
ses im nahen und fernen Osten nicht 
umgehen lassen. Die Gewißheit, daß 
einschlägige Unterrichtsgegenstände wie 
Sprach- und Länderkunde, Gesell¬ 
schaftslehre und Volkskunde etwa in 
Berlin oder Hamburg eine ausreichende 
Pflege finden werden, darf die übrigen 
Hochschulen des Reiches nicht in das 
laue Bewußtsein einwiegen, daß des¬ 
halb anderwärts nichts hierfür ge¬ 
schehen müsse. Im bescheidenen Rah- 

7) 13. Jahrgang, Sp. 181 ff. 


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405 Franz Babinger, Die Zukunft der morgenländ. Studien in Deutschland 406 


men sollte auch an den kleineren Uni¬ 
versitäten der praktischen Orientkunde 
Rechnung getragen werden. Daß das 
Orientalische Seminar allein nicht aus¬ 
reicht, eine richtige Kenntnis der öst¬ 
lichen Verhältnisse zu vermitteln, hat 
ebenfalls der Krieg erwiesen. Sonst 
hätte die Zahl derer, die sich im Mor¬ 
genland dtwa wie in der Mark Bran¬ 
denburg einrichteten und benahmen, 
nicht so erschreckend hoch sein kön¬ 
nen. Das Maß von Unverstand, mit 
dem man z.B. unsere türkischen Bun¬ 
desgenossen behandelte, übertrifft jede 
noch so verstiegene Vorstellung. Daß 
der gute Wille, sich dem fremden 
Volkstum anzupassen, allein nicht aus¬ 
reicht, haben viele unerfreulich deut¬ 
lich gezeigt, die sich mehrere Jahre im 
Orient aufhielten. Ihr Benehmen war teil¬ 
weise ebenso unverständlich wie älterer 
Orientfahrer schriftliche Ergüsse, die 
nach Zettelkästen schmeckten oder, 
um mit Pytheas zu sprechen, nach der 
Lampe rochen. 

Die Gefahren, die mit einem derartig 
gerichteten Kurs auf einem nur schein¬ 
bar so abgelegenen Gebiet wie die mor¬ 
genländischen Studien erwachsen müs¬ 
sen, hat man im Ausland längst er¬ 
kannt. Und wenn bei Vergleichen, wie 
sie etwa T. W. Rhys Davids in seinem 
Aufsatz „Oriental studies in England 
and abroad“ darlegte (Proceedings of 
the British Academy, I. Bd.), Deutsch¬ 
land verhältnismäßig glänzend ab- 
schnitt, so ist das auf die ausschlie߬ 
liche Verwertung zahlenmäßiger Unter¬ 
lagen zurückzuführen. Zahlen entschei¬ 
den eben trotz J. F. Benzenberg nichts 
oder nur wenig. 8 ) Höchst lehrreich we¬ 
gen de r darin enthaltenen Gutachten 

8) Das gleiche gilt m. E. auch von dem 
Aufsatz S. Levis „L’enseignement de l’Orien- 
talisme en France. Son £tat actuel — les r£- 
formes nöcessaires“ in der Revue de syn- 
thöse historique, XX. Band, S. 261—277. 


auch von Großkaufleuten, Reisenden 
und Ausländern sind für die Neuge¬ 
staltung des morgenländischen Stu¬ 
dienbetriebes in Deutschland die „ML- 
nutes of evidence taken by the Com¬ 
mittee appointed by the Lords Com- 
missioners of His Majesty’s Treasury 
to consider the Organization of orien¬ 
tal studies in London“ (London, 1909, 
324 Ss.) sowie der „Report of treasury 
committee on the Organization of orien¬ 
tal studies in London“ (London, 1909, 
Wyman). 9 ) Die Berücksichtigung der 
dort vor allem auch um des auswärti¬ 
gen Regierungsdienstes willen getrof¬ 
fenen Bestimmungen hat zweifellos ein 
gut Teil der englischen Erfolge auf den 
morgenländischen Kriegsschauplätzen 
bewirkt, ganz abgesehen von den übri¬ 
gen, auf feines Verständnis der öst¬ 
lichen Seele gegründeten diplomati¬ 
schen Maßnahmen des schlauen Briten¬ 
volkes. 

Es wäre verkehrt, grundverkehrt, 
wollte man etwa vom lebenden Ge- 
schlechte der deutschen Orientalisten 
ein Aufgeben ihrer bisherigen Lehrwei¬ 
sen verlangen oder ihnen gar zumu¬ 
ten, in beschwerlichen Orientreisen die 
etwaigen Lücken in ihrer Landeskennt¬ 
nis auszufüllen. Zumal von den älte¬ 
ren unserer Orientforscher wird man 
ein Mit-der-Zeit-Gehen 10 ) nicht mehr 
verlangen dürfen. Manche unter ihnen 
haben übrigens seit langem in weiser 
Voraussicht die Wichtigkeit gewisser 
Zweige der morgenländischen Studien 

9) Vgl. dazu M. in dieser Zeitschrift, 
III. Band, 1909, Sp. 1397—1400 sowie H[enri] 
D[£herain] „La nouvelle Organisation des 
etudes orientales en Grande Bretagne" im 
Journal des Savants, 1909, S. 521—523, fer¬ 
ner Journal Asiatique, X. Reihe, 14. Band, 
S. 545. 

10) Vgl. dazu die trefflichen Worte Richard 
Hartmanns „Der nähere Orient im Lehr¬ 
betrieb unserer Hochschulen“ im II. Jahrg. 
des Deutschen Vorderasien- und Balkan- 
ardiivs, Leipzig 1919, S. 77—79. 


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407 Franz Babinger, Die Zukunft der morgenländ. Studien in Deutschland 4Qg 


betont und in ihrem Lehrbetrieb berück¬ 
sichtigt. Ich denke z.B. an Georg Jacob 
Sn Kiel, der als einziger Deutscher sdhon 
vor 30 Jahren ein Hauptgewicht auf das 
Osmanische legte und erst durch die 
Gegenwart die angenehme Bestätigung 
erhielt, wie gut er daran getan habe. 
Auch wird niemand etwa die unbillige 
Forderung erheben, daß die in Jahr¬ 
hunderten bewährte reinsprachliche Ar¬ 
beit etwa durch ein seichtes, im Feuille¬ 
tonstil gehaltenes Gerede ersetzt werde. 
Der Wunsch, daß die alte Fleischersche 
Schule ihre ehrwürdige Überlieferung 
aufrechterhält, wird auch in Zukunft 
von allen Einsichtigen geteilt werden. 
Ist ja Leipzig heute noch nicht nur eine 
treffliche Pflegstätte für Islamkunde 
und die klassisch-orientalischen Stu¬ 
dien, sondern auch für die sprachwis¬ 
senschaftliche Erforschung der Islam¬ 
welt ganz im Sinne des guten „Schejch" 
geblieben. Trotz alledem wird man zu¬ 
geben müssen, daß nicht allein im Uni- 
versitätsbetrieb, sondern auch in der 
Stubenarbeit immer noch eine Rich¬ 
tung vorherrscht, die den Bedürfnissen 
der Neuzeit nicht immer entgegen¬ 
kommt. Mit jedem Jahre bringen die 
Meßkataloge eine Menge tiefgründiger 
Untersuchungen und vermehren die im 
letzten Jahrhundert erschienene Reihe 
ähnlich gearteter Schrifterzeugnisse. An 
zusammenfassenden, dringend erfor¬ 
derten Hilfsmitteln oft notdürftigster 
Gattung fehlt es dagegen bedenklich. 
In diesem Sinn allein kann man als 
Schreiber vielleicht das Eingehen so 
zahlreicher Fachzeitschriften begrüßen, 
die eine Unzahl kleiner Forschungen 
brachten und damit die großzügige Ar¬ 
beit behinderten. 

4. 

Im vorstehenden konnten nur An¬ 
deutungen darüber gemacht werden, 

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wie etwa die morgenländischen Stu¬ 
dien sich den Erfordernissen der Ge¬ 
genwart anzugleichen haben. Ins ein¬ 
zelne gehende Vorschläge zu machen, 
liegt ebensowenig in meiner Absicht 
wie in meiner Zuständigkeit. Seit den 
letzten Monaten ist eine große Bewe¬ 
gung innerhalb der deutschen Orien¬ 
talistenwelt im Gange, die sich im Rah¬ 
men eines Verbandes für morgenlän¬ 
dische Forschung mit diesen Dingen 
zu befassen sicherlich angelegen sein 
läßt, sobald der von C. H. Becker und 
E. Herzfeld entworfene großzügige und 
ganz zeitgemäße Plan verwirklicht wor¬ 
den ist. Es ist ein Segen für die deutsche 
Orientalistik, daß in einer Zeit, wo die 
drohende feindliche Haltung großer 
wissenschaftlicher Kreise des Auslan¬ 
des ihren Lebensnerv zu lähmen droht, 
wo Lohnverhältnisse und Stoffmangel 
die Schreibmöglichkeit in einer fast 
hicht mehr erträglichen Weise be¬ 
schränken, ihre Belange von einem 
Manne getragen und gefördert wer¬ 
den, dessen Persönlichkeit die zuver¬ 
sichtliche Bürgschaft gibt, daß die 
schwere Not der Zeit dereinst überwun¬ 
den und in der Zukunft wieder erträg¬ 
liche Daseinsbedingungen für die deut¬ 
sche Orientalistik geschaffen werden: 
ich meine Carl Heinrich Becker. Selbst 
dem Hochschullehrerberuf entstam¬ 
mend, wo er, mit dem Ruf eines der be¬ 
sten lebenden Islamkenner, in Hamburg 
bürg und zuletzt in Bonn eine anregende, 
weitausgreifende Lehrtätigkeit entfaltete 
und sich zugleich als gedankenreicher 
und zielbewußter Umgestalter erwies, 
ward er schon vor dem Umsturz, noch 
von der alten Regierung in das 
preußische Unterrichtsministerium be¬ 
rufen. Dort wurden ihm als Wirkungs¬ 
feld die Universitäten übertragen. In sei¬ 
ner neuen Eigenschaft ward er dann vor 
die ebenso dankenswerte wie undank- 






409 J. Hashagen, Neue Veröffentlichungen über d. Vorgeschichte d. Weltkrieges 410 


bare Aufgabe gestellt, die Umgestaltung 
der Hochschulen durchzuführen. Daß 
dabei von einem so hervorragenden 
Orientalisten die Interessen seines alten 
Sonderfaches sachgemäß und nach¬ 
drücklich vertreten werden, steht wohl 
ebenso außer Frage, wie die Hoffnung 
nicht zuschanden werden wird, daß 
diese Umwandlung unter der Leitung 
eines so welterprobten und praktischen 
Führers in einer zweckmäßigen, berech¬ 
tigten Ansprüchen der Neuzeit angepa߬ 
ten Form erfolgen wird. 

Eine Hauptschwierigkeit wird auch hier 
der nervus rerum; sein, der der Betäti¬ 
gung eines guten Willens an einer ge¬ 
wissen Stelle ein Ziel setzen wird. 
Doch steht zu hoffen, daß gerade vom 
Gesichtspunkt der praktischen Umbil¬ 
dung des morgenländischen Studien¬ 


betriebes aus auch der geldliche Auf¬ 
wand vom Reiche mit offenerer Hand 
bestritten werden wird, als dies etwa 
bisher der Fall war, wo man über die 
Orientalistik als einen untergeordneten 
Zweig des Wissenschaftsbetriebes 
glaubte hinwegsehen und sie als not¬ 
wendiges Obel betrachten zu dürfen. 
Kein Zweifel, der östlichen Wissen¬ 
schaft dienen so treffliche Kräfte, daß 
auch weiterhin das ernst und sachlich 
urteilende Ausland in ihr ein gewalti¬ 
ges Bollwerk deutschen Geistes er¬ 
blicken wird. Wir dürfen getrosten 
Mutes in die Zukunft schauen. Der neue 
Orient muß sich auch dem Deutschen 
wieder öffnen, und das alte Morgenland 
wird seine Bedeutung bewahren, so¬ 
lange die Kirchen etwas gelten, die 
ihm ihre Urkunden verdanken. 


Neue Veröffentlichungen über die Vorgeschichte 

des Weltkrieges. 

Von Justus Hashagen.*) 

II. 


Außer den bisher besprochenen 
Sammlungen und Editionen sind auch 
zwei lehrreiche Darstellungen erschie¬ 
nen, von denen die Hiltebrandts 
die umfassender ist; denn sie behan¬ 
delt unter dem Gesichtspunkte der Vor¬ 
geschichte des Krieges drei Gegen¬ 
stände von größter Tragweite: 1. Die 
traditionelle Politik der großen Mächte. 
2. Den Ausbruch und die Ausbreitung 
des Weltkrieges. 3. Den Kampf der po¬ 
litischen Ideen. 

Von Idiesen Abschnitten ist der zweite 
durch die neuen Veröffentlichungen 
über die diplomatische Geschichte des 
Kriegsausbruchs zwar teilweise über¬ 
holt, aber besonders wegen seiner all¬ 
gemeinen brauchbaren Gesichtspunkte, 

*) Siehe Heft 4. 


in deren Aufstellung der umsichtige 
Verfasser nicht hier nur große Ge¬ 
schicklichkeit bekundet, recht lesens¬ 
wert, zumal da Hiltebrandt, ohne der 
geschichtlichen Wahrheit zu nahe zu 
treten, eifrig und erfolgreich bemüht 
ist, den Umfang und die Stärke der 
deutschen Friedensliebe, wie sie sich 
noch während der unglücklichen Drei¬ 
zehn Tage mehr als ein Denkmal ge¬ 
setzt hat, gebührend hervorzuheben. 
Einen sprechenden Beweis dafür er¬ 
blickt der Verfasser mit Recht auch in 
der Tatsache, daß ein „Hyperpazifist“ 
wie Lichnowsky fast zwei Jahre lang 
Vertreter des Deutschen Reiches in 
London sein konnte. Andererseits wird 
der Haltung der englischen Regierung 
während dieser letzten Krise eine of- 


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411 J. Hashagen, Neue Veröffentlichungen über d. Vorgeschichte d. Weltkrieges 412 


fene Kritik gewidmet, und was S. 232 ff. 
über die Schuldfrage im ganzen gesagt 
wird, ist durchweg wohlbegründet und 
gehört mit zu dem Besten, was bisher 
darüber geschrieben ist. Unter der 
Überschrift „die Ausbreitung des Krie¬ 
ges“ wird dann noch die Haltung Bel¬ 
giens, Italiens und der Vereinigten Staa¬ 
ten von Amerika erörtert. 

Nicht minder beachtenswert ist der 
dritte den „Kampf der politischen Ideen“ 
darstellende Teil. Indem Hiltebrandt 
hier, wenn auch in gedrängter Kürze, 
die Prestige-, Verleumdungs- und Ideali¬ 
sierungspropaganda der Entente ein¬ 
drucksvoll und auf Grund umfassen¬ 
der Kenntnis der feindlichen Ziele und 
Mittel zur Anschauung bringt, gräbt 
er politisch und historisch weit tiefer 
als Rohrbach mit seinem ersten Bande. 
So hat der Verfasser gerade mit diesem 
Kapitel seinem formal aufs beste 
durchgearbeiteten Werke den wirksam¬ 
sten Abschluß geben können. Auch an 
andern Stellen kommt er auf dies un¬ 
erschöpfliche Thema zurück. Trefflich 
gelungen ist S. 150 ff. die Kritik des 
englischen „Pazifismus“ und seines 
„moralischen Alibi“, auf das er ver¬ 
weisen konnte, wenn es trotz seiner Ab¬ 
rüstungsvorschläge zum Kriege kam. 

Der Schwerpunkt der Darstellung 
liegt jedoch durchaus im ersten Teile, 
dessen Überschrift „die traditionelle Po¬ 
litik der großen Mächte“ noch nicht 
einmal deutlich genug erkennen läßt, 
um was es sich handelt. Man findet 
hier eine großzügige Einführung in die 
Hauptprobleme der Vorgeschichte des 
Weltkrieges im weiteren und weite¬ 
sten Sinne (auch die Staatengeschichte 
früherer Jahrhunderte wird mit Er¬ 
folg herangezogen) vom Standpunkt 
der besonderen Eigenart der großen 
Mächte aus, gewissermaßen eine zeit¬ 
gemäße, durch die Kriegserfahrungen 


befruchtete Weiterbildung der klassi¬ 
schen Arbeiten von Ranke und M.Lenz 
über die großen Mächte. Wenn man 
auch Italien, die Vereinigten Staaten 
und Japan in dieser sonst durchaus 
weltgeschichtlich orientierten Aufstel¬ 
lung nur ungern vermißt, so dürfen 
doch diese Darlegungen trotz ihres ver¬ 
hältnismäßig knappen Umfangs als eine 
Zierde unsers neusten politisch-histo¬ 
rischen Schrifttums bezeichnet werden. 
Sie sind, wie man sich denken kann, 
ihrem allgemeinen Zwecke entsprechend 
nicht zeitlich, sondern örtlich-sachlich 
gegliedert. Das war unvermeidlich, 
wenn die Haupt- und Grundzüge der 
auswärtigen Politik der großen Mächte 
mit der nötigen Klarheit he raus gearbei¬ 
tet werden sollten. Wiederholungen lie¬ 
ßen sich dann nicht ganz vermeiden. 
Aber der kritische Leser nimmt diese 
und kleinere chronologische Versehen in 
Kauf, wenn er sonst, besonders mit der 
Aufstellung allgemeiner Richtlinien, so 
reich entschädigt wird. 

Von einem deutschen, unter dem 
Eindrücke des Waffenstillstands abge¬ 
schlossenen Kriegsbuche kann man völ¬ 
lige Unparteilichkeit nicht verlangen. 
Einer blutleeren und politisch selbst¬ 
mörderischen Objektivität vermag sich 
der seiner vaterländischen Aufgabe 
durchaus bewußte und in seinem deut¬ 
schen Gewissen gebundene Historiker 
nicht zu verschreiben. Vielmehr führt 
Hiltebrandt mit scharfem Geiste und 
mit scharfer Feder die historisch-poli¬ 
tische Verteidigung seines unglücklichen 
Vaterlandes. Er gibt ferner dieser von 
der ersten bis zur letzten Seite fesseln¬ 
den Verteidigung damit die richtige 
Spitze, daß er in seinem ersten Teile 
Licht und Schatten mit Absicht un¬ 
gleichmäßig verteilt: der britischen 
Festlands- und Weltpolitik wird mit 
vollem Bewußtsein der breiteste undzu- 


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PRINCETON UNIVERSEll“ 1 *^ 








413 J. Hashagen, Neue Veröffentlichungen über d. Vorgeschichte d. Weltkrieges 414 


/ 

gleich der dunkelste Platz angewiesen. 
Gerade in diesem für die allgemeine 
Beurteilung der Vorgeschichte des Krie¬ 
ges im weiteren Sinne und der ganzen 
Schuldfrage entscheidenden Punkte 
bleibt er hinter dem angeblich so all¬ 
deutschen, noch zu würdigenden Gra¬ 
fen Reventlow kaum eine Schrittlänge 
zurück. Als Apologet läßt er sich von 
ihm durchaus nicht übertreffen, ob¬ 
wohl er selbst mit den Alldeutschen 
nichts zu tun haben will. In Hilte- 
brandts ganzem Werke gibt es keinen 
Abschnitt, der auf einen so scharfen, 
unerbittlichen Ton gestimmt ist wie 
der über England. 

Die große Apologie der deutschen 
Politik wird vorbereitet durch eine ein¬ 
dringliche Würdigung Preußen-Deutsch¬ 
lands, die, ohne sich von den gegen¬ 
teiligen feindlichen und heimatlichen 
Behauptungen beirren zu lassen, dem 
Staate Preußen als dem in der Ge¬ 
schichte bewährten Horte Deutschlands 
endlich wieder die notwendige Gerech¬ 
tigkeit widerfahren läßt. Damit wird 
der richtige Auftakt sowohl zur um¬ 
fassenden Schilderung der auswärtigen 
Reichspolitik wie des ganzen Kapitels 
über die großen Mächte gefunden. Die 
paar Seiten, die der Verfasser am 
Schlüsse dieser Einleitung über die All¬ 
deutschen anfügt, sind zur Anbahnung 
eines gerechten Urteils über sie dien¬ 
licher als Rohrbachs ganzer zweiter 
Band. 

Der Abschnitt über Frankreich an¬ 
dererseits mit seiner Brandmarkung des 
französischen Militarismus und des 
französischen Hangs zu Völkerrechts¬ 
verletzungen (Bruch der Algeciras- 
akte) führt dann allmählich in das bri¬ 
tische Reich der Finsternis hinüber. Auf 
dem Kapitel über England liegt der 
ganze Nachdruck. Es steht in einem in- 
ueren, notwendigen Zusammenhänge 


mit dem Kapitel über Deutschland. 
Denn was früher in dieser Einleitung 
als geschichtlich notwendige Wesens¬ 
züge deutscher Festlands- und Welt¬ 
politik aufgezeigt worden ist, erscheint 
jetzt in dem Kapitel über England als 
notwendiger Grund der englischen 
Feindschaft gegen Deutschland: 1. Die 
Friedens-, 2. die Gleichgewichts-, 3. die 
Welthandels-, 4. die Marinepolitik (vgl. 
die lichtvolle Zusammenfassung S. 137). 
Der Verfasser führt hier zu dem Kern¬ 
punkte des schon im Titel des ganzen 
Werkes packend zum Ausdruck ge¬ 
brachten „europäischen Verhängnisses“. 
In dem trotz aller Kürze überzeugend 
geführten Nachweise von der Notwen¬ 
digkeit dieses inneren Zusammenhan¬ 
ges zwischen deutschem Lebens- und 
englischem Vernichtungswillen liegt der 
wissenschaftliche Hauptertrag des Bu¬ 
ches, von dem auch Geschichts- und 
Kriegsphilosophie einen Anteil erhal¬ 
ten können. 

Der zweite Hauptgegenstand des 
Englandkapitels ist die Entwicklungs¬ 
geschichte der von Lichnowsky (vgl. 
S. 177) so völlig verkannten Einkrei¬ 
sungspolitik Englands. Auch hier fin¬ 
den sich im allgemeinen und im ein¬ 
zelnen viele treffende Beobachtungen. 
Und doch hat selbst dieser gegenüber 
England so hellsichtige Deutsche in 
einer Hinsicht noch nicht alles gesagt. 
Seine Entwicklungsgeschichte der eng¬ 
lischen Einkreisungspolitik vor dem 
Kriege ist insofern lückenhaft, als die 
Einbeziehung neutraler Mächte in den 
großen um das Deutsche Reich von Eng¬ 
land vor dem Kriege geschmiedeten 
Ring, ohne dessen Dasein der Krieg nie 
zugunsten des allmächtigen Inselreiches 
ausgeschlagen wäre, fast gar nicht be¬ 
rücksichtigt wird, obwohl schon die bis¬ 
herigen deutschen Darstellungen, wie 
z.B Reventlows Hauptwerk, zur Genüge 


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415 J- Hashagen, Neue Veröffentlichungen über d. Vorgeschichte d. Weltkrieges 416 


darauf eingehen. 1 ) Immer wieder las¬ 
sen sich lange vor dem Kriege drei 
Hauptbetätigungen dieser Einkreisungs¬ 
politik nachweisen: die Wühlarbeit in¬ 
nerhalb des Dreibundes, überhaupt die 
Untergrabung alter deutscher Freund¬ 
schaften, die Wiederbelebung alter 
deutscher Feindschaften, darüber hin¬ 
aus aber auch die langjährige und an 
mehr als einer Stelle von Erfolg ge¬ 
krönte Bearbeitung der Neutralen. Diese 
letzte Betätigung wird vom Verfasser 
unterschätzt, wie auch das S. 161 über 
die Haltung der Neutralen gefällte allzu 
optimistische Urteil erkennen läßt. 

Noch in einem andern Punkte ver¬ 
mag man dem Verfasser nicht zu fol¬ 
gen. Im Hinblick auf den von Deutsch¬ 
land während der ersten Marokkokrise 
von 1905 und von den Mittelmächten 
während der Bosnischen Annexions¬ 
krise von 1908/09 errungenen diplo¬ 
matischen Erfolg konstatiert Hiltebrandt 
das Scheitern der englischen Einkrei¬ 
sungspolitik. Er kann sich für diese 
Feststellung nicht nur, was er wirklich 
tut, auf G. Hanotaux und P. Leroy- 
Beaulieu, sondern, was schwerer ins 
Gewicht fiele, auch auf manchen deut¬ 
schen Politiker wie Jäckh berufen, be¬ 
sonders aber auf den Hauptspieler 
selbst, nämlich den Fürsten Bülow, der 
diese Anschauung auch in der Kriegs¬ 
fassung seiner „Deutschen Politik“ hart¬ 
näckig festgehalten hat. Aber selbst 
solche Autoritäten können auf dem 
Wege zur geschichtlichen Wahrheit 
nicht das letzte Wort behalten, sondern 
allein die Tatsachen aus der Zeit nach 


1) Einiges habe ich 1918 in zwei Kriegs¬ 
vorträgen zusammengestellt: Vorgeschichte 
des Weltkrieges 1890—1908 (Deutscher Staat 
und deutsche Kultur S. 97 ff.) und Vorge¬ 
schichte des Weltkrieges seit Bismarcks Ent¬ 
lassung (Vorträge des Lehrgangs für den 
Heimatdienst im Bereich des Stellv. Gen.- 
Kommandos XXI. und XVI. A. K. S. 7!.). 


Beilegung der Annexionskrise. Diese 

lassen einem unvoreingenommenen Be¬ 
urteiler keinen Zweifel darüber, daß. 
jene diplomatischen Erfolge Deutsch¬ 
lands oder der Mittelmächte von 
1908/09 oder gar von 1905 nur 
vorübergehend gewesen sind. Die eng¬ 
lische Einkreisungspolitik wird durch 
sie so wenig zurückgedämmt, daß sie 
vielmehr gerade aus jenen Erfolgen 
einen um so stärkeren Antrieb erhält, 
nur daß sie jetzt äußerlich allerdings 
weit vorsichtiger als früher auftritt, 
und daß England sich immer mehr in 
das Zwielicht eines in pazifistische Fer¬ 
nen verschwimmenden Hintergrundes 
zurückzieht und die äußere Führung 
des Chors in der Tragödie immer mehr 
den Russen und ihren französischen 
und balkanischen Freunden überläßt, 
zumal im Orient. Aber das ist nur 
Schein, durch den man sich nicht blen¬ 
den und von der Erkenntnis des wah¬ 
ren Seins abhalten lassen darf. Auch 
die Tatsache, daß Deutschland bis 1910 
seine Flottenpolitik gegen England im 
allgemeinen durchgesetzt hat, kann nur 
als vorübergehender Erfolg bezeichnet 
werden. Schon die vom Verfasser zu 
kurz behandelte und übrigens ein Jahr 
zu spät angesetzte, für die Beurteilung 
der Schuldfrage im weiteren Sinne 
grundlegende Berliner Mission Hai- 
danes hat 1912 die deutsche Flotten¬ 
rüstung beeinträchtigt, womit den an¬ 
erkennenden Worten des Verfassers 
über die Verdienste der im übrigen in¬ 
takten deutschen Flotte im Weltkriege 
(S. 160 f.) natürlich nicht widersprochen 
werden soll. Aber von dem „Scheitern 
der englischen Isolierungspolitik" in den 
letzten Jahren vor dem Kriege mit einer 
solchen Zuversichtlichkeit zu sprechen, 
wie Hiltebrandt es tut, gehört zu den 
unausrottbaren deutschen Illusionen, 
von denen sich gerade unser Autor 


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fe 



417 J. Hashagen, Neue Veröffentlichungen über d. Vorgeschichte d. Weltkrieges 418 


sonst mit Bewußtsein und Erfolg fern¬ 
hält. Auf solche Illusionen geht es auch 
zurück, wenn das Ergebnis der außer¬ 
ordentlich verhängnisvollen Zusammen¬ 
kunft von Racconigi als nur „plato¬ 
nisch“ bezeichnet wird. Das Urteil über 
die italienische Politik und ihre Ein¬ 
wirkung auf die Vorgeschichte des Krie¬ 
ges lautet hier und sonst viel zu gün¬ 
stig, obwohl der Verfasser zu den gu¬ 
ten deutschen Italienkennern zu rech¬ 
nen ist. Gewiß kam es im Tripolis¬ 
kriege zu Reibungen zwischen Italien 
und den Westmächten. Aber die, auch 
Sn einem der früheren in dieser Zeit¬ 
schrift erschienenen Beiträge des Re¬ 
ferenten 2 ) noch teilweise verkannte, 
weltpolitische Hauptwirkung des Tri¬ 
poliskrieges liegt doch vielmehr darin, 
daß Italien durch das Tripolisaben- 
teuer in eine noch viel größere Abhän¬ 
gigkeit von den Westmächten geriet, 
als vorher bestanden hatte. Auch die 
friedliche Gesinnung Rußlands wird 
S. 164 f. vom Autor überschätzt. In Per¬ 
sien war es weit mehr der schuldige 
Teil, als er erkennen läßt. 

Im übrigen hat jedoch der Verfas¬ 
ser auch für die russische Gefahr vol¬ 
les Verständnis. Das zeigt sich in sei¬ 
ner nüchternen Erörterung der deut¬ 
schen Ablehnung des „Bundes“ mit 
England um die Jahrhundertwende 
(S. 154 ff.). Heute ist es, wozu auch die 
Veröffentlichungen von Hayashi, Ham- 
mann und Eckardstein Anregung gege¬ 
ben haben, außerordentlich beliebt, über 
das damalige Scheitern des deutsch-eng¬ 
lischen Ausgleichs zu klagen. Hiltebrandt 
verweist demgegenüber sehr richtig 
darauf, daß die Folge eines Ausgleichs 
mit England für das Deutsche Reich 
auch außerordentlich verhängnisvoll 
hätte sein können, daß Deutschland 


2) 9 (1915) S. 622 ff. 

InternaUonale Monatsschrift 


„künftighin neben dem französischen 
Revanchekrieg den viel gefährlicheren 
russischen zu fürchten hatte“ ... 

Auch an andern Stellen tritt ein ge¬ 
sundes politisches Urteil zutage. So hat 
Hiltebrandt zum ersten Male in helles 
Licht gestellt, wie verhängnisvoll die 
1911 unter englischem Druck erfolgte 
Preisgabe der Algecirasakte durch 
Deutschland gewirkt hat: „Man hoffte, 
durch Beseitigung des marokkanischen 
Konflikts den Weg zu einer Entspan¬ 
nung... freizumachen und den... Frie¬ 
den... zu sichern. In Wirklichkeit be¬ 
deutete die Beilegung der marokkani¬ 
schen Frage zugunsten Frankreichs die 
Eröffnung der orientalischen Frage, die 
das europäische Gleichgewicht aufs 
schwerste erschüttern mußte. Ein Meer 
von Wirren war die Folge" (S. 179 f). 
Es verdient auch hier angemerkt zu 
werden, daß sich dies Urteil von dem 
Reventlows kaum noch unterscheidet. 
Hiltebrandts Ansicht, daß die orienta¬ 
lische Frage nicht nur durch die Bos¬ 
nische Annexionskrise von 1908/09, 
sondern auch durch die letzte und 
schärfste Marokkokrise von 1911 in ver¬ 
hängnisvollem Umfange aufgerollt wor¬ 
den ist, erweist sich als durchaus be¬ 
gründet und fruchtbar. Man braucht 
nur an den Zusammenhang zwischen 
dieser Marokkokrise und dem Tripolis¬ 
kriege zu erinnern. 

* * * 

Graf Reventlow sagt im Vor¬ 
worte über die Anlage seines Buches, 
er habe es für wichtig gehalten, „den 
Zusammenhang zwischen Anlaß und 
Ursache des Weltkrieges durch den In¬ 
halt und durch die Anordnung des 
Textes sichtbar zu betonen. Das.. . 
Bild vom Funken, der in das offene 
Pulverfaß fällt, ist nicht zutreffend; 
denn der Funke ist... ebenso zufällig 

14 


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419 J- Hashagen, Neue Veröffentlichungen über d. Vorgeschichte d. Weltkrieges 420 


wie das Pulverfaß ... Die Ermordung 
des Erzherzogs läßt sich mit diesem 
Funken nicht vergleichen; denn die 
Tat selbst erwuchs in jahrelanger Ent¬ 
wicklung aus der Lage und aus den 
Verhältnissen, die zum Kriege geführt 
haben“ ... Dem Verfasser ist sachlich 
darin beizustimmen, daß das Attentat 
von Sarajewo nicht als ein zufälliges 
wie Zündstoff wirkendes Ereignis be¬ 
zeichnet werden kann. Es hängt viel¬ 
mehr als eine Art von Exponent 
oder Symptom der großserbischen ge¬ 
gen den Bestand der Doppelmon¬ 
archie gerichteten Bewegung auch mit 
den tieferen Ursachen des Krieges zu¬ 
sammen. Und es ist keineswegs über¬ 
flüssig, diesen allgemeinen Stand¬ 
punkt gegenüber mancher in Deutsch¬ 
land und besonders im Ausland be¬ 
liebten Verschleierung „sichtbar zu be¬ 
tonen“. Nur ist das auch ohne Änderung 
der Zeitfolge möglich. Formal liegt kein 
zwingender Grund dafür vor, die Zeiit- 
folge zu verlassen und vom Attentate 
aus den Weg nach rückwärts einzu¬ 
schlagen. Lästige Verweise und Wie¬ 
derholungen sind die Folge. Auch sonst 
wird die Klarheit dadurch nicht geför¬ 
dert. Ebenso hätte sich „die britische 
Hand“, die um so deutlicher sichtbar 
werde, je weiter man sich vom Attentate 
entferne, auch ohne die Umkehrung der 
Zeitfolge aufzeigen lassen. 

Es ist hier nicht der Ort, auf an¬ 
dere formale Mängel des Buches näher 
einzugehen. Dem Grafen Reventlow, 
der als schlagfertiger und schlagkräf¬ 
tiger Publizist bekannt ist, will es an¬ 
scheinend nicht gelingen, sich einen 
eigenen historiographischen Stil zu 
schaffen. Seine Stärke liegt im politi¬ 
schen Räsonnement, in der Erörterung 
politischer Eventualitäten. Darüber 
kommt die eigentliche Geschichtsdar¬ 
stellung zu kurz. Es werden zu wenig 


Tatsachen geboten. Auch das Kompo¬ 
sitionstalent des Verfassers hat sich 
nicht entwickelt. Bis auf die Formalien 
des Stiles herunter ist Reventlows 
neues, in der Form keineswegs ausge¬ 
reiftes Werk ein Rückschritt hinter sein 
altes über Deutschlands auswärtige Po¬ 
litik. Daher ermüdet die Lektüre, und 
der Leser hat oft den Eindruck, daß der 
Verfasser es an der nötigen formalen 
Sorgfalt hat fehlen lassen. In formaler 
Beziehung bedürfte dies Werk einer 
gründlichen Revision, und das beste 
wäre vielleicht, es mit dem früheren 
Hauptwerk, zu dem es eine Ergänzung 
darstellt, zusammenzuarbeiten, eben¬ 
so wie mit dem noch nicht herausge¬ 
kommenen über die Kriegsverhandlun¬ 
gen. Dann würde auch die unhaltbare, 
allem Sprachgebrauch widersprechende 
Unterscheidung zwischen diplomati¬ 
scher und politischer Vorgeschichte 
des Krieges entbehrlich. 

Wenn sonst der Publizist zum Histo¬ 
riker wird, erwartet man von ihm eine 
besonders temperamentvolle Leistung. 
Manches Ereignis der älteren kleindeut¬ 
schen Geschichtschreibung bestätigt 
diese Erwartung. Bei Reventlow aber, 
obwohl er in erster Linie Publizist ist 
und Historiker vielleicht nur im Neben¬ 
amte, macht man beinahe die gegen¬ 
teilige Erfahrung. Die Schreibart ist 
durchweg ruhig, ja trocken. Sie hält 
sich frei von dem Radikalismus des 
Publizisten. Aber auch in sachlicher 
Hinsicht vermeidet der Historiker über¬ 
triebene Zugeständnisse an den Publi¬ 
zisten. Reventlow verschmäht es, mit 
Enthüllungen und Sensationen zu ar¬ 
beiten. Wer dergleichen bei ihm sucht, 
wird enttäuscht. Wirklich Neues wird 
man deshalb bei ihm vielleicht weni¬ 
ger finden als bei Hiltebrandt Eine 
Ausnahme bilden nur etwa die inter¬ 
essanten Mitteilungen über seine Be- 


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421 J. Hashagen, Neue Veröffentlichungen Ober d. Vorgeschichte d. Weltkrieges 422 


Ziehungen zum japanischen Botschaf¬ 
ter Sugimura in den Jahren 1913/14 
(S. 290 f.). Wo sich der Verfasser vom 
Boden der Tatsachen entfernt, sei es, 
daß er seiner Vorliebe für breit ausge¬ 
sponnenes politisches Räsonnement 
nachgibt, sei es, daß er pich in der 
Erörterung von allerlei Eventualitäten 
oder in sonstigen Vermutungen ergeht: 
überall wird das klar zum Ausdruck 
gebracht. An mehr als einer Stelle wird 
•die Unsicherheit und Lückenhaftigkeit 
unserer Kenntnis ausdrücklich betont. 

Die beiden ersten Kapitel über das 
Attentat von Sarajewo und über die 
Balkanpolitik seit der Annexionskrise 
tragen mehr einen skizzenhaften Cha¬ 
rakter. Schon hier wird jedoch das 
Leitmotiv des Ganzen angeschlagen, 
indem der aktive Anteil Englands an 
der Erregung balkanischer Wirren und 
an ihrer Auswertung gegen die Mittel¬ 
mächte zwingend nachgewiesen wird. 
„Wenn über die Rolle Großbritanniens 
im letzten Jahrzehnt vor dem Großen 
Kriege nichts weiter bekannt wäre als 
seine Balkan- und Orientpolitik, so 
müßte es als Anstifter des Weltkrie¬ 
ges bezeichnet werden.“ 3 ) Auch die 
Haltung der Westmächte zum Tripolis¬ 
krieg wird hier weit treffender gewür¬ 
digt als bei Hiltebrandt. 

Reventlows Untersuchungen zur Vor¬ 
geschichte des Krieges sind manchen 
andern besonders deshalb überlegen, 
weil ihnen eine klare Einsicht in das 
Wesen und die Tragweite, in die Ziele 
und Mittel der englischen Auslands¬ 
politik zugrunde liegt. Daher ist sach¬ 
lich-politisch auch kein anderer so wie 
Reventlow befähigt, „die europäische 
Politik“ im letzten Jahrzehnte vor dem 
Weltkrieg darzustellen. In der gegen 
England gerichteten Grundanschauung 
deckt sich dies neue Buch im wesent- 

3) S. 67; vgl. S. 71 und 98 f. 


liehen mit dem zuerst kurz vor dem 
Kriege erschienenen Hauptwerke. Wer 
sich mit ihm auseinandersetzen will, 
muß sich mit dieser seiner Grundan¬ 
schauung auseinandersetzen. 

Sie beeinflußt vor allem die Beur¬ 
teilung der Bülowschen Politik. Re¬ 
ventlow kritisiert Bülows Marokkopoli¬ 
tik und weist den Optimismus des Für¬ 
sten hinsichtlich des Mißerfolgs des 
„luftigen Gebildes“ der Einkreisungs¬ 
politik zurück. Seines Erachtens „be¬ 
ruhte das Gelingen der Bülowschen Po¬ 
litik in der bosnischen Angelegenheit 
nicht auf einer als überwältigend an¬ 
gesehenen Stärke Deutschlands an sich, 
sondern auf der Unbereitschaft und Un¬ 
einigkeit der Koalition“ (S.205). Im wei¬ 
teren Verlaufe bemüht sich der Verfas¬ 
ser mit Erfolg um den Nachweis, daß 
diese Unbereitschaft und diese Un¬ 
einigkeit in der bis zum Ausbruch des 
Weltkrieges noch zur Verfügung 
stehenden Zeitspanne auf seiten des 
werdenden Vielverbandes immer mehr 
beiseitigt worden sind. — Man wird also 
nicht sagen können, daß Reventlow der 
Politik Bülows kritiklos gegenübersteht. 
Aber ihre Zurückhaltung gegenüber 
England vermag er gerade vom Boden 
seiner gegen England gerichteten 
Grundanschauung aus am wenigsten 
zu verurteilen. Was er zu ihrer Recht¬ 
fertigung anführt, verdient gerade heute 
dieselbe Beachtung wie die ähnlichen 
Anschauungen Hiltebrandts. Wenn die 
Engländer Bülow für „falsch" erklär¬ 
ten, so bedeutet ein solches Zeugnis 
aus Feindesmund für Rdventlow S.207 
nur: „daß der deutsche Staatsmann sich 
englischer Vormundschaft nicht rück¬ 
haltlos anvertraute, nicht für seine 
Pflicht hielt, seine Karten aufzudecken, 
sondern eine eigene unabhängige Po¬ 
litik zu treiben versuchte.“ Die Beweg¬ 
gründe, aus denen sich Reventlows Ver- 

14* 


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423 J. Hashagen, Neue Veröffentlichungen über d. Vorgeschichte d. Weltkrieges 424 


teidigung dieser Seite der Biilowschen 
Politik erklärt, liegen nicht neben der 
Sache, sondern in Reventlows Grund¬ 
anschauung über England. Von der 
inneren Politik ist in dem ganzen Buche 
fast gar nicht die Rede. 

Vom Boden seiner gegen England 
gerichteten Grundanschauung aus muß 
der Verfasser endlich die auswärtige 
Politik Bethmann Hollwegs einer schar¬ 
fen Kritik unterziehen. Als die beiden 
innerlich zusammenhängenden ver¬ 
hängnisvollen Merkmale des „letzten 
Kurses“ erscheinen ihm die Illusionen 
über England und die Gegnerschaft ge¬ 
gen die deutsche Flottenpolitik. Zu die¬ 
sen allgemeinen Grundfehlern kommen 
aber noch eine Reihe kräftiger Irrtümer 
im einzelnen. Im Gegensatz zu den 
S. 238 ff. zum ersten Male genauer dar¬ 
gestellten aggressiven englischen Flot¬ 
tenbewegungen während der Agadir- 
krise ist die deutsche Marokkopolitik 
des Jahres 1911 ein weiterer Beweis für 
die typische deutsche Versöhnungspo¬ 
litik. Aber sie ist völlig gescheitert. 
Ähnlich wie Hiltebrandt bemerkt der 
Verfasser dazu: „Die Größe des Mi߬ 
erfolges lag im Scheitern der Ver¬ 
wirklichung des politischen Leitgedan¬ 
kens: reinen Tisch zu machen, um 
daran anschließend Verständigung mit 
Frankreich und Großbritannien anzu¬ 
bahnen und dem labilen Gleichge¬ 
wichte des Weltfriedens Stabilität zu 
geben... Tatsächlich wurde das Gegen¬ 
teil erreicht.“ Das ist in der Tat der 
für das Urteil über die deutsche Aga- 
dirpolitik entscheidende Gesichtspunkt; 
„dabei kann man ganz von dem kon¬ 
kreten Ergebnisse des Marokkohandels 
selbst absehen“. Ferner hat Reventlow 
die Verhandlungen mit Haldane einer 
eingehenden kritischen Betrachtung un¬ 
terworfen. Mit Recht verweist er auf 
die Unzulänglichkeit des von der deut¬ 


schen Regierung darüber veröffentlich¬ 
ten (bisher nur durch Tirpitz ergänzten) 
Aktenmaterials. Sodann macht er auf 
die Verständnislosigkeit aufmerksam, 
die von der Reichsregierung gegen¬ 
über dem in Berlin seit März 1913 be¬ 
kannten Grey-Cambonschen Briefwech¬ 
sel vom November 1912 bekundet 
wurde. Die große Bedeutung des Zeit¬ 
punktes dieses wichtigen Kriegsschrit¬ 
tes wird treffend dargelegt. Ähnlich 
werden die Limankrise von 1913/14 und 
die deutsche Japan politik kritisiert. 

Daß die deutsche Regierung und die 
deutsche Diplomatie an dem Ausbruch 
des Weltkrieges und besonders an der 
ständigen Verschlechterung der inter¬ 
nationalen Lage zuungunsten Deutsch¬ 
lands nicht ohne Schuld sind, folgt 
schon aus diesen leicht vermehrbaren 
Mitteilungen. Auffallend ist nur, daß 
auch Reventlow ebensowenig wie Hilte¬ 
brandt auf die schweren Bedenken, die 
das Verhältnis zu Österreich-Ungarn 
wachrufen müssen, genauer eingeht. Der 
deutsche Grundfehler war hier, daß 
man die Nibelungentreue versprach und 
hielt, ohne sich den nötigen Einfluß auf 
die Politik des Ballplatzes, ja ohne 
sich auch nur den nötigen Einblick in 
die Arbeit der Wiener Diplomatie zu 
sichern. Schon jetzt läßt sich mit ziem¬ 
licher Bestimmtheit sagen, daß eine in¬ 
timere Arbeitsgemeinschaft zwischen 
Ballplatz und Wilhelmstraße nie be¬ 
standen hat, von einer Gesinnungsge¬ 
meinschaft ganz zu schweigen. Sie 
fehlte schon während der Annexions¬ 
krise und war auch während der At¬ 
tentatskrise nicht vorhanden. Man 
schloß sich auf Gedeih und Verderb 
zusammen und hegte doch gegenein¬ 
ander tiefes Mißtrauen. Der Verfasser 
erklärt Deutschlands bosnische Politik 
S.203 für eine „Lebensnotwendigkeit". 
Aber er fährt dann seltsamerweise fort: 


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Alfred Biese, Jean Paul im Lichte des Humors 


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„Deshalb ist die Frage nur von man 
möchte sagen diplomatisch-feuilletoni- 
stischem (1) Interesse, ob und wie weit 
und wann Bülow... von den An¬ 
nexionsabsichten Aehrenthals unterrich¬ 
tet worden ist.“ 

An andern Stellen beantwortet aber 
auch Reventlow in genauer Übereinstim¬ 
mung mit den Ergebnissen der oben be¬ 
sprochenen Schriftsteller die Schuld¬ 
frage zugunsten Deutschlands. Immer 
wieder ergibt sich trotz aller am Aus¬ 
wärtigen Amte geübten Kritik auch aus 
dieser Darstellung einwandfrei, daß alle 
Hauptziele der auswärtigen Politik des 
Deutschen Reiches im Frieden erreicht 
werden konnten, weil sie sich in der 
Aufrechterhaltung des Statusquo er¬ 
schöpften, während die Feinde den 
Weltkrieg entfesseln mußten, wenn sie 
ihre imperialistischen Ideale verwirk¬ 
lichen wollten. Was der Verfasser S. 201 


über die Offensive des Verbandes und 
über die Defensive der Mittelmächte 
sagt, gehört in denselben Zusammen¬ 
hang und sollte bei jeder gerechten Er¬ 
örterung der Schuldfrage gegenwärtig 
bleiben. Nicht minder scharf hat man 
dabei die vom Verfasser eindringlich 
gezeichnete Größe des anglo-amerika- 
nischen Kapitalismus ins Auge zu fas¬ 
sen, wenn man die ständig wachsende 
Gefahr würdigen will, in der Deutsch¬ 
land schwebte. Als einer der Haupt¬ 
kriegsgründe ist dieser Kapitalismus al¬ 
ler Beachtung wert. 

Von dem reichen Inhalte des vor¬ 
liegenden Werkes eine genauere Vor¬ 
stellung zu geben, ist aus Raumgrün¬ 
den hier leider unmöglich. Nur auf die 
Analyse des Artikels 7 des belgischen 
Neutralisierungsvertrages von 1839 sei 
noch besonders hingewiesen. 


Jean Paul im Lichte des Humors. 

Von Alfred Biese. 


In den mannigfachsten Schattierun¬ 
gen schillert die Persönlichkeit Jean 
Pauls, und nicht minder bunt und 
schwankend ist der Begriff des Humors. 
Vielleicht aber bietet der eine Proteus 
den besten Schlüssel zum Verständnis 
des anderen. Doch mancher fragt wohl: 
Was soll uns heute noch Jean Paul, die¬ 
ser verschwommene Idealist, ja Spiri¬ 
tualist, in einer Zeit, wo nur harte Not 
und herbe, rauhe Wirklichkeit das Zep¬ 
ter führen? Und wohl mancher wendet 
mit bitterem Lächeln ein: Der sonnige, 
göttliche Humor mit der lachenden 
Träne im Wappen ist längst in der 
Welt vom Throne gestürzt und im Blute 
von Millionen Menschen ertränkt wor¬ 
den, und seine Stelle hat mit grinsen¬ 
dem Lächeln der Tod eingenommen: 
Mors imperatrix. Können wir es denn 


noch verstehen, daß es eine Zeit gab in 
deutschen Landen, wo man in Tränen 
seligster Rührung zerschmolz über den 
Schriften dieses wunderlichsten und 
seltsamsten Dichters, den unser Vater¬ 
land hervorgebracht hat? Begreifen es 
deutsche Frauen, die in seinen Werken 
heute blättern, daß es nicht die schlech¬ 
testen unter ihnen einst waren, die zu 
Jean Paul wie zu einem überirdischen 
Wesen in Verzückung aufschauten, die 
seinetwegen Gatten und Kinder verlie¬ 
ßen und nur in der Vereinigung mit 
ihm ihre Seligkeit finden zu können 
glaubten, die bei Jean Paul Wärme, 
Liebe, Religion in weit höherem Grade 
gewannen als bei Goethe und Schiller! 
Denn freilich kein größerer Gegensatz 
ist denkbar als zwischen Goethe und 
Jean Paul. „Die plastische Sonne“, sagt 


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Alfred Biese, Jean Paul im Lichte des Humors 


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J. P., „leuchtet einförmig wie das Wa¬ 
chen, der romantische Mond schimmert 
veränderlich wie das Träumen.“ Und 
deshalb suchte er das magische Zwie¬ 
licht mit den verschwimmenden Um¬ 
rissen, das Ineinanderspielen aller For¬ 
men, die Vermischung des Verschieden¬ 
artigen, die Verwischung aller Grenz¬ 
linien, das Schimmernde, Schillernde, 
Andeutende, in die Fernen Weisende. 
„Goethe faßt alles bestimmt auf, bei 
mir ist alles romantisch zerflossen“, be¬ 
kennt er selbst. Und Goethe schrieb, als 
ihn J. P. in Weimar besucht hatte, 
an Schiller: der sei ein so kompliziertes 
und wunderliches Wesen, daß niemand 
ihn recht anzufassen wisse, und da¬ 
her schwankt das Urteil zwischen Über¬ 
schätzung und Unterschätzung hin und 
her, und er zweifelt, daß er sich ihnen 
jemals nähern werde. Und J. P. er¬ 
schien Schiller, als er den „Hesperus“ 
gelesen, wie einer, der aus dem Mond 
gefallen sei, voll guten Willens und 
herzlich geneigt, die Dinge außer sich 
zu sehen, nur nicht mit dem Organ, 
womit man sieht. — Herder und Jean 
Paul aber flogen einander bei der er¬ 
sten Begegnung im Hause der Titani- 
den Charlotte v. Kalb an die Brust 
und schluchzten vor Freude darüber, 
daß sie beide, die in Phantasie und 
Gefühl so viel Verwandtes und ein so 
reges und tiefes Verständnis für ihr 
Schaffen besaßen, sich endlich Auge 
in Auge sahen. Es ist gewiß unrecht, 
J. P. an einem Goethe zu messen, wie 
etwa Dürer an Raffael, den gotischen 
Dom an einem griechischen Tempel 
usf. Wohl ist J. P. ein sonderbarer 
Kauz, aber auch ein König zugleich 
auf seinem Gebiet. Er ist ein Bahn¬ 
brecher und Meister in seiner Art. 
Wie eine überquellende Phantasie sich 
der Welt zu bemeistern sucht, wie ein 
sentimentales Gemüt immer wieder 


durch die rauhe Wirklichkeit in sich 
selbst zurückgewiesen wird, wie an den 
inneren Zweifeln über Gott und Un¬ 
sterblichkeit, über Frauen- und Freun¬ 
desliebe edle Gemüter innerlich verblu¬ 
ten, wie ein überschwengliches Herz 
kein Genüge finden kann, weder im 
Weltleben noch in der Häuslichkeit und 
in der Ehe, wie das Vollkommene nur 
Traum und Schaum für den Staubge¬ 
borenen bleibt: das schimmert und 
schillert in tausend Farbenbrechungen 
durch die Jean Paulsche Dichtung hin¬ 
durch. Die Phantasie, dieser frere ter- 
rible, wie er sie nennt, das gefühlsse¬ 
lige Ich bleibt seine Schwäche, aber es 
ist auch sein Reichtum und seine Stärke. 
Wie oft ist es uns in seinen Werken, 
als ob wir vor lauter Gestrüpp keinen 
Schritt tun könnten, und dann wieder 
grüßen uns inmitten von Wüsten lieb¬ 
liche Oasen, wo Palmenwipfel sich wie¬ 
gen und Quellen rauschen. 

Jean Paul ist einer der wurzelechte¬ 
sten Deutschen, die unsere Erde gebo¬ 
ren, er ist einer der selbstherrlichsten 
Sprachschöpfer und Wortbildner von 
wahrhaft mächtiger Eigenart, ein Klas¬ 
siker der Seele und ein Klassiker der 
bildlichen Rede, die jeden Kobold¬ 
sprung des Witzes begleitet; er über¬ 
schüttet uns mit Metapherngold und 
entzündet unablässig ein Sprühfeuer 
geistreichster Gedankenblitze und ver¬ 
wegenster Ideenverbindungen. Er ist 
aber auch von einer Verschwommen¬ 
heit in der Linienführung der Hand¬ 
lung und von einer Unklarheit im ein¬ 
zelnen, die uns immer wieder von Be¬ 
wunderung in Verzweiflung, von 
Freude in Ärger und Verdruß herab¬ 
stürzt. Wie senkt sich nun wohl das 
Lot eines gerechten Abwägens und 
eines wirklichen Verstehens in die Tie¬ 
fen dieser chamäleonhaften Seele hin¬ 
ab? Was gibt des Rätsels Lösung, was 


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Alfred Biese, Jean Paul im Lichte des Humors 


eine Einheit in all dem Verwirrenden 

und Verworrenen? Der Humor! — 

* * 

* 

In der Mitte des 19. Jahrhunderts, als 
die Hegelsche Philosophie herrschte, 
war das Zauberwort, das alles Ge¬ 
schehen regelte, „Entwicklung“, nach 
jenem Dreitakt von Thesisi, Antithesis 
und Synthesis«. Zwei Gegensätze sto¬ 
ßen einander ab und versöhnen sich in 
einer höheren Einheit. So glaubte man, 
auf den Gipfeln der großen Epoche un¬ 
serer vaterländischen Literatur, bei 
Goethe und Schiller, angelangt und den 
Gang der ganzen bis dahin fortgeführ¬ 
ten Entwicklung überschauend, immer 
noch eine höhere Vermittlung der bei¬ 
den Seiten des Schönen, des Idealen 
und des Realen, auf historischem Bo¬ 
den aufsuchen zu müssen. 1 ) Man fand 
in der Entwicklungsreihe von Gott¬ 
sched, Hagedorn, Wieland, Goethe das 
Realprinzip, in Bodmer, Haller, Klop- 
stock, Schiller das Idealprinzip in im¬ 
mer höherer Potenz, und man fragte 
sich: worin kann der Fortschritt über 
Goethe und Schiller hinaus liegen? Unid 
man antwortete: in der Synthese des 
Realismus und des Idealismus 1 , in der 
Vermittlung des Endlichen und des Un¬ 
endlichen, und dies vermittelnde Prin¬ 
zip beider Weltanschauungen ist der 
Humor Jean Pauls. Freilich war 
man auch damals schon sich bewußt, 
daß ein Vollendetes durch die Tat Jean 
Pauls noch nicht erreicht, daß mit ihm 
erst die Morgenröte einer neuen höhe¬ 
ren Kunstform angebrochen sei, jedoch 
habe der Genius der deutschen Litera¬ 
tur in ihm den Durchgangspunkt zum 
humoristischen Ideal gewonnen, und 
der Humor sei als Träger und Ver¬ 
mittler und Versöhner des Unausge- 

1) Vgl. Walter Robert Griepenkerl, Der 
Kunstgenius der deutschen Literatur des 
letzten Jahrhunderts. Leipzig 1846. 


glichenen und des Widerstrebenden 
der entsprechende Kunstausdruck für 
eine in mächtigen Gegensätzen wo¬ 
gende Zeit. 

Die Wurzeln des Humors liegen im 
Komischen und im Tragischen. 
Den einen wie den anderen Begriff auf 
eine kurze und doch alles umfassende 
Formel zu bringen, hat vom Altertum 
bis zur Gegenwart, von Aristoteles bis 
zu Lipps und Volkelt nicht recht glük- 
ken wollen. Indessen man erkannte von 
Aristoteles ab den Kontrast, das Uner¬ 
wartete, Widrige, das zugleich un¬ 
schädlich sei, als den Kern des Komi¬ 
schen. Kant sprach von der Auflösung 
der Erwartung in Nichts, Jean Paul und 
Vischer von der Verkoppelung des He¬ 
terogenen, der unendlichen Ungereimt¬ 
heit, Lipps von dem Zergehen eines 
irgendwie Bedeutsamen und Erhabe¬ 
nen usf. Jean Paul fand das Lächer¬ 
liche in der Unterschiebung einer bes¬ 
seren Einsicht, wodurch die unbewußte 
Torheit sich in eine bewußte ver¬ 
wandele. Wenn z. B. Sancho Pansa sich 
eine Nacht hindurch über einem seich¬ 
ten Graben in der -Schwebe hält, in 
dem Wahn, es klaffe ein ungeheurer 
Abgrund unter ihm, so erscheint, diese 
unbewußte Zweckverkehrung als be¬ 
wußte Zwecksetzung, und das Gefühl 
für die unendlich irrationale Entfer¬ 
nung vom Zwecke ist der eigentliche 
Kern des Komischen (vgl. Joh. Ziegler, 
„Das Komische“). In allen Formen und 
Farben und Lichtern solcher Komik fun¬ 
kelt und blitzt die Dichtung Jean Pauls. 

Auch das Tragische beruht auf dem 
Irrationalen des Lebens 2 ), auf dem un¬ 
auflöslichen Dualismus, der die Welt 
spaltet, denken wir nun an Idee und 
Erscheinung, Mensch und Welt, 
Menschheit und Einzelmensdh, Tod und 

2) Vgl. Joh. Volkelt, Ästhetik des Tragi¬ 
schen. 3. Aufl. München 1917, Bede. 


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Alfred Biese, Jean Paul im Lichte des Humors 


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Leben, Pflicht und Neigung, Sinnen¬ 
glück und Seelenfrieden und so ins Un¬ 
endliche fort. Es war wiederum die 
Hegelsche Philosophie, die durch ihren 
Trilogismus Klarheit in den Begriff des 
Tragischen brachte. Es bedeutet das Er¬ 
liegen menschlicher Willenskraft im 
Widerstreit mit dem Walten uner¬ 
bittlicher Schicksalsmachte; das indi¬ 
viduelle Sein sinkt auf der Spitze einer 
universellen Tatäußerung vor der Macht 
des Unendlichen in den Staub. Hebbel 
nennt wie Hegel jede Regung des ein¬ 
zelnen im Kampfe mit Hemmnissen 
und Widerständen der Allgemeinheit 
eine Verletzung der Einheit, einen Ab¬ 
fall von der Idee. Er spricht von dem 
Pantragismus der Welt: es ist Bedin¬ 
gung des Lebens, daß der Mensch seine 
Kräfte gebraucht, Kraft gegen Kraft 
setzt, aber das bedingt Überschreitung 
der Schranke des Entfliehen. „Das 
Drama“ — sagt er in einem schönen 
Bilde — „stellt die beiden Kreise auf 
dem Wasser dar, die sich eben dadurch, 
daß sie einander entgegenschnellen, 
zerstören und in einem einzigen gro¬ 
ßen Kreis, der den zerrissenen Spiegel 
für das Sonnenbild wieder glättet, zer¬ 
gehen.“ 

Wie nun Komisches und Tragisches 
in der Totalität des Humors sich ver¬ 
schmelzen, das hat uns niemand gro߬ 
artiger vorgeführt als Jean Paul, sei es 
theoretisch in seiner genialen „Vor¬ 
schule der Ästhetik“, sei es in seinen 
Werken praktisch. Er fragt sich, wie 
das Komische (das unendlich Kleine) 
romantisch werden könne, da es doch 
bloß im Kontrastieren des Endlichen 
mit dem Endlichen bestehe und keine 
Unendlichkeit zulasse, denn der Ver¬ 
stand und die Objektenwelt kennen 
nur Endlichkeit, im Romantischen (Tra¬ 
gischen) aber haben wir den unend¬ 
lichen Kontrast zwischen den Ideen (der 


Vernunft) und der ganzen Endlichkeit 
selber: „wie aber, wenn man ebendiese 
Endlichkeit als subjektiven (d. h. durch 
unsere Einsicht geliehenen) Kontrast 
jetzo der Idee (Unendlichkeit) als ob¬ 
jektivem unterschöbe und liehe und 
statt des Erhabenen als eines ange¬ 
wandten Unendlichen jetzo ein auf das 
Unendliche angewandtes Endliche, also 
bloß Unendlichkeit des Kontrastes ge¬ 
bäre, d. h. eine negative? Dann hätten 
wir den humour oder das roman¬ 
tische Komische.“ — 

* * * 

Wenn wir den Begriff „Humor“ ent¬ 
wickeln wollen, werden wir zu den 
Alten zurückgeführt. Hippokrates, der 
große griechische Arzt und Philosoph, 
machte das Wohlbefinden des Körpers 
von einer harmonischen Verbindung 
von vier Säften abhängig: dem Schleim 
(Phlegma), dem Blut und der gewöhn¬ 
lichen (grünen) und der schwarzen 
Galle. Diese physische Scheidung wurde 
dann auf das Psychische übertragen 
und zur Grundlage der vier Tempera¬ 
mente gemacht, und unter Vertau¬ 
schung von Ursache und Wirkung 
wurde humor (die Flüssigkeit) zur Ge¬ 
mütsstimmung in ihrem — fließenden 
— Wechsel, zur Laune. Ben Johnson, 
der Zeitgenosse Shakespeares, schrieb 
zwei Lustspiele: Every man in his hu¬ 
mour und Every man out of his hu¬ 
mour und sagt zur Erläuterung des 
Wortes humour: „In einem jeglichen 
menschlichen Körper sind das chole¬ 
rische, phlegmatische, melancholische 
und sanguinische Temperament hu- 
mours, weil sie beständig in irgend¬ 
einem Teile im Flusse sind, und so 
kann man die Metapher auch auf die 
allgemeinere Gemütsverfassung eines 
Menschen anwenden.“ So entstand der 
literarhistorische Begriff der Humori¬ 
sten gemäß der Darstellungsweise eines 


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Alfred Biese, Jean Paul im Lichte des Humors 


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Swift, Sterne, Goldsmith u. a. und der 
ästhetische Begriff des Humors als ein 
smiling in grief, tristesse dans la gait6, 
als der Kuß, den Freude und Schmerz 
sich geben, als der Doppelkopf mit dem 
weinenden Heraklit und dem lachenden 
Demokrit. Es ist nicht rosenroter Opti¬ 
mismus, nicht galliger Pessimismus, 
sondern die höhere Versöhnung beider. 
Wohl ist er die Blüte; ja die reife 
Frucht des Komischen, aber er hat mit 
dem Tragischen gemeinsam, daß auch 
er, in tiefen Ernst gesenkt, die Zusam¬ 
menhänge und innersten Gründe des 
Menschendaseins zu erfassen strebt. 
Wie das Tragische eine doppelte Wir¬ 
kung, die des Niederdrückenden und 
zugleich die des Erhebenden, erzeugt, 
so ist er der Sieg eines starken 
Herzens und eines starken Gei¬ 
stes über die Wirrsale der Welt 
und über die Doppelseitigkeit 
des Lebens; Seine Hauptquellader ist 
die Liebe eines unergründlich tiefen Ge¬ 
müts voll Glauben und Vertrauen. 
Längst hat man — von Hegel und 
Vischer bis auf Lipps und Volkelt 3 ) 
— in den mannigfachsten Abstufungen 
erkannt, daß „Humor“ erst einen Sinn 
gewinnt, wenn man den Begriff nicht 
bloß ästhetisch faßt, sondern als ver¬ 
mischt mit Weltanschauung oder bes¬ 
ser als Weltgefühl, denn der Humor 
denkt nicht mit dem Verstände, son¬ 
dern mit dem Herzen. Jean Paul de¬ 
finiert ihn also: „Er ist die Parodie des 
Großen durch das Kleine, der komische 
Weltgeist. Er verknüpft und mißt mit 
der kleinen Welt die unendliche, er 
adelt die Narrheit zur Weisheit. Er 
vernichtet das Endliche durch den 
Kontrast mit der Idee; er erniedrigt das 
Große, um ihm das Kleine, und erhöht 
das Kleine, um ihm das Große an die 

3) Vgl. Joh. Volkelt, System der Ästhetik. 
II 529 f. München 1910, Beck. 


Seite zu setzen und so beide zu vernich¬ 
ten. Seine Höllenfahrt bahnt ihm die 
Himmelfahrt. Er gleicht dem Vogel 
Merops, der zwar dem Himmel den 
Schwanz zukehrt, aber doch in dieser 
Richtung in den Himmel auffliegt.“ 
Jean Paul wird nicht müde, Satire und 
Ironie und Humor oder satirischen und 
versöhnten Humor (in Swift und Sterne 
z. B.) zu unterscheiden, doch so wenig 
klar er theoretisch beide auseinanderzu¬ 
halten vermocht hat, so wenig vermag 
er es auch in der Dichtung, weil in ihm 
selbst, dem „fleischgewordenen Wider¬ 
spruch“, beide Weltstimmungen mitein¬ 
ander im Kampfe lagen. Wohl möchte 
er alles sub specie aeternitatis betrach¬ 
ten, erhaben über das Leben, so daß 
ihm ein unaufhörliches Lustspiel be¬ 
reitet sei, in dem er den irdischen Mo¬ 
tiven der Menge seine höheren unter¬ 
legt und dadurch jene zu Ungereimt¬ 
heiten macht. Dann durchzuckt ihn 
wohl „die Überzeugung von der gan¬ 
zen irdischen Bettelei“, von dem rela¬ 
tiven Gleichwert und dem absoluten 
Unwert aller endlichen Bestrebungen. 
Doch er sinkt immer wieder entweder 
in die satirische oder in die sentimen- 
talische, die elegisch-romantische Seite 
des Humors zurück. Der Humor durch¬ 
kreist bei Jean Paul die Welt in ewig 
wechselndem Fluge, bald dem tief 
Ernsten und Rührenden und Patheti¬ 
schen, bald dem barock Komischen und 
niedrig Burlesken hingegeben. 4 ) Von 
der rein satirischen, herb realistischen 
Periode mit den „Grönland. Prozessen“ 
und der „Auswahl aus des Teufels Pa¬ 
pieren“ gelangte er zu der humori- 
stisch-sentimentalischen, d. h. dem Über¬ 
gewicht des schmerzlichen Kontrastes 
von Idee und Wirklichkeit. Im „Schul- 

4) Vgl. K. Ch. Planck, Jean Pauls Dich¬ 
tung im Lichte unserer nationalen Entwick¬ 
lung. Berlin 1867, Reimer. 


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Alfred Biese, Jean Paul im Lichte des Humors 


meisterlein Wuz“ liegt noch der Hu¬ 
mor in der idyllischen Mischung des 
menschlich Rührenden mit dem Komi¬ 
schen, ,ohne herben Riß; aber die „Un¬ 
sichtbare Loge" und der „Siebenkäs" 
und gar der „Hesperus“ zeigen schon 
die sentimentale, schmerzliche Seite des 
Humors. Das idealistische Pathos er¬ 
reicht im „Titan" seinen Höhepunkt, 
indem der phantasie- und gefühls¬ 
schwelgerische Albano sein Gegenbild 
in dem realistisch-satirischen Schoppe 
findet, der freilich ein Herz voll Liebe 
zugleich besitzt. In den „Flegeljahren" 
bricht der komische Realismus hindurch. 
Dies — auch heute noch am meisten ge¬ 
nießbare — Werk stellt den Gegen¬ 
satz idealer Begeisterung und nüchter¬ 
ner Weltgewandtheit dar, freilich fehlt 
auch hier die wirkliche Lösung des 
Kontrastes. Zum derb-komischen Rea¬ 
lismus, zur satirisch-zynischen Erhe¬ 
bung über alle schmerzliche Entzwei¬ 
ung und Sentimentalität gelangt der 
Humor im „Katzenberger" und in „Fi¬ 
bel". 

Damit ist der Kreislauf dieses ebenso 
wunderlichen wie tiefblickenden und 
hochfliegenden Genius in aller Kürze 
umschrieben. 

* * * 

Der Jean Paulsche Humor ist eine 
Blüte grüblerischen Weltgefühlsi, das 
mit den Rätseln und Widersprüchen 
des Daseins bald in heiterer, närrischer, 
bald in tiefernster Weise spielt. Denn 
ein Phantasiespiel, geboren aus einem 
abgründigen Herzen; das ist der Hu¬ 
mor in der Dichtung. Und bei J. P. 
vermischt er sich mit dem feinsten 
Spürsinn, der in die geheimsten Fal¬ 
ten der Menschenbrust dringt; und in 
ihm liegt eigentlich die Größe Jean 
Pauls, deren Erkenntnis sich nur liebe¬ 
voller, geduldiger Vertiefung erschließt. 
Die Jugend J. P.s stand unter dem 


Zeichen des herbsten Kontrastes zwi¬ 
schen der äußeren Lage voll Elend 
und Armut und dem inneren Reichtum 
voll ungemessenen Strebens und Selbst¬ 
bewußtseins. Es war kein Wunder, daß 
ein grimmiger Humor ihm zuerst die 
Feder führte. Er ist Realist in der ge¬ 
nauen Zeichnung kleinbürgerlicher Zu¬ 
stände und Idealist in dem Aufbau 
einer reinen Phantasiewelt. In beidem 
urdeutsch. Wie anheimelnd ist das 
idyllische Stilleben der Schulmeister¬ 
lein, und wie hoch fliegen die Weltge¬ 
fühle im Titan, im Hesperus usw.l Es 
ist ein so bezeichnender Kreislauf, der 
sich in der Entwicklung unseres gan¬ 
zen deutschen Lebens widerspiegelt: 
die Enge der Umstände fördert die 
Weite der Ideen, und die Weite der 
Ideen ist wieder schuld an der äußeren 
Enge. Der verstiegene Idealismus wird 
durch die Unbefriedigtheit, durch Weh¬ 
mut und Sehnsucht noch verschärft, 
und die Abkehr von der nüchternen, 
aber notwendigen Erwerbstätigkeit stei¬ 
gert die Zersplitterung, die Unfreiheit 
und Kläglichkeit der Zustände. Zu einem 
positiven, im Diesseits zu verwirk¬ 
lichenden Ideal eines reinen Menschen¬ 
tums gelangt J. P. auch in seinen blei¬ 
bendsten Werken, wie „Siebenkäs“, „Ti¬ 
tan“ und den „Flegeljahren“, nicht, 
sondern er beharrt in der Verneinung 
der Wirklichkeit und in der Flucht in 
ein verschwimmendes, form- und farb¬ 
loses Jenseits. Mit dem Philisterhaften 
kontrastiert der Universalismus einer 
Gelehrsamkeit, die in wüster Bilderhatz 
alle Gebiete des menschlichen Wissens 
in wirrer Unordnung umfaßt. Der über¬ 
schwengliche, blumenhafte Stil mit all 
seiner Vertracktheit und Verrücktheit 
ist ein Abbild der zwischen Extremen 
hin und her pendelnden Seele. Aber 
wer nicht bloß die Idyllen J. P.s, son¬ 
dern die erschütternde Tragikomik 


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Alfred Biese, Jean Paul im Lichte des Humors 


438 


r 

j 

437 


eines „Siebenkäs“, die Reden eines Vik- 
! tor, Ottomar, Leibgeber und eines 
Schoppe auf sich wirken läßt, der er¬ 
kennt, daß der humoristische Philosoph 
über alle Stufen optimistischen und 
pessimistischen Weltgefühls sich auf 
und ab zu schwingen weiß, in bunter 
Mischung von Emst und Scherz, von 
Weltschmerz und Weltfreude. „Man 
tadelt“, sagt er selbst, „den Humoristen, 
daß er den Leser ins Dampfbad der 
Rührung führt und ihn sogleich wieder 
ins Kühlbad der frostigen Satire hin¬ 
austreibt. Es muß aber — entgegnet er 
—, da das Leben an einem Fuße einen 
Kothurn und am andern einen Soccus 
trägt, uns lieb sein, daß eine Lebensbe¬ 
schreibung auch in einem Atem lacht 
und weint.“ Die Charaktere seiner Ro¬ 
mane sind Bruchstücke eines uner¬ 
schöpflich reichen Innenlebens, Strah¬ 
lenbrechungen eines* der seltsamsten 
Ichs, die je unter dieser Sonne gewan¬ 
delt sind, selbst eine Sonne in ihrem 
Herzen tragend. Und diese Sonne ist 
der Humor. Verkörpert uns Hoppe- 
dizel in der „Unsichtbaren Loge“ den 
Humor als Laune, Scherz und Gefallen 
an Schnurren, so Ottomar den gebro¬ 
chenen, melancholisch-tragischen: alles 
ist eitel, alles ungestillte Sehnsucht; 
in den Viktor des Hesperus hat J. P. 
drei Seelen hineingeheimnist: eine hu¬ 
moristische, eine empfindsame und 
eine philosophische. Zerrissene Höhen¬ 
naturen 5 ) sind vor allem Leibgeber und 
Schoppe, aber auch Siebenkäs, von dem 
krausen Kleinkram des Alltagslebens 
umsponnen, ist mit seinem zerquälten, 
feinnervigen Herzen ein Spielball bald 
des bohrenden Mißmutes* bald wieder 
weihevollster Gefühle; seine Todes¬ 
komödie ist die Blüte eines gespen- 
~ ~ 

5) Joh. Volkelt, Zwischen Dichtung und 
Philosophie V. „Jean Pauls hohe Menschen“. 
S. 106 ff. München 1908, Bede. 


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stiseh-grotesken Humors. In Schoppe 
leben Faust und Manfred zugleich, und 
die Begriffsgespenster Fichtes geben 
sich ein Stelldichein in seinem armen 
Hirn, das dem Wahnsinn verfallen ist. 
Nicht minder genial ist im „Titan“ 
Roquairol, dessen Humor satanisch ist, 
gemischt aus Himmelsäther und 
Schlamm. J. P. sagt von ihm, er habe 
hebende Flügel und kriechende Schlan¬ 
genfüße; er hat sich in Gift betrun¬ 
ken, und alle herrlichen Leidenschaf¬ 
ten erscheinen ihm wie Eingeweide¬ 
würmer des Ichs; bis zum Selbstmord 
spielt er Theater in grausig mephi¬ 
stophelischem Humor. Eine gewaltige 
dichterische Schöpfung ist der „Titan“ 
unzweifelhaft, aber wie ihm fehlt auch 
den „Flegeljahren“ die eine Einheit im 
Dualismus gebende Vollendung. Es ist 
ein köstlicher, echt humoristischer Ge¬ 
danke, daß der arme treffliche Gottwalt 
zum Erben des großen van der Kabel¬ 
seilen Vermögens gemacht und zugleich 
dazu bestimmt wird, erst bei den bösen 
sieben Enterbten in die ernste Schule des 
Lebens genommen zu werden; die sol¬ 
len ihn schütteln, vexieren und schika¬ 
nieren. Wer nun aber wähnt, endlich 
werde bei J. P. einmal nicht nur ein 
Ziel gesetzt, sondern auch in stufen¬ 
weiser Entwicklung erreicht, der irrt 
sich. Sehr bald verliert sich die Dar¬ 
stellung wieder ins Idyllisch-Humori¬ 
stische und Lyrische. Walt besitzt die 
Fähigkeit eines reinen goldigen Her¬ 
zens, aus allem — und sei es das 
Ärmste und Kleinste — unendlichen 
Reichtum an Seligkeitsgefühlen zu 
schöpfen; er ist ein zartes Gemüt, das 
spießbürgerlich eng, unbeholfen und 
ungewandt ist, aber auch allem Un¬ 
lauteren und Niederträchtigen ver¬ 
ständnislos und daher machtlos gegen¬ 
übersteht. Er ist der deutsche Michel, 
wie er leibt und lebt und leider Gottes 


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Ernst Goldbeck, Paul Stäckel zum Gedächtnis 


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in der Politik auch heute noch nicht 
ausgestorben ist. Anderen Kalibers ist 
Vult: von ätzender, satirischer Art ist 
sein Humor; wie er den wackeren Walt 
von seiner täppischen Art zu kurieren 
sucht, das ist gar prächtig, denn er hat 
unter harter Kruste ein feuriges Herz; 
doch wie er sieht, daß der weltblöde 
Träumer nicht zu ändern ist und doch 
die auch von ihm selbst geliebte Wina 
errungen hat, da reißt er sich von allem 1 
los und geht ins Weite. 

Wer die Schranke J. P.scher Dichtung 
und die Schwäche seiner Gestalten 
würdigt, der wird auch immer wieder 
auf das Grundübel des deutschen Cha¬ 
rakters hingeführt, das zugleich mit der 
Grundstärke aufs engste verwoben ist. 
Es ist die weltfremde, tatenscheue In¬ 
nerlichkeit, die alles andere — Men¬ 
schen und Dinge — nur nach sich 
selbst beurteilt, überall den eigenen gu¬ 
ten Willen, das eigene Wahrheits- und 


Anständigkeitsgefühl auch bei den an¬ 
deren voraussetzt und daher bei den 
Zusammenstößen mit einer ganz anders 
gearteten Welt von einer Enttäuschung 
und Niederlage in die andere geschleu¬ 
dert wird. Wir sind ein politisch jun¬ 
ges, ja in J. P.scher Art noch jüngling¬ 
haft unreifes Volk, unüberwindlich mit 
den Waffen und doch immer wieder 
zurückgeworfen und gedemütigt durch 
Ränke einer in allen, auch den verwerf¬ 
lichsten Mitteln ergrauten Staatskunst 
die fern von jeder schwächlichen Sen¬ 
timentalität, nüchtern, hart, brutal die 
Dinge erfaßt und danach die Menschen 
und Völker behandelt. Dem Walt stellt 
J. P. einen Vult gegenüber. Sollte es 
nicht eine Synthese beider im Leben 
geben können? Bietet nicht Goethes 
Herzog Alphons eine Vereinigung der 
Tasso- und Antonio-Natur? J. P.wollte 
eine solche Gestalt nicht gelingen. 


Paul Stäckel zum Gedächtnis. 


Von Ernst 

Am 12. Dezember 1919 starb nach 
schwerem Leiden der Geheimrat und 
Professor der Mathematik an der Uni¬ 
versität Heidelberg Dr. phil. Paul 
Stäckel in seinem 58. Lebensjahre. Er 
mußte, wie so viele seiner Schicksals¬ 
genossen, zumal in unsrer Zeit, die Fe¬ 
der aus der Hand legen, ehe er gesagt 
hatte, was er zu sagen hatte, denn viel¬ 
leicht aus seinen tiefsten Arbeiten hat 
ihn der Tod herausgerissen. Eine in¬ 
operable Geschwulst im Gehirn hat dem 
Leben dieses gesunden, unerhört ar¬ 
beitsfreudigen Mannes ein Ziel gesetzt. 
Wir versuchen das Bild seiner kräfti¬ 
gen und reinen Persönlichkeit festzu¬ 
halten und finden so einigen, aber un¬ 
zureichenden Trost für ein dunkel wal¬ 
tendes Schicksal. 


Goldbeck. 

Stäckel wurde am 20. August 1862 
in Berlin als Sohn eines Direktors einer 
höheren Mädchenschule geboren. Das 
pädagogische Interesse, das ihn zeit¬ 
lebens neben seiner rein wissenschaft¬ 
lichen Hauptarbeit begleitete, war also 
erblich. Seine Schulbildung erhielt er 
auf dem altehrwürdigen Joachimsthal- 
schen Gymnasium von Michaelis 1871 
bis Michaelis 1880. Er studierte in Ber¬ 
lin bis zum Oktober 1884 während der 
Blütezeit der Mathematik an dieser Uni¬ 
versität. Seine Lehrer waren dort Kum¬ 
mer, Kronecker, Borchardt, Weierstraß., 
Seine Doktorprüfung bestand er am 
12. August 1885 vor Weierstraß, 
Kronecker, Helmholtz und Dilthey. 
Glänzendere Sterne konnten ihm nicht 
in sein Leben hineinleuchten. Bis Früb- 


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PRINCETON UNIVERSi; 












jahr 1890 blieb er Hilfslehrer am Kgl. 
Wilhelms-Gymnasium in Berlin, um 
dann die akademische Laufbahn einzu¬ 
schlagen. Anfänglich am Physikalischen 
Institut in Berlin tätig, habilitierte er 
sich in Halle im März 1891. Im Herbst 
1895 wurde er als Extraordinarius nach 
Königsberg berufen, 1897 nach Kiel, wo 
er 1899 Ordinarius wurde. Das Jahr 
1905 bezeichnet wieder einen Wende¬ 
punkt in seinem Leben, da er als Pro¬ 
fessor an die Technische Hochschule 
in Hannover überging. 1908 folgte er 
einem Ruf an die Technische Hoch¬ 
schule in Karlsruhe. 1913 kehrte er 
wieder zur Universität zurück nach 
Heidelberg. An äußeren Ehren hat es 
ihm nicht gefehlt. Eine ganze Reihe 
von gelehrten Gesellschaften des In- 
und Auslandes ernannten ihn zu ihrem 
Mitglied. Der Heidelberger Akademie 
gehörte er seit 1911 an. 

Stäckels zahlreiche wissenschaftliche 
Arbeiten handelten vornehmlich von 
Flächentheorie, Mechanik, Funktionen- 
und Zahlentheorie. Es ist das Schicksal 
des Mathematikers, daß die weiten 
Kreise der Höchstgebildeten das Urteil 
über den Wert seiner Leistungen von 
den Fachgenossen auf Treu und Glau¬ 
ben hinnehmen müssen. Es gibt keinen 
Königsweg in die Geometrie. Erst recht 
aber führt den Ungeübten kein Auf¬ 
stieg zu jenen Gipfeln empor, die der 
Mathematiker erklimmt. Was er dort 
oben erschaut, enthüllt sich nur weni¬ 
gen. Anderen bleibt es so unbekannt 
wie dem Tauben die Welt der Töne. 
Es erübrigt sich von jener Idealwelt 
zu sprechen, die sich geheimnisvoll und 
doch in höchster Klarheit leuchtend den 
Blicken des forschenden Mathematikers 
auftut. Stäckel aber war für den Zau¬ 
ber seiner Wissenschaft in seltenem 
Maße zugänglich. Es sind wohl die 
höchsten Augenblicke in seinem Le¬ 


ben gewesen, wenn er eine neue Wahr¬ 
heit ergriffen hatte. Redete er von die¬ 
sen Dingen, so ging ein Glanz beson¬ 
derer Art von ihm aus. Mit einem ihm 
eigenen schwer beschreiblichen Ent¬ 
zücken sprach er von der Eleganz ge¬ 
wisser Methoden und Resultate. Sonst 
kein Phantasiemensch, konnte man be¬ 
obachten, wie sein Geist in kühnem 
Fluge höher zu steigen liebte in die 
noch unerforschten Fernen, aber sein 
lauterer Wahrheits- und Wirklichkeits¬ 
sinn gestattete ihm nie die Veröffent¬ 
lichung rasch hingeworfener, unzuläng- 
lidi geformter Ideen. Er blickte in ver¬ 
trauter Unterhaltung und im Selbst¬ 
gespräch gern ins Weite. Der Öffent¬ 
lichkeit übergab er nur das zur absolu¬ 
ten Reinheit durchgebildete Kunstwerk. 

Ihn interessierte sogar im Gegensatz 
zu so manchem anderen schaffenden 
Mathematiker die Psychologie der Pro¬ 
duktion. Er hat da viel gewußt, ohne 
sich im Zusammenhang darüber zu äu¬ 
ßern. Sein ungeheurer Überblick über 
die mathematische Arbeit der Vergan¬ 
genheit und Gegenwart schenkte ihm 
eine Fülle von Einblicken, die er ver¬ 
mutlich niemals niedergeschrieben hat. 
Über die Seltsamkeiten so mancher 
Forscher, über die Genesis der Erfin¬ 
dung, über das Wesen der mathema¬ 
tischen Intuition, besonders bei Gauß, 
über die Grenzen des mathematischen 
Verstehens, über die Rätsel seines ge¬ 
legentlich sprunghaften Einsetzens, 
über die Psychopathie in mathemati¬ 
scher Richtung veranlagter Personen 
hatte er zahllose Erfahrungen zu ver- 
(zeichnen. Es ist zu fürchten, daß die¬ 
ses ganze Material verloren ist. 

Im Zusammenhang mit solchen 
psychologischen Neigungen stand sein 
Bestreben, den Ursprüngen von mathe¬ 
matischen Ideen nachzuforschen, um 
entweder ihre Kontinuität aufzudecken 


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Ernst Goldbeck, Paul Stäckel zum Gedächtnis 


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oder ihre Diskontinuität in einem genia¬ 
len Kopf wenigstens festzustellen. 
Stäckel hat umfassende mathematisch¬ 
historische Studien getrieben. Beson¬ 
ders die Geschichte der nichteuklidi¬ 
schen Geometrie hat ihn zu zahlreichen 
Untersuchungen veranlaßt. Mit er¬ 
staunlicher Vollständigkeit sind die 
Vorläufer von Gauß und der beiden 
Bolyai von ihm aufgedeckt und die 
Arbeiten der eigentlichen Schöpfer der 
nichteuklidäschen Geometrie selbst er¬ 
gründet worden. Ein zweites Stoffge¬ 
biet gab ihm die Geschichte der Mathe¬ 
matik im 18. Jahrhundert ab. Für Euler 
und besonders die Grundlegung der 
großen Gesamtausgabe seiner Werke 
hat er eine gewaltige Kleinarbeit ge¬ 
leistet. Seine Überblicke über die Lite¬ 
ratur großer Gebiete, besonders der 
höheren Mechanik, sind Arbeiten von 
selten erreichter Genauigkeit und Voll¬ 
ständigkeit. In frühere Perioden begab 
er sich nicht gern zurück. Es mag sein, 
daß ihn der philosophische Einschlag 1 , 
der alsdann häufig anzutreffen ist, un¬ 
sicher machte. Es ist eigenartig zu 
sehen, daß eine Wissenschaft wie die 
Mathematik, die seit Platos Zeiten so 
nah an Philosophie heranführt wie 
keine andere, dennoch gerade von 
schaffenden Mathematikern nicht sel¬ 
ten mit einer gewissen Vorsicht ge¬ 
mieden wird. Auch Stäckel hielt sich 
bei aller Hochachtung vor wissen¬ 
schaftlichem philosophischen Denken 
doch von ihm zurück. Als er einmal 
einen Schritt vom Wege in dieser Rich¬ 
tung gemacht hatte und ihm eine prin¬ 
zipielle Unklarheit in seinen Darlegun¬ 
gen nachgewiesen worden war, ver¬ 
zichtete er ein für allemal auf wei¬ 
tere Versuche. 

War er so des höchsten Ideenfluges 
auf mathematischem Gebiet fähig und 
liebte er die reine Mathematik bis in 


ihre weltfernsten Spekulationen hinein, 
so kannte er doch auch und fürchtete 
alle Ausschreitungen, die als mathe¬ 
matische Scholastik bezeichnet werden. 
Hierin mag es begründet liegen, daß 
er immer wieder zur angewandten 
Mathematik zurückkehrte und seinen 
Lebensweg sogar durch sein Interesse 
für technische Mathematik bestimmen 
ließ. Er bedurfte der Berührung mit 
der Erde, um der Gefahr der Speziali¬ 
sierung und Steigerung auf Gebieten 
zu entgehen, in die ihm nur noch we¬ 
nige folgen konnten. So ist sein vor¬ 
übergehender Übergang von der Uni¬ 
versität zur Technischen Hochschule zu 
verstehen. 

Eine rastlose Lebendigkeit seines 
Denkens führte ihn von aller Erstar¬ 
rung, die ihm instinktiv verhaßt war, 
ab. In den Worten, die er in der 
„Internationalen Monatsschrift“ einmal 
niederschrieb, ist der eigentliche Vege¬ 
tationspunkt seines Wesens aufgedeckt: 
„Die Bestrebungen, den Begriff der 
Funktion, das heißt den Begriff des 
Werdens, in den mathematischen Un¬ 
terricht einzuführen und ihn von der 
Starrheit der antiken Denkweise zu be¬ 
freien, haben den mathematischen Un¬ 
terricht in allen Kulturländern beein¬ 
flußt und werden ihn ohne Zweifel im 
Laufe der nächsten Jahrzehnte noch 
stärker beeinflussen.“ Sieht man von 
der besonderen Anwendung auf den 
Unterricht zunächst ab, so findet man 
in dem lebendigen Interesse am Pro¬ 
zeß des Werdens den Schlüssel für 
Stäckels innerstes Wesen. Er beschäftigte 
sich mit der Mathematik des 18. und 
19. Jahrhunderts, weil diese den Zen¬ 
tralbegriff des Werdens in der Funktion 
ergriffen hatte. Aus demselben Grunde 
reizte ihn auch die Psychologie des 
mathematischen Denkens. Ein immer 
von innen heraus Werdendes, Wach- 


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Ernst Goldbeck, Paul Städcel zum Gedächtnis 


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sendes, natürlichem Leben Entstammen¬ 
des und LebenSpendendes sah er in der 
Technik. 

Hierher gehört auch seine Neigung 
zur Pädagogik. Diese Neigung war ge¬ 
wiß vom Vater her eine erbliche, aber 
sie war doch im Sohne persönlich ver¬ 
engt und geprägt. Stäckel war kein 
enzyklopädischer Pädagoge. Es inter¬ 
essierte ihn im wesentlichen nur die 
von Felix Klein eröffnete und geführte 
Reformbewegung, der er sich rückhalt¬ 
los hingab, und die er mächtig unter¬ 
stützt hat. Das Wesen dieser Reform 
liegt in der Überwindung der antiken 
starren euklidischen Geometrie und der 
ebenso starr aufgefaßten algebraischen 
Formen zugunsten des Funktionsbe¬ 
griffs und des Infinitesimalkalküls. 
Diese modernen Auffassungsweisen 
wollte er bereits in die Schule ein¬ 
führen. 

Im Interesse dieses Zieles hat er für 
die „Internationale mathematische Un¬ 
terrichtskommission“ eine bedeutende 
organisatorische, schriftstellerische und 
propagandistische Tätigkeit entwickelt. 
Er hat sich sogar der für ihn peinlichen 
Aufgabe unterzogen, ein modernes 
französisches Lehrbuch von Borei zu 
übersetzen und für deutsche Schulen 
zuzuschneiden. Dieses Zieles wegen und 
um der mathematischen Unterweisung 
des Ingenieurs willen ist er auf den 
Kongressen in Rom, Paris und Cam¬ 
bridge hervorgetreten. In Paris sprach 
er in französischer Rede eingehend 
„sur la prfeparation mathömatique des 
ingCnieurs dans les difförents pays.“ 1 ) 


1) Siehe Jahrgang 1914. Sp. 1156. Außer 
diesem Bericht über die Versammlung der 
Internat. Mathemat. Unterrichtskommission 
zu Paris April 1914 sind von Stäckel in 
der Internat. Monatsschrift noch veröffent¬ 
licht seine Festrede beim Rektoratswechsel 
1910 an der Technischen Hochschule in 
Karlsruhe Jahrg. 1911, Sp. 1 ff., .Hermann 


Er, der selbst kein Politiker war und 
sein gesundes Deutschtum als eine 
Selbstverständlichkeit ansah, von der 
man nicht spricht, ebensowenig wie 
man das Lob seiner Mutter in die Welt 
hinausposaunt, begab sich getrost auf 
internationales Gebiet da, wo er ge¬ 
meinschaftliches Leben und innere Zu¬ 
sammengehörigkeit herausfühlte. Seine 
Reisen nach Ungarn um der beiden 
Bolyai willen, sein Studium des Rus¬ 
sischen um der Kenntnis der abgele¬ 
genen russischen mathematischen Lite¬ 
ratur willen, sein Auftreten in Italien, 
Frankreich, England hatten ihren Ur¬ 
sprung in keiner überhitzten politischen 
Phantasie, sondern in dem natürlichen 
Drang zusammenzuschließen, was eben 
lebendig zusammengehört. 

Starkes gestaltendes Schaffen ent¬ 
springt oft gegensätzlichen Antrieben 
des Innenlebens. Erkannten wir in die¬ 
ser unbeirrten jugendlichen Lebendig¬ 
keit seines Wesens; seiner Hingabe an 
jedwedes Werden einen Grundzug sei¬ 
nes Wesens, so ist in dem starken 
Drang nach künstlerisch geschlossener 
Form eine entgegengesetzt wirkende 
Kraft deutlich am Werk. Es ist be¬ 
zeichnend, daß er die Mathematik erst 
seit dem Auftreten des Funktionsbe¬ 
griffs und des Infinitesimalkalküls be¬ 
trachtete. Hier ist es geglückt, das Wer¬ 
dende in scharfe mathematische For¬ 
men einzufangen. Die Psychologie, der 
das nicht gelingt, war nur ein Neben¬ 
gebiet für ihn. Die starre Form der 
alten Mathematik hinwiederum war 
ihm peinlich. Bolyais mystische Mathe- 


Graßmann, ein Beitrag zur Psychologie des 
Mathematikers“ 1912, Sp. 1185ff. und der 
Bericht Über den 5. Internat. Mathematiker¬ 
kongreß zu Cambridge 1913, Sp. 239 ff. — 
Stäckels Buch über die ungarischen Mathe¬ 
matiker Wolfgang und Johann Bolyai (2Bde., 
Leipzig 1913, B. G. Teubner) ist besprochen 
von E. Study 1914, Sp. 1231 ff. Die Red. 


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Ernst Goldbeck, Paul Stäckel zum Gedächtnis 


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matik fesselte ihn, insofern sie zu ge¬ 
formten Ergebnissen gelangte. Philo¬ 
sophie, die dazu allermeist unfähig ist, 
blieb ihm fremd. Wollte man das auf 
eine Formel bringen, so könnte man 
sagen, er war der Mann des in ge¬ 
prägten endlichen Formen sich aus¬ 
lebenden Werdedranges. Die „Funk¬ 
tion“ spiegelte sein innerstes Wesen 
wider. 

Diese seine eigentümliche persönliche 
Prägung hat, wie nicht selten, im Reife¬ 
alter in Obersekunda eingesetzt. Erst 
damals begann er sich für Mathematik 
zu interessieren. In der Prima hat er 
noch geschwankt, ob er nicht Jurist 
werden sollte. Auch da hätte er Hohes 
erreicht. Bezeichnend dafür ist ein Auf¬ 
satz aus dem Jahre 1915 im Anschluß 
an Adolf Matthias’ Buch „Erlebtes und 
Zukunftsfragen aus Schulverwaltung, 
Unterricht und Erziehung“. Die ein¬ 
gehende Besprechung verlangt „bera¬ 
tende Behörden, Beiräte und Aus¬ 
schüsse für das Unterrichtswesen“. 
Man liest diese Forderungen eines 
Mannes, dem nichts ferner lag als re¬ 
volutionärer Sinn, heute, wo dies alles 
auf dem Marsche ist, mit höchstem Er¬ 
staunen. Derselbe Mann aber lehnte 
eine Berufung in das Kultusministerium 
ab, „weil er die Gärten nicht vertrock¬ 
nen lassen mochte, die er in einem 
langen und tätigen Leben angelegt und 
gepflegt hatte". 

Als er sich dann für das mathema¬ 
tische Studium entschieden hatte, führte 
er es mit der ihm eigenen zielbewußten 
gleichmäßigen Tatkraft durch. Wohl 
selten hat jemand aus seiner natür¬ 
lichen Anlage soviel gemacht wie er. 
Vom ersten Semester an, wo er Kirch- 
hoffs Mechanik sogleich nach Tisch aus¬ 
arbeitete, bis zu seiner Todeskrankheit 
hat er rastlos gearbeitet 

Das Studium der Mathematik führt 


häufig eine Verengerung des mensch¬ 
lichen Horizontes mit sich, und zielbe¬ 
wußte gleichmäßige Energie tut das 
Ihre hinzu. Das bewegte Auf und Nie¬ 
der, die langen Ruhepausen und Tage 
äußerster Arbeit die Ekstasen und ihr 
Absturz fehlten in seinem Leben. Er 
war aber alles andere als ein trockener 
oder gar düsterer Asket. Eine schier 
unfaßliche Jugendlichkeit verblieb ihm, 
als seine Altersgenossen schon den Jah¬ 
ren Tribut zahlen mußten. Er war ein 
Freund lebendiger Geselligkeit und 
verschmähte einen guten, in früheren 
Jahren reichlich bemessenen, Tropfen 
keineswegs. Sonst aber beschränkte er 
sich auf sein weites Arbeitsgebiet Aus¬ 
spannung in Kunst, Literatur, Politik, 
Reisen und dergleichen gönnte er sich 
nicht. Als er aus Rom heimkehrte, hatte 
er, abgesehen vom mathematischen 
Kongreß, nichts Nennenswertes ge¬ 
sehen. Hier hat persönliche Energie ge¬ 
wisse Keime in ihm unentwickelt ge¬ 
lassen. Ein Mitschüler und Jugend¬ 
freund, der ihm bis zu seinem letzten 
Atemzug verbunden blieb, regte ihn 
als Studenten zur Lektüre der Novelas 
ejemplares von Cervantes an. Er las 
sie spanisch mit ihm. Zola präparierte 
er sorgfältig, aber sichtlich nur aus 
sprachlichem Interesse. Scharf geschlif¬ 
fene französische Form lag ihm gut. 
Den Zola wählte er nur „der vielen 
Vokabeln wegen“. Er war überhaupt 
polyglott Noch als älterer Mann schrieb 
der ehemalige Joachimsthaler ein les¬ 
bares Latein, er beherrschte das Fran¬ 
zösische in gleicher Weise vorzüglich 
und durfte sich erlauben, in der Sor¬ 
bonne in dieser Sprache eine lange 
Rede zu halten. Er verstand überdies 
Italienisch, Englisch und Russisch. 

Sein literarisches Interesse erhielt sich 
aber in einem Punkt verdichtet sein 
lebelang. Derselbe Freund, der ihn als 


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Max J. Wolff, Lope de Vega 


jungen Studenten zu Cervantes geführt 
hatte, wies ihn im Jahre 1882 auf Gott¬ 
fried Keller hin, dessen „Sinngedicht“ 
damals in der „Deutschen Rundschau“ 
erschien. Jugendeindrücke, die unserm 
eigensten Wesen konform sind, haben 
eine unabsehbare Wirkungssphäre. So 
las er im August 1919 das „Sinnge¬ 
dicht“ wieder und dankte seinem 
Freund für die Anregung, die 37 Jahre 
zurücklag. Es mag diese Lektüre ihm 
sehr entsprochen haben. Hier ist natür¬ 
liche Lebendigkeit in eine wunderbar 
glänzende Form gegossen, und über 
dem Kunstwerke schweben die Geister 
eines feinen Spottes, wie ihn das 
Menschliche-Allzumenschliche bei ge¬ 
reiften Männern manchmal hervor¬ 
bringt. Im Kriege hatte er als alter 
Offizier aufopferungsfreudig über seine 
Kräfte gearbeitet Dann sah er, der al¬ 
lem Pessimismus fernstand, mit seinen 


klaren Augen frühzeitig das unglück¬ 
liche Ende kommen. Ein furchtbarer 
Verlust infolge des Krieges in seiner 
Familie hat ihn schwer erschüttert. So 
mag er denn später das „Sinngedicht“ 
mit ganz eigenen Gefühlen gelesen ha¬ 
ben. 

So stellt sich seine Persönlichkeit uns 
dar. Wir könnten verzweifeln in dem 
vergeblichen Bemühen, sie rein zu er¬ 
fassen und nachzuzeichnen, wenn nicht 
das „individuum ineffabile" uns von 
der letzten Verantwortung befreite. 
Man könnte noch sagen, daß er ein 
vollkommener gentleman und uner¬ 
schütterlich treuer Freund und Mensch 
war, doch das sollten Selbstverständ¬ 
lichkeiten sein. Ihre nähere Ausführung 
muß der Öffentlichkeit vorenthalten 
werden. Sie bleibt ein Besitz derer, 
die ihm nahe standen. 


Lope de Vega. 

Von Max J. Wolff. 


1 . 

Wenn es einen Dichter gibt, bei dem 
sich Leben und Schaffen, das Werk 
und der Mensch Völlig idecken, so ist 
es Lope de Vega, zum mindesten so¬ 
weit seine dramatische Kunst reicht. 1 ) 
Seine „Comedia“, ein Begriff, unter dem 
die Spanier sowohl Lustspiel wie 
Trauerspiel verstehen, ist in erster Linie 
Liebeskomödie. Die Liebe spielt auch 
in seinem Leben die Hauptrolle, die 
Liebe in jeder nur denkbaren Form, 
dia legitime wie die illegitime, die nied¬ 
rige wie die erhabene, die zur Jung¬ 
frau wie zur Dirne. Als Jüngling von 


1) Die tatsächlichen Angaben dieses Auf¬ 
satzes stammen zum größten Teil aus der 
vorzüglichen Biographie des Dichters von 
H. A. Rennert, Tne Life of Lope de Vega. 
Glasgow 1904. 

Internationale Monatsschrift 


zwanzig Jahren fängt er an zu lieben 
und er liebt noch an der Schwelle des 
Greisenalters. Die Liebe füllt sein Le¬ 
ben aus wie seine Dichtung. Die 
schwersten Schicksalsschläge treffen 
ihn, aber nichts kann ihm die Kraft, 
aufs neue zu lieben und zu dichten, rau¬ 
ben. Seine Komödie ist abenteuerlich, 
so abenteuerlich wie das Leben des 
Verfassers. In jungen Jahren als Ver¬ 
brecher aus Madrid verbannt, ist er 
später das Wunder und die Sehens¬ 
würdigkeit der Stadt, dessen täglicher 
Ausgang infolge des Andranges der 
Menge einer königlichen Prozession 
gleicht. In der Zwischenzeit wird der 
Ruhelose durch ganz Spanien umher¬ 
getrieben, gelegentlich wird er das Op¬ 
fer eines nächtlichen Überfalls. Wer 
der Täter ist? Niemand weiß es. Viel- 

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Max J. Wolff, Lope de Vega 


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leicht ein eifersüchtiger Nebenbuhler, 
vielleicht ein wachsamer Ehemann? 
Seine Komödie ist Intrigenstück, er 
selbst scheut bei seinen Liebschaften 
vor keiner Intrige, weder vor Verleum¬ 
dung noch Fälschung zurück, und mit 
allen Mitteln intrigiert er gegen Auto¬ 
ren, deren Anfangswerke ihm, dem all¬ 
mächtigen Beherrscher der Bühne, ge¬ 
fährlich erscheinen. Seine Komödie ist pa¬ 
triotisch: Lope kämpfte für sein Va¬ 
terland und nahm an der Ausfahrt der 
„unüberwindlichen Flotte“ teil; sie ist 
katholisch: der Dichter führte als Fami¬ 
liär der Inquisition den Vorsitz bei 
Verbrennung eines Ketzers und er 
geißelte sich Freitags bis aufs Blut in 
Erinnerung an die Leiden Christi. Auch 
tragisch kann seine Kunst werden, wie 
es auch in seinem Leben an tragischen 
Geschehnissen nicht fehlt: eine leiden¬ 
schaftlich angebetete Geliebte erblindet 
ihm und verliert, vielleicht durch seine 
Schuld, den Verstand; seine Tochter, 
die er über alles liebt, läuft mit einem 
hochgestellten Herrn davon, den der 
Dichter nicht zur Verantwortung ziehen 
kann. Zwei Söhne muß er begraben, 
den einen in vielversprechenden Kna¬ 
benjahren, den anderen im besten Jüng¬ 
lingsalter. Zwei Frauen verliert er. 
Beide haben ihn offenbar innig geliebt, 
und auch er scheint ihnen von Herzen 
zugetan gewesen zu sein. Und jedes 
dieser Ereignisse, Freude wie Leid, 
wird ihm zum Gedicht, immer hat er 
das Bedürfnis, sich in Vers und Reim 
auszusprechen. 

Nichts Menschliches ist dem Dichter 
fremd. Er ist der hingehendste Ehe¬ 
mann und verrät seine Frau; er ist ein 
verzückter Liebhaber und erklärt da¬ 
bei, daß den Weibern in der Liebe das 
Gemeine am besten gefällt; er ist der 
zärtlichste und zugleich der nachläs¬ 
sigste Vater, er verdient viel Geld und 


besitzt nie einen Pfennig; er erringt Er¬ 
folg über Erfolg und klagt immer über 
Neid. Lope ist alles in einer Person, 
vom Verbrecher und Bettler bis zum 
Beherrscher der Bühne, dem Liebling 
seiner Nation und dem größten Dra¬ 
matiker seines Landes. Er ist die Seele 
Spaniens. So widerspruchsvoll wie diese, 
gleich fähig zum Höchsten wie zum 
Gemeinsten, so ist der Charakter des 
Dichters. Nach seinem eigenen Wort 
ist er in Extremen geboren, in Liebe 
und Haß, und den Mittelweg kennt er 
nicht. Er besteht nur aus Gegensätzen; 
auch darin die Verkörperung eines Vol¬ 
kes, das nur aus Gefühlen, nie in ver¬ 
nunftgemäßer Erwägung handelt. Er 
überläßt sich unmittelbar jeder Regung 
mit der Natürlichkeit eines Kindes, die 
er mit der Liebenswürdigkeit und der 
Ungezogenheit eines solchen paart Jede 
Spur von Pose fehlt bei ihm, selbst zu 
der Zeit, da die Welt einen berühmten 
Mann aus ihm gemacht hat und er das 
Bewußtsein seiner Größe besitzt. So 
sind die Widersprüche in seinem We¬ 
sen nur scheinbar, sie beruhen auf sei¬ 
ner innersten Natur, die nur Empfin¬ 
dungen und Eindrücke, keine Grund¬ 
sätze kennt und jenen unmittelbar folgt 
Gerade im Wechsel ist Lope sich selbst 
am getreuesten. Er ist wie man von 
Shakespeare gesagt hat, der tausend- 
seelige Dichter mit der ganzen Pro¬ 
teusnatur eines solchen, mit jener All¬ 
empfänglichkeit, die das größte Glück 
und das tiefste Weh des Schaffenden 
ausmacht. 

2 . 

Lope ist ganz Dichter, aber wenn 
man unter Dichten die bewußte Aus¬ 
übung einer geistigen Tätigkeit ver¬ 
steht, so dichtet er eigentlich überhaupt 
nicht Die Poesie ist für ihn eine not¬ 
wendige, ja die einzig mögliche Aus- 


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Max J. Wolff, Lope de Vega 


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drucksform. Seine Empfindungen set¬ 
zen sich unmittelbar, ohne daß es eines 
besonderen Willens, geschweige einer 
Anstrengung bedürfte, inVers und Reim 
um. In den Briefen an seinen Gönner, 
den Herzog von Sessa, erklärt er mehr¬ 
fach, daß er auch gute Prosa schreiben 
könne, und gewiß war der Zweifel 
berechtigt, ob eine Begabung wie die 
seine sich überhaupt anders als in Ver¬ 
sen auszudrücken vermöge. Die dra¬ 
matischen Bilder und Gestalten stehen 
in greifbarer Klarheit vor seiner Phan¬ 
tasie. Er bedarf keiner besonderen An¬ 
regung, um sie zu schauen, noch we¬ 
niger einer besonderen Mühe, das Ge¬ 
schaute festzuhalten und zu Papier zu 
bringen. Den aufreibenden Kampf zwi¬ 
schen Konzeption und Ausführung, der 
kaum einem Dichter erspart bleibt, 
kennt Lope offenbar nicht. Die poeti¬ 
schen Traumgebilde nehmen bei ihm 
von selber Form und Vers an. Wenn 
er dichtet, so ringt er nicht mit dem 
Stoff, sondern dieser gestaltet sich un¬ 
ter seiner Feder aus sich selbst heraus. 
Sein Dichten ist beinahe eine mecha¬ 
nische Niederschrift. Daher seine un¬ 
erhörte Fruchtbarkeit. Er selbst bezif¬ 
fert die Zahl seiner Komödien auf 1500. 
Man hat die Angabe angezweifelt; wenn 
man aber bedenkt, daß er 1618/20, also 
in der zweiten Hälfte der Fünfziger, 
zu einer Zeit, wo die geistige Spann¬ 
kraft nachzulassen pflegt, in einund¬ 
dreißig Monaten einhundertsiebenund 
zwanzig Stücke schrieb, so erscheint 
die obige Riesenzahl nicht mehr un¬ 
glaublich. Dazu kommen noch meh¬ 
rere Novellen, eine reiche Lyrik und 
zahlreiche große Epen, die zusammen 
schon für das Lebenswerk eines Men¬ 
schen ausreichen würden. In den er¬ 
zählenden und teilweise auch in den 
lyrischen Gedichten versucht Lope mit 
den Italienern zu wetteifern, mit Ariost, 


Tasso, Petrarca. Darin liegt schon ihre 
Verurteilung. Lope kann nur sich selber 
geben; wo er in fremden Spuren wan¬ 
delt, versagt er trotz einzelner Schön¬ 
heiten und gewandtester Technik. Wer 
so reich ist, daß er aus eigenem Tau¬ 
sende von Stücken füllen kann, kann 
sich nicht zum Nachahmer entäußern. 
Aber er geizte nach dem Ruhm eines 
Dichters. Mit Komödien, die auf der 
spanischen Volksbühne gespielt wur¬ 
den, war er nicht zu gewinnen. Sie 
verstießen gegen die Regeln des Ari¬ 
stoteles und galten nicht als Kunst¬ 
werke. Lope schrieb sie, wie er selber 
versichert, nur um Geld zu verdienen; 
den Ruhm erwartete er von seinen an¬ 
deren Werken. Es hat etwas Rühren¬ 
des, wie der große Mann sich bestän¬ 
dig um den Beifall des Meisters der 
Kunstdichtung, um den Gongoras be¬ 
müht, obgleich ihm dessen Schaffen, 
so sehr er es bewunderte, von Herzen 
unsympathisch sein mußte. Erst spä¬ 
ter änderte sich seine Auffassung, als 
er sich von dem Jubel und der Zu¬ 
stimmung der ganzen Nation empor¬ 
getragen fühlte. Da erklärt er, daß die 
großen Genies über die Regeln erha¬ 
ben seien, und stolz rühmt er sich als 
den Schöpfer und Meister des spani¬ 
schen Nationaldramas. Diesen Ruhm 
hat ihm die Nachwelt und, von weni¬ 
gen Ausnahmen abgesehen, schon die 
Mitwelt zugebilligt. 

Sowohl die Begabung Lopes wie die 
damalige geringe Einschätzung der Ko¬ 
mödie bringen es mit sich, daß er so 
gut wie keine Entwicklung durch¬ 
macht. Der Gedanke, daß selbst das 
größte Talent in strenge Zucht genom¬ 
men werden muß, kommt ihm nicht. 
Wohl hat er über seine Kunst nachge¬ 
dacht. ja er schreibt sogar eine Ars 
poetica, aber er befaßt sich darin nur 
mit der objektiven Seite des Dramas, 

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Max J. Wolff, Lope de Vega 


mit dessen Wirkung auf das Publikum, 
niemals mit seiner subjektiven Grund¬ 
lage, mit der Person des Dichters. Mit 
elf Jahren fängt er an, Stücke zu schrei¬ 
ben; sie sind unbeholfen und kindlich, 
aber bald sind die Mängel überwunden, 
und mit zwanzig Jahren hat er seinen 
Stil gefunden, dem er fünf weitere 
Jahrzehnte treu bleibt. Die Jahre bedeu¬ 
ten weder einen Fortschritt noch einen 
Rückschritt in seiner Kunst. Ob ein 
Drama besser oder schlechter ausfällt, 
hängt in erster Linie vom Stoffe, vom 
Dichter nur insofern ab, als ihm die 
äußeren Ereignisse mehr oder weniger 
Zeit lassen und ihn in eine freiere 
oder gedrücktere Stimmung versetzen. 
Wenn seine Stücke in den letzten Le¬ 
bensjahren mehrfach versagen, so 
schiebt Lope das mit Recht auf die 
Launenhaftigkeit des Publikums, das 
sich neuen Größen zuwendete. Zwan¬ 
zig Jahre lang hat er die Bühne unbe¬ 
schränkt beherrscht, aber er blieb sich 
immer bewußt, daß seine Herrschaft 
auf schwankender Grundlage, auf der 
Gunst der Menge, aufgebaut war. Je¬ 
des neue Talent erscheint ihm gefähr¬ 
lich, es kann ja der Nebenbuhler sein, 
der ihn stürzt Daraus erklären sich 
seine dauernden Klagen über Neid und 
Anfeindung, während wir den Eindruck 
haben, daß er es ist, der jeden Wett¬ 
bewerber neidisch bekämpft. Aber Lope 
ist frei von jeder Bosheit. Die jüngeren 
Dichter, die ihm als Meister huldigen, 
lobt und fördert er; nur diejenigen, die 
ihm die schuldige Anerkennung versa¬ 
gen, verfolgt er. Dabei ist ihm jedes 
Mittel recht. Diese Kämpfe werden 
nicht zwischen Dichtern geführt, son¬ 
dern zwischen Konkurrenten, die sich 
gegenseitig in ihrer Existenz bedrohen. 
Es sind Wirtschaftskämpfe, die mit der 
ganzen Erbitterung des Wirtschafts¬ 
krieges ausgetragen werden. 


3. 

Lope wie seine Genossen waren dar¬ 
auf angewiesen, von ihren Stücken zu 
leben, und die damalige Bühne ge¬ 
währte einem Autor, zumal von der un¬ 
geheueren Schaffenskraft des unseren, 
einen ausreichenden Lebensunterhalt. 
Er hatte für seine Zeit recht gute Ein¬ 
nahmen, aber da ihm Rechnen offen¬ 
bar schwerer als Dichten fiel, niemals 
Geld. Um dem Mangel abzuhelfen, 
mußte er sich nach damaliger Sitte 
einer. Gönner suchen, d. h. er begab 
sich in den Dienst eines vornehmen 
Herrn. Seine ersten Versuche scheinen 
nicht erfolgreich gewesen zu sein, we¬ 
nigstens führten sie zu keinen dauern¬ 
den Beziehungen, erst in dem Herzog 
von Sessa fand er den richtigen Mann. 
Es ist ein Verdienst dieses Aristokra¬ 
ten, daß er für den Dichter treu bis zu 
dessen Tode gesorgt hat; die Aufgabe 
war nicht leicht, denn Lopes Bedürf¬ 
nisse sind groß und mit jeder Kleinig¬ 
keit wendet er sich bettelnd an den 
Gönner, sei es, daß seine Frau einen 
Wagen braucht, sei es, daß seine Kin¬ 
der neue Kleider haben müssen. Geld 
ist nie vorhanden. Der Dichter war dem 
Herzog dankbar, und wenn sein Dank 
zuweilen Formen annimmt, die unser 
Gefühl verletzen, so liegt das in den 
zeitlichen Verhältnissen begründet, ent¬ 
sprach aber auch dem großen Abstand, 
der zwischen ihm und einem Gran¬ 
den des Reiches bestand. Lope küßt, 
wie er schreibt den Staub, den der Fuß 
seines Gönners betreten, ja der Erdbo¬ 
den, den jener berührt hat, ist ihm wert¬ 
voller als seine Frau und Kinder. Aber 
Huldigungen genügten dem Herzog 
nicht, er beanspruchte weitere Dienste. 
Er besaß wie sein Schützling eine 
starke Neigung für das weibliche Ge¬ 
schlecht, besonders für die Damen des 
Theaters, und die Korrespondenz mit 


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Max J. Wolff, Lope de Vega 


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diesen Freundinnen mußte Lope de 
Vega führen. Daß man sich Liebes¬ 
briefe von einem poetisch veranlagten 
Diener schreiben ließ, war in der Re¬ 
naissance nichts Außergewöhnliches, 
aber die des Herzogs trugen einen 
eigentümlichen, offenbar höchst unmo¬ 
ralischen Charakter. Der Dichter emp¬ 
fand später Gewissensbisse, diese Tä¬ 
tigkeit fortzusetzen, und der Priester 
verweigerte ihm sogar die Absolution, 
falls er das Amt nicht aufgäbe. Man 
kann zur Entschuldigung des großen 
Dramatikers nicht sagen, daß er sich 
ausschließlich auf Befehl des Gönners 
mit solchem Schmutz befaßte, denn er 
muß zugeben, daß auch seine eignen 
Briefe an Amarilis, die der Herzog drin¬ 
gend zu lesen wünscht, „mehr Zoten 
als Witz“ enthalten. Er war eine stark 
erotische Natur, die nicht nur wie alle 
Zeitgenossen an der gut vorgetragenen 
Pikanterie, sondern am Obszönen sel¬ 
ber Gefallen fand. 

Das Kapitel „Lope und die Frauen“ 
würde, wenigstens nach dem vorhan¬ 
denen Material, trotz der Vielheit der 
Erscheinungen an einer gewissen Ein¬ 
förmigkeit leiden, vor allem würde der 
moderne Leser eine Liebe zu einer gei¬ 
stig hochstehenden Frau vermissen. 
Das ist eine anachronistische Auffas¬ 
sung. Höheres geistiges Leben gab es 
damals nur in der vornehmsten Aristo¬ 
kratie, und diesen Herzoginnen und 
Marquisen durfte der Dichter wohl hul¬ 
digen und seine Werke widmen, aber 
für seine Liebe standen sie viel zu 
hoch. Das Höchste, was ihm erreich¬ 
bar war, war die reiche Bürgersfrau. 
Eine solche hat er in seiner Amarilis 
gefunden, aber auch diese Liebe ist 
derb-sinnlich und der Gesang der Ge¬ 
liebten ist der einzige nichtkörperliche 
Vorzug, den er an ihr zu rühmen weiß. 
Was er sonst liebt, sind zumeist Schau¬ 


spielerinnen. Ihre Selbständigkeit und 
ihre Tätigkeit brachten es mit sich, daß 
sie geistig freier und regsamer waren 
als die gedrückten Frauen des Bürger¬ 
standes; desto schlechter war ihr Ruf. 
Lope macht sich keine Illusionen und 
gelegentlich nennt er sie spöttisch: 
mehr Dirnen als Damen. Es kommt 
nicht darauf an, wen man liebt, son¬ 
dern wie man liebt. Der Dichter stürzt 
sich in diese „Verhältnisse" mit der 
ganzen Wucht der großen Leidenschaft, 
die selbst das Gemeine adelt. Seine 
Liebe ist sinnlich, sogar roh, aber nie¬ 
mals lüstern. In jedem Weibe sucht er 
das Ideal, und wenn ihn die Sinnen¬ 
gier von einer Frau zur andern jagt, so 
liegt es daran, daß er das Ideal niemals 
findet. Freilich ist es ein körperliches 
und menschliches Ideal, nach dem er 
trachteL Dem übermächtigen Petrarkis- 
mus macht er selbst in seiner Lyrik so 
wenig Zugeständnisse, als es im 16. 
Jahrhundert möglich war, und in sei¬ 
nen Komödien zeichnet er Frauen, die 
gesund und fest mit beiden Füßen auf 
der Erde stehen, keine ätherischen We¬ 
sen, keine deklamierenden Heroinen, 
aber auch keine Teufelinnen. So na¬ 
türlich wie seine Liebe sind seine 
Frauengestalten, sie wollen begehrt, 
aber nicht vergöttert werden. 

Diese Liebschaften begleiten den 
Dichter durch sein ganzes Leben; selbst 
seine zweimalige Vermählung unter¬ 
bricht sie nicht. Dabei hat er offenbar 
seine erste Gattin innig geliebt und 
mit der zweiten eine gute Ehe geführt. 
Er weiß das Glück der Häuslichkeit zu 
würdigen, er schwärmt für seinen klei¬ 
nen Garten und mit Entzücken beob¬ 
achtet er die geringen täglichen Fort¬ 
schritte seines Söhnchens. Aber so sehr 
ihm auf der einen Seite die Ruhe und 
das stille Glück willkommen sind, 
ebensosehr braucht er den Sturm der 


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Max J. Wolff, Lope de Vega 


460 


Leidenschaft. Dafür ist er ein Dichter. 
Eine alte Geliebte kehrt aus Italien zu¬ 
rück. Die Erinnerung an die genosse¬ 
nen Freuden wird übermächtig, Lope 
verläßt Weib und Kind, um in die 
Arme dieser Theaterprinzessin zu stür¬ 
zen, die er selbst nur als die „Tolle" 
(Ia Loca) bezeichnet. Sein Herz war 
groß genug für Gattin und Geliebte. Er 
findet bei solcher Gelegenheit sogar er¬ 
greifende Töne, um den Schmerz der 
verlassenen Frau und Mutter zu schil¬ 
dern, wie ihn auch seine soeben ge¬ 
schlossene Ehe nicht verhindert, den 
Todestag einer verstorbenen Freundin 
mit wehmütigen Klagen erinnerungs¬ 
still zu begehen. Lope brauchte ne¬ 
ben der Frau eine Geliebte, die seine 
Sinne entflammte, die ihn durch ihre 
wechselnden Launen abstieß und an¬ 
zog, kurz, die ihm das gewährte, was 
ihn zum Dichter machte. Ob seine 
Frauen unter seiner Untreue litten? Ob 
sie einer so tiefen Empfindung über¬ 
haupt fähig waren, wie sie der Dichter 
Sn dem schon erwähnten Gedicht der 
einen in den Mund legt? Wir wissen 
es nicht, aber nach der damaligen Stel¬ 
lung und Erziehung der spanischen 
Mädchen müssen wir es bezweifeln. 
Vermutlich trugen sie ihr Schicksal in 
dumpfer Ergebung; sollten sie aber 
ihre Zeitgenossinnen überragt haben, 
so wurden sie, wie die Frauen großer 
Männer zumeist, das Opfer dieser 
Größe. 

Lope war ein liebevoller, zärtlicher 
Vater, sowohl für seine ehelichen wie 
unehelichen Kinder, die er bereitwillig, 
wenn auch nicht gegen die Gewohn¬ 
heit seiner Zeit, in sein Haus aufnahm. 
Er hat das Vaterglück, aber noch mehr 
den Vaterschmerz bis zur Hefe aus- 
gekostet Die meisten seiner Kinder 
starben vor ihm, und ihm blieb nur der 
Trost, ihren Verlust im Gedicht zu be¬ 


weinen. Als schwerster Schlag aber traf 
ihn ein Jahr vor seinem eignen Ende 
die Entführung seiner siebzehnjährigen 
Tochter Antonia Clara, des Kindes der 
einst heißgeliebten Amarilis. Sie war 
die Freude seines Alters, in ihr lebte 
die Erinnerung an seine Jugend, an 
seine Geliebte und an das eheliche 
Glück, das er dereinst genossen. Daß 
sie für ihn „eine Seele aus Stein und 
ein Herz von Eis" besaß, muß ein ent¬ 
setzlicher Schlag gewesen sein. Noch 
schwerer freilich mochte er empfinden, 
daß der hochgestellte Verführer für die 
Gerechtigkeit wie für seine Rache un¬ 
erreichbar war, am schwersten aber, 
daß er sich selbst die mittelbare Schuld 
an diesem Unglück zuschreiben mußte. 
„Wie der Baum, so die Frucht", mit die¬ 
sem bittern Selbstvorwurf schließt das 
Gedicht, in dem der Zweiundsiebzig- 
jährige diesen vielleicht herbsten 
Schmerz seines Lebens beklagt Er 
mußte sich sagen, daß er trotz aller 
Liebe kein guter Vater gewesen war, 
wenn man unter Vater den Erzieher 
und das Vorbild der Kinder versteht. 

4. 

Lope hatte schon manches Bittere 
erduldet, als er sich zweiundfünfzig- 
jährig dem geistlichen Stande wid¬ 
mete. Ein gläubiger Katholik war er 
zeit seines Lebens, das war in dem da¬ 
maligen Spanien selbstverständlich; der 
Entschluß wäre also begreiflich, wenn 
der Dichter damit die Absicht einer 
Ein- und Umkehr verbunden hätte. 
Aber trotz zweimaliger Witwerschaft, 
trotz des Todes des kleinen Carlos wa¬ 
ren seine Lebenskraft und Lebenslust 
unvermindert. In ungebrochener Frische 
stand er da und dachte nicht an Reue 
und Buße. Als er in Toledo weilt, um 
die Weihen zu empfangen, wohnt er 
bei seiner Geliebten, einer bekannten 


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Max J. Wolf!, Lope de Vega 


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Schauspielerin, und seine Briefe aus 
dieser Zeit befassen sich mit Theater¬ 
klatsch, aber nicht mit Weltentsagung. 
Man kann nur annehmen, daß er aus 
materiellen Gründen Geistlicher wurde, 
vermutlich in der Hoffnung auf eine 
gute Pfründe. Die Frömmigkeit spielt 
nur insoweit mit, als sie dem Dichter 
gestattete, diesen Schritt aus voller 
Überzeugung zu tun. Heuchelei ist 
Lope fremd, im Gegenteil, er neigte 
dazu, seine Fehler zur Schau zu stellen; 
und nichts lag ihm ferner als der Ge¬ 
danke, unter dem Schutze des Priester¬ 
kleides einen ausschweifenden Wan¬ 
del zu führen. Er war aufrichtig wie 
immer, aber der Geistliche konnte in 
ihm weder den Dichter noch den Men¬ 
schen ertöten. Die Kirche in Spanien 
stand dem Theater duldsamer gegen¬ 
über als in andern Ländern, aber die 
Gegensätze waren doch unversöhnlich. 
Lope hat diesen Konflikt offenbar nicht 
gefühlt, so wenig wie den zwischen 
seiner Ehe und seiner Liebe. Er erfüllte 
seine priesterlichen Pflichten und er 
schrieb weiter Bühnenstücke. Das eine 
hat nichts mit dem andern zu tun. Erst 
mit den Jahren kommen ihm Gewissens¬ 
bedenken, er macht sich Vorwürfe, 
daß er noch immer verliebte Komödien 
schreibt, er will sich vom Theater zu¬ 
rückziehen, ja er schlägt sogar dem 
Herzog von Sessa vor, sein Hauskap¬ 
lan zu werden. Dieser seelische Kampf 
schließt, nachdem zeitweilig die Fröm¬ 
migkeit die Oberhand gewonnen hatte, 
mit dem Siege der Bühne. Der Greis 
von zweiundsiebzig Jahren erklärt, daß 
er sich aufs neue in den Dienst 
des verehrten Publikums stelle, und er 
schreibt ein Stück so frisch und leben¬ 
dig wie in seiner besten Zeit. Aber ein 
neues Geschlecht saß im Theater, das 
neue Reizmittel verlangte. Lopes letzte 
Stücke führten nur zu halben Erfol¬ 


gen, wenn nicht gar zu Mißerfolgen. 
Er hatte sich selber überlebt. Die 
schwerste Kunst, zur rechten Zeit auf¬ 
zuhören, die Shakespeare besaß, war 
ihm versagt. Er mußte es erleben, daß 
der Zauber, den er auf die Massen aus¬ 
geübt hatte, versagte. 


Lope de Vega in seiner Gesamtheit 
ist eine der wunderbarsten Erscheinun¬ 
gen der neueren Literatur, ja der neue¬ 
ren Geschichte überhaupt. Die Natur 
selber spricht aus ihm. Er ist ein Voll¬ 
mensch, ungebrochen, von keinem Be¬ 
denken gehemmt, von keinem Zweifel 
zerrissen, wie er auf dem Boden des 
Christentums kaum wieder vorkommt. 
Aus dieser unverkünstelten Ganzheit 
fließt die unverwüstliche Lebensenergie 
des Mannes, aus ihr auch das Wesen 
seiner Begabung. Er gehört zu den 
Genies, die nur sich selber zu geben 
brauchen, und sie geben der Mensch¬ 
heit das Höchste, was ihr zuteil wer¬ 
den kann. Diese Glücklichen wissen 
nichts von dem qualvollen Ringen der 
Tantaliden, die sich auf der Folter des 
eigenen Ichs winden. Lope war in die¬ 
ser Hinsicht in seltenem Maße begün¬ 
stigt. Und doch hat auch er das Leben 
als Kampf empfunden, sich selbst als 
Kämpfer betrachtet. Auch er zog dahin 
„unbefriedigt jeden Augenblick“. Er ist 
völlig einig mit seiner Zeit, daran liegt 
es, daß er erst spät nach innen zu le¬ 
ben beginnt, nachdem seine stürmi¬ 
schen Jugend- und Mannesjahre vor¬ 
über sind; erst an der Schwelle des Al¬ 
ters stellt sich bei ihm das Gefühl der 
Glücklosigkeit ein. Es entspringt nicht 
dem Titanentrotz und der jugendlichen 
Zerrissenheit wie bei Goethe, sondern 
der reifen Erkenntnis; es äußert sich 
nicht als ein Aufbäumen gegen das 
Schicksal, sondern als wehmutsvolle 


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464 


463 Nachrichten und Mitteilungen 


Unterwerfung, und es ist mit der Ein¬ 
sicht gepaart, daß uns diese Unbefrie- 
digtheit nicht zum Fluch, sondern zum 
Segen gegeben ist, daß der Mensch 
nicht bestimmt ist, behaglich zu ge¬ 
nießen, sondern dauernd zu streben. 


Als gläubiger Christ erwartet er den 
Frieden im Jenseits, auf Erden dage¬ 
gen, so faßt er die Weisheit seines 
langen und arbeitsreichen Lebens zu¬ 
sammen, ist das Ringen das Wert¬ 
vollste, wertvoller als das Besitzen. 


Nachrichten und Mitteilungen. 


Neue Literatur zur Geschichte des Altertums. 

Wir stehen an einer Weltenwende wie 
in den Tagen des Übergangs vom Altertum 
zum Mittelalter. Zweigeteilt als Westrom 
und Ostrom hatte das Imperium Romanum, 
in welchem die antike Kultur wie in einem 
großen Sammelbecken zusammengeflossen 
war, sich hinübergerettet in die neue Zeit 
Europas, die durch Christentum, Germanen¬ 
tum und Slawentum heraufgeführt wurde. 
Heute sehen wir die beiden Erben Ostroms, 
Rußland und die Türkei, die so lange um 
das Wahrzeichen des Ostreiches, die Hagia 
Sophia, im Kampf miteinander gelegen 
haben, aufs tiefste getroffen am Boden liegen. 
Das Zarentum, das mit dem doppelköpfigen 
Adler der Paläologen einst das byzantinische 
Griechentum mit seinen Weltherrschafts¬ 
plänen nach Moskau verpflanzt hatte, hat 
aufgehört zu existieren, und das Khalifat, 
das trotz der Vernichtung des romäischen 
Kaisertums im inneren Aufbau des türkisdien 
Staates so unendlich viel von dem Byzan- 
tinertum ererbt hatte — auch hier gilt das 
Horazische Wort: Graecia capta cepit vic- 
torem —, ist ein Schatten seiner ehemaligen 
Größe. Mit dem Habsburger-Staate aber 
ist der letzte Rest des römischen Kaiser¬ 
reiches deutscher Nation, des mittelalter¬ 
lichen Westroms, das unter Kaiser Sigis¬ 
mund ebenfalls den oströmischen Doppel¬ 
adler rezipiert hatte, dahingesunken. 

Bei der letzten großen Weltenwende war 
die Geschichte Europas vom Süden des 
Kontinentes nach dessen Mitte gewandert, 
heute scheint es, als wolle sie Europa ver¬ 
lassen. Der .Untergang des Abendlandes“ 
ist im Anzug, die Weltgeschichte beginnt. 
Wir sind mit unserem jungen Reiche trotz 
höchster Kraftanstrengung nach schier über¬ 
menschlichen militärischen Leistungen, wie 
sie noch kein Volk bis heute vollbracht hat, in 
den Zusammenbruch Europas, dessen räum¬ 
liche Mitte, dessen Seele und Gewissen zu¬ 
gleich wir waren, mithineingerissen worden. 


Kein Wunder, daß viele unserer Besten 
in diesen Tagen, da das Schicksal unserem 
armen Volk so furchtbar mitspielt, den Blick 
rückwärts wenden, über das letzte Säku- 
lum europäischer Geschichte hinweg, in die 
alte Geschichte der Mittelmeervölker, wo 
die Entwicklung großer Reiche durch die 
Jahrtausende hindurch sich überschauen 
läßt und Völker uns entgegentreten, die 
nach Jahrhunderten des Aufstieges auch 
solche des Niedergangs aufweisen, um dann 
wieder wie verjüngt von neuem emporge¬ 
tragen zu werden. 

Wie in allen großen und entscheidenden 
Entwicklungsphasen unseres Volkes sehen 
wir auch heute wieder in diesen Zeiten der 
inneren und äußeren Not viele unter uns vor 
allem .das Land der Griechen mit der Seele 
suchend“. Zeugnis hiervon legen zwei kleine¬ 
re Werke ab, von denen das eine — eine Sam¬ 
melschrift .Vom Altertum zur Gegenwart“ — 
in dieserZeitschrift bereits eingehend gewür¬ 
digt ist. 1 ) Das andere ist das Werk eines 
Einzelkämpfers *). Beide versuchen die gro¬ 
ßen Zusammenhänge zwischen Altertum und 
Gegenwart nach dem Stande und mit den 
Mitteln der neuesten Forschung aufzuzeigen, 
offenbar aus dem instinktiven Gefühl heraus, 
daß in einer Zeit, die im Dasein unseres 
Volkes nach außen und im Inneren so vieles 
niederreißen will, die Tradition und zwar 
als produktives Element für die weitere Ent¬ 
wicklung gepflegt werden muß. Denn .alles, 
was in unserem Volkstum alt und von Adel 
ist, alle Urkräfte, die mitgewirkt haben an 
der Kraft und Schönheit seines unvergleich¬ 
lichen Aufstiegs, den niederzuschmettern 


1) Siehe Alfred Körte im Augustheft 1919 
(Jahrg. 13, Sp. 767—782). 

2) Otto Immisch, Das Nachleben der An¬ 
tike. Das Erbe der Alten. Neue Folge I. 
Leipzig, Dietrich 1919. Vgl. auch E. Stemp- 
linger und H. Lamer, Deutschtum und An¬ 
tike in ihrer Verknüpfung. Aus Natur- und 
Geisteswelt Bd. 689. Leipzig 1920, Teubner. 


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Nachrichten und Mitteilungen 


466 


465 


nur der Übermacht einer ganzen Welt rühm¬ 
los gelang, alles was uns nach rückwärts 
bindet an das, was das Edelste und Beste 
in unserer Art war, das bedarf jetzt sorg¬ 
samerer Pflege als je zuvor“ 3 ). Unter den 
Mustern kurzer wissenschaftlicher Orien¬ 
tierung, die das Sammelwerk bietet, ist ein 
Kabinettstück die Skizze von L. Curtius 
über das Verhältnis der nachantiken Kunst 
zur Antike, in der das immer wieder von 
neuem aufgenommene Ringen jedes Zeit¬ 
alters mit der alten Welt gewissermaßen 
.als immanentes Schicksal der ganzen neuen 
Geschichte“ zur Darstellung gebracht wird 4 ). 

Die Wissenschaft, die solche Problem¬ 
stellungen in den Vordergrund schiebt, hat 
zur Voraussetzung eine klare Erfassung des 
Altertums und zwar des gesamten Alter¬ 
tums vom alten Orient bis nach Byzanz. 
Wenn manche der betrachteten Skizzen 
noch etwas vermissen lassen, so ist es eine 
lebendige Erkenntnis der Bedeutung des 
alten Orients. Die Antike ist nichts Ein¬ 
heitliches, zum mindesten sind es zwei 
Welten und zwei Weltanschauungen, die 
innerhalb derselben miteinander ringen, die 
des Orients und des Okzidents, wie schon 
der alte Herodot erkannt hat. Eine Über¬ 
sicht über die das Altertum behandelnde 
neueste Literatur kann daher den Orient 
nicht beiseite lassen, muß vielmehr bei der 
heutigen Lage der Altertumswissenschaft 
von ihm ausgehen. 

In der orientalischen Geschichte hat heute 
die Archäologie das Wort, die unausgesetzt 
neues Material herbeischafft und dadurch 
allmählich die großen Lücken unserer Er¬ 
kenntnis ausfüllt. Keine Entdeckung aber 
verspricht so weittragende Früchtezu bringen 
als diejenige des Reichsarchivs der Hethiter- 
Hauptstadt in Bogahzköi, für die Hugo 
Winckler sein freudeloses Forscherleben 
hingegeben hat 3 6 ). Die Wissenschaft ist eben 
daran, die neuen Funde der Öifentlichkeit 
bekannt zu machen. Am besten orientiert 
über die Hethiter-Literatur ein Aufsatz von 
WalterOtto 8 ). Die Entzifferung der Sprache 


3) O. Immisch, a. a. 0. S. 63. 

4) .Kunst* in „Vom Alt. z. Gegw.“ S. 173 
-192. 

5) Vgl. die zwei Gedächtnisreden von 
A. Jeremias und 0. Weber nebst Winckler- 
Biographie von O. Schroeder in den Mitt. 
der Vorderasiat. Gesellschaft 20, 1 (1916.) 

6) Historische Zeitschrift CXVII, (1917) 

S. 189 ff. 


und andere Indizien haben erwiesen, daß 
ein indogermanischer Bestandteil in diesem 
ostanatolischen Volkstum, das dann auch 
nach Syrien übergegriffen hat, steckt. Für 
ein anderes Volk Kleinasiens, das lydische, 
haben die Ausgrabungen der Amerikaner 
in Sardes neue Erkenntnis geliefert, und es 
ist zu begrüßen, daß Enno Littmann 7 ) 
die inschriftlichen Ergebnisse dieser Aus¬ 
grabungen, einheimische lydische Denk¬ 
mäler, darunter zweisprachige (lydisch-ara- 
mäische und lydisch-griechische) in muster¬ 
gültiger Weise veröffentlicht und die Be¬ 
ziehungen des Lydischen zu den übrigen 
kleinasiatischen Sprachen und zum Etrus¬ 
kischen untersucht hat, der erste große Fort¬ 
schritt über Paul Kretschmers glänzende 
„Einleitung in die Geschichte der griechischen 
Sprache“ hinaus. Auch die Assyriologie und 
Ägyptologie stehen im Zeichen neuer, um¬ 
fangreicher Materialveröffentlichungen, die 
hier aufzuzählen zu weit führen würde. Da- 
nebenher gehen große Arbeiten zur Aus¬ 
wertung vorhandener Quellen. L. Bor- 
chardt 8 ) hat die auf dem Stein von Pa¬ 
lermo erhaltenen Annalen des alten Reiches 
scharfsinnig rekonstruiert und die seither üb¬ 
liche, von Eduard Meyer aufgestellte ägyp¬ 
tische Chronologie der älteren Zeiten ernstlich 
in Frage gestellt. Nach Borchardts Zeitrech¬ 
nung ist die ägyptische Geschichte viel älter, 
als wir seither annahmen (erstes Jahr des 
Menes gleich 4186 statt seither 3315 + 100). 
Ein sehr verdienstliches Unternehmen hat 
der Königsberger Professor WalterWre- 
szinski“) begonnen, das unsdurchWort und 
Bild in ausgezeichneter Weise in altägyp¬ 
tisches Kulturleben einführt. Aus langjäh¬ 
riger Beschäftigung mit der ägyptischen 
Kunst ist das Werk Heinrich Schäfers 10 ) 
hervorgegangen. Es ist wie kein zweites 

7) Sardis. Publications of the American 
Society for the excavation of S. Vol. VI Ly- 
dian inscriptions Part. I by Enno Littmann. 
Leyden 1916. 

8) Quellen und Forschungen zur Zeitbe¬ 
stimmung der ägyptischen Geschichte 1(1917); 
vgl. dazu C. F. Lehmann-Haupt, Klio 
XVI (1919/20). S. 200ff. 

9) Atlas zur altägyptischen Kulturge¬ 
schichte, bis jetzt fünf Lieferungen (I. Band, 
1. Hälfte) 1914/15. 

10) Von ägyptischer Kunst, besonders der 
Zeichenkunst. Eine Einführung in die Be¬ 
trachtung ägyptischer Kunstwerke. I. Bd. 
(Text). II. Bd. (Tafeln). Leipzig 1919, J. C. 
Hinrichs. M. 18 ohne Teuerungszuschlag. 


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Nachrichten und Mitteilungen 


470 


einmal der Renaissance gelungen ist. Es 
ist äußerst reizvoll zu sehen, wie Dichter, 
Philosophen, Mediziner, Redner und Histo¬ 
riker in den drei großen Epochen griechischer 
Geschichte an derselben Aufgabe sich ver¬ 
suchen, wie das Problem sich erweitert und 
vertieft, wie z. B. Euripides das psycholo¬ 
gische Rätsel des Weibes erfaßt, wie Ari- 
stophanes zum erstenmal darüber gelacht 
hat, wie endlich ein Aristoteles, dem der 
Mensch wie das Tier in gleicher Weise 
Gegenstand der Forschung wird, die Cha¬ 
rakterkunde auf psychologischer Grundlage 
zur Wissenschaft erhebt, so daß in seiner 
Schule dann die Biographie, das größte 
literarische Produkt der hellenistischen Zeit, 
geschaffen werden konnte. Einen einzelnen 
dieser griechischen Menschenschilderer, den 
größten Historiker des Altertums, hat Ed. 
Schwartz“) sich zum Vorwurf genommen, 
um das alte Problem von der Entstehungs- 
weise des thukydideischen Werkes der Lö¬ 
sung näherzubringen. Ausgangspunkt ist 
die Tatsache, daß das Werk Urkunden ent¬ 
hält, die mit der streng gewahrten Stilein¬ 
heit des Ganzen in unerträglichem Wider¬ 
spruch stehen. Die Teile, die diese Urkun¬ 
deneinlagen enthalten, sind erst nach 404 
verfaßt oder wenigstens damals von neuem 
in Arbeit genommen worden, um unfertig 
zu bleiben. Ein Herausgeber hat den jetzigen 
Zustand der Dinge in diesen Partien her¬ 
beigeführt. Von hier aus wird dann in 
kühnem Zugreifen der Gegensatz der älteren 
Darstellung des Archidamischen Krieges 
und der letzten „Retraktation“ des Werkes 
zu erweisen gesucht, und zum Schluß ein 
Bild gezeichnet, das auf den deutschen 
Leser von heute erschütternd wirkt. Nach 
des Vaterlandes Zusammenbruch kehrte der 
Historiker aus der Verbannung zurück und 
stand einsam unter seinen Landsleuten, 
deren Denken und Handeln er nicht mehr 
begriff. Da hat er sich zu seinem Lebens¬ 
werk geflüchtet und hat es aus den bitteren 
Erfahrungen der nun beginnenden Leidens¬ 
zeit Athens heraus von neuem überarbeitet. 
„Sein starker, durch das eigene Schicksal 
und die Katastrophe des Vaterlandes nicht 
gebrochener Geist sträubte sich dagegen, 
in dem Krieg, dessen Größe ein Teil seines 
eigenen besten Seins geworden war, das 
Resultat eines groben Fehlers zu sehen, den 


24) Das Geschichtswerk des Thukydides, 
Bonn 1919, Friedrich Cohen. 


Perikies hätte vermeiden können, wenn er 
nur gewollt hätte; in dem leidenschaftlichen 
Groll gegen das neue Geschlecht, das, nicht 
zufrieden mit dem Unglück der Gegen¬ 
wart, Athen auch um den unvergänglichen 
Glanz der Vergangenheit betrügen wollte, 
verstand er die eigene Darstellung nicht 
mehr, die er unter dem Eindruck des Frie¬ 
dens von 421 entworfen hatte, und beschloß 
etwas ganz Neues an die Stelle zu setzen. 
Mit dem gewaltsamen Subjektivismus des 
Künstlers, dem das, was er geschaffen hat, 
fremd geworden ist, schob er jetzt (an Stelle 
des früher betonten Gegensatzes Athen-Ko¬ 
rinth) ausschließlich den erst gewordenen 
Gegensatz zwischen Athen und Sparta in 
die Mitte, um den theoretischen Lakonismus 
an der Wurzel zu treffen; geschichtlich be¬ 
trachtet hatte er insofern recht, als Griechen¬ 
land an diesem Gegensatz allerdings zugrun¬ 
de gegangen ist“ (S. 238f.). Und was die 
innerePolitik betrifft, wurdedasWerkjetztzu 
einer Apologie Athens und des Perikies, so 
fern auch der Verfasser der Demokratie ge¬ 
standen hatte. Ein neuer, bis auf die Fun¬ 
damente veränderter Bau erstand und wuchs 
rasch empor. Da nahm, ehe das Ende er¬ 
reicht war, der Tod dem Greis die Feder 
aus der Hand. „Die Fittiche des Ruhmes, 
die den Toten über die Jahrtausende hin¬ 
wegtragen sollten, haben den Lebenden 
nicht einmal gestreift.“ Der Analyse des 
Werkes im ersten Abschnitt folgt ein zweiter 
Teil, der der Textkritik gewidmet ist. Neben 
manchen Gewaltsamkeiten finden sich hier 
Perlen philologischer Textbehandlung und 
Interpretation. Hingewiesen sei nur auf die 
Behandlung des berühmten Stückes III82—84, 
wo Thukydides von der Zerrüttung der na¬ 
tionalen Sittlichkeit durch den Geist der 
Selbstsucht infolge des verlorenen Krieges 
spricht, Kapitel, die in unseren Tagen leider 
wieder ganz modern anmuten. Von Schwanz’ 
bedeutendem Buch wird eine neue Belebung 
der Thukydidesforschung ausgehen, wie wir 
jetzt schon sehen können.“) 

Seit 404 hat der griechische Stadtstaat ab¬ 
gewirtschaftet Die nun folgende Übergangs- 

25) M. Pohlenz, Thukydidesstudien. 
Nachrichten der Gesellschaft der Wiss. zu 
Göttingen, phil.-hist. Kl. 1919 I S. 95—138, 
U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Das 
Bündnis zwischen Sparta und Athen. (Thu¬ 
kydides V), Sitz.-Ber. Ak. Berlin 1919 XLIX 
S. 934 ff. Beide lassen den Herausgeber min¬ 
der selbständig arbeiten als Schwartz. 


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Nachrichten und Mitteilungen 


472 


zeit zur hellenistischen Epoche ist, wie be¬ 
kannt, angefüllt mit Versuchen, ein neues 
Staatsideal aufzustellen, da die politischen 
Verhältnisse der Gegenwart die Besten der 
Nation abstießen. Die Ansichten der größten 
Geister sind neuerdings von führenden 
Männern unserer Wissenschaft dargestellt 
worden. Grundlegend war Sokrates' Kritik 
des perikleischen Staates, worüber Hein¬ 
rich Maier*®) kurz vor dem Krieg gehan¬ 
delt hat. Was der große Bahnbrecher der 
neuen Zeit an die Stelle der zusammenge¬ 
brochenen Demokratie gesetzt wissen wollte, 
war die Aristokratie der Wissenden mit 
einer neuen, auf derselben Grundlage auf¬ 
gebauten Gliederung der Gesellschaft, die 
jeder ehrlichen Arbeit Raum und Anerken- 
nungzuteil werden ließ. Auf diesen Gedanken 
des großen Meisters hat dann Platon sein 
Staatsideal aufgebaut, worin er das Ver¬ 
hältnis des Individuums zum Staate auf eine 
ganz neue Basis zu stellen suchte 17 ). Diese 
Geisteshelden aber stehen himmelhoch über 
ihrer Zeit, und speziell Platon verliert sich 
in die reine Spekulation, In die Zeit selber 
dagegen werden wir versetzt, wenn wir 
uns mit Geistern zweiten Ranges beschäf¬ 
tigen, wie das Erwin Scharr*®) tut, der 
Xenophons Staatsideal einer erneuten Prü¬ 
fung unterzogen hat. Im Mittelpunkt des 
Werkes steht die Untersuchung über den 
großen Staatsroman der Kyrupädie, über 
den manche unhaltbare Hypothese aufge¬ 
stellt worden ist. Dabei entwickelt Sch., 
da er den Roman aus der Zeit zu verstehen 
sucht, über die Geschichte der ersten Hälfte 
des 4. Jahrh. recht gesunde Ansichten, die 
gegenüber manchen Verstiegenheiten neu¬ 
erer Forscher recht lesenswert sind. Wir 
sehen, wie die Gedanken der neuen Zeit 
der Monarchie sich zuwenden und zwar 
bei Xenophon einem sozialen Königtum 
auf konstitutioneller Grundlage, wie die 
Schätzung der Berufsarbeit immer mehr zu- 
nimmt in ein er Welt, die die Arbeitsteilung 

26) Sokrates, sein Werk und seine ge¬ 
schichtliche Stellung. Tübingen 1913, J. C.B. 
Mohr. 

27) Vgl. U. v. Wilamowitz-Moellen- 
dorff, Platon I, II. Berlin 1919, bes. I S.389ff. 
»Der Staat der Gerechtigkeit“ und S. 647ff. 
„Resignation“ (über die Gesetze); dazu die Be¬ 
sprechung des Werkes durch H. von Arnim 
in dieser Zeitschrift Okt. 1919. 

28) Xenophons Staats- und Gesellschafts¬ 
ideal und seine Zeit. Halle 1919, Max Nie¬ 
meyer. 


im weitesten Umfang durchgeführt hatte. 
Xenophon selber ist Spezialist als Offizier 
und Landwirt. Daneben treten dann bei 
ihm sokratische Gedanken auf, so die Be¬ 
hauptung, daß der Staat die Idee der Ge¬ 
rechtigkeit zu verwirklichen habe, daß aus 
der obersten Schicht der freien Bürger (den 
öfioTifiot) diejenigen hervorgehen müssen, 
die den Staat verwalten, also das tun, was 
später das Staatsbeamtentum der helleni¬ 
stischen Zeit zu leisten hat. Überhaupt er¬ 
scheint Xenophon in vielem als Vorläufer 
jenes Staates, wie ihn Alexander und seine 
Nachfolger in die Wirklichkeit umgesetzt 
haben. Eine auch für den Historiker sehr 
wichtige Arbeit verdanken wir Karl Trü- 
dinger* 9 ), der die antike Ethnographie von 
den ersten Anfängen in Ionien an bis auf 
Tacitus’ Germania darzustellen versucht hat 
Wir lernen da die Stellung Herodots zu der 
ionischen Ethnographie kennen und erhalten 
zum erstenmal ein scharf umrissenes Bild 
der völkerkundlichen Arbeiten des Posei- 
donios, der der erste wissenschaftliche Dar¬ 
steller der Nordvölker war. 

Das Hauptwerk über das hellenistische 
Zeitalter, das Buch von Julius Kaerst* 0 ), 
ist mit dem ersten Band unter neuem Titel 
in zweiter Auflage erschienen. Vorzüge und 
Schattenseiten des Werkes sind dieselben 
geblieben. Eine Vertiefung hat das schöne 
Kapitel über die griechische Polis erfahren, 
eine starke, sehr notwendige Erweiterung 
dasjenige über den Orient vor Alexander. 
Die Darstellung der Anfänge Makedoniens 
und von Philipps Politik ist in gleicher Güte 
wie früher wieder herausgekommen: Dem¬ 
gegenüber kann der Alexander-Darstellung 
im zweiten Teil nicht das gleiche Lob ge¬ 
spendet werden. Ich habe die letzten Pläne 
Alexanders kürzlich neu aus den Quellen 
zur Darstellung gebracht* 1 ). Alexander war 
nicht, wozu Kaerst und Ed. Meyer ihn stem¬ 
peln wollen, die große „Eroberungsbestie“, 
sondern er hat zum Schluß nur die große 
Landherrschaft von der Adria bis zum Indus 
durch die Herrschaft über die angrenzenden 


29) Studien zur Geschichte der griechisch- 
römischen Ethnographie. Leipzig 1918, 
Teubner. 

30) Geschichte des Hellenismus I 2. Aufl. 
Leipzig 1917, Teubner. XII, 536 S. M. 16, 
geb. 19.80. 

31) E. Kornemann, Die letzten Ziele der 
Politik Alexanders d. Gr., Klio XVI (1920) 
S. 209 ff. 


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473 Nachrichten und Mitteilungen 474 


Meere ergänzen und damit ein großes Welt¬ 
handelsgebiet schaffen wollen, in dessen 
Mittelpunkt das Alexanderreich mit Babylon 
als Hauptstadt zu liegen kam. Darüber ist 
der große König gestorben, und die Ptole¬ 
mäer sind in diesem Punkte seine Erben 
geworden. Die Zeit nach Alexander wird 
heute am stärksten befruchtet durch die Pa¬ 
pyruskunde. Eine neue Einführung in diese 
Hilfswissenschaft hat W. Schubart’ 1 ) er¬ 
scheinen lassen, die sich neben dem großen 
Werke von U. Wilcken und L. Mitteis sehr 
wohl sehen lassen kann. Wie in dem älteren 
Werke wird auch hier ein Gesamtbild des 
Lebens im griechisch-römischen Ägypten zu 
geben versucht, das durch die zahlreichen 
Hinweise auf die moderne Spezialliteratur 
unseren Dank verdient. Fast die Hälfte des 
Buches ist den literarischen Papyri gewid¬ 
met, die am Schluß nach Schriftstellern ge¬ 
ordnet zusammengestellt sind. Hierdurch 
wie durch die ausgezeichnete Behandlung 
der Probleme der Schrift und des Buch¬ 
wesens erhält das Werk seine eigenartige 
dauernde Stellung in der Literatur JS ). Eine 
Einführung in die juristische Papyruskunde 
nennt sich mit Recht das schöne, soeben er¬ 
schienene Buch von P. M. Meyer 34 ). Es 
will an der Hand von 96 Urkunden, die 
musterhaft ediert und erklärt werden, in 
ersterLiniepapyrologischnichtvorgebildeten 
Juristen sowie Historikern und Philologen 
dienen. Den meisten Abschnitten sind kurze 
orientierende Einleitungen mit Literaturan¬ 
gaben vorausgeschickt. Unter den Texten 
sind möglichst solche gegeben, welche die 
Chrestomathie von L. Mitteis nicht enthält, 
d. h. es sind die neueren Publikationen seit 
1912 bevorzugt. Eröffnet wird die Sammlung 
mit einem Neudruck des Glanzstückes der 
Gießener Papyri, der Constitutio Antonini- 
ana. Unter Nr. 50 , 70 und 74 stehen die 
alexandrinischen Gesetze und Verordnungen 
des großen Hallenser Papyrus (Dikaiomata); 
in einem Anhang (Nr. 93) ist der von Schu¬ 
bart neuerdings veröffentlichte Gnomon 
(über mandatorum) des Idios Logos aus der 


32) Einführung in die Papyruskunde, Ber¬ 
lin 1918, Weidmann. 

33) Vgl. auch das Büchlein von Fr.Prei- 
sigke, Antikes Leben nach den ägyptischen 
Papyri. Aus Natur u. Geisteswelt Bd. 565. 
Leipzig 1917, Teubner. Geb. M. 2.65. 

34) Juristische Papyri. Erklärung von Ur¬ 
kunden zur Einführung in die juristische 
Papyruskunde. Berlin 1920, Weidmann. 


Zeit des Antoninus Pius wieder abgedruckt. 
Wie Schubart neben Wilcken, so wird man 
Meyers Buch neben Mitteis oft und gern zu 
Rate ziehen. Die Publikation von neuem Pa¬ 
pyrusmaterial ist durch den Kriegnur verlang¬ 
samt, nicht ganz unterbrochen worden. Er¬ 
wähnt sei, daß der XIII. Band der Oxyrhyn- 
chus-Papyri 36 ) unterNr.l610Fragmenteeines 
Historikers zur Geschichte des 5. Jahrh. ent¬ 
hält, die offenbar von Ephoros stammen. 
Aus der Masse der das Material verarbeiten¬ 
den Werke greife ich nur zwei heraus, ein¬ 
mal das Werk von Wilckens Schüler Fried¬ 
rich Oertel 38 ). Den Inhalt der „Liturgie“ 
bestimmt der Verf. als den zwangsmäßig 
von Staat oder Kommune auferlegten Dienst 
für das Gemeinwesen, entsprechend etwa 
dem, was der Römer als munus bezeichnet 
und daher wie dieses vom Amt (&qzv, ho- 
nor) scharf zu trennen. Bei dem Inein¬ 
anderfließen von Staat und Wirtschaft im 
Altertum ist dies ein ungeheures Gebiet, und 
Oertels Buch bedeutet für uns eine große 
Bereicherung unserer Kenntnis der ptole- 
mäischen und römischen Verwaltung Ägyp¬ 
tens. Ein juristisches Thema behandelt Mit¬ 
tels’ Schüler H. Kreller 37 ). Es galt das Erb¬ 
recht auf juristischem Neuland, wo ein be¬ 
schränkt empfundenes Eigentum an einem 
sozial durchaus gebundenen Besitz vorliegt, 
zur Darstellung zu bringen. Neben dem 
einheimischen ägyptischen Recht steht die 
Weiterbildung des griechischen Rechtes im 
Vordergrund, während das römische Recht 
auf die herrschende Minderheit beschränkt 
bleibt. „Nichts wäre falscher als der Glaube, 
daß mit der römischen Herrschaft im Orbis 
terrarum das römische Privatrecht als allein 
geltendes eingezogen sei“, sagt 011 o E g e r =a ) 
in seinem interessanten Büchlein, das das 
rechtshistorische Material der Papyrusur¬ 
kunden zur Aufhellung mancher Rechtsfälle 
im Neuen Testament benutzt. Die Theologie 


35) The Oxyrhynchus-Papyri. Herausgeb. 
von B. P. Grenfell und A. S. Hunt. B. XIII. 
London 1919, S. 98ff. 

36) Die Liturgie. Studien zur Geschichte 
der ptolemäischen Verwaltung. Leipzig 
1918, Teubner. 

37) Erbrechtliche Untersuchungen auf 
Grund der gräcoägyptischen Papyrusurkun¬ 
den. Leipzig 1919, Teubner. 

38) Rechtsgeschichtliches zum Neuen Te¬ 
stament. Rektoratsprogramm der Univer¬ 
sität Basel für das Jahr 1918. Basel 1919, 
Univ.-Buchdruckerei. 


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Nachrichten und Mitteilungen 


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wird dem Juristen für diese wertvolle Unter¬ 
stützung Dank wissen. Neben der Papyrus¬ 
kunde ist die Epigraphik die vornehmste 
Hilfswissenschaft der alten Geschichte. Auf 
diesem Gebiete ist es sehr zu begrüßen, daß 
unsere beste Handsammlung griechischer 
Inschriften von einem der ersten Kenner, 
F. Hiller von Gaertringen’ 9 ), neu und 
stark vermehrt herausgegeben wird. Den 
größten Zuwachs haben die delphischen In¬ 
schriften, bearbeitet von H. Pomtow, ge¬ 
bracht. 

Die römische Geschichte der älteren Zeit 
ist in den letzten Jahren durch die endgül¬ 
tige Aufgabe des von den Alten beliebten 
romazentrischen Standpunktes und durch die 
Betonung der allgemein-italischen Entwick¬ 
lung in neue Beleuchtung gerückt worden. 
Unmittelbar vor dem Krieg ist ein Werk 
erschienen, das für den Südosten Italiens 
unser Wissen wesentlich bereichert hat: 
Maximilian Mayers Apulien 40 ). Es ist das 
Muster einer archäologisch-historisch-geo¬ 
graphischen Monographie über eine italische 
Landschaft, der der Verf. ein gutes Stück 
seiner Lebensarbeit gewidmet hat. Seit 
Mommsens Buch über die unteritalischen 
Dialekte ist kein solcher Fortschritt wieder 
auf diesem Gebiet erzielt worden. Die illy¬ 
rische Völkerwelle der Frühzeit hat nicht 
an der Adria haltgemacht, sondern hat auch 
die Ostseite der Apenninhalbinsel über¬ 
schwemmt. Wer neben Mayers Werk das 
neue von Dall’Osso so glänzend vermehrte 
und neu eingerichtete Museum von Ancona 
studiert hat 41 ), wie es mir noch kurz vor 
dem Krieg vergönnt war, der hat erst einen 
wirklichen Begriff von der Ausdehnung des 
illyrischen Besiedlungsgebietes im Osten 
Italiens. Ein Buch zur römischen Geschichte, 
das längst schon hätte geschrieben werden 
müssen, hat uns Friedrich Münzer 41 ) ge- 


39) Sylloge inscriptionum Graecarum a 
Guilelmo Dittenbergero condita et aucta 
nunc tertium edita I, II. Leipzig 1917, Hirzel. 

40) Apulien vor und während der Helle- 
nisierung mit besonderer Berücksichtigung 
der Keramik. Leipzig, Teubner 1914. 

41) Im Jahre 1915 ist ein ausführlicher Kata¬ 
log der großen Sammlung erschienen: J. D a 11’ 
Osso, Guida illustrata del museo nazionale 
di Ancona, Ancona 1915. 

42) Römische Adelsparteien und Adels¬ 
familien. Stuttgart 1920, J. B.Metzler. M. Gei¬ 
zer, der Verf. eines ähnlichen Buches: „Die 
Nobilität der römischen Republik“, 1912, 


schenkt. Die Geschichte dieser Adelsrepu¬ 
blik wird lange Zeit beherrscht von den 
großen Familien und ihren Parteiungen, zu¬ 
nächst des Geburtsadels, dann nach dem 
Aufsteigen der Plebs zur Gleichstellung auch 
der durch Besitz und Amtsfähigkeit hervor¬ 
ragenden Geschlechter der Nobilität. Wir 
lernen vor allem die Stammbäume der 
großen Fürstengeschlechter kennen, aus 
denen die Männer hervorgegangen sind, die 
auch innerhalb der republikanischen Ver¬ 
fassung wie Könige über Rom geherrscht 
haben. Dabei fällt gar mancherlei für die 
allgemeine Geschichte Roms ab. Wir fragen 
heute in unserem nationalen Unglück so 
gerne nach den Ursachen, die den Völkern, 
die glücklicher gewesen sind als wir, die 
großen Erfolge gebracht haben. Bei Münzer 
steht für die Römer einer der Gründe. Die 
römische Aristokratie hat eine feine Witte¬ 
rung gehabt für die Eigenart der Völker und 
Länder, die sie beherrschen wollte, und hat 
in der Auswahl der Männer für bestimmte 
Aufgaben oder Operationsgebiete eine un- 
gemein glückliche Hand bewiesen. Diese 
Verwendung geht oft durch die Glieder einer 
Familie vom Vater zum Sohn weiter, so daß 
Familienspezialisten für bestimmte Auf¬ 
gaben herangebildet wurden. Die Atilier 
und Otacilier wurden in Sizilien verwendet, 
leicht verständlich, da es Leute von ehemals 
oskischem Blute waren, die Ogulnier, ein 
etruskisches Geschlecht, wurden gern zur 
Übertragung griechischer Kulte bzw. zu 
Missionen im Osten des Mittelmeers heran- 
gezogen. Oder etwas anderes: In der rö¬ 
mischen Adelsrepublik des 4. und 3. Jahrh. 
haben die regierenden Geschlechter es ge¬ 
halten wie die regierenden Häuser mon¬ 
archischer Staaten. Friedensschlüsse und 
Bundesverträge sind durch Familienbünd¬ 
nisse der Herrscherhäuser besiegelt worden. 
Der alte römische Geburtsadel war oft mit 
dem ausländischen Adel der Zeit weit enger 


hat neuerdings auch noch einmal zur Sache 
sich geäußert: Die römische Gesellchaft zur 
Zeit Ciceros, N. Jahrb. für das klass. Alter¬ 
tum 45 (1920) S. lff. Beide Forscher sind 
gegenüber der antiken Tradition über die 
ältere römische Geschichte wieder sehr 
gläubig, Geizer setzt sogar (a. a. O. S. 4) mit 
Polybios III 22 den ersten römisch-kartha¬ 
gischen Vertrag wieder ans Ende des 6.Jahr¬ 
hunderts; vgl.dagegen meinen Aufsatz: »Die 
Anfänge der römischen Republik“ im näch¬ 
sten Heft dieser Zeitschrift. 


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478 


Nachrichten und Mitteilungen 


verbunden als mit seinen Landsleuten aus 
der Plebs. Unter ihm standen die Fabier 
an erster Stelle und traten gerade im Ver¬ 
kehr mit fremden Staaten und Völkern ent¬ 
sprechend auf. Neben der Kenntnis des 
Staatsrechtes wirkt in der römischen Ge¬ 
schichtsforschung nichts so vertiefend wie das 
Verständnis für diese die Jahrhunderte durch¬ 
ziehenden Familien-Freundschaften und 
-Feindschaften. Mit dieser Erkenntnis schei¬ 
det man von dem inhaltsschweren Buch, 
dessen Lektüre uns der Verf. allerdings nicht 
leicht gemacht hat. Der römischen Ge¬ 
schichte hat auch E d. M e y e r is ) in den letzten 
Jahren von neuem sein Interesse zugewendet. 
Die reifste Frucht ist sein Buch über Cäsar 
und Pompejus. Wie ich in einer Besprechung 
des Werkes 44 ) bereits betont habe, sind für 
die Wissenschaft die Ergebnisse der Pom¬ 
pejus betreffenden Teile die wichtigeren. 
M. sucht hier die These zu erweisen, daß 
die später von Augustus begründete Form 
des Staates der von Pompejus erstrebten 
viel näher steht als der des Mannes, dessen 
Name er trug. Er berührt sich hier mit Ge¬ 
danken, die vorher schon R. R e i t z e n s t e i n 46 ) 
ausgesprochen hatte. Beider Ergebnisse 
werden jetzt durch Münzers Forschungen 
(vgl. S. 317) ergänzt und teilweise korrigiert. 
In diesen Arbeiten liegen also höchst be¬ 
deutsame Resultate vor, mit denen sich die 
Wissenschaft auseinanderzusetzen haben 
wird. Wenn ihr Fundament sich als jtrag- 
fähig erweist, bekommen wir damit eine 
Entwicklungsgeschichte des Prinzipates, in 
erster Linie der Idee, dann aber auch der 
praktischen Ausgestaltung der Institution. 
Stoffe aus dem Altertum für ein größeres 
Publikum behandelt Th. Birt. Das kultur¬ 
geschichtliche Werkchen 48 ) löst seine Auf¬ 
gabe mit Geschieh. In den Abschnitten »Der 
Mensch mit dem Buch“, »Verlagswesen im 
Altertum“, „Woherstammen die Amoretten?“ 
und „Seneca“ schöpft der Verf. so recht 
aus dem Vollen, da er sich auf seinem 


43) Cäsars Monarchie und das Prinzipat 
des Pompejus. Innere Geschichte Roms von 
66 bis 44 v. Chr. 2. Aufl. X 632 S. Stuttgart 
1919, J. G. Cotta. M. 24. 

44) Lit. Zentralblatt 1919 Nr. 42 (8. Okt.) 
Sp. 805-808. 

45) Die Idee des Prinzipats bei Cicero 
und Augustus. Nachr. der Gött. Gesellschaft 
der Wiss. 1917. S. 399ff und 481 ff. 

46) Aus dem Leben der Antike. Leipzig 
1918, Quelle & Meyer. VIII 271 S. Geb.M.8. 


eigentlichen Arbeitsgebiet bewegt. Das 
gleiche kann man nicht sagen von den 
beiden anderen Büchern 47 ), in denen er die 
römische Geschichte in Biographien aufge¬ 
löst zu geben versucht. Woran ein Doma- 
szewski scheiterte, das ist auch Birt nicht 
gelungen 48 ). Georg Wissowa hat sich 
des alten Friedländer 49 ) angenommen 
und gibt dieses der Literatur im höheren 
Sinne angehörige Werk mit pietätvoller 
Schonung heraus. Einzelne Abschnitte sind 
umgestellt und das Ganze ist wieder auf 
den alten Umfang von drei Bänden zurück¬ 
geführt, indem die wissenschaftlichen An¬ 
hänge in einen Schlußband verwiesen sind, 
der auch einzeln käuflich ist. In das Gebiet 
der römisch-germanischen Forschung führen 
uns Emil Sad6e 50 ) und Karl Blümlein 81 ). 
S. sucht den Umschwung der römischen Po¬ 
litik im Jahre 17 n. Chr. aus dem mangel¬ 
haften Militärsystem des Augustus, der ger¬ 
manischen Landesnatur sowie der Tatsache 
zu erklären, daß Rom seit dem Jahre 9 n. 
Chr. einem festen Germanenbund gegen¬ 
überstand. Das Buch von Bl. ist ausgezeich¬ 
net geeignet, Anschauung des römischen 
und germanischen Altertums zu vermitteln. 
Sehr nützlich ist die Sammlung der grie¬ 
chischen und lateinischen Inschriften zur Ge¬ 
schichte der Ostgermanen bis zum Todes¬ 
jahr des Kaisers Justinian, die Otto Fie- 
biger und Ludwig Schmidt“) herausge¬ 
geben haben. Die beiden Schriften von 

47) Römische Charakterköpfe. Ein Welt¬ 
bild in Biographien. 3. Aufl. Leipzig 1917, 
Quelle & Meyer. 320 S. Geb. M. 9.60. Cha¬ 
rakterbilder Spätroms und die Entstehung 
des modernen Europa. Leipzig 1919, Quelle 
& Meyer. 492 S. Geb. M. 16. 

48) Birt beginnt mit dem Bilde des Sci- 
pio Africanus; vgl. über ihn die grundlegen¬ 
den Bemerkungen von Ed. Meyer. S.-Ber, 
Berlin 1916. S. 1068ff. 

49) Darstellungen aus der Sittengeschichte 
Roms. 9. neubearbeitete und vermehrte Aufl. 
I (1919). II (1920). Leipzig, S. Hirzel. 

50) Rom und Deutschland vor 1900 Jahren. 
Weshalb hat das römische Reich auf die 
Eroberung Germaniens verzichtet? Festvor¬ 
trag am Winckelmannstag 1916. Bonner 
Jahrbücher 124. Bonn 1917, Marcus & Weber. 

51) Bilder aus dem römisch-germanischen 
Kulturleben. Nach Funden und Denkmälern. 
München und Berlin 1918, R. Oldenbourg. 
IV, 120 S. 371 Abb. Lex. 8°. M. 5. 

52) Inschriften-Sammlung zur Geschichte 
der Ostgermanen. Kais. Akad. der Wiss. in 
Wien, phil.-hist. Klasse, Denkschriften. 60. 


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Nachrichten und Mitteilungen 


480 


O.Th.Schulz 53 ) suchen gegenüber Momm- 
sen die Stellung des Senates, vor allem bei 
der Erhebung eines neuen Herrschers, schär¬ 
fer zu formulieren. Sie werden in der staats¬ 
rechtlichen Literatur der Kaiserzeit ihren 
Platz behaupten. (Schluß folgt) 

Breslau, März 1920. 

Ernst Kornemann. 

Walther Köhler, Die Geisteswelt Ulrich 
Zwinglis. Christentum und Antike. (Brücken 
111). Gotha 1920, F. A. Perthes. 156 S. 
Früher war die Bildung der europäischen 
Menschheit selbstverständlich christliche Bil¬ 
dung. Heute ist weder christlicher noch 
überhaupt ein religiöser Glaube selbstver¬ 
ständlich. Aber daß die Kultur zusammen¬ 
bricht, wenn die Selbstsucht der Menschen 
und Völker nicht gebändigt wird durch eine 
ihr entgegenwirkende Lebens- und Welt¬ 
anschauung, das haben uns die letzten Jahre 
klar gezeigt. Die wirksamsten Elemente 
der bisherigen europäischen Bildungsge¬ 
schichte, die Antike und das Christentum, 
waren zuletzt verbunden im deutschen Idea¬ 
lismus der Zeit vor hundert Jahren, aber 
wir finden solche Verbindungen schon viel 
früher, so bei Erasmus, Zwingli, Melanchthon. 
In manche Einzelheiten des Bildes, das hier 
der Züricher Kirchenhistoriker von Zwing¬ 
lis Geistesart und Gedankenwelt gibt, wird 
sich der Nichttheologe erst hineindenken 
müssen, aber wirklich kennen lernt man 
keinen Großen der Vergangenheit, ohne 


Bd. 3. Abh. Wien 1917, Hölder. VIII 174. 
4°. M. 16. 

53) Das Wesen des römischen Kaiser¬ 
tums der ersten zwei Jahrhunderte und Vom 
Prinzipat zum Dominat. Das Wesen des 
römischen Kaisertums des dritten Jahrhun¬ 
derts. Studien zur Geschichte und Kultur des 
Altertums. VIII, (1916) und IX 4/5 (1919). 
Paderborn, F. Schöningh. 


daß man in seine Berufsarbeit gründlich 
einzudringen sucht, sei er nun Staatsmann 
oder Maler oder Gelehrter gewesen oder 
was sonst. Von Luther ist uns Reichsdeut¬ 
schen nicht nur das Leben, sondern auch 
die Denkweise durch viele gute Biogra¬ 
phien bekannt; Zwingli ist uns viel frem¬ 
der, als er es verdient. Schriften von ihm 
lesen bei uns höchstens einige Theologen; 
unter den sonstigen Gebildeten kennt man¬ 
cher die anziehende, aber ganz kurze Dar¬ 
stellung, die Dilthey im 2. Bande seiner ge¬ 
sammelten Schriften von Zwingli gibt. Köh¬ 
ler hat gleichzeitig ein kurzes Lebensbild 
Zwinglis geliefert (Tübingen, Mohr. 102 S. 
1,50 M.) Für seine Schlußthese, daß weder 
ohne das Christentum noch auf Grund des 
Christentums allein, ohne andere Bildungs¬ 
elemente, der Bau der Menschheitskultur 
möglich ist, bietet die Art, wie bei Zwingli 
Christentum und Antike verbunden waren, 
lehrreiche Belege. H. Mulert. 

Der Friedensvertrag von Versailles. Unter 
Hervorhebung der geänderten Teile mit In¬ 
haltsaufbau, Karten, Sachregister. Berlin 
1919, Reimar Hobbing. VIII, 240 Seiten. 
Preis Mk. 4,50. 

Der rührige Verlag, der sich auch sonst 
schon häufig um die Weiterverbreitung 
amtlicher Kriegsdrucksachen verdient ge¬ 
macht hat, bietet hier eine handliche Aus¬ 
gabe der 440 Artikel des Friedensvertrages 
in lesbarer deutscher Übersetzung. Da die 
abgeänderten Teile unter Beifügung der 
ursprünglichen Fassungen kenntlich ge¬ 
macht sind, gewinnt man auch einen ge¬ 
wissen Einblick in die Vorgeschichte des 
Vertrages. Aus dieser sind die Gegenvor¬ 
schläge der deutschen Regierung und die 
Antwort des Verbandes im selben Verlage 
in unverkürzten Texten erschienen. In An¬ 
betracht der schweren Zeiten verdient die 
Druckausstattung Anerkennung. J. H. 


Für die Schrfftleltung verantwortlich: Professor Dr. Max Cornlcellus, Berlin W 30, Luitpoldstraße 4. 

Drude von B. G. Teubncr in Leipzig. 


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INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT 

FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK 


14. JAHRGANG _ HEFT 6 _ MAI/JUNI 1920 

Die Anfänge der römischen Republik. 

Von Ernst Komemann. 


Vor hundertzehn Jahren, als Deutsch¬ 
land schon einmal tief gedemütigt am 
Boden lag, ist Niebuhrs Römische Ge¬ 
schichte entstanden. Wie uns heute, ist 
den Menschen von damals im tiefsten 
Unglück nach dem Zusammenbruch des 
friderizianischen Preußens die Er¬ 
kenntnis gekommen, daß der Verlust an 
politischer Macht ersetzt werden müsse 
durch Entfesselung der geistigen Kräfte 
der Nation. Die Gründung der Uni¬ 
versität Berlin war der äußere Aus¬ 
druck des neuen Strebens. Aus Vorle¬ 
sungen an der neuen Universität sind 
1811 und 1812 die beiden ersten Bände 
von Niebuhrs Römischer Geschichte her¬ 
vorgegangen. Wie heute so viele un¬ 
serer Besten war Niebuhr aus dem 
praktischen Berufe herausgeworfen 
worden. Der Staatsmann suchte eine 
neue Beschäftigung; er fand sie, alter 
Jugendneigung folgend, in dem Stu¬ 
dium der römischen Geschichte, die bis 
dahin in Deutschland noch nicht von 
Geistern ersten Ranges in Angriff ge¬ 
nommen worden war. Das Neue an 
Niebuhrs Buch ist nicht das Was, son¬ 
dern das Wie. Niebuhr ist in diesem 
Werke der Schöpfer der quellenkriti¬ 
schen Methode unserer modernen Ge¬ 
schichtswissenschaft geworden. Keine 
Geringeren als Ranke und Mommsen 
wandeln in den Spuren dieses Pfadfin¬ 
ders und hinter den beiden der lange 
Zug der Historiker des 19. Jahrhun¬ 
derts. 1 ) Die ältere römische Ge- 

1) Vgl. dazu C. Joh. N e u m a n n, Deutsche 
Literaturzeitung 1917, Sp. 31. u. 35f. 


schichte, die Niebuhr in den genannten 
beiden Bänden zur Darstellung bringt, 
wurde so die hohe Schule der histori¬ 
schen Kritik. In sie möchte ich heute 
den Leser einführen, um ihm zugleich 
den Fortschritt seit Niebuhr und Momm¬ 
sen an einem Spezialproblem, der Frage 
nach der Entstehung der römischen Re¬ 
publik, aufzuzeigen. 

Wie die Geschichte Israels mit der 
Schöpfung der Welt, so beginnt Roms 
Geschichte mit der Gründung derStadt. 
Judentum und Römertum haben sich 
die Welt erobert, das Judentum als 
Glaubens-, das Römertum als Staats¬ 
macht. Beide haben auf dem Höhepunkt 
ihres nationalen Lebens den Versuch 
gemacht, eine Geschichte ihres Volkes 
von den ersten Anfängen menschlichen 
Daseins an zu schaffen. Dies war aber 
nur dadurch möglich, daß der beglau¬ 
bigten Geschichte eine Vorgeschichte 
legendären Inhalts vorangestellt wurde. 
Wer seit Niebuhr an die Aufgabe her¬ 
antritt, Roms Geschichte zu schreiben, 
hat zuerst die Frage zu beantworten, 
wo die Zäsur zwischen echter und un¬ 
echter Geschichte liegt, zwischen histo¬ 
risch beglaubigter Überlieferung und 
pseudogeschichtlicher Konstruktion, die 
die langen geschichtslosen Jähre der 
Stadtchronik mit „Geschichten“ ange¬ 
füllt hat, um den Anschluß an das fingierte 
Jahr der Stadtgründung zu gewinnen. 

Das Dreigestirn Niebuhr -Schweg¬ 
ler *)- Mommsen hat die traditionelle 

2) A. Schwegler, Römische Geschichte, 
Bd. I. Tübingen 1853. 

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Ernst Kornemann, Die Anfänge der römischen Republik 


484 


römische Königsgeschichte zu Fall 
gebracht. Der Kampf geht heute um 
das erste Jahrhundert der Republik. 
Hier ist die Forschung sehr langsam' 
vorwärts gekommen, weil Mommsen 
der Konsulliste (fasti consulares) ge¬ 
genüber, der einzigen Quelle der Zeit, 
keine einheitliche Haltung eingenom¬ 
men hat. Der junge Mommsen zwei¬ 
felte die Authentizität der älteren Teile 
der Konsulliste an, der alte Mommsen 
wurde konservativer und hielt an der 
Liste gläubig fest. Und wie es zu gehen 
pflegt, der alte Mommsen und damit 
die konservative Richtung siegte. 3 ) So 
ist es gekommen, daß heute noch For¬ 
scher existieren, die von der Begrün¬ 
dung der Republik ab den chronologi¬ 
schen Aufbau der römischen Geschichte 
für gesichert halten, und daß ein Mann 
von der Bedeutung Nissens bis zum 
Ende seines Lebens geglaubt hat, die 
Datierung des ersten römisch-kartha¬ 
gischen Handelsvertrags ins erste Jahr 
der Republik sei eine historische Tat¬ 
sache, zumal der Name des Polybios 
dahintersteht. 1 ) Nur langsam hat sich 
die Kritik an die Konsulliste herange¬ 
wagt. Der Straßburger Historiker C. J. 
Neumann, einer der eifrigsten Bear¬ 
beiter des heiklen Themas, ist gestor¬ 
ben mit dem Glaubenssatz, daß die 
Konsulliste nur verfälscht, nicht eigent¬ 
lich gefälscht sei 5 ), was im Grunde 
schon die Ansicht des jungen Momm¬ 
sen gewesen war. Aber die Forschung 
war weiter als er glaubte. Männer wie 
der Deutschrusse Enmann, der Italiener 
Pais und mein Tübinger Schüler Sig- 
wart haben die Bresche gelegt in die 

3) Auch bei Ed. Meyer, Geschichte des 
Altertums II, S. 813. 

4) Die neueste kritische Behandlung des 
Problems bei E. Täubler, Imperium Ro- 
manum I, 1913, S. 254ff. 

5) Bei Gercke-Norden, Einleitung in 
die Altertumswiss. III*, S. 465 u. S. 480?. 


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langen Reihen der älteren römischen 
Beamtenliste. 

Die Frage nach den Anfängen der 
römischen Republik muß demnach von 
dem chronologischen Problem aus¬ 
gehen. Aber nicht nur, wann, sondern 
auch in welcher Weise die Republik 
ins Leben getreten ist, soll dargestellt 
werden. Die Alten haben sich in jeder 
Richtung die Sache ld!cht gemacht. 120 
Jahre, d. h. halbsoviel Jahre, als die 
später davorgelegte Königszeit umfaßte 
(240), vor der gallischen Katastrophe 
ist das Königtum gestürzt worden, 
und zwar ist nach der Vertreibung des 
letzten Tarquiniers gleich die spätere 
Republik, geleitet von den beiden Kon¬ 
suln, geschaffen worden. Das Ganze 
war keine Volkserhebung, sondern eine 
Reaktion des Adels gegen das König¬ 
tum. Der Adel hat in der Form der Kon¬ 
sulatsregierung sofort seine Herrschaft 
im Staate etabliert. Diese Erzählung ist 
in chronologischer wie in sachlicher 
Hinsicht späte Mache. 


• I 


! \ 


u 


I. 

Alle Geschichtskonstruktion bzw. *re- 
konstruktion geht von der bekannten 
zur unbekannten Zeit rückwärts. 6 ) Es 
gab eine Epoche in Rom, da war die 
Königszeit noch nicht in den Einzel¬ 
heiten erfunden, d. h. die römische Ge¬ 
schichte begann noch nicht mit der 
Gründung der Stadt durch Romulus, 
sondern mit der Gründung der Repu¬ 
blik oder genauer mit der Vertreibung 
der Könige. Aber auch die Aera post 
reges exactos ist, wie schon die Er¬ 
wähnung der Könige darin zeigt, erst 
sekundär. Das Primäre ist ein ganz an¬ 
deres Ereignis, an welches die Ponti- 


6) Vgl. zum Folgenden meine Schrift .Der 
Priesterkodex in der Regia und die Ent¬ 
stehung der altröm. Pseudogeschichte*. 
Tübingen 1912. 


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Ernst Kornemann, Die Anfänge der römischen Republik 


486 


fices, die Schöpfer der römischen Ge¬ 
schichtsklitterung, die Republikgrün- 
dung angehängt haben, nämlich die 
Weihung des kapitolinischen Jupiter¬ 
tempels. Nichts illustriert den priester- 
lichen Ursprung der altrömischen Pseu¬ 
dogeschichte deutlicher als diese Tat¬ 
sache, daß das sakrale Ereignis zuerst 
datiert und das politische erst sekun¬ 
där damit in Verbindung gebracht wor¬ 
den ist. Ein zweites Beispiel hierfür 
ist die Weihung des Cerestempels, des 
Hauptheiligtums der Plebs, der Tradi¬ 
tion nach i. J. 493 v. Chr., und die Ver¬ 
legung der Entstehung des plebeischen 
Scheinstaates und der Begründung des 
Volkstribunats in das gleiche Jahr. 6 *) 
Ebenso ist das Jahr, in welchem der 
Hauptgott von Rom, Jupiter O. M., 
sein Heiligtum auf dem Kapitol er¬ 
hielt, der Ausgangspunkt für die Dar¬ 
stellung der republikanischen Ge¬ 
schichte geworden. Plinius N. H. 33, 19 
berichtet zum J. 304 v. Chr. von der 
Gründung einer aedicula Concordiae 
auf dem römischen Forum. Auf eher¬ 
ner Tafel war daran die Inschrift an¬ 
gebracht: eam aedem 204 annis post 
Capitolinam dedicatam. Daraus ergibt 
sich als Dedikationstag des Jupitertem¬ 
pels der 13. September Ol. 68,2 = 507 
v. Ghr. Die erwähnte Inschrift ist das 
älteste Denkmal der römischen Ge¬ 
schichte, auf welchem eine Ära erwähnt 
ist. 7 ) Das Anfangsjahr derselben aber 
liegt, wie oben angedeutet wurde, 120 
Jahre vor der gallischen Katastrophe 
(18. Juli 387). Das Tempelweihjahr ist 
dann in der ältesten Pontifikalchronik 
aus der Zeit des Pyrrhoskriegs in ganz 
willkürlicher Weise gleich dem ersten 
Jahr der Republik gesetzt worden. Bei 
dieser Sachlage kann man heute wohl 

6a) C. Joh. Neumann bei Gercke- 
Norden a. a. 0., S. 475. 

7) Priesterkodex S. 53. 


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noch darüber streiten, ob der kapito¬ 
linische Tempel im Jahre 507 und ob 
der Cerestempel im J. 493 erbaut wor¬ 
den sind, man sollte aber nicht mehr 
darüber streiten, ob die römische Re¬ 
publik im J. 507 und der plebeische 
Scheinstaat schon 493 gegründet wor¬ 
den sind. Das dritte große Sammel¬ 
jahr der Pseudogeschichte ist das Jahr 
449, das Jahr der horazisch-valerischen 
Gesetze nach der livianischen Tradi¬ 
tion. Es gibt aber eine ältere Überliefe¬ 
rung, die bei Diodor 9teht. Sie datiert 
die Verfassung der Republik in dieses 
Endjahr des Dezemvirats in Gestalt 
einer Magna Charta libertatum. Wieder 
steht ein Horatius wie bei dem Repu¬ 
blikbeginn im Mittelpunkt. Man hat 
den Eindruck, als ob das Republik- 
Anfangsjahr seine Farben und seinen 
Inhalt vom Jahr 449 entlehnt hat, mit 
anderen Worten, daß eine ältere Tra¬ 
dition die Republik im Jahre 449 ihrem 
verfassungsmäßigen Aufbau nach hat 
entstehen lassen. 

So viel über die auf uns gekommene 
Überlieferung bezüglich der Zeit des 
Republikbeginns. Wollen wir nunmehr 
feststellen, wann die Republik tatsäch¬ 
lich ins Leben getreten ist, so müssen 
wir unter der Tünche der von den 
Pontifices geschaffenen Pseudoge- 
' schichte der angeblichen tcoXig ’EXkrjvtg 
am Tiber die wahre Geschichte der ita¬ 
lischen urbs Roma hervorzuholen su- 
ohen, ganz ähnlich wie Wissowa in 
seinem ausgezeichneten Buch 8 ) die rö¬ 
misch-italische Religion durch Abklop¬ 
fen der griechischen Übertünchung und 
Übermalung hat zum Vorschein kom¬ 
men lassen. Man hat früher, um diese 
Arbeit zu leisten, gern und etwas ein¬ 
seitig die besonders von Mommsen vir¬ 
tuos ausgebildete Methode der Rück- 

8) Religion und Kultus der Römer, 2. Auf]. 
München 1912. 

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Ernst Kornemann, Die Anfänge der römischen Republik 


488 


Schlüsse angewendet; namentlich der 
schon erwähnte C. Joh. Neumann hat 
sich darin zum beachtenswerten Spe¬ 
zialisten ausgebildet. Aber daneben 
muß man, um die richtige Perspek¬ 
tive für Roms Frühgeschichte zu ge¬ 
winnen, seinen Blick viel mehr als seit¬ 
her auf die parallele Entstehung der 
italischen Stämme und Städte lenken. 9 ) 
Roms Geschichte ist jung, die Ge¬ 
schichte Italiens dagegen alt. Wer Roms 
Geschichte schreiben will, muß daher 
immer die Gesamtgeschichte Italiens im 
Auge behalten, muß endlich die stadt¬ 
römische Brille ablegen, durch die wir 
unter dem Einfluß der pontifikalen Ge¬ 
schichtsklitterung die Dinge viel zu 
sehr anzuschauen uns gewöhnt haben. 

Italien ist niemals in dem Umfange 
das Land der Italiker gewesen wie 
etwa Hellas das Land der Hellenen. 
Das antike Italien war vielmehr der 
modernen Balkanhalbinsel vergleich¬ 
bar: ein völkischer Hexenkessel son¬ 
dergleichen. Erst relativ spät ist der 
Ruf „Italien den Italikern“ erschollen, 
nämlich damals, als dieses kernige 
Volkstum des Gegensatzes gegenüber 
den von Osten hereingekommenen Grie¬ 
chen und Etruskern sich bewußt gewor¬ 
den war. In diesen großen Emanzipa¬ 
tionsprozeß der Italiker gegenüber den 
Fremdvölkern ist auch Rom verwickelt 
worden, in ihn gehört die Befreiung 
Latiums von der Fremdherrschaft der 
Etrusker, die im 6. Jahrh. v. Chr. auf 
dem Höhejmnkt ihrer Macht bis nach 
Campanien sich ausgedehnt hatten. Die 
Annahme liegt nahe, daß das, was in 
der römischen Tradition als Vertrei¬ 
bung der Könige auf uns gekommen 
ist, nichts anderes darstellt, als die ge- 

9) Wie das frühzeitig der Italiener Pais, 
ich in dem Aufsatz „Polis und Urbs“, Klio V, 
S. 72ff. und A. Rosenberg in dem Buch 
„Der Staat der Italiker“, Berlin 1913, ge¬ 
tan haben. 


waltsame Abschüttlung des Etrusker¬ 
joches durch die Latiner. Die Alten 
schon haben dieser Annahme Raum ge¬ 
geben, und die moderne Forschung ist 
ihnen hierin mit wenigen Ausnahmen 10 ) 
gefolgt. Eine etruskische Dynastie ist 
die letzte gewesen, die über Rom ge¬ 
herrscht hat. Monarchie und Fremd¬ 
herrschaft sanken am gleichen Tage da¬ 
hin: gerade dadurch ist das Ereignis 
in der Erinnerung der nachfolgenden 
Geschlechter deutlicher und länger haf¬ 
ten geblieben als selbst die späteren 
Ereignisse. 

Es gilt nun, dieses Ereignis im An¬ 
schluß an die Geschichte der Etrusker 
zu datieren, anstatt immer von neuem 
das Tempelweih-Datum der Alten nach¬ 
zubeten. Es ist auf alle Fälle jünger, 
als wir seither glaubten. 11 ) Das 5. Jahrh. 
v. Chr. ist nach dem erwähnten Jahrh. 
des Höhepunkts die Zeit gewesen, da 
die große Expansion des etruskischen 
Volkes zum Stillstand kam, um dann 
allmählich in den Krebsgang überzu¬ 
gehen. Die etruskische Blüte war be¬ 
dingt gewesen durch den engen Zu¬ 
sammenschluß mit den Karthagern und 
die gemeinsame Frontstellung gegen¬ 
über den Griechen. Nun erlitten die 
Karthager im Zeitalter der Perserkriege 
im J. 480 bei Himera seitens der Grie¬ 
chen den entscheidenden Schlag. Ge- 
lon, der Tyrann von Syrakus, war der 
Löwe des Tages und Syrakus von nun 
an die führende Macht im Süden. Es 
griff bald nach Italien hinüber und 
siegte 474 unter Hieron bei Cumae 
auch über die Etrusker. Während die 
Karthager nur zu Land, waren die E- 
trusker zur See, also auf ihrem ureigen¬ 
sten Element, besiegt. Von da ab datiert 

10) Z. B. Bel och bestreitet eine Epoche 
der Etruskerherrschaft in Rom. 

11) Anders C. Joh. Neu mann bei 
v. Pflugk-Harttung, Weltgeschichte I 
(Altertum), S. 364. 


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489 


ihr Niedergang. Das zeigt die Politik 
syrakusanischer maritimer Expansion, 
die jetzt beginnt und die das eigent¬ 
lich Charakteristische der Geschichte 
des westlichen Mittelmeerbeckens im 5. 
Jahrh. ist. Die Insel Ischia wurde syra- 
kusanische Kolonie. Im J. 453 erfolgte 
eine siegreiche syrakusanische Expe¬ 
dition nach Korsika, Elba und zur ita¬ 
lischen Westküste. 12 ) Syrakus ist also 
seit der Mitte des Jahrh. die Vor¬ 
macht Italiens* und das Etruskertum 
geht langsam zurück, nachdem ihm die 
Seeherrschaft geraubt worden war. Die 
griechische Metropole des Südens wird 
dadurch zur Schrittmacherin für die 
Emanzipation der Italiker von der Vor¬ 
herrschaft Etruriens. Was Campanien 
betrifft, so haben wir aus der griechi¬ 
schen Überlieferung für diese südlichste 
von den Etruskern beherrschte Land¬ 
schaft eine Anzahl geschichtlicher Da¬ 
ten für den Freiheitskampf der samniti- 
schen Söldner dortselbst, die von den 
Etruskern ins Land gezogen worden 
waren und sich jetzt aus Knechten zu 
Herren machten. 438 ist Capua, 421 
Cumae frei geworden. Wir hören also 
hier erst in der zweiten Hälfte des 
5. Jahrh. von der Vertreibung der E- 
trusker, während wir für das nördlicher 
gelegene Latium die Vertreibung der 
„Tarquinier“ von den Pontifices schon 
für das Ende des 6. Jahrh. aufgetischt 
bekommen. Wir können von diesen 
Zusammenhängen aus zunächst nur so 
viel sagen: Der Termin der Abschüt- 
telung des Etruskerjochs durch Rom 
liegt aller Wahrscheinlichkeit nach 
näher dem Sammeljahr 449 als dem 
Jahre 507. 

Wir kommen vielleicht noch etwas 
weiter, wenn wir noch einmal den 
Blick von den Etruskern zu den Grie¬ 
chen Süditaliens wenden. Es ist eine 

12) Diodor XI 88. 


490 


feststehende Tatsache, daß der etrus¬ 
kischen Kulturwelle, die über Rom in 
der Königszeit hinweggegangen war, 
im Anfang der Republik eine grie¬ 
chische Welle gefolgt ist. Es handelt 
sich darum, die zeitlichen Anfänge die¬ 
ser kulturellen Überflutung durch das 
Griechentum festzustellen. Hier hat die 
eindringende Forschung Wissowas auf 
dem Gebiet der römischen Religion dem 
Historiker in höchst dankenswerter 
Weise vorgearbeitet. 

Die älteste griechische Beeinflussung 
der römischen Religion ist zum Teil 
eine indirekte, wie der römische Her¬ 
kuleskult beweist, der über Tibur nach 
Rom gekommen ist, zum Teil eine di¬ 
rekte. Wissowa hat mit Recht den Satz 
aufgestellt 13 ), daß Apollo der erste, 
auf direktem Wege, und zwar von 
Cumae aus, in Rom rezipierte grie¬ 
chische Gott gewesen ist. Wir haben 
bei Livius IV 25,3 zum J. 433 darüber 
kurz und schlicht im Stile der alten 
Pontifikalchronik den Bericht: pesti- 
lentia eo anno aliarum rerum otium' 
praebuit. aedis Apollini pro valetudine 
populi vota est. multt/ duumviri 14 ) ex 
libris (sc. Sibyllinis) placandae deum 
irae avertendaeque a populo .pestis 
causa fecere. magna tarnen clades in 
urbe agrisque promiscua hominum pe- 
corumque pemicie acoepta, und zwei 
Jahre später zum J. 431 (Liv. IV 29,7) 
heißt es: Cn. Iulius consul aedem Apol- 
linis absente collega sine sorte dedi- 
cavit. Danach war die Ursache der Re¬ 
zeption des griechischen Gottes eine 
Pest, deren erstes Auftreten Livius zum 
J. 436 meldet. Im J. 435 wird das Wü¬ 
ten der Seuche heftiger. Dann ist von 
der Krankheit keine Rede mehr, was 

13) Religion und Kultus *, S. 293. 

14) Gemeint sind die duumviri sacris fa- 
ciundis, diejenige Behörde, die in Rom seit¬ 
dem alle nach dem graecus ritus verehrten 
Götter unter sich hatte. 


Ernst Kornemann, Die Anfänge der römischen Republik 


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Ernst Kornemann, Die Anfänge der römischen Republik 


492 


auf ein zeitweiliges Erlöschen oder 
Nachlassen schließen läßt. Dagegen 
wird unter dem J. 433 bemerkt, daß 
wegen der Krankheit wieder die Staats¬ 
geschäfte ruhen mußten. Gleichzeitig 
wird in diesem Jahre dann, wie wir 
sahen, dem Apollo der Tempel gelobt, 
damit der große Heilgott der Griechen 
die Stadt von der großen Plage be¬ 
freie. Man hat schon längst bemerkt, 
daß dieser livianische Epidemiebericht 
die größte Ähnlichkeit hat mit der Er¬ 
zählung des Thukydides 15 ) über jene 
Seuche, die in Athen im 2. Jahre des 
• Peloponnesischen Krieges zum Aus¬ 
bruch kam. Beide Epidemien gleichen 
sich nicht nur in ihrer verheerenden 
Wirkung, sondern auch insofern, als 
der Verlauf in beiden Fällen der näm¬ 
liche ist. Auch in Athen dauert die 
Pest nach ihrem 430 erfolgten Auftre¬ 
ten 2 Jahre lang. Nachdem sie alsdann 
nachgelassen hat, bricht sie zu Beginn 
des Winters 427 von neuem und stär¬ 
ker aus, um dann nach einem Jahre 
ganz zu erlöschen. Bezüglich der Ent¬ 
stehung und der Wanderung der Seuche 
wird erzählt 16 ): Die Krankheit begann 
in Äthiopien und verbreitete sich von 
hier nach Ägypten und Libyen. Äthi¬ 
opien steht hier offenbar für Inner¬ 
afrika. Die Erwähnung von Libyen ne¬ 
ben Ägypten zeigt, daß die ganze Küste 
Nordafrikas von der Seuche befallen 
wurde, und daß sie bei dieser Sachlage 
wie nach Athen so auch nach Rom 
importiert wurde, liegt nahe. Die Dif¬ 
ferenz von 6 Jahren in den Angaben 
des Thukydides und Livius bezüglich 
des ersten Auftretens der Seuche be¬ 
sagt nichts. Wir haben einfach daraus 
zu lernen, daß die Rechnung nach var- 
ronischer Ära in dieser Zeit bei den 
Römern die Ereignisse um 6 Jahre zu 

15) II 47ff. und III 87. 

16) Thukyd. II 48, 1. 


hoch datiert. 17 ) Ist dies alles richtig, so 
haben wir es mit einem Ereignis der 
ganzen Mittelmeerwelt zu tun, in des¬ 
sen Verlauf Rom in den Besitz des grie¬ 
chischen Heilgottes und des ganzen 
Apparates des graecus ritus gekommen 
ist. Es ist das zweite große Ereignis 
der älteren Zeit, das im Gedächtnis der 
späteren Geschlechter haften blieb und 
in der ältesten Pontifikalchronik no¬ 
tiert wurde. Was wir aber für unser 
Thema daraus zu lernen haben, ist die 
Tatsache, daß das römische Gemein¬ 
wesen damals nicht mehr unter dem 
Einfluß der Etrusker stand, sondern 
den direkten Weg nach Cumae offen 
fand, mit anderen Worten, daß die Re¬ 
publik damals sicher bestand. Wie 
lange dies schon der Fall war, ver¬ 
mag mit unseren heutigen wissen¬ 
schaftlichen Mitteln niemand zu sa¬ 
gen. Es bleibt vielmehr nur die Mög¬ 
lichkeit, die Grenzen abzustecken, in¬ 
nerhalb deren wir das Ereignis suchen 
dürfen. Diese Grenzen sind die Schlacht 
bei Cumae von 474 und die Pest des 
Jahres 430. Wir werden der Wahrheit 
am nächsten kommen, wenn wir sa¬ 
gen, daß die römische Republik nach 
der Beseitigung der Etruskerherrschaft 
in Latium um die Mitte des 5. Jahr¬ 
hunderts ins Leben getreten ist. 


Das Resultat der großen Staatsum¬ 
wälzung, die die Alten Vertreibung der 
Könige nannten, kann zunächst nur ne¬ 
gativ bestimmt werden. Es gab von 
jenem Zeitpunkt ab, den wir im Vor¬ 
hergehenden zu bestimmen gesucht ha- 

17) Das varronische Jahr 318 ab urbe 
condita, das wir heute mit 436 v. Chr. gleich¬ 
setzen, entspricht also in Wirklichkeit dem 
Jahre 430 v. Chr.; vgl. über andere Bei¬ 
spiele abweichender römischer und griechi¬ 
scher Datierungen Leuze, Die römische 
Jahrzählung. Tübingen 1909, S. 377ff. 



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ben, keinen rex, keinen Gemeindeherrn 
in politicis mehr, sondern nur noch Ln 
sacris (rex sacrorum). Wenn wir den 
positiven Inhalt der Verfassungsände¬ 
rung bestimmen wollen, müssen wir 
zweierlei uns vor Augen halten: 1. daß 
Alt-Rom sich sicher in seiner Verfassung 
auch nach dem Sturz des letzten Kö¬ 
nigs nicht allzuweit von den Verfas¬ 
sungszuständen der übrigen Latiner¬ 
städte entfernt hat 18 ), und 2. daß, wie 
schon die Erhaltung des rex sacrorum 
zeigt, die Verfassungsänderung mög¬ 
lichst konservativ gewesen sein muß. 

Wir kennen eine ganze Anzahl La¬ 
tinerstädte, in denen nach beseitigtem 
Königtum ein Diktator an der Spitze 
gestanden hat. Ebenso zeigt der lati- 
nische Bund, ehe zwei Prätoren i. J. 
340 die Führung übernahmen, die Lei¬ 
tung durch einen Diktator. Wenn wir 
nun weiter sehen, daß in Tuskulum 
auch ein rex sacrorum, in Fundi und 
Formiae auch ein interrex begegnet, so 
legt sich uns die Vermutung nahe, daß 
in Latium eine ganz gleichmäßige Ent¬ 
wicklung vor sich gegangen ist, und 
diese Entwicklung weist, wie die be¬ 
rührte Verfassungsgeschichte des latini- 
schen Bundes deutlich zeigt, auf eine 
Ersetzung des rex zunächst durch einen 
Diktator und dann erst durch zwei 
Prätoren hin. 19 ) 

Es ist auch a priori kaum anzuneh¬ 
men, daß eine so verzwickte Verfas¬ 
sungsform wie die Konsulatsverfas- 
sung mit zwei einander völlig gleich¬ 
stehenden Inhabern des alten könig¬ 
lichen Imperiums sofort auf die Kö- 

18) Ein Satz, wie ihn Rosenberg (Staat 
der alten Italiker, S. 81) formuliert hat: „So 
ist schon die älteste römische Republik ein 
origineller Staat, der keinem anderen im 
damaligen Italien glich“, ist also unserer 
Ansicht nach verfehlt. 

19) Kornemann, Klio XIV, 1914, S.200ff., 
gebilligt von Steinwenter bei Pauly-Wis- 
sowa-Kroll, R.-E. X, Sp. 1264. 


nigszeit mit ihren einfachen klaren 
Rechtsverhältnissen gefolgt ist. Wirhal- 
ten es demgegenüber mit einem neue¬ 
ren Forscher, der gesagt hat 20 ): „Jähe 
Übergänge sind in der Geschichte sel¬ 
ten, in der römischen Verfassungsge¬ 
schichte unerhört", und stellen die Frage 
zur Diskussion, ob nicht die Diktator- 
Verfassung das Königtum zunächst in 
Rom abgelöst hat und erst in jüngerer 
Zeit die Prätoren- oder Konsulatsver¬ 
fassung gefolgt ist. 81 ) 

Außer der Analogie der Entwicklung 
mit den übrigen Latinerstädten sind 
folgende Momente hierfür in Betracht 
zu ziehen: 

1. Auch als der König als Herr der 
Gemeinde beseitigt war, blieb doch der 
„Zwischenkönig" selbst in der späteren 
Epoche der Konsulatsverfassung. Diese 
dauernde Erhaltung der Monarchie in 
der Interregnalordnung ist leichter ver¬ 
ständlich, wenn auf den lebensläng¬ 
lichen König zunächst der Jahreskönig 
gefolgt ist. 

2. Die allgemeine Bezeichnung für 
das römische Oberamt war bekannt¬ 
lich magistratus. Dieses Wort verhält 
sich zu magister wie comitiatus zu 
comitia. Magister populi aber ist die 
älteste Bezeichnung des stadtrömischen 
Diktators. War die Diktatur unter die¬ 
ser Bezeichnung eine Zeitlang das or- 

20) Franz Leiter, Die Einheit des G^- 
waltgedankens im röm. Staatsrecht. Wien 
1914, S. 173. 

21) Die Hypothese ist nicht neu. Siewurde 
zum erstenmal vorgetragen von W. Ihne, 
Forschungen auf dem Gebiet der römischen 
Verfassungsgeschichte 1847, S. 42ff., darnach 
von A. Schwegler, Römische Geschichte II. 
Tübingen 1856, S. 92f. Mommsen hat sich 
ablehnend verhalten. Dann taucht sie wie¬ 
der auf bei L. M. Hartmann, Wiener Stu¬ 
dien 34, 1912, S. 268, Weltgeschichte I 3, 
S. 28f. M. Geizer, Die Nobilität der Röm. 
Republik, 1912, S. 40 A. 1, etwas zurückhal¬ 
tender Gött. gel. Anz. 1916, S. 304, Korne¬ 
mann, Klio XIV, 1914, S. 295. 


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Ernst Kornemann, Die Anfänge der römischen Republik 


dentliche Jahresamt der Römer, so ver¬ 
steht man sehr wohl die Verwendung 
von magistratus zur Bezeichnung des 
obersten Gemeindeamtes. 

3. Das alte Gesetz bei Livius VII 3 
(lex vetusta priscis litteris verbisque 
scripta) bezeichnet den späteren dic- 
tator clavi figendi causa als praetor 
maximus. Der Name sowohl wie die 
Gleichung mit dem genannten Dikta¬ 
tor führen auf einen höchsten Beamten 
des Staates, der unstreitig im Einzel¬ 
amt fungiert hat. Der lateinischen Be¬ 
zeichnungsweise entspricht griechisch 
ganz wörtlich örQccTrjybs vxccrog, abge¬ 
kürzt vnazog, womit später in unseren 
griechischen Quellen der Konsul be¬ 
zeichnet wird. So ungeeignet diese 
Übersetzung für den Konsul genannt 
werden muß, so passend ist sie für den 
diktatorischen Einzelbeamten. Daraus 
schließe ich, daß die Übersetzung im 
westhellenischen Sprachgebiet schon 
zur Zeit der Diktatorverfassung erfolgt 
ist, ähnlich wie die Wiedergabe von 
senatus durch (fvyxhjzog (sc. ßovXij ) von 
dorther stammt. 

Alles dies ist noch kein zwingender 
Beweis für unsere These. Ein solcher 
wird erst gewonnen aus der späteren 
Stellung des Diktators und seines stän¬ 
digen Begleiters, des magister equitum. 
Die Darstellung der Diktatur durch 
Mommsen* 1 “) und die sämtlichen mo¬ 
dernen Forscher 22 ) krankt daran, daß 
einseitig der militärische Charakter des 
Amtes hervorgehoben wird und ma¬ 
gister populi entweder als „Heeresmei¬ 
ster“ bzw. „Herzog“ oder speziell im 
Gegensatz zu magister equitum als 
„Befehlshaber des Fußvolkes“ aufge¬ 
faßt wird, obwohl, wie Mommsen sel- 

21a) Röm. Staatsr. II®, S. 141 ff. 

22) Vgl. z. B. Li eben am bei Pauly-Wis- 
sowa-Kroll R.-E. V, Sp. 374. Rosenberg, 
Staat der Italiker, S. 96. 


496 


ber zugeben muß 23 ), populus im son¬ 
stigen Sprachgebrauch nirgends mili¬ 
tärische Färbung hat, und obwohl ein 
altes Gesetz erhalten ist 24 ), wonach der 
magister pop. nicht befugt war, ein 
Pferd zu besteigen. Ein Heeresmeister, 
der nicht reiten darf, das ist doch 
höchst verwunderlich! Die falsche Auf¬ 
fassung ist entstanden einmal aus dem 
Vergleich mit dem magister equitum, 
der tatsächlich ein Offizier gewesen 
ist, und andererseits aus der späteren 
Bemessung der maximalen Amtsdauer 
der Diktatur auf 6 Monate, was wohl 
mit der normalen Dauer des Sommer¬ 
feldzugs zusammenhängt. In Wirklich¬ 
keit heißt magister pop. „Volksherr“ 
oder „Gemeindeherr", bzw. „Volksmei¬ 
ster“, „Bürgermeister“ 25 ), und das Amt 
ist, selbst wenn es später in Ausnahme¬ 
fällen wieder hervorgezogen wurde, 
nicht nur für die Kriegführung, son¬ 
dern auch zu ganz anderen Zwecken, 
die absolut nicht militärischer Art wa¬ 
ren, verwendet worden. Daraus folgt, 
das ursprüngliche Amt war keine Offi¬ 
ziersstellung, sondern war das Ge¬ 
meindeherrnamt im vollen Umfang des 
alten königlichen Imperiums. 

Ganz klar wird dies aber erst, wenn 
wir die staatsrechtlich höchst merkwür¬ 
dige Figur des magister equitum etwas 
näher ins Auge fassen. 26 ) Der Diktator 
muß bekanntlich noch in der histori¬ 
schen Zeit sofort nach seinem Regie¬ 
rungsantritt nach besonders dafür ein¬ 
geholten Auspizien bei Tagesanbruch 
den Reiterführer ernennen. Erlischt die 
Diktatur, so erlischt automatisch auch 

23) Staatsr. II 3 , S. 159, Anm. 1. 

24) Plutarch, Fabius c. 4; vgl. dazu 
W. Helbig, Meianges Perrot (Paris 1903), 
S. 169 ff. 

25) Wie Mommsen kurz vorher im 
Staatsr. (S. 144) übersetzt. 

26) Darüber Mommsen, Staatsr. II 5 , 
S. 173ff., Rosenberg, Staat der Italiker, 
S. 89ff., Kornemann, Klio XIV, 1914, S. 205. 


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Ernst Kornemann, Die Anfänge der römischen Republik 


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das Reiterführeramt. Der Reiterführer 
ist also gewissermaßen der Schatten 
des Diktators. Und nun das Seltsamste 
an der Institution. Der mag. equitum ist 
zwar im Gegensatz zum Diktator in 
erster Linie Offizier, aber doch gleich¬ 
zeitig auch Magistrat, mit sekundärer 
Gewalt gegenüber dem Diktator. Die 
Ausstattung eines Offiziers mit magi¬ 
stratischer Gewalt ist nur noch einmal 
im römischen Staatsrecht zu beobach¬ 
ten, nämlich bei den tribuni militum 
consulari potestate, die ebenfalls der 
Frühzeit der Republik angehören. Die 
Republik hat, kaum errichtet, offenbar 
nach außen sehr schwer kämpfen müs¬ 
sen und unter dem Druck dieser Au¬ 
ßengefahr sich entschlossen, eine Zeit¬ 
lang in das höchste Amt einen Offizier 
aufzunehmen. Der Offizier war aber 
in dieser Verfassung noch der secun- 
dus, der Inhaber der minor potestas 
gegenüber dem eigentlichen Gemeinde¬ 
herrn, dem Inhaber der maior potestas. 
Erst in einer weiten Phase der Ent¬ 
wicklung treten die Offiziere als tri¬ 
buni militum an die Spitze des Staa¬ 
tes, aber jetzt unter Aufgabe der Mon¬ 
archie, ursprünglich wahrscheinlich in 
der Dreizahl. 27 ) 

Will man die Ursache dieser Ent¬ 
wicklung schärfer erfassen, so ist es 
nötig, die Heeresverfassung des älte¬ 
sten römischen Staates sich klarzu¬ 
machen. Wie Helbig aus den Monu¬ 
menten nachgewiesen hat 28 ), war die 
vornehmste und die einzige ständige 
Waffe des alten römischen Staates eine 
berittene Hoplitenschar, keine Kaval- 

27) Dazu K o r n e m a n n, Klio XIV, S. 194 ff. 
und S. 494ff., H. Dessau ebenda S. 493f. 

28) Zur Geschichte des röm. Equitatus, Abh. 
der bair. Akad. der Wiss. XXIII, 2. Abt. 1905, 
S. 267ff. Rosenberg hat sowohl in seinen 
Untersuchungen zur röm. Zenturienreform, 
Berlin 1911, wie im Staat der alten Italiker 
sehr zum Schaden seiner Arbeiten diesen 
wichtigen Aufsatz unberücksichtigt gelassen. 


Ierie, wie schon die Bezeichnung ce- 
leres für diese Truppe beweist. Es sind 
die alten Großgrundherren, die ausge¬ 
rüstet mit schweren Hoplitenwaffen zu 
Pferd und begleitet von ihren beritte¬ 
nen, unbewaffneten Knappen ins Feld 
zogen. Mit Rücksicht auf diese einzige 
ständige Truppe, zugleich die Elite¬ 
truppe der Römer, hieß der höchste 
Offizier, der dem Diktator zur Seite 
gestellt wurde, mag. equitum. Er ist 
gewissermaßen der Generalstabschef, 
den der neue Gemeindeherr sich sofort 
nach seinem Regierungsantritt zur Seite 
nehmen muß. Während der König seine 
Truppen selber, und zwar in der etrus¬ 
kischen Epoche auf dem Streitwa¬ 
gen, angeführt hat, fehlt dem Diktator, 
wie wir sahen, sogar das Recht, ein 
Pferd zu besteigen, dafür muß er einen 
militärischen Gehilfen in Gestalt des 
mag. equitum sich zugesellen. 

Das lebenslängliche Königtum ist 
also nach dieser Auffassung der Dinge 
eines Tages ersetzt worden durch ein 
Gemeindeherrentum von jähriger Dauer. 
Daneben bleibt der lebenslängliche 
Sakralkönig bestehen, und auf der an¬ 
deren Seite erhält der neue Gemeinde¬ 
herr einen Offizier aus der Reihe der 
equites zur Seite. Rosenberg ist es ge¬ 
lungen 29 ), das einzige Gegenstück zu 
dem mag. equitum zu finden. Es ist der 
praetor (praefectus, magister) iuventu- 
tis in einigen Etrusker-, Latiner- und 
Sabinerstädten. Iuventus bzw. iuvenes 
ist in Latium der technische Ausdruck 
für den waffenfähigen Teil (von 17 
bis 45 Jahren) der obersten Volks¬ 
schicht. In Lanuvium begegnet ein Dik¬ 
tator und ein praefectus iuventutis ne¬ 
beneinander. 30 ) Wir schauen hier hin¬ 
ein in die durch und durch aristokra- 

29) Staat der alten Italiker, S. 92ff., dazu 
Kornemann, Klio XIV, S. 200ff. 

30) CIL XIV 2121. 


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Ernst Kornemann, Die Anfänge der römischen Republik 


500 


tische Verfassung der ältesten Repu¬ 
bliken des Landes, die unsere Tradition 
im allgemeinen verschüttet hat, die uns 
aber erhalten ist in der dauernden Son¬ 
derstellung der „Ritter“ in der römi¬ 
schen Zenturienordnung. Wie auch an¬ 
derswo in aristokratischen Staatswe¬ 
sen bilden die alten Edelleute den Rat 
und ihre Söhne die Kerntruppe des 
Heeres. 31 ) Ihr oberster Führer tritt in 
einer Zeit, da das unständige Heer der 
pedites noch nicht die spätere Bedeu¬ 
tung erhalten hatte, neben den neuen 
Gemeindeherrn in die Leitung des Staa¬ 
tes. So ergibt sich aus der ältesten Hee¬ 
resverfassung Roms diejenige Form des 
Staates, in der die neuerstandene Re¬ 
publik sich konstituiert hat. 

Wie lange diese Verfassungsform be¬ 
standen hat, vermögen wir nicht zu sa¬ 
gen. Der Einweiher des kapitolini¬ 
schen Tempels, M. Horatius, der in 
der ältesten Konsulliste nicht enthalten 
war, und Cn. lulius, der nach Livius i. J. 
431 die Weihung des Apollotempels 
absente collega sine sorte vollzog, wa¬ 
ren wohl keine Konsuln, sondern Dik¬ 
tatoren. Große Veränderungen müssen 
dann im römischen Staate vor sich ge¬ 
gangen sein auf dem politischen, wirt¬ 
schaftlichen und militärischen Gebiet, 
allen voran die „Bauernbefreiung“, die 
Neumann für Alt-Rom sehr wahrschein¬ 
lich gemacht hat, und dadurch muß das 
Bürgerheer zu Fuß neben der alten 
ständigen, berittenen Hoplitenschar zu 
einer solchen Bedeutung gelangt sein, 
daß seine Offiziere vorübergehend das 
Oberamt, zunächst iq der Dreizahl, in 
die Hände bekommen haben. Ganz am 
Schlüsse steht dann die Konsulatsver¬ 
fassung, die nicht älter ist als der An¬ 
fang des 4. Jahrh., vielleicht gleich von 
vornherein durch die Zugabe des Prä- 


31) Rosenberg, Staat, S. 96. 


tors als collega minor ebenfalls zu 
einer Dreimännerbehörde ausgestaltet. 

Es ist von den Neueren nicht genü¬ 
gend beachtet worden, daß das Amt 
des Sakralkönigs eine ganz ähnliche 
Entwicklung wie die Diktatur durch¬ 
gemacht hat. Auch dieses aus dem Kö¬ 
nigtum entwickelte Priestertum ist eines 
Tages aus seiner zentralen Stellung 
verdrängt worden, und das Pontifikal- 
kollegium bzw. der Vertreter dieses 
Kollegiums, der pontifex maximus, ist 
an seine Stelle getreten. Tatsache ist, 
daß später der rex sacrorum nur noch 
eine Puppe ist, abhängig vom pontifex 
maximus, dem er allerdings im Range 
voransteht. In der Hauptsache ist er 
nur noch Priester des Ianus, wie seine 
Gemahlin, die regina sacrorum, Prie¬ 
sterin der Iuno, und zugleich ist er 
nomineller Träger der höchsten prie- 
sterlichen Staatswürde, während tat¬ 
sächlich die zentrale Gewalt auf sakra¬ 
lem Gebiet an die Pontifices überge¬ 
gangen ist. In Äußerlichkeiten, wie der 
Lebenslänglichkeit des Amtes, in Be¬ 
stimmungen wie denjenigen, daß er 
nicht hingerichtet werden darf, daß das 
Amt mit jedem anderen unvereinbar 
und sein Träger nicht wahlfähig ist, 
ja sogar genötigt werden kann, die zur 
Zeit seiner Ernennung etwa von ihm 
bekleideten Ämter vor der Inaugura¬ 
tion niederzulegen, in Privilegien, wie 
dem Rechte der Wagenbenutzung und 
einer Grabstätte innerhalb der Stadt 
zeigt sich noch die ehemalige hohe 
Stellung des Amtsinhabers, aber zu¬ 
gleich auch der Versuch, das Amt durch 
Isolierung des Trägers zur vollkom¬ 
menen Bedeutungslosigkeit herabzu¬ 
drücken. 32 ) Dagegen die Übernahme der 
alten Königswürde durch das Pontifi- 
kalkollegium in der historischen Zeit 

32) G. Wissowa, Religion und Kultus 
der Römer * S. 501 ff. 


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Ernst Kornemann, Die Anfänge der römischen Republik 


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wird durch nichts deutlicher illustriert 
als durch die Tatsache, daß jetzt nicht 
mehr der rex sacrorum, sondern jenes 
Kollegium in der Regia, dem alten 
Königshaus, seinen Amtssitz hat. Was 
liegt bei diesem Tatbestand näher als 
die Annahme, daß bei der Beseitigung 
der Diktatur, sei es, als das Konsular- 
tribunat, sei es, als die Konsulatsver¬ 
fassung an die Stelle trat, auch der 
„König“ zum zweitenmal depossediert 
worden ist? So erhalten wir folgendes 
Schema der Entwicklung: 

König (rex) 

r S 

Sakralkönig Gemeindeherr oder 
(rex sacrorum) Bürgermeister (mag. 

populi) und Reiter- 
führer (mag. equ.) 

I 

Kollegium der ponti- Konsulartribune 

fices (urspr. Dreizahl) (ursprüngl. Dreizahl) 

I 

zwei Konsuln und ein 
Prätor. 

Damit sind wir am Ende unserer Dar¬ 
legung angekommen. Ganz anders, als 
die Alten uns glauben machen wollen, 
ist die römische Republik entstanden. 
Was die Zeit betrifft, müssen wir im 
Gegensatz zur Tradition bis etwa in die 
Mitte des 5. Jahrh. heruntergehen, und 
in bezug auf die Verfassung liegt zwi¬ 
schen dem Königtum und dem Kon¬ 
sulat eine längere Entwicklung, die 
allein aus der gleichzeitigen Heeres¬ 
verfassung des Staates verstanden wer¬ 
den kann. Die älteste Verfassung der 
Republik war diejenige, die später als 
Notverfassung in kritischen Augen¬ 
blicken oder zur Erledigung von Spe¬ 
zialaufgaben neben der Konsulatsver¬ 
fassung wieder hervorgeholt worden 
ist: die Diktaturverfassung. Wie in 
Etrurien, unter dessen Einfluß man 


lange Zeit gestanden hatte, war in die¬ 
ser Verfassung der Jahreskönig zusam¬ 
men mit dem Reiterführer an die Stelle 
des lebenslänglichen Königs getreten, 
der nur noch ,für die sakrale Sphäre 
erhalten blieb. Als dann der Offensiv¬ 
kampf gegen die Etrusker begann, zu¬ 
nächst gegen Fidenae, das Vorwerk 
von Veji, gewann das Hoplitenheer zu 
Fuß ungemein an Zahl und Bedeutung 
und in den kämpfereichen Jahrzehn¬ 
ten am Ende des 5. und zu Anfang des 
4. Jahrh. wurden die Führer dieses 
neuen Heeres, die tribuni militum, zu¬ 
nächst in der in Italien bevorzugten 
Dreizahl, die Leiter des Staates. Erst 
als Veji niedergerungen und die gleich 
danach auftretende schwere Gallierge¬ 
fahr beseitigt war, hat Rom sich den 
Luxus leisten können, im obersten Amt 
zur Annuität das Prinzip der Kolle¬ 
gialität treten zu lassen in Gestalt von 
zwei Prätoren, die die Leitung der Re¬ 
publik konkurrierend miteinander über¬ 
nahmen, und die dann, als gleich dar¬ 
auf ein dritter Prätor dazu kam, als die 
älteren und höheren Mitglieder der re¬ 
gierenden Magistratur Konsuln hießen, 
während der alte Amtstitel die Spezial¬ 
bezeichnung des neuen collega minor 
wurde. Die Geschichte dieser allmäh¬ 
lichen Entwicklung ist für uns ver¬ 
schüttet worden durch die Schöpfung 
der langen Konsulliste, deren Kopf 
längst als Fälschung erkannt worden 
ist, und durch die Ausgestaltung der 
Erzählung vom Ständekampf, die eben¬ 
falls, wie die Darstellung bei Diodor 
XII, 25 zeigt, eine späte Konstruktion 
ist. 33 ) 

33) Ed. Meyer, Rhein. Mus. 37, S.619ff., 
G. Sigwart, Klio VI, 1906, S. 360Ff. 


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503 


Felix Salomon, Lord Morleys „Erinnerungen“ 


5041 


Lord Morleys „Erinnerungen“. 

Von Felix Salomon. 


Als die Engländer uns den Krieg er¬ 
klärt hatten, ging eine Notiz durch 
die Zeitung, eine kleine Gruppe von 
Mitgliedern des Kabinetts sei ausge- 
schieden, weil sie der Regierungspoli¬ 
tik nicht zustimmte; zu dieser Gruppe 
zählte John Morley. Damals wurde sein 
Name viel bei uns genannt, vermutlich 
ohne daß die meisten eine bestimmte 
Auffassung vom Wesen und Wirken 
des Mannes mit ihm verbunden hätten. 
Jetzt liegen seine Erinnerungen vor 1 ), 
und wer die beiden Bände zur Hand 
nimmt, kann mit dem Verfasser in per¬ 
sönlichen Verkehr treten; dazu möchte 
ich einladen. „Diu multumque vixi", 
schreibt der 81jährige in seinem Vor¬ 
wort, und wahrlich, ein gehaltvolles, 
reiches Leben zieht vor unseren Au¬ 
gen vorüber. Der Wirkungskreis war 
so mannigfach, daß Vertreter verschie¬ 
dener Berufskreise ihn heute als einen 
der Ihrigen in Anspruch nehmen könn¬ 
ten; im Bereiche der Geisteswissen¬ 
schaften wird man Morley als Fach¬ 
mann zählen und schätzen, in politi¬ 
schen und parlamentarischen Kreisen 
Englands ist er als bewährter und be¬ 
deutender Mitarbeiter im Gedächtnis 
geblieben. Die Geschichte wird ihn in 
die Reihe derer stellen, welche zwi¬ 
schen Geistesleben und Politik eine 
Brücke schlugen, indem sie die Schätze 
geistiger Kultur politischem Treiben 
und Handeln fruchtbar zu machen ver¬ 
standen; sein eigenstes Wirken wur¬ 
zelt im Bereich der politischen Gesin¬ 
nung, des politischen Denkens. So be¬ 
greift es sich, daß er an seinem Le¬ 
bensabend von einem seiner Lands- 

1) Recollections by John Viscount Mor¬ 
ley. London 1918, Macmillan. 


leute als Englands politisches Gewissen.! 
gepriesen worden ist. Erinnerungen aus 
der Feder eines solchen Mannes stellen 
einen Rechenschaftsbericht über Men¬ 
schen und Dinge dar, die das Leben zu 
beobachten gab, vom Standpunkte einer 
mit eigenen Maßstäben arbeitenden. 
Kritik; solch ein Bericht bietet eine 
nachdenkliche Lektüre. Er ist dort, we¬ 
der Verfasser im Rückblick erzählt und : 
urteilt, meist ohne Leidenschaftlichkeit 
geschrieben, in der Ruhe und Abge¬ 
klärtheit des Alters; die Darstellung 
rückt nicht selten in jene milde Abend¬ 
beleuchtung, welche Morley in seinen 
Naturschilderungen als die ihm liebste* 
hervorhebt. Auf weiten Strecken tritt 
allerdings die Erzählung hinter Tage¬ 
buchblättern und Briefschaften zurück, 
welche in die Stimmung und Aufre¬ 
gung des Tages einführen; hier muß 
die unmittelbare Teilnahme am Ge¬ 
schehen den Leser für den mangelnden 
Zusammenhang entschädigen. Skepsis; 
und Resignation blicken am Ende' 
durch; wer das Buch aus der Hand, 
legt, nimmt nicht von einem Führer 
Abschied, der für die Zukunft aufbaut, 
sondern vom Vertreter einer Genera¬ 
tion, die am Rande des Grabes steht. 
Der deutsche Leser, der Morley mit sei¬ 
nen Sympathien entgegenkommt, fin¬ 
det sie erwidert, insofern dieser auch- 
deutsches Geistesleben gewürdigt und 
mit deutschen Landsleuten verständnis¬ 
voll in Verkehr getreten ist. 

Die Darstellung beginnt im Form 
einer Autobiographie; Morleys künfti¬ 
ger Biograph erhält wertvolle Vorar¬ 
beit. Die Kunst, welche Morley in man¬ 
chen historischen Arbeiten bewährt hat, 
verwendet er hier auf seinen eigenem 


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PRINCETON UMIV ERSUY 




505 


Felix Salomon, Lord Morleys „Erinnerungen“ 


506 


Werdegang; kein Abschnitt des Wer¬ 
kes ist sorgfältiger ausgearbeitet als 
derjenige, welcher uns Auskunft gibt, 
wie die eigene Persönlichkeit sich ge¬ 
bildet und unter welchen Einflüssen sie 
ihr Gepräge erhalten hat. Morley wurde 
in einer kleinen Stadt in Lancashire, 
Blackburn, als Sohn eines Wundarztes 
1838 geboren; er besaß weder Konne¬ 
xionen noch Vermögen. Die Schilde¬ 
rung der Schulzeit und des Universi¬ 
tätslebens zeugt bereits von ebenso 
großer Begabung wie hohem Streben; 
als Beruf wurde ursprünglich die Theo¬ 
logie in Aussicht genommen, aber fal¬ 
len gelassen, weil der angeborene „po¬ 
litische Trieb" drängte, „das Leben 
selbst und seinen Inhalt zu erfassen“. 
Frühzeitig suchte Morley in ihm Stel¬ 
lung zu nehmen; er bedurfte dazu gei¬ 
stiger Nahrung und Führung. Er schil¬ 
dert uns die Zeitverhältnisse, die den 
Ausgangspunkt bildeten; besonders 
lehrreich ist die Auskunft, wie er seine 
politische Parteistellung fand. Sie bil¬ 
dete sich nicht aus literarischen Mei¬ 
nungen heraus, nicht aus geschicht¬ 
licher Tradition — das Geschichtsstu¬ 
dium tritt in seiner Ausbildung merk¬ 
lich hinter anderen Wissensgebieten zu¬ 
rück, weil, wie er berichtet, noch an 
keiner englischen Universität bis über 
flie Mitte des 19. Jahrhunderts die Ge¬ 
schichte einen Platz als selbständiges 
Studienfach hatte —, die Parteistellung 
bildete sich als Bestandteil einer im 
Geistigen wurzelnden Lebensanschau¬ 
ung. Diese Lebensanschauung ist der 
Liberalismus, „die eigentliche Grund¬ 
strömung der mittleren Jahrzehnte der 
Viktorianischen Ära". Morley definiert 
diese, wie er sagt, in tausend verschie¬ 
denen Farben schillernde Erscheinung 
so, wie sie Geltung in seinen Augen 
gewann. Was ist Liberalismus? „Seine 
Wurzel ist Ehrfurcht vor der Würde 


und dem Werte der Persönlichkeit. Er 
tritt für das Streben nach sozialer 
Wohlfahrt ein, entgegen Klasseninter¬ 
essen oder dynastischem Streben. Er 
tritt dafür ein, daß jegliche Ansprüche 
einer außenstehenden Autorität mensch¬ 
lichem Urteil zu unterwerfen sind, sei 
es, daß es sich um eine organisierte 
Kirche handelt oder um lose zusam¬ 
mengeschlossene Genossenschaften oder 
um heilig gehaltene Bücher. In der Ge¬ 
setzgebung vernachlässigt er nicht die 
höheren Eigenschaften der Menschen¬ 
natur, sondern zieht sie zuerst in Rech¬ 
nung. In Ausübung der Gerechtigkeit 
betrachtet er den Richter, den Kerker¬ 
meister und vielleicht auch noch den 
Henker als unentbehrlich, rechnet aber 
mit der Gnade als weiser Ergänzung 
des Schreckens.“ In Gegensatz zum 
Liberalismus stellt Morley all das, „was 
wir heute als Militarismus bezeichnen“; 
er meint, kennzeichnend für den Mili¬ 
tarismus sei, wie er Gewissen, Grund¬ 
sätze, Denken, Lehre, Schrifttum als 
nebensächlich betrachtet, während doch 
all diese Elemente der sozialen Struk¬ 
tur in der Politik eine maßgebende 
Rolle spielen. Im weiteren lehrt uns 
Morley den Boden kennen, aus dem 
sein Liberalismus Nahrung gezogen; 
neben ein überaus reiches Bücherstu¬ 
dium tritt die Bekanntschaft mit Män¬ 
nern, deren Namen in die Geschichte 
übergegangen sind. Unter den Leben¬ 
den, mit denen sich Morley als wer¬ 
dender Politiker und Denker ausein¬ 
andergesetzt hat, stehen der Dichter 
George Meredith und der Philosoph 
John Stuart Mill voran; unter den toten 
Lehrmeistern werden vor anderen Adam 
Smith, Bentham und besonders Ed¬ 
mund Burke genannt. Was er letzterem 
verdankt, gibt er genau an; „Ich ver¬ 
dankte ihm auf meiner ersten Weg¬ 
strecke mehr als irgendeinem anderen 


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PRINCETON UNIVERSITY 




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Felix Salomon, Lord Morleys „Erinnerungen“ 


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in bezug auf die praktische Einführung 
5n Strategie und Taktik des öffentlichen 
Lebens.“ Kennzeichnend für Morleys 
geistige Ausrüstung ist noch die, bei 
einem Engländer seltene, umfassende 
und tiefe Kenntnis ausländischer Lite¬ 
ratur, zumal der französischen. Eine 
nie versagende Aufnahmefähigkeit für 
neuen Lern- und Lesestoff beeinträch¬ 
tigt nicht treues Festhalten an der auf 
Schule und Universität gewonnenen 
klassischen Bildung; die Meisterwerke 
des klassischen Altertums begleiten 
Morley in Stunden der Erholung durchs 
Leben. Zur stärksten Triebkraft durch 
Schwierigkeiten und Wirrnisse hin¬ 
durch wird ihm der Glaube an den 
Fortschritt; er ist recht eigentlich sein 
Lebenselixier gewesen. 

Morley vermochte den für die Öffent¬ 
lichkeit am besten vorbereitenden Be¬ 
ruf, den juristischen, wegen mangeln¬ 
der materieller Mittel nicht einzuschla¬ 
gen; er wurde Journalist. Er schreibt 
hierüber, er habe später bedauert, nicht 
die Rechte studiert und praktiziert zu 
haben, nie aber habe er bereut, daß er 
Journalist gewesen sei; denn wenn der 
Journalismus auch durch die billige 
Überlegenheit, die das stete Kritisieren 
schafft, und durch die rasche Arbeit 
manches Talent und manchen Charak¬ 
ter verdorben habe, so stelle er den 
Mann dafür mitten ins Leben hinein, 
und das sei für den Politiker unschätz¬ 
bar. Mit 29 Jahren wurde er Leiter der 
Fortnightly Review; 13 Jahre später 
hat er die Pall Mall Gazette übernom¬ 
men. Dieser Wirkungskreis entsprach 
der Eigenart Morleys insofern ganz be¬ 
sonders, als er ihm Gelegenheit bot, 
sich gleichzeitig politisch einzufühlen 
und geistig-wissenschaftlich zu betäti¬ 
gen. Als Brücke aus dem geistigen ins 
politische Bereich diente zumal eine 
kleine Schrift über „Kompromisse“, die 


in deutscher Übersetzung unter dem 
Titel „Überzeugungstreue“ erschienen 
ist; er verurteilt hier die Neigung, aus 
sozialen Konvenienzgründen auf das 
Suchen nach Erleuchtung und Wahrheit 
zu verzichten. „Wir müssen lernen, mit 
festem Blick einander anzusehen und 
mit festem Schritt den von uns gewähl¬ 
ten Weg zu gehen.“ 

Beim Eintritt ins politische Leben be¬ 
gegnet ihm ein „neuer Freund“; Un¬ 
eingeweihten wird es eine Über¬ 
raschung sein, daß dieser Freund kein 
Geringerer als Joseph Chamberlain ge¬ 
wesen ist. Gladstone, der beide genau , 
kannte, staunte, wie sie sich eng zusam¬ 
menfinden konnten: „Sie sind“, sagte 
er, „nicht nur verschieden, sondern Wi¬ 
dersprüche.“ Morley hatte darauf nur 
zu erwidern, daß sie gleichwohl durch 
dreizehn rastlose Jahre hindurch das 
Leben von Brüdern geführt hätten. Mit 
der Schilderung von Chamberlains Per¬ 
sönlichkeit beginnt Morley die Zeich¬ 
nung einer Reihe von Bildnissen poli¬ 
tischer Zeitgenossen; der Zeichner sieht 
es dabei nicht darauf ab, den ganzen 
Menschen zu erfassen, er begnügt sich, 
die Züge herauszuheben, welche den 
Staatsmann und Parlamentarier in sei¬ 
nem engeren Berufskreise kennzeich¬ 
nen. „Die Schule Chamberlains", er¬ 
zählt Morley, „waren die Geschäfte und 
die Forderungen des Augenblicks; ob¬ 
wohl er nicht zu den Politikern zählte, 
die durch eine Idee zum Handeln ge¬ 
trieben wurden, war er rasch darin, 
Ideen mit Handlungen zu verbinden.“-* 
Das Geheimnis seiner Macht als Volks¬ 
führer sei gewesen, daß er sowohl' der 
freimütigste und offenste als auch der 
kühnste und unerschrockenste Staats¬ 
mann war; diese Eigenschaften waren 
abgesehen von der Schärfe seiner Dia¬ 
lektik seine Kraftquelle. Ungeduldig sei 
er jenen klugen Leuten gegenüber ge- 


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Felix Salomon, Lord Morleys „Erinnerungen“ 


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wesen, die, zahlreicher als wir anneh- 
rpen, die unheilvolle Geschicklichkeit 
besitzen, die Dinge am falschen Ende 
anzufassen. Logik betrachtete er in der 
praktischen Politik als Verderben. Gut 
anwendbar auf ihn sei ein Ausspruch 
eines Zeitgenossen König Wilhelms III., 
des Marquis of Halifax: Eines Mannes 
Gesinnung müsse sehr niedrig sein, 
wenn die Überwindung von Schwierig¬ 
keiten nicht einen Teil seines Vergnü¬ 
gens ausmache. Den Freund findet Mor- 
ley in einem Urteil Gladstones wieder: 
„Er ist ein Mann, mit dem sich gut 
sprechen läßt, nicht nur wegen seiner 
Überzeugungskraft und Klarheit, son¬ 
dern weil er mit Überlegung spricht 
und nicht pedantisch die Folgerichtig¬ 
keit seines Arguments aufrechtzuerhal¬ 
ten sucht." Chamberlain seinerseits kri¬ 
tisierte Morley: „Sie haben zwei Feh¬ 
ler, Sie sind empfindsam, und Sie sind 
zurückhaltend.“ Morley erwiderte mit 
„einer Dosis Taschenpsychologie": „Die 
schwachen Seiten eines Menschen sind 
gewöhnlich Bestandteile seiner guten, 
falls er so glücklich ist, solche zu be¬ 
sitzen. Empfindsamkeit ist ein Element 
des Mitempfindens, und die Gabe des 
Mitempfindens ist eine Kraftquelle für 
den Politiker. Zurückhaltung wiederum 
ist ein Bestandteil des Stolzes, und 
Stolz von der rechten Art ist ebenfalls 
eine Kraftquelle.“ 

Morley war 45 Jahre alt, als er 1883 
in Newcastle on Tyne ins Unterhaus 
gewählt wurde, seine Wähler waren 
vornehmlich geschulte Fabrikarbeiter. 
Es.war der Eintritt in die politische 
Praxis, an den er die Betrachtung 
knüpft, geschichtliche Erfahrung lehre 
von Ciceros Tagen an, daß der Über¬ 
gang von Wissenschaft und Publizi¬ 
stik zur Politik keine günstigen Präze¬ 
denzfälle aufzuweisen habe. Der stu¬ 
dierte Mann pflege die im öffentlichen 


Leben stehenden eher zu hoch als zu 
niedrig einzuschätzen; folglich habe es 
auch ihm an Enttäuschungen nicht ge¬ 
fehlt. Seine politischen Eindrücke ver¬ 
dichten sich an dieser Stelle wie auch 
sonst manchesmal in politischen Apho¬ 
rismen, aus denen ich einige heraus¬ 
hebe. Wir lesen: „Das Unterhaus ist 
keineswegs der Platz, in dem Zeitver¬ 
lust das Schlimmste ist.“ „Man muß ge¬ 
duldig die heilsame Lektion lernen, daß 
Weisheit auch dann Weisheit sein kann, 
wenn sie in rhetorischem Gewände auf- 
tritt.“ „Viel von der parlamentarischen 
Debatte ist Streit zwischen Männern, 
die in Wahrheit und im letzten Grunde 
übereinstimmen, aber Beweisgründe er¬ 
finden, um ihre Übereinstimmung zu 
verbergen und neue Meinungsverschie¬ 
denheiten hervorzurufen.“ Warnend 
spricht Morley von dem üblichen Irrtum 
in der Politik, einer Ursache allein zu¬ 
zuschreiben, was die Wirkung von vie¬ 
len seL Was uns Morley an Einzelheiten 
zur Zeitgeschichte bietet, ist nirgends 
sensationell; im ganzen aber berei¬ 
chert er unser Wissen über diesen der 
Forschung noch wenig zugänglichen 
Zeitabschnitt in erwünschter Weise. 
Interessanten Einblick erhalten wir in 
die Zustände im liberalen Lager; grö¬ 
ßer, als wir es bisher annahmen, war 
hier die Zersplitterung. Es wird deut¬ 
lich, in welchem Maße Gladstone als 
Parteiführer versagte; ihm fehlte, sagt 
Morley, die Menschenkenntnis und auch 
die Kunst der Menschenbehandlung. 
Die grenzenlose Anpassungsfähigkeit 
des „great old man“ an neue Zeitforde¬ 
rungen wirkte überdies dahin, ihm alte 
Marschgenossen zu entfremden; der 
Radikalismus des Führers behagte den 
gemäßigten Liberalen vom Schlage Har- 
courts und Hartingtons nicht länger. 
Gladstone verstand es aber auch nicht, 
sich mit dem radikalen Flügel zu stel- 


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Felix Salomon, Lord Morleys „Erinnerungen“ 


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len; wir hören, daß die Aufnahme von 
Männern wie Chamberlain und Dilke 
ins Kabinett ihm aufgedrungen werden 
mußte. Morley erhielt seinen besonde¬ 
ren Aufgabenkreis in der Behandlung 
der irischen Angelegenheiten, deren 
entscheidende Bedeutung gerade da¬ 
mals ihn zeitweise in den Mittelpunkt 
des Geschehens rückte; die politische 
Tragweite der irischen Frage wurde da¬ 
durch so sehr gesteigert, daß eine iri¬ 
sche Partei entstand, die sich zum 
Zünglein an der Wage zwischen den 
beiden großen Parteien zu machen 
vermochte. Es wurde da für den Libe¬ 
ralismus zur Lebensfrage, einschnei¬ 
dende Maßnahmen zu treffen, womit 
sich noch einmal ein großer Wirkungs¬ 
kreis für Gladstone eröffnete; mit der 
ihm eigentümlichen Fähigkeit und Kraft, 
rühmt Morley, das Gewissen der Na¬ 
tion wachzurufen, befürwortete er eine 
Befriedigung der Iren in großem Stile 
und stellte Home Rule zur Erörterung. 
Morley richtete sein Augenmerk auf 
die agrarischen Mißstände und schrieb 
darüber an Sir Alfred Lyall: „Unsere 
Versäumnisse sind abscheulich gewe¬ 
sen. Die Grundbesitzer sind eine so gie¬ 
rige und freche Schar von Tyrannen ge¬ 
wesen, wie sie nur je in irgendeinem 
Teile der Welt den Armen die Gegen¬ 
wart geschändet haben. Ich hoffe, daß 
•die Stunde ihrer Vernichtung geschla¬ 
gen hat." Seinem Freunde Chamberlain 
bekannte er, daß ihm irgendeine Form 
der Autonomie für Irland ebenfalls 
wünschenswert erschiene. Mit diesen 
Ansichten übernahm er im Frühling 
1886 das Amt des Staatssekretärs für 
Irland. Morleys Hauptaufgabe auf die¬ 
sem Posten bestand darin, mit dem 
Irenführer Parnell die Verbindung auf¬ 
rechtzuerhalten und Sorge zu tragen, 
daß die Home-Rule-Bill mit einer Land- 
Bill verkettet wurde. Diese Stellung¬ 


nahme führte zum Bruch mit Chamber¬ 
lain, der bekanntlich Home Rule im 
Reichsinteresse für schädlich hielt; im 
Mai 1886 fand die entscheidende Ka¬ 
binettssitzung statt, in der Chamberlain 
aus der Regierung austrat, um sich mit 
seinem Anhänge von GIadston£ loszu¬ 
sagen. Übrigens spielte sich der Vor¬ 
gang nicht so ab, daß Chamberlain un¬ 
willig die Gefolgschaft kündigte, son¬ 
dern Gladstone war es, der ihn wissen 
ließ, es bleibe kein Raum mehr für ein 
Zusammenarbeiten. Morley und Cham¬ 
berlain verkehrten auch weiterhin 
freundschaftlich miteinander, aber die 
alte vertraute Arbeitsgemeinschaft hörte 
auf. Das Schisma im liberalen Lager 
besiegelte das Geschick der Regierung 
und beendete alsbald Morleys erste 
amtliche Tätigkeit. 

Neuwahlen brachten die Konserva¬ 
tiven ans Ruder; als Morleys Nachfol¬ 
ger ging Balfour 1887 nach Irland, der 
bis dahin nur als philosophischer Kri¬ 
tiker hervorgetreten war. Morley kenn¬ 
zeichnet ihn durch einen schmeichel¬ 
haften Vergleich mit Macaulays Cha¬ 
rakteristik des häufiger in den Erinne¬ 
rungen erwähnten, von Morley eifrig 
studierten, Marquis of Halifax. Mor¬ 
ley in Opposition behielt Fühlung mit 
Parnell, dessen Wesen er zu erfassen 
sucht; keines der politischen Porträts 
ist sorgfältiger ausgeführt als dieses. 
Die Aufgabe, lesen wir, Parnell gerecht 
zu werden, sei schwierig; man müsse 
dazu über die Feder eines Tacitus ver¬ 
fügen. Persönlichen Ehrgeiz habe Par¬ 
nell gar nicht besessen, weder im edlen 
noch im gewöhnlichen Sinne; die Po¬ 
litik war ihm ein ständiges Ringen, 
kein Spiel noch eine Gelegenheit, um 
Karriere zu machen. Von Ideologen 
wollte er so wenig wie Napoleon wis¬ 
sen; er hätte ihnen zur Antwort ge¬ 
geben, ob denn die Idee in der Politik 


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PRINCETON UNIVEW 








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Felix Salomon, Lord Morleys „Erinnerungen“ 


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mehr als ein anderes Wort für Einbil¬ 
dung sei, und ob Grundsätze abgeson¬ 
dert von Kraft, Leidenschaften, Inter¬ 
esse mehr als eine bloße Chimäre be¬ 
deuteten. Er hatte wenig Vertrauen zu 
Worten; Beredsamkeit ließ ihn ganz 
unberührt. Seine Grundeigenschaften 
bestanden in unerschütterlicher Kälte, 
Festigkeit, Härte, im Blick für das im 
Augenblick Wesentliche. Seinen tragi¬ 
schen Ausgang vergleicht Morley mit 
dem Mirabeaus, in dem ebenfalls ein 
Retter des Vaterlandes durch Aus¬ 
schreitungen im Privatleben vernichtet 
wurde. Morley selbst überbrachte Par- 
nell den an ihn gerichteten Brief Glad- 
stones, in dem dieser Morley ankün¬ 
digte, daß er eine weitere Führerschaft 
Pamells für unheilvoll für die Sache 
Irlands halte. Mit alledem war Morley, 
gleichviel ob im Amt oder in der Oppo¬ 
sition, eine hervorstechende Persönlich¬ 
keit geworden; seine Zeitung prägte 
eine eigene Schattierung des Liberalis¬ 
mus aus, der sich einerseits von dem 
Mills unterschied,, andererseits! aber 
auch gegen Gladstone Stellung nahm; 
daher war Morley auch der Kritik wei¬ 
terer Kreise ausgesetzt. Er übermittelt 
uns da ein bemerkenswertes Urteil über 
ihn selbst von dem geistvollen katho¬ 
lischen Historiker Lord Acton, zu dem 
er durch den Verkehr mit irischen Ka¬ 
tholiken Beziehungen gewonnen hatte. 
Lord Acton warf Morley vor, er sähe 
in der Politik nichts als höhere Zweck¬ 
mäßigkeit und besitze keine tieferen 
Grundsätze; er käme zu seinen Schlüs¬ 
sen von einer viel zu engen Induktion 
her; seine weitumfassende Bildung 
habe auf die Gestaltung seiner fcülitik 
keinen Einfluß gewonnen. Dem stellt 
er allerdings hohes Lob gegenüber: 
Morleys Geist sei von seltener Biegsam¬ 
keit,'^Wahrhaftigkeit und Kraft und nur 
zum Allerbesten befähigt. Morley er- 

Intemationale Monatsschrift'. 


widerte hierauf u. a.: Der Vorwurf, er 
sähe in der Politik nichts als höhere 
Zweckmäßigkeit, bedürfe der Milde¬ 
rung. er habe von Burke die Lehre 
des gesunden Menschenverstandes über¬ 
nommen, nach welcher der im öffent¬ 
lichen Leben Tätige die Folgen er¬ 
wägen müsse, die Wahrscheinlichkeiten 
abschätzen, die Kräfte abmessen, das 
kleinere Übel wählen und mutig die 
Tatsache anerkennen, daß in der Po¬ 
litik oft nur die zweitbeste Lösung 
möglich sei. Zeugnis für Morleys hohe 
gesellschaftliche Stellung legt ein für 
deutsche Leser interessanter Vorgang 
ab; er wurde hinzugezogen, um dem 
jungen Kaiser bei einem seiner ersten 
Besuche in England vorgestellt zu wer¬ 
den. Er erhielt eine Einladung zum 
Frühstück bei Lord Lootdonderry; das 
Tagebuch bringt über das Weitere fol¬ 
genden Eintrag: „Er verbeugte sich und 
schüttelte mir die Hand, fragte, ob icli 
von meiner Krankheit genesen sei, und 
sagte, daß sie die Influenza in Deutsch¬ 
land hätten; damit endete meine Unter¬ 
redung mit ihm. Aber ich beobachtete 
mit ungeheurem Interesse den Mann, 
der eine solche Rolle in Europa zu spie¬ 
len berufen ist. Er ist eher klein, blaß, 
aber sonnverbrannt, hält sich gut, tritt 
mit dem steifen preußischen Soldaten¬ 
schritt ins Zimmer, spricht mit vielen 
energischen Gesten, aber nicht wie die 
Franzosen, mehr staccato; die Stimme 
laut, aber angenehm, das Auge glän¬ 
zend und klar, das Gesicht in der 
Ruhe ernst, beinahe finster; aber zwi¬ 
schen zwei hübschen Damen, der Wir¬ 
tin und Lady X., sitzend, leuchtete er 
auf in Heiterkeit und fröhlichem Ge¬ 
lächter. Energie, Hast und Ruhelosig¬ 
keit in jeder Bewegung, vom kurzen 
raschen Kopfnicken bis zum Aufsetzen 
des Fußes, aber ich möchte zweifeln, 
daß das Ganze gesund, stetig und das 

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Felix Salomon, Lord Morleys „Erinnerungen“ 


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Ergebnis eines, wie Herbert Spencer 
sagen würde, wohlgeordneten Organis¬ 
mus ist.“ Er sollte dem Kaiser noch 
mehrmals begegnen. 

Die Wahlen 1892 unterbrachen die 
konservative Herrschaftsperiode durch 
einen Zufallserfolg der Liberalen; die 
liberale Mehrheit war aber so gering, 
daß das Kabinett von vornherein kei¬ 
nen festen Boden unter den Füßen 
fühlte. Dazu kam, daß die liberale Par¬ 
tei nicht besser als zuvor gerüstet war, 
vielmehr dauerte der Zersetzungspro¬ 
zeß an. Gladstone, jetzt 83 Jahre alt, 
übernahm noch einmal die Leitung; es 
war tragisch zu beobachten, wie die 
eigene Partei ihn als Hindernis zu betrach¬ 
ten begann. Morley bezeichnet als seine 
Aufgabe, das seinige zu tun, damit das 
große Licht, wenn nicht in Glanz, so 
doch in Ehren ausging. Er wurde wie¬ 
der Staatssekretär für Irland mit dem 
vollen Vertrauen der Iren. Sein Tage¬ 
buch enthält Einzelheiten, die sowohl 
für die irischen Zustände wie für ihn 
selbst bezeichnend sind; beim Besuche 
eines Gefängnisses fiel ihm die In¬ 
schrift „Gott ist die Liebe“ als un¬ 
passend auf, und beim Verlassen des 
Hauses beschäftigte ihn der Gedanke: 
Warum bin ich in Freiheit und die 
dadrin im Gefängnis? Im Parlament 
wurde die Home-Rule-Bill abermals 
eingebracht, im Unterhause angenom¬ 
men, im Oberhause verworfen; Glad¬ 
stone wollte alsbald an das Land ap¬ 
pellieren, die anderen Kabinettsmitglie¬ 
der waren dagegen, weil sie ein aber¬ 
maliges Schisma innerhalb der Partei 
besorgten. Das war der Anfang vom 
Ende der Führerschaft Gladstones; das 
Ende kam, als Earl Spencer als erster 
Lord der Admiralität eine bedeutende 
Vermehrung der Flotte verlangte. Glad¬ 
stone sie ablehnte und die Mehrheit 
des Kabinetts gegen ihn entschied. 


I Hierbei kam ein tiefer liegender Pro¬ 
zeß im Schoße der liberalen Partei zum 
Durchbruch: die imperialistische Welle, 
die durchs Land ging, drang jetzt ins 
Kabinett ein und unterwühlte den von 
Gladstone eingenommenen Standpunkt. 
Eine der intimsten Schilderungen in 
den Erinnerungen ist die der letzten 
Kabinettssitzung, in der Gladstone den 
Vorsitz führte; der greise Staatsmann 
gab die Erklärung ab, daß nun, wo ein 
Zusammenarbeiten in Ehren nicht län¬ 
ger möglich sei, sie wenigstens in Eh¬ 
ren auseinandergehen wollten. Seine 
letzten Worte in amtlicher Stellung, 
kaum lauter als ein Atemzug gespro¬ 
chen und doch so, daß jeder Ton ver¬ 
nehmbar war, lauteten: Gott segne 
euch alle! Als Nachfolger wurde Lord 
Rosebery, der liberale Imperialist, aus¬ 
ersehen, dessen persönlicher Reiz in 
Morleys Zeichnung deutlicher in Er¬ 
scheinung tritt als seine staatsmänni- 
schen Fähigkeiten; er besaß, bemerkt 
Morley, wie kein zweiter das, was die 
Franzosen „Esprit“ nennen, wofür es 
ein englisches Wort nicht gäbe. Bereits 
1895 fand die liberale Episode ein Ende. 

Mit der Rückkehr der Konservativen 
begann die Hochflut des Imperialis¬ 
mus; Morley bekennt seine Stellung¬ 
nahme, indem er eine Äußerung Glad¬ 
stones «zitiert: Die Geschichte der Na¬ 
tionen sei ein melancholisches Kapitel, 
die der Regierungen aber erst gar einer 
der unmoralischsten Abschnitte in der 
Geschichte. Die Verwicklungen, die in 
den Burenkrieg führten, veranlaßten 
ihn, ein Büchlein über Machiavelli(1897) 
zu schreiben, in dem er Klage erhebt, 
daß der Machiavellismus noch einen 
starken und dauernden Einfluß ausübe, 
und daß Kraft, Wille, Gewalt ohne 
Widerstand in der Welt noch aufrecht¬ 
erhalten blieben, entgegen der Gerech¬ 
tigkeit, dem Gewissen der Menschlich- 


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Felix Salomon, Lord Morleys „Erinnerungen“ 


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keit und dem Recht. Die treibende Kraft 
in der Gegenpartei war jetzt kein an¬ 
derer als Morleys einstiger Busenfreund 
Chamberlain; Morley rühmt den Adel 
seiner Sprache, die Echtheit seiner Emp¬ 
findungen und legt sich das politische 
Geschehen am Ende so zurecht, daß an¬ 
dere am Ausbruch des Burenkrieges 
Schuld gehabt hätten. Als später ein¬ 
mal Chamberlain ihn fragte: „Wo glau¬ 
ben Sie, daß wir damals gefehlt ha¬ 
ben?“ erwiderte Morley: Milner habe 
die Schuld, als er die Unterredung mit 
Krüger in Bloemfontein vor dem Krieg 
beim ersten Streitpunkt abbrach, und 
fügte hinzu: „Wären Sie dort gewesen, 
Sie hätten dem alten Herrn den Tabak¬ 
topf hingeschoben, eine Pause zum 
Nachdenken vorgeschlagen und es wäre 
zu einer Einigung gekommen.“ Die Er¬ 
innerungen führen im folgenden von 
den großen Weltereignissen ab; dafür 
läßt uns Morley hinter die Kulissen der 
liberalen Parteileitung blicken, wo die 
alte Generation endgültig abgewirt¬ 
schaftet hatte. Lord Rosebery zog sich 
von der Führerstelle zurück, weil ihm, 
wie es heißt, nicht der besondere Bei¬ 
stand zuteil wurde, ohne den ein Peer 
keine Aussicht habe, erfolgreich in der 
Führerschaft durchzuhalten; Sir Simon 
Harcourt folgte ihm wenig später in 
den Ruhestand. Als neuer Führer stellte 
sich Sir Henry Campbell-Bannermann 
zur Verfügung, von dem Morley die 
Prinzipientreue rühmt. Die Wahlen von 
1900 bedeuteten eine Billigung der mi¬ 
nisteriellen Politik; also, schreibt Mor¬ 
ley, hatten wir bis 1905 zu warten, um 
das Ende unserer Uneinigkeit und die 
scheinbare Wiederherstellung gesunder 
und erprobter Grundsätze zu erleben. 

Der Wahlerfolg der Liberalen war 
nie größer gewesen als im Jahre 1905; 
die große Stunde fand aber keinen gro¬ 
ßen Mann. Campbell-Bannermann war 


vorgeschoben, weil kein Besserer ver¬ 
fügbar war, und nur insofern darf Mor¬ 
ley ihn als unersetzlich bezeichnen. 
Das geringe Gewicht des Führers hatte 
für die Partei das Gute, daß eine junge 
Generation rascher, als es sonst möglich 
gewesen wäre, zur Geltung gelangte; 
seit 1886 hatte sie sich einzuarbeiten 
begonnen. Wir kennen die Namen: As- 
quith, Grey, Haldane, Lloyd George, 
sie alle betreten jetzt die Bühne. Der 
Leser der „Erinnerungen“ spürt es bald 
heraus, Morley fühlte sich dieser Gene¬ 
ration innerlich nicht mehr nahe; mit 
Asquith und Grey trat er wohl noch 
in näheren Verkehr, den bedeutendsten 
von allen, Lloyd George, übergeht er be¬ 
zeichnenderweise mit Stillschweigen. 
Das Programm dieser Jüngsten fügte 
sich in das seinige nicht mehr ein; im 
besonderen der verstärkte soziale Ein¬ 
schlag deckte sich nicht mit seinen libe¬ 
ralen Grundanschauungen. Gewiß, er 
durfte mit Harcourt sagen: „Wir alle 
sind heutzutage Sozialisten“, aber das 
war ein Sozialismus der Gesinnung, der 
sich von der praktischen Betätigung 
eines Lloyd George doch recht sehr un¬ 
terschied. Gleichwohl entzog er sich 
der Mitarbeit nicht und nahm diesmal 
den Posten eines Staatssekretärs für In¬ 
dien an; es scheint, daß man seine milde 
Gesinnungsart und seinen Gerechtig¬ 
keitssinn stets dort am besten zu ver¬ 
wenden meinte, wo es im Reiche die 
schwierigsten Verwaltungsprobleme zu 
lösen galt. Morley macht es sich in sei¬ 
nem Bericht über dieses Kapitel seiner 
dienstlichen Tätigkeit leicht, indem er 
fast nur Auszüge aus Briefen, die er an 
den Vizekönig von Indien, Lord Minto, 
gerichtet hatte, aneinanderreiht; der 
Wert seines Beitrages zur Reichsge¬ 
schichte wird dadurch nicht gemindert. 
Er beginnt mit folgender Einführung: 
„Die fünf Jahre, die ich an der Spitze 

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519 


Felix Salomon, Lord Morleys „Erinnerungen“ 


520 


des indischen Amtes verbrachte, be- 
zeichneten einen schwierigen Zeitpunkt 
in der Geschichte desjenigen imperia¬ 
listischen Problems, das das heikelste 
ist und bleiben muß. Momentane Um¬ 
stände und Zwischenfälle hatten stets 
schwierig gewesene Fragen plötzlich 
dringlich gemacht. Von tiefer Bedeu¬ 
tung war das Sichtbarwerden einer 
Welle politischer Unruhen, die sich aus 
verschiedenen Gründen langsam über 
ganz Indien verbreitete. Revolutionäre 
Stimmen, teils gemäßigt, teils heftig, 
ließen sich klar und scharf erkennen, 
und Ansprüche oder Bestrebungen, um 
den Anteil der Bevölkerung an ihrer 
eigenen Regierung auszudehnen, nah¬ 
men immer deutlichere Formen an." 
Das Zusammentreffen der Gärung in 
Indien mit dem Emporkommen parla¬ 
mentarischer Gruppen in England, die 
alle nach Reformen verlangten, hatte 
eine wechselseitige Beeinflussung zur 
Folge; indische Extremisten lernten die 
Forderungen der englischen Radikalen 
kennen, während zurückkehrende Anglo- 
Inder von dem Verlangen der indischen 
Bevölkerung Kenntnis gaben. Weiter 
heißt es zur Kennzeichnung der Lage 
in Indien: „Der Wechsel in den letzten 
zwölf Jahren war enorm; sogar der 
Wunsch nach vollkommener Unabhän¬ 
gigkeit begann die Einbildung der Ju¬ 
gend zu beschäftigen. Es wäre ein ver¬ 
hängnisvoller Fehler, anzunehmen, daß 
diese Bewegung auf die Lehren politi¬ 
scher Agitatoren beschränkt blieb; be¬ 
sonders unter den Studenten, zumal 
denen Vorder-Indiens, griff sie um sich. 
Von einer Wiederholung des furchtba¬ 
ren Militäraufstandes war nicht die 
Rede; die Gefahr drohte diesmal von 
unterrichteten, mit modernen Ideen aus¬ 
gerüsteten Männern; die Siege Japans, 
die revolutionäre Bewegung in der Tür¬ 
kei, in China, in Persien waren nicht 


spurlos vorübergegangen. Wir hatten 
das seltsame Schauspiel vor uns, daß 
in gewissen Teilen Indiens Männer sich 
betätigten, die gleichzeitig zu reaktio¬ 
nären und revolutionären Methoden Zu¬ 
flucht nahmen; sie boten wilden Gott¬ 
heiten Gebete und Opfer an und' ver¬ 
klagten gleichzeitig die Regierung in 
aufrührerischen Zeitungen, derart pri¬ 
mitiven Aberglauben in der modernen 
Form von Leitartikeln predigend.“ 
Scharf setzt sich Morley mit der kon¬ 
servativen Politik in Indien und der 
Leitung des vorangehenden Vizekönigs 
Lord Curzon auseinander; dieser habe 
die allgemeine Loyalität erkältet durch 
seine ausgesprochene Zentralisations¬ 
politik, durch sein Beschneiden, wie die 
Inder es ausdrückten, der liberalen 
Grundsätze und Versprechungen der 
Proklamation Königin Viktorias von 
1858, durch seine offen erklärte Ge¬ 
ringschätzung der Maßstäbe indischer 
Moral, durch Maßnahmen wie die Tei¬ 
lung Bengalens entgegen den Wün¬ 
schen der Bevölkerung. Morley ist be¬ 
strebt, es anders anzufangen, ein Re¬ 
formprogramm steht im Mittelpunkt 
seiner Tätigkeit. Es hat in seinen „in¬ 
dischen Reden“ Niederschlag gefun¬ 
den; in den „Erinnerungen“ ruft er nur 
die Grundzüge ins Gedächtnis. Die 
Hauptsache war ihm, den gesetzgeben¬ 
den Körperschaften, sowohl denen, an 
deren Spitze die Generalgouverneure 
standen, wie denen in den Provinzen 
einen wirklich repräsentativen Charak¬ 
ter zu geben, u. a. durch Vermehrung 
der Mitgliederzahl, durch Wahlen an 
Stelle von Ernennung, durch eine libe¬ 
rale Ausdehnung der Freiheit, die Vor¬ 
lagen zu erörtern. Als bedeutsamste 
Gabe faßte Morley die Hinzuziehung 
eines Inders zum ausübenden Rat des 
Vizekönigs ins Auge, eine Neuerung 
von größter Tragweite, insofern bis da- 


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521 


Felix Salomon, Lord Morleys „Erinnerungen“ 


522 


hin nur Europäer in diese wichtigste 
Behörde aufgenommen waren. Morley 
rühmt: auf diese Weise ließe sich eines 
der offensichtlichsten Zeichen der Min¬ 
derwertigkeit beseitigen und den In¬ 
dern ein neuer Anteil an der Gesetzge¬ 
bung und Einfluß auf die Verwaltung 
verschaffen. Bei alledem blieb Morley 
erklärter Anhänger des Reichsgedan¬ 
kens — unverkennbar ist hier Cham- 
berlains Einfluß auf ihn — und ver¬ 
trat dabei folgenden Standpunkt: Er 
lehnte die Übernahme jeglicher neuen 
Verantwortlichkeit ab, aber erklärte, auf 
keinen Zoll erworbenen Gebietes ver¬ 
zichten zu wollen. In diesem Sinne 
schrieb er an den Vizekönig: „Niemand 
wird bereitwilliger und entschlossener 
als ich gefunden werden, die Rechte 
und den Stand Indiens in den Reichs¬ 
angelegenheiten aufrechtzuerhalten; 
ebensowenig werde ich der Belastung 
der indischen Finanzen widerstreben, 
wo es sich um eine Reichsangelegen¬ 
heit und um keine spezielle indische 
handelt. In all diesen Dingen werden 
Sie mich so eifersüchtig finden, wie 
nur irgend jemand es wünschen kann. 
Das Kabinett wird aber sicherlich über 
jede Sprache oder Handlung erschrecken, 
die den Schein erwecken würde, als 
wollte sie in der Richtung der Politik 
Lord Curzons die Regierung Indiens 
als eine Art von Großmacht um ihrer 
selbst willen einrichten.“ Die Refor¬ 
men, beruhigte er den Vizekönig, wür¬ 
den übrigens keineswegs zu weit gehen: 
„Nicht ein bißchen mehr als Sie halte 
ich es für wünschenswert oder mög¬ 
lich oder auch nur denkbar, die politi¬ 
schen Einrichtungen Englands den In¬ 
dern anzupassen, wenigstens nicht in 
unseren Tagen. Aber der Geist der 
englischen Einrichtungen, das ist etwas 
anderes; hier können wir nicht aus- 
weichen, weil die britischen Wähler¬ 


schaften die Herren sind, und diese 
werden sicherlich darauf bestehen, daß 
der Geist ihres eigenen politischen Sy¬ 
stems auf Indien Anwendung findet.“ 
Morley hebt dann noch zwei besondere 
Aufgaben hervor, die an ihn herange¬ 
treten sind: die eine war die Prüfung 
der militärischen Bedürfnisse, wobei In¬ 
dien als der Schlüssel des ganzen 
Reichs-Verteidigungssys'.ems angesehen 
wurde. Auch hier stellt sich Morley in 
Gegensatz zu Lord Curzon, der das 
Verteidigungssystem Indiens mit dem 
einer Festung verglichen hatte. „Ver¬ 
zeihen Sie mir,“ schreibt er an Lord 
Minto, „wenn ich sage, daß ich diese 
ganze militärische Analogie mit Fe¬ 
stung und Glacis für im wesentlichen 
irreführend halte. Ich halte sie für feh¬ 
lerhaft u. a. darum, weil diese Art des 
Aufgehens in militärischen Besorgnis¬ 
sen die besten und tüchtigsten Köpfe 
in der Regierung von den gewaltigen 
Problemen abzieht, welche außerhalb 
dieses Grundplanes einer Festung lie¬ 
gen. In einem armen Lande wie Indien 
ist Sparsamkeit ebensosehr ein Ele¬ 
ment der Verteidigung wie Kanonen 
und Forts.“ Die andere Aufgabe, die an 
Morley herantrat, stand im Zusammen¬ 
hang mit den auswärtigen Angelegen¬ 
heiten; die indische Regierung wurde 
durch den Wechsel des Verhältnisses 
zu Rußland berührt. Es herrschte die 
Besorgnis, in einem englisch-russischen 
Abkommen könnten indische Interessen 
preisgegeben werden; das indische Amt 
hatte die Aufgabe, zu beschwichtigen 
und zu vermitteln. Den Wunsch des 
Vizekönigs, vor Abschluß des Abkom¬ 
mens angehört zu werden, lehnte Mor¬ 
ley indessen ab; England könne nicht 
zweierlei auswärtige Politik treiben; 
die frühere Ansicht, daß Indien seine 
eigene auswärtige Politik haben müsse, 
sei preiszugeben. 


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523 


Felix Salomon, Lord Morleys „Erinnerungen“ 


524 


Was Morley aus der Heimat berich¬ 
tet, ist spärlich; man spürt, daß für den 
Druck vorsichtig vieles aus den Brief¬ 
schaften ausgeschaltet worden ist. Ei¬ 
nige in den Briefen eingestreute poli¬ 
tische Aphorismen will ich noch zie 
sammenstellen: „Bei politischen Reden 
hängt der Erfolg von drei Umständen 
ab: Wer spricht, was er spricht, wie 
er spricht. Von diesen dreien ist, was 
gesprochen wird, am wenigsten wich¬ 
tig.“ „In der Politik soll man alles 
ernst, aber nichts tragisch nehmen.“ 
„Das Wesentliche in der Politik ist 
doch immer die Persönlichkeit.“ Amü¬ 
sant ist ein Bericht Morleys über eine 
Unterredung mit König Eduard: „Der 
König sagte mir, daß, wenn er sein 
Leben sich hätte wählen können, er 
gern Landschaftsgärtner geworden 
wäre.“ Hierzu bemerkt Morley mit deut¬ 
licher Kritik: „Sie kennen das inten¬ 
sive Interesse des Königs für die aus¬ 
wärtige Politik; es wäre geschmacklos 
gewesen, ihn an einen ausgezeichneten 
Spruch Bismarcks zu erinnern, daß 
nicht einmal der schlimmste Demokrat 
wisse, wieviel Nichtigkeit und Scharla¬ 
tanerie sich hinter der Diplomatie ver¬ 
berge.“ Als Staatssekretär von Indien 
hatte Morley seine zweite Begegnung 
mit Kaiser Wilhelm, der im November 
1907 in London eintraf. Morley berich¬ 
tet an Lord Minto: „Ich sah ihn wieder¬ 
holt in Windsor und war überrascht 
von seiner fröhlichen Natürlichkeit, Lie¬ 
benswürdigkeit und guten Laune. Er 
begrüßte mich mit vielen scherzhaften 
„Salem aleikum“ und orientalischen 
Verbeugungen und fragte mich dann im 
Emst über meine Maßnahmen in In¬ 
dien. Als ich, wie das jeder tun sollte, 
von der Unmöglichkeit sprach, über 
die Dauer der englischen Herrschaft in 
Indien etwas zu sagen, schlug er heftig 
mit der Hand aufs Knie und rief, die 


britische Herrschaft würde ewig 
dauern. Als ich Lord Roberts das er¬ 
zählte, lachte er und sagte: „Der Kai¬ 
ser weiß von den Dingen zu wenig.“ 
Der Kaiser fragte mich auch, wie un¬ 
sere Arbeitervertreter die indischen Fra¬ 
gen behandelten. „Nicht so, daß wir 
uneins würden“, sagte ich; wieder 
schlug er sich aufs Knie und rief: er 
wünschte, seine Sozialisten wären ebenso 
vernünftig. Der Bericht fährt fort: „Das 
allgemeine Urteil der Leute, die ein 
Urteil haben können, ist, daß dem Kai¬ 
ser durchaus kein Platz unter den 
Staatsmännern erster Ordnung gebührt, 
neben einem Bismarck, Cavour oder 
Metternich, auch nicht neben einem 
Fuchs wie Leopold von Belgien. Ober¬ 
flächlich, hastig, impulsiv, nicht rich¬ 
tig zentriert sind einige der Epitheta. 
Aber einen Eindruck hinterließ er bei 
allen der meiner Meinung nach ein 
goldener Eindruck ist, daß er ernst und 
aufrichtig den Frieden will.“ Ein letz- 
tesmal sah Morley den Kaiser im Mai 
1911: „Gestern saß ich beim Frühstück 
bei Haldane neben dem Deutschen Kai¬ 
ser, Lord Kitchener saß auf der anderen 
Seite. Es wird Sie interessieren zu hö¬ 
ren, daß Se. M. die Unterhaltung mit 
lebhaftem Dank für die Freundlichkeit, 
die sein Sohn in Indien gefunden, er- 
öffnete. Ich glaube nicht, daß ich je 
einen Menschen mit so schäumendem 
Leben gesehen und der es so eifrig 
ieigt und mitteilt. Er sah etwas älter 
aus als vor drei oder vier Jahren; er 
sprach mit mir über ein neues Buch 
von Bischof Boyd Carpenter, das 
ihm so gefiel, daß er es übersetzen 
ließ und oft daraus abends seinen Da¬ 
men vorliest, wenn sie sticken oder 
stricken. Ich sagte etwas über Hamack 
und seine verneinenden Ergebnisse: 
.Nicht mehr ganz so verneinend,* ant¬ 
wortete er, .seitdem ich ihn nach Ber- 


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525 F. Krüger, Die Stellung d. phys.-math. Wiss. an d. deutsch. Techn. Hochschulen 526 


lin gebracht habe.“ Wer mag sagen, 
wie viel seiner zweifellosen An¬ 
ziehungskraft der Tatsache zuzuschrei¬ 
ben ist, daß er die wichtigste Person 
in Europa ist.“ 

Im November 1910 legte Morley 72- 
jährig sein Amt als Staatssekretär nie¬ 
der, blieb aber auf Drängen von As- 
quith als Lord Präsident des Geheimen 
Rates im Kabinett. Infolge der Erkran¬ 
kung seines Nachfolgers Lord Crewe 
mußte er das indische Ministerium 
nochmals für ein halbes Jahr überneh¬ 
men. Dann kam für ihn die letzte Auf¬ 
gabe: Als Führer der Partei im Hause 
der Lords die große Verfassungsreform 
durchzusetzen, die das Veto der Lords 
beseitigte. Ein Wort Carlyles über die 
Verdienste und großen Eigenschaften 
des englischen Adels, das einer der 
Herren ihm vorhielt, führt ihn zur Be¬ 
merkung, daß die gleichen Eigenschaf¬ 
ten auch bei den Webern in Lancashire 
und den Bergarbeitern von Durham zu 
finden seien, und daß vieles leicht sei, 
wenn man ohnedies alles habe, was 


man brauche. Gegen Macaulays be¬ 
queme Rede, die Menschheit werde 
durdh die oberen und mittleren Klas¬ 
sen vertreten, hält er den leuchtenden 
Gemeinplatz Rousseaus: „Nur das Volk 
ist die Menschheit, was nicht Volk ist, 
ist so wenig, das es kaum zählt"; allen 
Erneuerungskämpfen der Welt vom 
Christentum bis zum Sozialismus liege 
dieser Gedanke zugrunde; freilich, fügt 
er hinzu, „philosophieren ist leicht, eine 
uralte festgewurzelte Maschinerie um¬ 
formen schwer“. 

Die Erinnerungen — vor dem Kriege 
geschrieben — klingen aus in einem 
Epilog, der auf den Krieg Bezug nimmt. 
Der viel belesene Verfasser findet dies¬ 
mal ein Zitat aus Gibbon, um seiner 
Stimmung Ausdruck zu geben: „Die 
Geschichte ist wenig mehr als ein Re¬ 
gister der Verbrechen, Tollheiten und 
Unglücksfälle der Menschheit.“ Der Ton 
ist düster geworden; die Sonne, die 
ein langes glückliches Leben durch¬ 
wärmt hatte, der Glauben an den Fort¬ 
schritt war untergegangen. 


Die Stellung 

der physikalisch-mathematischen Wissenschaften 
an den deutschen Technischen Hochschulen. 


Von F. 

Die physikalisch-mathematischen Wis¬ 
senschaften haben an den deutschen 
Technischen Hochschulen mit zwei Aus¬ 
nahmen (München und Dresden) bis¬ 
her lediglich die Aufgaben vorberei¬ 
tender Hilfswissenschaften; ihre Ein¬ 
wirkung auf die Studierenden hört nach 
dem Vorexamen, d. h. nach dem 4. Se¬ 
mester, auf. Ein Studierender an den 
Hochschulen erfährt daher von ihnen 
im allgemeinen nicht mehr als die er¬ 
sten, primitivsten, für die Technik für 
unbedingt erforderlich gehaltenen An- 


Krüger. 

fangsgründe. Die Vertreter dieser Wis¬ 
senschaften an den Technischen Hoch¬ 
schulen sind daher nicht in der Lage 
wie ihre Kollegen an den Universitä¬ 
ten, eigene Schüler bis zum Abschluß 
des Studiums zu leiten. Der Abteilung 
für Allgemeine Wissenschaften, zu der 
diese Fächer gehören, hat man die Ab¬ 
haltung von abschließenden Examina, 
vor allem auch das Promotionsrecht 
versagt. Sie ist dadurch als eine min¬ 
derwertige Abteilung im Rahmen der 
Technischen Hochschulen charakteri- 


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527 F. Krüger, Die Stellung d. phys.-math. Wiss. an d. deutsch. Techn. Hochschulen 528 


siert, die nur eine Art von Vorschul¬ 
unterricht zu erteilen hat. 

Die Bedeutung der physikalisch-ma¬ 
thematischen Wissenschaften für das 
gesamte Leben der Gegenwart gibt für 
eine derartige Ausnahmebehandlung 
gegenüber den technischen Fächern 
keine Erklärung. Im Gegenteil dürfte es 
kaum eine Wissenschaft geben, die zur 
Zeit eine in praktischer und theoreti¬ 
scher Hinsicht an Entdeckungen und 
Erfindungen so reiche Epoche erlebt 
wie die Physik. Die physikalisch-mathe¬ 
matischen Wissenschaften stehen daher 
an den Universitäten gegenwärtig mit 
an erster Stelle, in kaum einer anderen 
Disziplin schreitet die Forschung so 
schnell und unaufhaltsam vorwärts, 
keine zieht wie sie die fähigsten Köpfe 
an. Wie kommt es, daß diese Wissen¬ 
schaften, die eine führende Stellung an 
den Universitäten einnehmen, entrech¬ 
tet sind an den Technischen Hoch¬ 
schulen? 

Der Grund liegt wohl wesentlich 
darin, daß man bisher an den Techni¬ 
schen Hochschulen nur diejenigen Fä¬ 
cher als vollberechtigte betrachtete, die 
in herkömmlicher Weise als technische 
angesehen wurden. Durch diese einsei¬ 
tige Betonung des technischen Fach¬ 
studiums oder, wie man auch sagen 
könnte, des Brotstudiums, ist den Tech¬ 
nischen Hochschulen viel stärker der 
Charakter von Fachschulen aufgedrückt 
als etwa den Universitäten. An diesen 
genießen auch Fächer, die für die Vor¬ 
bereitung zu den üblichen Berufen 
keine wesentliche Rolle spielen, die 
gleiche Stellung wie alle andern, sie 
haben das erste und wichtigste Recht 
jeder wissenschaftlichen Disziplin, das 
der Promotion, also der Ausbildung 
ihrer Jünger in eigener wissenschaft¬ 
licher Arbeit. 

Das ist freilich an den Universitäten 


auch nicht immer so gewesen, und 
es hat eine Zeit gegeben, in der die 
Stellung der naturwissenschaftlich-ma¬ 
thematischen, ja aller sog. philoso¬ 
phischen Fächer eine ganz ähnliche 
war, wie sie es jetzt noch an den Tech¬ 
nischen Hochschulen ist. Die Univer¬ 
sitäten waren jahrhundertelang auch 
ausgesprochene Fachschulen für das 
Studium der Theologie, der Jurispru¬ 
denz und der Medizin. Damals bildete 
die spätere philosophische Fakultät 
noch die „facultas artium liberalium“, 
die auch nur eine Art Vorbereitung und 
Vorstudium für die „höheren Fakul¬ 
täten“ darstellte: das Studium in ihr 
schloß in der Regel mit dem Magister¬ 
examen ab, das die Vorstufe für den 
fast nur in den oberen Fachfakultäten 
erworbenen Doktorgrad bildete. Das 
wurde erst anders im 19. Jahrhundert, 
als die naturwissenschaftlich-mathema¬ 
tischen Wissenschaften sowohl wie die 
philosophisch-historischen zum vollen 
Bewußtsein ihrer eigenen Bedeutung 
für die Forschung erwachten, vor allem 
aber dadurch, daß sie selbst auch zum 
Fachstudium für die Lehrer an den 
höheren Schulen wurden. 

Es ist sehr merkwürdig, daß man 
aus dieser historischen Entwicklung 
nichts gelernt hat, und daß sich an den 
Technischen Hochschulen nun für die 
physikalisch-mathematischen Wissen¬ 
schaften derselbe Entwicklungsgang 
mühsam wiederholen muß, den man 
an den Universitäten schon einmal sich 
vollziehen sah. Das liegt wohl vor al¬ 
lem an der viel späteren historischen 
Entwicklung des technischen Fachstu¬ 
diums, das nur langsam aus den Ge¬ 
werbeschulen aufwuchs, so daß es nur 
allmählich als gleichberechtigtes Fach¬ 
studium neben die älteren Fachstudien 
der Theologie, Jurisprudenz und Me¬ 
dizin trat und auch dann noch von 


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529 F- Krüger, Die Stellung d. phys.-math. Wiss. an d. deutsch. Techn. Hochschulen 530 


den älteren Schwestern scheel ange¬ 
sehen wurde, als es durch seine Erfolge 
und seine Bedeutung für das allge¬ 
meine Leben seine Gleichberechtigung 
längst erwiesen hatte. So ist die tech¬ 
nische Wissenschaft als jüngst gebo¬ 
rene Tochter der gemeinsamen Mutter 
menschlicher Erkenntnis und mensch¬ 
lichen Könnens außerhalb des ur¬ 
sprünglichen Mutterhauses aufgewach¬ 
sen und hat sich ihr eigenes Heim 
bauen müssen, in dem ihre Jünger er¬ 
zogen werden. In der Mannigfaltigkeit 
ihrer Sonderfächer ist sie von den äl¬ 
teren Schwestern am meisten der Me¬ 
dizin ähnlich, der sie auch in der An¬ 
lage ihres Studiums darin gleicht, daß 
sie die naturwissenschaftlichen Fächer 
zu ihrer Vorbildung benötigt. So hätte 
nichts gehindert, sie als vollberechtigte 
Tochter der gemeinsamen alma mater 
der Universität zu adoptieren, was 
wohl für beide Teile zum Segen ge¬ 
wesen wäre. Ihre Jugend und Lebens¬ 
frische hätte die älteren Schwestern 
verjüngt, und sie hätte von jenen das 
uneigennützige, ruhelose Forschen und 
Erfinden auch ohne Rücksicht auf di¬ 
rekte praktische Erfolge lernen können. 

Die Sonderstellung der Technischen 
Hochschulen gegenüber den Universi¬ 
täten hätte aber von dem Moment an 
keinen hinreichenden Grund mehr da¬ 
für geben dürfen, die physikalisch-ma¬ 
thematischen Fächer an ihnen im Ver¬ 
gleich mit den technischen Fächern an¬ 
ders zu behandeln, als das an den Uni¬ 
versitäten der Fall war, vor allem ihnen 
die Verleihung der Doktorwürde vor¬ 
zuenthalten, als man die Technischen 
Hochschulen vor etwa 20 Jahren auf 
die gleiche Stufe akademischer Würde 
mit den Universitäten zu stellen 
sich bemühte. Denn für ein abschlie¬ 
ßendes Studium der physikalisch-ma¬ 
thematischen Fächer an den Techni¬ 


schen Hochschulen waren alle Vorbe¬ 
dingungen erfüllt, es waren die er¬ 
forderlichen Lehrkräfte, Lehrmittel und 
Institute vorhanden. Der nächste An¬ 
laß dafür, diese Gleichstellung für die 
physikalisch-mathematischen Wissen¬ 
schaften nicht durchzuführen, lag wohl 
in den unterschiedlichen Promotions¬ 
bedingungen an den Universitäten und 
an den Technischen Hochschulen: die 
Würde eines Dr. Ing. kann an den 
Hochschulen erst nach Ablegung des 
Diplomexamens in einer Fachabtei¬ 
lung erworben werden, das Doktorexa¬ 
men an den Universitäten dagegen kann 
und wird im allgemeinen ohne ein 
vorausgegangenes anderes Examen ab¬ 
gelegt; nur in dem dem technischen 
Studium ähnlichsten Universitätsstu¬ 
dium, der Medizin, ist auch die Er¬ 
werbung der Doktorwürde an das vor¬ 
herige Ablegen des Staatsexamens ge¬ 
knüpft. Wollte man daher die Gleich¬ 
förmigkeit der Bedingungen für die 
Verleihung des Doktortitels an den 
Technischen Hochschulen aufrechter¬ 
halten, so müßte man auch von den 
Studierenden der physikalisch-mathe¬ 
matischen Wissenschaften die vorherige 
Ablegung eines anderen Examens ver¬ 
langen. 

Als solches Fachexamen für diese 
Wissenschaften hat man bisher nur das 
Oberlehrerexamen angesehen, und an 
den beiden fortgeschrittensten Hoch¬ 
schulen München und Dresden hat man 
in der Tat das Oberlehrerstudium in 
den genannten Fächern zugelassen und 
durch die Ablegung des Oberlehrer¬ 
examens die Vorbedingung für die Pro¬ 
motion in diesen Fächern an diesen 
Hochschulen geschaffen. Die Regierun¬ 
gen der übrigen deutschen Staaten, 
speziell auch die preußische, haben sich 
dagegen bisher gegen die Einführung 
des Oberlehrerexamens an ihren Hoch- 


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531 F. Krüger, Die Stellung d. phys.-math. Wiss. an d. deutsch. Techn. Hochschulen 532 


schulen auf das heftigste gesträubt, ob¬ 
wohl die Anregung dazu von den 
Hochschulen immer wieder ergangen 
ist. Dieser Widerstand ist schwer zu 
verstehen, denn es ist kaum zu bezwei¬ 
feln, daß ein gewisser Prozentsatz an 
Technischen Hochschulen ausgebildeter 
Oberlehrer in Physik und Mathematik, 
die eine vertiefte Kenntnis der Technik 
und ihrer Bedeutung für das Leben der 
Gegenwart mitbringen, an den höheren 
Schulen nur nützlich wirken könnte. 
Der auffallende Mangel technischer 
Kenntnisse bei der Mehrzahl der Ge¬ 
bildeten, die Verkennung der Gleichbe¬ 
rechtigung des technischen Studiums 
mit den älteren Fachstudien haben lei¬ 
der in dem unglücklichen Kriege eine 
verhängnisvolle Rolle gespielt. 

Nun aber hat sich im letzten Jahr¬ 
zehnt allmählich eine Änderung indem 
Anwendungsbereich der physikalisch¬ 
mathematischen Wissenschaften voll¬ 
zogen, die speziell für ihre Stellung an 
den Technischen Hochschulen von aus¬ 
schlaggebender Bedeutung werden 
muß: Die Physik und ebenso die ihr 
verwandten mechanisch-mathematischen 
Fächer sind selbst zu einem ausge¬ 
dehnten und bedeutungsvollen Zweige 
der Technik geworden. Es hat sich, 
durch den Krieg in hohem Maße be¬ 
schleunigt, eine physikalische Technik 
aus den Entdeckungen und Erfindun¬ 
gen der Physiker selbst entwickelt, die 
in rapidem Aufstieg begriffen ist und 
sich schon jetzt einen wohlberechtig¬ 
ten Platz neben den älteren Zweigen 
der Technik erworben hat. 

Die Technik im allgemeinen beruht 
auf physikalischer Grundlage und auf 
der Anwendung physikalischer Gesetze; 
das gilt in erster Linie für die Elektro¬ 
technik, aber auch in weitgehendem 
Maße für die Maschinentechnik. Doch 
haben diese Disziplinen sich verhältnis¬ 


mäßig unabhängig von der direkten 
Mitarbeit der Physik entwickelt; sie be¬ 
nutzen zudem physikalische Gesetze 
und Entdeckungen, die weiter zurück¬ 
liegen, die neuesten Errungenschaften 
der Physik kommen für sie weniger in 
Frage. Von einer eigentlichen physi¬ 
kalischen Technik kann man dagegen 
in der optischen Industrie sprechen. 
Seitdem der als Physiker, als techni¬ 
scher Organisator und als sozialer Re¬ 
formator gleich große E. Abbe die an¬ 
gewandte Optik auf wissenschaftliche 
Grundlagen gestellt und damit die Ba¬ 
sis für die überragende Entwicklung 
der deutschen optischen Industrie ge¬ 
schaffen hatte, hat die Optik in steigen¬ 
dem Maße wissenschaftlich ausgebil¬ 
dete Physiker in ihre Laboratorien her¬ 
angezogen. Die geometrische Optik, der 
vor allem die Berechnung der Linsen 
und Linsenkombinationen obliegt, ist 
freilich eine Spezialwissenschaft ge¬ 
worden, die zum Teil ebensosehr der 
angewandten Mathematik wie der phy¬ 
sikalischen Optik angehört und die zum 
großen Teil in den Laboratorien der 
optischen Industrie selbst entwickelt ist. 
Aber daß sie neuer und umfangreicher 
Anforderungen, wie sie speziell der 
Krieg an sie stellte, in vollem Maße 
gerecht werden konnte, beruht doch 
wesentlich darauf, daß ihre Physiker 
und Mathematiker an den Universitä¬ 
ten die sicheren Grundlagen ihrer Wis¬ 
senschaften erworben hatten. Die Ent¬ 
wicklung mancher neuer Zweige der Op¬ 
tik, wie der Ultramikroskopie, der Optik 
ultravioletter Strahlen usw. mußte auch 
von den neuesten Errungenschaften der 
wissenschaftlichen Optik Gebrauch ma¬ 
chen. Das gilt auch für die wesentliche 
Grundlage der optischen Technik, die 
Glasindustrie. Hier arbeitet die Physik 
mit der Chemie Hand in Hand; stellt 
diese neue Glassorten her, so hat ihr 


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533 F. Krüger, Die Stellung d. phys.-math. Wiss. an d. deutsch. Techn. Hochschulen 534 


jene die Ziele gewiesen und ihre Erfolge 
überwacht und geprüft. 

An der Grenze zwischen der eigent¬ 
lichen physikalischen Technik und der 
Elektrotechnik liegt die sog. Schwach¬ 
stromtechnik. Zu ihr gehören in erster 
Linie Telegraphie und Te'ephonie. Ihre 
moderne Weiterentwicklung erfordert 
neben konstruktiv-elektrotechnischer Ar¬ 
beit in hohem Maße auch die Mitwir¬ 
kung wissenschaftlich gebildeter Physi¬ 
ker. Es sei hier z. B. erinnert an die 
Verbesserung der Telephonie durch die 
Einführung der Pupinspulen, welche 
von dem amerikanischen Physiker Pu¬ 
pin theoretisch errechnet und von Phy¬ 
sikern der Firma Siemens & Halske 
in die Wirklichkeit umgesetzt wurden. 
Der Elektronen-Lautverstärker, der von 
den Physikern R. v. Lieben in 
Deutschland und de Forest in Ame¬ 
rika erfunden wurde und einen ganz 
außerordentlichen Fortschritt mit sich 
bringt, ist ebenso wichtig für die draht¬ 
lose Telegraphie. 

Baut sich die Telegraphie und Tele¬ 
phonie zum Teil noch auf älteren Ent¬ 
deckungen und Erfindungen der Phy¬ 
sik auf, so knüpft die physikalische 
Technik der drahtlosen Telegraphie an 
ihre neueren Errungenschaften, an die 
Entdeckungen von Hertz und die Er¬ 
findungen von Marconi, Braun und 
anderen an. Sie ist von Anfang an ein 
von den Physikern begründeter und 
ausgebauter Teil der Technik gewe¬ 
sen. Einige ihrer wichtigsten Fort¬ 
schritte sind aus den physikalischen 
Instituten der Universitäten und Tech¬ 
nischen Hochschulen hervorgegangen, 
so das Sendesystem von Prof. Braun 
aus dem Institut der Straßburger Uni¬ 
versität und die Löschfunkenwirkung 
oder Stoßerregung von Prof. M. Wien 
aus dem Institut der Technischen Hoch¬ 
schule in Danzig. Hier haben Wissen¬ 


schaft und Technik stets Hand in Hand 
gearbeitet, die letztere aber stets mit 
einem großen Stabe wissenschaftlicher 
Physiker. Die neueste Methode der 
drahtlosen Telegraphie mittels der sog. 
Röhrensender benutzt die Entladungs¬ 
erscheinungen an glühenden Drähten in 
evakuierten Röhren, eine physikalische 
Erscheinung, von der man ursprüng¬ 
lich wohl kaum je eine technische An¬ 
wendung erwartet hatte. Verbunden mit 
den auf einer andern Verwendungsart 
derselben Röhre beruhenden Lautver¬ 
stärkern ist durch diese neue Methode 
ein ganz außerordentlicher Fortschritt 
auf dem Gebiete der drahtlosen Tele¬ 
graphie sowohl in bezug auf die Reich¬ 
weite wie die Schärfe der Abstimmung 
auf bestimmte Wellenlängen, dann aber 
auch auf die Handlichkeit und das 
sichere Funktionieren der Apparate er¬ 
zielt. Mittels der Röhrensender ist fer¬ 
ner das Problem der drahtlosen Tele¬ 
phonie im wesentlichen gelöst. Dieses 
ganze Gebiet ist unter den Händen der 
Physiker in der Technik in rapider 
Entwicklung begriffen und läßt noch 
weiterhin große Erfolge erhoffen. 

Eine andere, aus dem physikalischen 
Institut der Universität Würzburg her¬ 
vorgegangene Entdeckung hat allein 
neben einer ungeahnten Erweiterung 
und Vertiefung auf wissenschaftlichem 
Gebiete einen neuen Teil der physika¬ 
lischen Technik ins Leben gerufen, 
nämlich die Entdeckung der nach ihm 
benannten Strahlen durch Professor 
Röntgen. Die praktische Anwendung 
dieser Strahlen in der Medizin, die 
schon vor dem Kriege sehr groß war, 
ist während desselben ins außerordent¬ 
liche gestiegen. Sie erstreckt sich nach 
zwei Richtungen, einmal auf die An¬ 
wendung zu diagnostischen Zwecken, 
zur Erkennung von Knochenverletzun¬ 
gen, Herz- und Lungenerkrankungen, 


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PRINCETON UNIVERSITY 





535 F- Krüger, Die Stellung d. phys.-math. Wiss. an d. deutsch. Techn. Hochschulen 53 $ 


zweitens auf therapeutische Zwecke, 
auf die Behandlung von Hauterkran¬ 
kungen und inneren Wucherungen. In 
dieser Hinsicht sind in den letzten Jah¬ 
ren außerordentliche Fortschritte erzielt 
und weitere mit Sicherheit zu erhoffen 
durch die Einführung der Glühkatho¬ 
denröntgenröhren, die die Verwendung 
sehr viel härterer, d. h. durchdringungs¬ 
fähigerer Strahlen ermöglichen. Auch hier 
konnten nur eigentliche Physiker die 
technischen Anwendungen ausarbeiten 
und leiten, die bald zur Gründung gro¬ 
ßer und leistungsfähiger Firmen führ¬ 
ten. Diese Technik hat wieder auf die 
reine Forschung günstig zurückge¬ 
wirkt durch die Konstruktion leistungs¬ 
fähiger Apparate. So hat sie den Bau 
von Funkeninduktoren und Hochspan¬ 
nungstransformatoren, von Stromunter¬ 
brechern, Gleichrichtern usw. außeror¬ 
dentlich gefördert. Neben die medizini¬ 
sche Anwendung der Röntgenstrahlen 
tritt die der Strahlen des Radiums und 
Mesothoriums und der ultravioletten 
Strahlen. Auch andere Gebiete der Elek¬ 
tromedizin, wie die Diathermie, sind 
durch die Arbeit der Physiker ent¬ 
wickelt. So ist mit einiger Sicherheit 
vorauszusehen, daß in Zukunft große 
Krankenhäuser Physiker anstellen wer¬ 
den, wie das von der gynäkologischen 
Klinik in Freiburg L B. vorbildlich be¬ 
reits geschehen ist, da die Mediziner 
selbst bald nicht mehr imstande sein 
dürften, die ganze Technik in der An¬ 
wendung dieser Apparate völlig zu be¬ 
herrschen. 

Als physikalische Technik ist ferner 
die Glühlampentechnik anzusehen. Hier 
hat die Physik freilich weniger die erste 
Erfindung als die systematische Ent¬ 
wicklung im Sinne der immer mehr 
gesteigerten Ökonomie gebracht. Dafür 
waren ein sicherer Leitstern die Strah¬ 
lungsgesetze von W. Wien, die auch 


die Ziele der Leuchttechnik für die 
Zukunft in klarer Weise bestimmen. 
Für die Glühlampentechnik, ebenso 
aber auch für die Herstellung von 
Röntgenröhren und von den oben er¬ 
wähnten Röhrensendem und Verstär¬ 
kerröhren spielen die Luftpumpen eine 
große Rolle. Hier haben die Konstruk¬ 
tionen des Professors Gaede außer¬ 
ordentliche Fortschritte gebracht. Es ist 
überaus interessant zu sehen, wie bei 
ihnen Lehrsätze der kinetischen Gas¬ 
theorie, der man früher nicht einmal 
eine theoretische Berechtigung zuge¬ 
stehen wollte, eine praktische, tech¬ 
nisch wichtige Anwendung gefunden 
haben. 

Es gehört auch hierher die Technik 
des Apparatebaues für die verschie¬ 
denen Zwecke, für elektrische, meteoro¬ 
logische Messungen, für Zwecke der 
Luftschiffahrt und vieles andere. Eine 
vorzügliche Übersicht findet sich in 
dem Vortrage von W. Wien „Physik 
und Technik“ (Vorträge über die neue 
Entwicklung der Physik und ihrer An¬ 
wendungen; bei J. A. Barth, Leipzig 
1919). Die mannigfachen Anwendungen 
physikalischer Methoden in der chemi¬ 
schen Technik seien auch noch nach¬ 
drücklich erwähnt. 

So ist allmählich eine physikalische 
Technik entstanden, deren ganze Ent¬ 
wicklung in hohem Maße der chemi¬ 
schen Industrie ähnelt, die auch, ur¬ 
sprünglich aus den Entdeckungen und 
Erfindungen der wissenschaftlichen La¬ 
boratorien der Universitäten hervorge¬ 
gangen, durch eigene technische und 
wissenschaftliche Betätigung ins au¬ 
ßerordentliche gewachsen ist 

Diese Ähnlichkeit besteht ferner auch 
darin, daß ursprünglich die Chemie, 
wie zur Zeit noch die Physik, ihre 
wissenschaftlichen Leiter und Mitar- 


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PR1NCET0N UNIVERSITY - * 





537 F. Krüger, Die Stellung d. phys.-math. Wiss. an d. deutsch. Techn. Hochschulen 538 


beiter ausschließlich von den Universi¬ 
täten beziehen mußte, wo ihnen der 
Doktortitel das Zeugnis vollendeter 
Ausbildung gegeben hatte. Zwar er¬ 
reicht die Zahl der in der physikali¬ 
schen Technik tätigen Physiker noch 
nicht die Zahl der in der chemischen 
Technik angestellten Chemiker, entspre¬ 
chend der späteren Entwicklung der 
physikalischen Technik, aber sie ist 
doch schon sehr erheblich und ständig 
in stärkstem Steigen begriffen. So sind 
tz.B. bei der Firma Zeiß etwa 35 wis¬ 
senschaftliche Physiker angestellt, bei 
Siemens & Halske etwa 55Physiker 
z. T. in leitenden Stellungen tätig. 
Ebenso haben die anderen physikali¬ 
schen Firmen, wie die optische An¬ 
stalt Goerz, die Allgemeine Elektrizi¬ 
tätsgesellschaft, die Gesellschaft für 
drahtlose Telegraphie (Telefunken), die 
Fabriken physikalischer Meßgeräte usw. 
einen stattlichen Stab von Physikern zu 
ihrer Verfügung. Aber auch die großen 
chemischen Fabriken können die physi¬ 
kalische Mitarbeit nicht mehr entbeh¬ 
ren und haben sich physikalische La¬ 
boratorien mit einer größeren Anzahl 
von Physikern eingerichtet, so die ba¬ 
dische Anilin- und Sodafabrik, die Far¬ 
benfabriken von Bayer & Co., Elberfeld, 
und viele andere. Zur Zeit ist der Be¬ 
darf der Technik an Physikern so groß, 
daß er auch nicht entfernt gedeckt wer¬ 
den kann. Man hat fast den Eindruck, 
als ob während des Krieges der Tech¬ 
nik, nicht nur der in Blüte geschosse¬ 
nen physikalischen, sondern auch der 
der verschiedensten Nachbargebiete, 
fast blitzartig die Erkenntnis aufge¬ 
gangen wäre, wie nützlich und not¬ 
wendig für sie die Mitarbeit der Phy¬ 
siker ist. 

Deutlich zutage tritt die eben ge¬ 
schilderte Entwicklung auch in der so¬ 
eben auf Anregung von Dr. G. Gehl¬ 


hoff erfolgten Gründung der Gesell¬ 
schaft für technische Physik, in der sich 
schon jetzt gegen 500 in der Technik 
stehende Physiker zusammengefunden 
haben und die eben eine eigene Zeit¬ 
schrift für technische Physik heraus¬ 
zugeben beginnt. 

Die zur Zeit in der physikalischen 
Technik stehenden Physiker sind bis¬ 
her ausschließlich auf Universitäten 
ausgebildet und haben dort ihren Dok¬ 
torgrad erworben, ebenso wie viele der 
in der chemischen Industrie tätigen Che¬ 
miker. Aber für die Chemie sind die 
Universitäten schon lange nicht mehr 
die einzigen Ausbildungsanstalten, 
schon längst hat man den Technischen 
Hochschulen chemische Abteilungen, in 
denen die Chemiker eine abgeschlos¬ 
sene Bildung und den Dr.-Ing.-Titel er¬ 
werben können, angeschlossen, aus¬ 
gehend von dem Gedanken, daß an 
den Technischen Hochschulen die Aus¬ 
bildung für einen so wesentlichen Teil 
der Technik, wie ihn die Chemie bil¬ 
det, nicht fehlen dürfe. Indem man 
diese Ausbildungsmöglichkeit für Che¬ 
miker usw. auch an den Technischen 
Hoch.'»chulen schuf, hatte man vor al¬ 
lem im Auge, den jungen Chemiker an 
den Hochschulen auch mit den An¬ 
fangsgründen der Elektrotechnik und 
der Ingenieurwissenschaften vertraut zu 
machen, deren er in der Praxis ja oft 
genug bedarf; sonst unterscheidet sich 
der Bildungsgang des Chemikers an 
einer Technischen Hochschule kaum 
von dem an der Universität, nur daß 
jener in einem Diplomexamen vor der 
Doktorprüfung seine Kenntnisse in 
der Chemie und den nächstbenach¬ 
barten technischen Fächern nachweisen 
muß. 

Die Chemie bildet an den Techni¬ 
schen Hochschulen auch ein einleiten¬ 
des Unterrichtsfach für sämtliche an- 


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539 F. Krüger, Die Stellung d. phys.-math. Wiss. an d. deutsch. Techn. Hochschulen 540 


deren Abteilungen der Hochschule. Aber 
man hat nie daran gedacht, nun die 
Tätigkeit ihrer Vertreter hierauf zu be¬ 
schränken und ihnen die volle, mit 
einem Examen abschließende Ausbil¬ 
dung von Chemikern vorzuenthalten. 
Dazu lag die technische Bedeutung der 
Chemie zu klar zutage, ebenso die 
Nützlichkeit allgemein technischer 
Kenntnisse wenigstens für einen Teil 
der Chemiker. 

Die andersartige Stellung der Phy¬ 
sik an den Technischen Hochschulen 
mochte vielleicht vor 10 Jahren noch 
berechtigt erscheinen. Heute ist sie es 
gewiß nicht mehr. Die hohe Blüte der 
physikalischen Technik wie der außer¬ 
ordentlich starke Bedarf derselben an 
Physikern ergibt die selbstverständ¬ 
liche Forderung, der Physik genau wie 
der Chemie die volle durch Examina 
abgeschlossene Ausbildung ihrer Schü¬ 
ler auch an den Technischen Hoch¬ 
schulen zu ermöglichen, d. h. ihr das 
Recht zur Einführung eines Diplom¬ 
examens in Physik oder technischer 
Physik zu erteilen, das die Vorbedin¬ 
gung zur Ablegung der Doktorprü¬ 
fung bildet. 

Diese aus der Entwicklung der phy¬ 
sikalischen Technik mit Notwendigkeit 
folgende Forderung nach einem Di¬ 
plomexamen in Physik an den Techni¬ 
schen Hochschulen löst nun in einfach¬ 
ster und vor allem natürlichster Weise 
das oben berührte Problem der Stel¬ 
lung der physikalisch-mathematischen 
Wissenschaften an den Technischen 
Hochschulen. Mit der Einführung des 
physikalischen Diplomexamens treten 
sie gleichberechtigt neben die älteren 
Schwestern der technischen Wissen¬ 
schaften. Hier müssen aber ausdrück¬ 
lich die mathematischen Wissenschaf¬ 
ten mitgenannt werden, denn auch sie 
haben stets steigende Bedeutung für 


die Technik gewonnen. Vor allem hat 
die zwischen Physik und Mathematik 
stehende Mechanik, der wegen der Aus¬ 
dehnung ihres Gebietes eine Sonder¬ 
stellung neben der Physik zukommt, 
eine von der eigentlichen Ingenieur¬ 
tätigkeit losgelöste Bedeutung für die 
Technik gewonnen, so vor allem in der 
Anwendung der Kreiseltheorie einen 
ständig wachsenden Bereich technischer 
Anwendungen; so sei erinnert an den 
Kreiselkompaß, den Schiffskreisel, die 
Kreiselwirkung der Propeller an Flug¬ 
zeugen, der Räder von Eisenbahnen, ein 
die Einschienenbahn, an den Torpedo¬ 
kreisel und manche andere technische 
Anwendungen des Kreisels. Die Tech¬ 
nik bedarf für diese Zwecke speziell 
in angewandter Mechanik ausgebilde¬ 
ter, im übrigen vor allem mit höheren 
physikalischen und mathematischen 
Kenntnissen, als sie für den Maschinen¬ 
ingenieur notwendig sind, ausgerüste¬ 
ter Ingenieure. Aber auch an ange- 
wandtenMathematikem, die weitgehende 
Kenntnisse der Physik und Mechanik 
besitzen, hat die physikalische Technik 
erheblichen Eedarf, so besonders die 
optische Industrie für die Berechnung 
von Linsenkombinationen. 

Das Studium der Physik an einer 
Technischen Hochschule wird sich dann, 
wie das jetzt schon bei der Chemie der 
Fall ist, von dem an einer Universität 
in der ganzen Anlage nicht wesentlich 
unterscheiden; äußerlich wird es sich 
dem Studiengang der übrigen techni¬ 
schen Fächer an der Technischen Hoch¬ 
schule ebenso wie das Studium der 
Chemie dadurch anpassen, als es die 
Ablegung eines Vorexamens nach vier 
Semestern und die Ablegung der Di¬ 
plomprüfung vor der Doktorprüfung 
voraussetzt. Das Studium der Physik 
bietet aber für den Physiker, der in die 
Technik gehen will, ähnlich wie das 


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PRINCETON UNIVERSITÄT^"* - 






541 F. Krüger, Die Stellung d. phys.-math. Wiss. an d. deutsch. Techn. Hochschulen 542 


chemische Studium an einer Techni¬ 
schen Hochschule für den Chemiker, 
den Vorteil, die nächstbenachbarten 
technischen Fächer, die für ihn von er¬ 
heblicher Wichtigkeit sind, besser ken¬ 
nen zu lernen und studieren zu können, 
als das an einer Universität im allge¬ 
meinen möglich ist. Es ist dies vor al¬ 
lem das Gebiet der Schwachstromtech¬ 
nik, besonders die Lehre vom Wechsel¬ 
strom und von den elektrischen Schwin¬ 
gungen, dann aber überhaupt das Ge¬ 
biet der Elektrotechnik, das ein Prü¬ 
fungsfach im Diplomexamen für Phy¬ 
sik bilden wird. Ferner darstellende 
Geometrie und die Grundlagen des Ma¬ 
schinenbaues, die Thermodynamik der 
Wärmekraftmaschinen und manches an¬ 
dere, was der Physiker von der In¬ 
genieurwissenschaft brauchen kann. 
Überhaupt wird der engere Zusammen¬ 
hang zwischen Technik und Techni¬ 
schen Hochschulen manche erwünschte 
Anregung auch dem Physiker bieten. 

Es sei aber hier zur Vermeidung von 
Mißverständnissen nachdrücklich darauf 
hingewiesen, daß dies Diplomexamen 
in Physik wohl zu unterscheiden ist 
von dem der Prüfung für „Labora¬ 
toriumsingenieure“, die an manchen 
Hochschulen in der Abteilung für Ma¬ 
schinenbau schon seit langem einge¬ 
führt ist. Der „Laboratoriumsingenieur“ 
soll ein völlig ausgebildeter Maschinen¬ 
ingenieur sein, der nur mit den für 
einen Ingenieur wichtigsten physikali¬ 
schen Messungen an Maschinen sich be¬ 
sonders vertraut gemacht hat. Der tech¬ 
nische Physiker hat dagegen in erster 
Linie eigentliche Physik zu studieren 
und ihre Hilfswissenschaften. Das Ge¬ 
biet der experimentellen und theoreti¬ 
schen Physik ist aber so groß gewor¬ 
den, daß der Studierende selbst davon 
nur einige Teilgebiete eingehender stu¬ 
dieren, sich von dem Gesamtgebiet aber 


nur einen Überblick aneignen kann. Die 
angrenzenden Fächer der Ingenieur¬ 
technik können nur den Charakter von 
Nebenfächern haben. Den wichtigsten 
Teil der Ausbildung des technischen 
Physikers wird eine möglichst selb¬ 
ständige wissenschaftliche experimen¬ 
telle Arbeit bilden müssen; für den 
technischen Mechaniker oder Mathe¬ 
matiker eine wissenschaftliche theore¬ 
tische Arbeit auf diesen Gebieten. 

Die Erhebung der physikalisch-mathe¬ 
matischen Wissenschaften an den Tech¬ 
nischen Hochschulen zu Fächern mit 
abschließenden Examina wird aber wei¬ 
terhin für die physikalische Wissen¬ 
schaft sowohl wie für die physikali¬ 
sche Technik segensreich werden. Die 
z. T. ausgezeichneten Einrichtungen der 
physikalischen Institute an den Tech¬ 
nischen Hochschulen können bisher in 
keiner Weise voll ausgenutzt werden, 
solange nur der Institutsdirektor, viel¬ 
leicht noch ein Extraordinarius und ei¬ 
nige Assistenten, selten noch ein Pri¬ 
vatdozent darin wissenschaftlich arbei¬ 
ten. Ein großer Teil der wertvollen 
Apparate steht unbenutzt in den 
Schränken. Die Einführung der genann¬ 
ten Examina für Physik würde auch 
in den physikalischen Instituten der 
Technischen Hochschulen ein ähnlich 
reges wissenschaftliches Arbeiten zur 
Folge haben, wie es in den Instituten 
der Universitäten schon lange herrscht. 
Die wissenschaftliche physikalische Pro¬ 
duktion würde sich in sehr erwünsch¬ 
ter Weise heben. Dann würde auch der 
Physikprofessor an einer Technischen 
Hochschule die Möglichkeit haben, mit 
Hilfe von Schülern ein größeres Ge¬ 
biet systematisch durchforschen zu kön¬ 
nen, was ihm bis jetzt verwehrt ist. 

Die Steigerung in der Zahl der wis¬ 
senschaftlich ausgebildeten Physiker 
und die damit verbundene Steigerung 


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543 F- Krüger, Die Stellung d. phys.-math. Wiss. an d. deutsch. Techn. Hochschulen 544 


in der wissenschaftlichen Produktion 
auf physikalischem Gebiete kann aber 
von ganz außerordentlicher Bedeutung 
für die bevorstehende Entwicklung der 
physikalischen Technik werden. Die 
Verhältnisse liegen hier zur Zeit ganz 
analog wie einstmals zur Zeit der Ent¬ 
wicklung der chemischen Technik. Die 
überragende Stellung der deutschen 
chemischen Industrie ist in erster Linie 
der großen Anzahl wissenschaftlich 
ausgebildeter Chemiker und der gro¬ 
ßen wissenschaftlichen Produktion auf 
dem Gebiete der Chemie zu verdanken; 
die chemischen Doktorarbeiten bilden 
einen wesentlichen Teil der chemischen 
wissenschaftlichen Literatur, sie haben 
es den führenden großen chemischen 
Forschern ermöglicht, ausgedehnte Ge¬ 
biete systematisch zu bearbeiten. Es ist 
fcur Zeit die Möglichkeit gegeben —und 
diese Möglichkeit sollte eine voraus¬ 
sehende Regierung richtig einschätzen 
—, durch intensive Förderung des physi¬ 
kalischen Studiums der deutschen phy¬ 
sikalischen Technik zu einer ähnlichen 
Vormachtstellung zu verhelfen, wie sie 
die deutsche chemische Technik bereits 
besitzt. Diese Förderung hätte in der 
reichlichen Dotierung der physikali¬ 
schen Institute im allgemeinen zu be¬ 
stehen, dann aber in dem Ausbau des 
physikalischen Studiums an den Tech¬ 
nischer Hochschulen in der geschilder¬ 
ten Weise. Da die physikalischen Insti¬ 
tute an den Technischen Hochschulen 
von der Gesamtheit aller physikalischen 
Institute an Universitäten und sonstigen 
Hochschulen etwa 30% ausmachen, läßt 
sich die wissenschaftliche Ausbildung 
von Physikern und die wissenschaft¬ 
liche physikalische Produktion durch 
die Einführung abschließender Examina 
in Physik an den Technischen Hoch¬ 
schulen um etwa 30% steigern. Die 
chemische Industrie hat, obwohl sie die 


glänzendsten eigenen Laboratorien be¬ 
sitzt, die Ausbildung wissenschaft¬ 
licher Chemiker und die wissenschaft¬ 
liche Produktion in den Laboratorien 
der Universitäten und Hochschulen so 
hoch bewertet, daß sie zur Unter¬ 
stützung dieser chemischen Institute 
einen Fonds von 20 Millionen gesam¬ 
melt hat; ferner einen Fonds von 2 Mil¬ 
lionen zur Unterstützung chemischer 
Assistenten, um ihnen eine weitere Aus¬ 
bildung an diesen Instituten zu ermög¬ 
lichen. Die physikalische Technik fängt 
erst eben an, wie z.B. die kürzlich er¬ 
folgte, schon erwähnte Gründung der 
Gesellschaft für technische Physik zeigt, 
zum Bewußtsein ihrer eigenen Bedeu¬ 
tung zu erwachen; sie hat daher so 
großzügige Unternehmungen not^micht 
ins Werk setzen können. So ist eC^ache 
des Staates, den Moment für eine ent¬ 
scheidende Förderung der physikali¬ 
schen Technik nicht zu verpassen. Die 
aufzuwendenden Mittel dürfen dabei 
nicht ausschlaggebend ins Gewicht fal¬ 
len. Denn eine einzige durch die Wis¬ 
senschaft hervorgerufene Steigerung 
oder Förderung eines Zweiges der phy¬ 
sikalischen Technik, es seien hier z.B. 
die Röntgentechnik und die Technik 
der drahtlosen Telegraphie, die Ein¬ 
führung der Braunschen Schaltung und 
der Wienschen Löschfunkenwirkung ge¬ 
nannt, kompensieren die für die Förde¬ 
rung der Forschung vom Staat aufge¬ 
wendeten Kosten so vielfach, daß diese 
letzteren neben dem wirtschaftlichen 
Gewinn gar nicht in Betracht kommen. 

Vielleicht darf man aber von der 
Einführung des Physikstudiums an 
den Technischen Hochschulen auch eine 
günstige Rückwirkung auf die deut¬ 
sche physikalische Forschung selbst 
erwarten. Es ist nicht zu verkennen, 
daß in der gegenwärtigen physikali¬ 
schen Forschung in Deutschland die 


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545 F. Krüger, Die Stellung d. phys.-math. Wiss. an d. deutsch. Techn. Hochschulen 546 


spekulative, theoretisierende Richtung 
stark überwiegt, eine Richtung, die in 
den Händen der großen Führer außer¬ 
ordentliche Erfolge gezeitigt hat, die 
aber bei einer großen Schar der jünge¬ 
ren Nachfolger in einen inhaltlosen 
Formalismus auszuarten droht. Der Ver¬ 
gleich der ersten deutschen physikali¬ 
schen Zeitschrift, der Annalen der Phy¬ 
sik, mit der entsprechenden englischen 
Zeitschrift, dem Philosophical Maga¬ 
zine, verrät in bedenklicher Weise den 
überwiegenden Hang der gegenwärti¬ 
gen deutschen Physik zur Spekulation 
gegenüber dem auf das Anschauliche 
eingestellten Wirklichkeitssinn der Eng¬ 
länder. Man sollte doch in unserer 
Zeit das Wort von Helmholtz nicht 
ganz vergessen, daß im allgemeinen 
„nur derjenige fruchtbar theoretisieren 
könne, der eine breite praktische Er¬ 
fahrung im Experiment hat“. Wenn¬ 
gleich die ungeheure Zunahme des In¬ 
haltes der experimentellen und der 
theoretischen Physik eine stärkere 
Trennung dieser beiden Gebiete zur 
natürlichen Folge hat, so erscheint doch 
eine gewisse Rückkehr zu dieser älteren 
Auffassung gegenüber der allzu stark 
ins Kraut geschossenen modernen phy¬ 
sikalischen Spekulation erwünscht. Es 
ist wohl kein Zwpifel, daß die Ein¬ 
führung des physikalischen Studiums 
an den Technischen Hochschulen in 
dieser Hinsicht günstig wirken würde. 
Der engere Zusammenhang, der zwi¬ 
schen der lebendigen Wirklichkeit, vor 
allem von Technik und Industrie, an 
den Technischen Hochschulen im Ver¬ 
gleich mit den Universitäten besteht, 
würde auch das Studium der Physik 
an den Hochschulen beeinflussen, die 
enge Nachbarschaft der technischen Fä¬ 
cher würde ein gutes Gegengewicht bil¬ 
den gegen das Überwuchern grauer 
Theorien, die Kenntnis der praktisch- 

Intematlonale Monatsschrift 


wirtschaftlichen Folgen falscher An¬ 
sätze auf technischem Gebiet würde 
zur Vorsicht mahnen bei der Aufstel¬ 
lung der Grundannahmen. Ferner würde 
der dann möglich werdende Wechsel 
des physikalischen Studiums zwischen 
Universitäten und Technischen Hoch¬ 
schulen den Studierenden die Vorteile 
beider zuteil werden lassen. 

Die Einführung abschließender Exa¬ 
mina in den physikalisch-mathemati¬ 
schen Wissenschaften und der damit 
erst ermöglichte volle Betrieb der Lehre 
und der Forschung in diesen Gebieten 
an den Technischen Hochschulen würde 
aber vor allem auch auf die techni¬ 
schen Abteilungen von erheblicher, an¬ 
regender Wirkung sein, von einer, 
wenn auch im Umfang geringeren, so 
doch ähnlichen Wirkung, wie sie die 
philosophische Fakultät auf die Ge¬ 
samtheit der Fakultäten der Universi¬ 
täten hat. F. PauIsen (Die deutschen 
Universitäten, für die Universitätsaus¬ 
stellung in Chicago 1893, herausgege¬ 
ben von W. Lexis, Berlin 1893) sagt 
hierüber: „In den philosophischen Fa¬ 
kultäten kommt der Charakter der deut¬ 
schen Universität als Pflanzschule der 
wissenschaftlichen Forschung am be¬ 
stimmtesten zur Erscheinung; von ihnen 
werden auch die übrigen Fakultäten 
stets nach dieser Seite hingezogen.“ 
So könnte der Einfluß der Abteilun¬ 
gen für Allgemeine Wissenschaften an 
den Technischen Hochschulen, und zwar 
Sn erster Linie der physikalisch-mathe¬ 
matischen Fächer, die in vieler Hin¬ 
sicht, wie schon betont, ungünstige 
Wirkung der Loslösung der Techni¬ 
schen Hochschulen von den Universi¬ 
täten kompensieren. Die Anregung zu 
wissenschaftlicher Forschung wäre hier 
für die technischen Abteilungen nur in 
weiterem Sinne zu verstehen als An¬ 
regung zu produktiver Arbeit über- 

18 


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547 F. Krüger, Die Stellung d. phys.-math. Wiss. an d. deutsch. Techn. Hochschulen 548 


haupt, die ja in den technischen Ab¬ 
teilungen zum großen Teil auch auf 
konstruktivem Gebiete liegt, in der 
Architekturabteilung auf künstleri¬ 
schem. Ihre Wirkung würde sich in 
gleicher Weise auf Professoren wie 
Studierende erstrecken. Ihr bisheriges 
Fehlen infolge der Unabgeschlossen¬ 
heit des physikalisch-mathematischen 
Lehr- und Forschungsbetriebes an den 
Technischen Hochschulen ist zweifel¬ 
los in hohem Maße von ungünstigem 
Einfluß auf die Entwicklung der Tech¬ 
nischen Hochschulen gewesen. Der 
Mehrzahl der Studierenden an densel¬ 
ben mußten die physikalisch-mathema¬ 
tischen Fächer, welche die Grundlage 
ihres Fachstudiums bilden, als neben¬ 
sächlich und mit dem Vorexamen für 
sie als ein für allemal erledigt erschei¬ 
nen, da man diesen Fächern an der 
Hochschule ja nur eine untergeordnete 
Stellung einräumte. Den besseren un¬ 
ter den Studierenden fehlte die Anre¬ 
gung durch die höheren Vorlesungen 
in diesen Fächern, die sie in höheren 
Semestern zur Vertiefung ihrer theore¬ 
tischen Forschungen vielleicht gerne 
gehört hätten, die aber wegen der feh¬ 
lenden Abschlußexamina in jenen Fä¬ 
chern nur ausnahmsweise gelesen wur¬ 
den. Die fundamentale Bedeutung der 
physikalisch-mathematischen Fächer als 
Grundlage für alle Gebiete der Tech¬ 
nik würde den Studierenden weit mehr 
einleuchten, wenn sie die Anerkennung 
als gleichberechtigte Fächer der Tech¬ 
nischen Hochschulen gefunden hätten. 

Von diesen Gesichtspunkten geleitet, 
hatte Verfasser im Sommer 1918 die 
Anregung zur Einführung des Diplom¬ 
examens in den physikalisch-mathema¬ 


tischen Fächern an den Technischen 
Hochschulen gegeben, die, von der Dan- 
ziger Hochschule aufgenommen und an 
die übrigen Hochschulen weitergege¬ 
ben, sich zu einem gemeinsamen An¬ 
träge der preußischen Hochschulen an 
das Ministerium im März 1919 ver¬ 
dichtete. In Dresden waren unabhängig 
ähnliche Bestrebungen im Gange. 

Die segensreiche Wirkung, die diese 
Gleichstellung der physikalisch-mathe¬ 
matischen Fächer mit den übrigen für 
die ganze Entwicklung der Technischen 
Hochschulen zur Folge haben würde, 
läßt erhoffen, daß diese Bestrebungen 
Erfolg haben werden. Vielleicht darf 
man sagen, daß viele der Mißstände 
oder Unzulänglichkeiten im Lehrbe¬ 
triebe der Technischen Hochschulen, 
die man jetzt mit so vielfachen Re¬ 
formen zu beseitigen bestrebt ist, da¬ 
mit von selbst verschwinden werden. 
Sollte der erfrischende Impuls, der von 
dem Vollbetriebe der physikalisch-ma¬ 
thematischen Wissenschaften auf die 
ganze Art des Hochschulbetriebes not¬ 
wendig ausgehen würde, noch unter¬ 
stützt werden durch die Gründung 
neuei Institute und Forschungsanstal¬ 
ten für die technischen Fächer der 
Hochschulen, so würde diese verstärkte 
Betonung des höchsten Zieles alles 
Hochschulunterrichtes, der Anleitungzu 
produktiver Arbeit, von selbst mit der 
gleichzeitigen größeren Freiheit des Un¬ 
terrichts stärkere Persönlichkeiten zur 
Entwicklung bringen, als sie die zut 
Zeit noch im Vordergründe stehende 
Überlieferung und Einprägung des Wis¬ 
sens ermöglicht hat. Die notwendige 
Folge aber dieser Maßnahme würde eine 
neue Blüte der deutschen Technik sein. 


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Ernst Robert Curtius, Französische Kulturkämpfe 


550 


Französische Kulturkämpfe. 

Von Ernst Robert Curtius. 


Im Jahre 1905 schrieb der Züricher 
Professor Paul Seippel, wohl unter dem 
Eindruck jenes unheilvollen jahrelan¬ 
gen Bürgerkriegs, den die Dreyfus-Af- 
färe für Frankreich bedeutet hatte, ein 
Buch, das sich zum Ziel setzte, aus 
dem Gesamtverlauf der französischen 
Geschichte eine Erklärung für die tiefe 
Geistesspaltung zu gewinnen, an der 
Frankreich seit der Revolution von 
1789 krankt; an der es so gelitten hat, 
daß die geistige Einheit der Nation ver¬ 
loren schien, und daß man von einem 
doppelten Frankreich sprechen durfte, 
von dem roten Frankreich der Revo¬ 
lution und dem schwarzen Frankreich 
der Gegenrevolution. Seippel nannte 
sein Buch, das die französische Öf¬ 
fentlichkeit lebhaft beschäftigt hat, Les 
deux Frances. Diese geistige Spaltung 
ist wohl einer der tiefsten geschicht¬ 
lichen Gründe für alle jene besorgnis¬ 
erregenden Symptome, aus denen man 
in Frankreich während der letzten 
Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts viel¬ 
fach den Schluß zog, die Nation be¬ 
finde sich im Niedergang. Und auch 
als sich in dem Jahrzehnt vor dem 
Ausbruch des Weltkriegs das französi¬ 
sche Lebensgefühl mit neuer Energie 
lud, als man aufhörte, von Dekadehz 
zu sprechen, konnte man sich doch der 
Tatsache nicht verschließen, daß Frank¬ 
reich in einer inneren Krise begriffen 
sei, und daß der Gegensatz des roten 
und des schwarzen Frankreich eine 
entscheidende Rolle in dieser Krisis 
spiele. 

Der Nationalökonom Paul Bureau 
setzte es sich damals zur Aufgabe, die 
Ausdehnung und die Ursachen dieser 
Krisis wissenschaftlich zu erforschen 


(La crise morale des temps nouveaux, 
1907). Für ein tieferes Eindringen in 
die politischen und geistigen Lebens¬ 
probleme des modernen Frankreich ist 
sein Buch auch heute noch von uner¬ 
setzlichem Wert. Bureau ist gläubiger 
Katholik, aber objektiv genug, um auch 
•die Schäden im eigenen Lager zu sehen, 
und um die unheilvollen Wirkungen 
des Paktes zwischen Kirche und po¬ 
litischer Reaktion zu beklagen, der seit 
Joseph de Maistres Wort: La rövolu- 
tion est satanique dans son essence, 
eine so bedeutsame Rolle in Frank¬ 
reichs innerer Geschichte gespielt hat. 
Bureau sieht die Ursache der modernen 
Krisis (von der er alle europäischen 
Staaten betroffen findet) darin, daß die 
Entwicklung des europäischen Men¬ 
schen mit der Umwälzung aller wirt¬ 
schaftlichen, politischen, industriellen 
Verhältnisse, die das 19. Jahrhundert 
brachte, nicht Schritt gehalten hat. Der 
Mensch hat den veränderten Anforde¬ 
rungen gegenüber versagt. Die mo¬ 
derne Krisis ist eine Krisis des Men¬ 
schen, und erst sekundär eine Krisis 
der Institutionen. Und sie ist nicht nur 
eine physiologische und ökonomische, 
sondern vor allem auch eine moralische 
Krisis. Daher erhebt sich die Frage 
nach der moralischen Situation des mo¬ 
dernen Frankreich. 

Bureau versucht zunächst, eine „Bi¬ 
lanz der Unsittlichkeit" aufzustellen, 
wobei ihm seine sozialwissenschaft¬ 
liche Schulung eine besondere Kompe¬ 
tenz verleiht. Das Leben des einzelnen 
wie das der Gesellschaft zeigt dem Be¬ 
obachter schwere Schäden: erschrek- 
kendes Wachstum des Alkoholismus; 
Nachlassen der Sexualmoral; Ehescheu, 

18* 


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Ernst Robert Curtius, Französische Kulturkämpfe 


552 


Ehebruch, Geburtenbeschränkung; Un¬ 
ehrlichkeit im Handel; Unehrlichkeit in 
den geistigen Kämpfen (das religiöse 
wie das freidenkerische Ideal werden 
von Interessenten ausgebeutet); brutale 
Formen des sozialen Kampfes; Anti¬ 
militarismus; Nationalismus; Antikleri¬ 
kalismus; Überspannung des kirchli¬ 
chen Autoritätsbegriffs; Schwächung 
des Bürgersinns; unsaubere Wahlma¬ 
növer; Angeberei; Pfründenjagd. 

Das ist eine lange Liste sittlicher 
Schäden. Sie sind nach Bureau zum 
großen Teil verschuldet durch syste¬ 
matische Propaganda unsittlicher Theo¬ 
rien, die durch die Presse in die bren 
ten Massen des Volkes getragen wer¬ 
den. So wurde 1904 die Association 
internationale antimilitariste des tra- 
vailleurs gegründet, um die Armee zu 
untergraben. Oder Philosophen und 
Literaten suchten die Unsittlichkeit der 
Ehe nachzuweisen, die schon Naquet 
18(69 als eine notwendig zu Laster, 
Elend und Tod führende Einrichtung 
charakterisiert hatte. Romanschriftstel¬ 
ler wie die Brüder Margueritte brach¬ 
ten 1903 in der Kammer einen Antrag 
auf Erleichterung der Ehescheidung 
ein, die nach dreijähriger Dauer der 
Ehe möglich sein sollte, falls einer der 
Gatten sie beantragte. Nur wenige Blät¬ 
ter sprachen sich entschieden gegen 
diesen und ähnliche Vorschläge aus, 
welche die Ehe durch eine ,Union 
libre ‘ ersetzen wollten. Sogar das 
offizielle Recht zur Abtreibung wurde 
von radikaler Seite gefordert, und der 
bekannte Romancier Paul Adam 
wünschte, daß alle moralischen und 
gesetzlichen Schranken der ge¬ 
schlechtlichen Promiskuität aufgehoben 
werden sollten, ja daß dieser durch 
den Staat Vorschub geleistet würde. 
Die 1903 gegründete Ligue de la Rö- 
gönöration humaine bezweckte, in den 


untersten Volksschichten Kenntnisse 
über Geburtenverhinderung, ihre Be¬ 
rechtigung und ihre praktische Durch¬ 
führung zu verbreiten. 

Bureau schloß aus diesen Tatsachen, 
daß eine große Zahl von Menschen da¬ 
hin gelangt sei, moralische Verfehlun¬ 
gen schlimmster Art als erlaubt und 
legitim zu betrachten, und daß hinter 
dieser schon sehr großen Gruppe eine 
noch erheblich zahlreichere stehe, die 
den Immoralismus zwar noch nicht 
theoretisch nach außen bekenne, ihm 
aber praktisch huldige. 

Die Gründe der moralischen Krise 
sah Bureau in einem doppelten hun¬ 
dertjährigen Irrtum, der sich auf die 
beiden politisch-geistigen Parteien ver¬ 
teile, in die Frankreich gespalten sei. 
Das rote wie das schwarze Frankreich 
— Bureau sprach irenisch von den en- 
fants de l'esprit nouveau und den en- 
fantf de la tradition — hätten einen 
Irrweg beschritten. Der Irrtum der 
fortschrittsgläubigen Rationalisten be¬ 
stand in der — auf die Enzyklopädi¬ 
sten zurückgehenden — Meinung, daß 
sich durch die vernunftgemäße Ein¬ 
richtung der Gesellschaft das sittliche 
Niveau der Menschheit automatisch he¬ 
ben würde. Der Pflichtbegriff würde 
somit überflüssig werden. Schon Hel- 
v6tius hatte gemeint, durch gute Ge¬ 
setze mache man die Menschen tu¬ 
gendhaft. Und ähnlich schrieb Con- 
doroet 1779, um die schlechten Sitten 
zu beseitigen, müsse man ihre Ursache 
aufheben. Sie hätten nur eine Ursache: 
die schlechten Gesetze. Die Revolution, 
die in zweieinhalb Jahren über 2500 
Gesetze erließ, war des Glaubens, sie 
habe die Nation regeneriert. Ehrlichkeit 
und Tugend seien an der Tagesord¬ 
nung, und diese Tagesordnung müsse 
ewig dauern (Abb6 Grögoire im Kon¬ 
vent). 


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Ernst Robert Curtius, Französische Kulturkämpfe 


554 


Solchen Anschauungen lag ein un¬ 
gemessenes Vertrauen auf die Güte 
der menschlichen Natur zugrunde. Es 
wurde zwar durch die geschichtlichen 
Ereignisse der nächsten Jahrzehnte 
auch bei den Anhängern der Revolu¬ 
tionsideale stark erschüttert. Aber sie 
fanden einen Ersatz in dem Glauben 
an die beglückenden Folgen der natur¬ 
wissenschaftlichen Aufklärung. Diese 
in weiteste Kreise, vor allem in die 
Schule, zu tragen, war ein Hauptpro¬ 
grammpunkt der Linken unter der Juli¬ 
monarchie und dem zweiten Kaiser¬ 
reich. Viktor Hugo prägte den Apho¬ 
rismus: Remplir l'öcole, c’est vider la 
prison et Ihospice. Jean Macö gründete 
1867 die Ligue de l’Enseignement und 
liebte es zu sagen: Nous sommes des 
faiseurs de lumUtre sans plus. Geistige 
Stützen fand diese Richtung in der 
historischen, politischen und philoso¬ 
phischen Publizistik der Quinet, 
Proudhon, Ledru-Rollin, Michelet, Pr6- 
vost-Paradol, Buloz. Unter der dritten 
Republik wurden die Ideen dieser 
Schule getragen von Gambetta, Jules 
Ferry, Paul Bert, Spuller, Challemel- 
Lacour, Sully Prudhomme, Burdeau, 
Buisson. 

Der Irrtum dieser Richtung war ihr 
Intellektualismus; der Glaube, daß Auf¬ 
klärung des Verstandes und Bildung 
des Denkens ein sicherer Weg zur Er¬ 
leuchtung und Stärkung des sittlichen 
Wollens sei. 

Und der Irrtum der Traditionalisten? 
Er bestand in der Gleichsetzung der 
Sittlichkeit mit der Achtung und Be¬ 
wahrung der bestehenden Autoritäten. 
Die theokratische Denkweise der de 
Maistre und Bonald wurde so der ent¬ 
scheidende Faktor in den politischen, 
sozialen und ethischen Anschauungen 
der kirchlichen Kreise. Der demokra¬ 
tische und liberale Katholizismus der 


Lamennais, Lacordaire, Gratry mußte 
unter dem vereinigten Ansturm der 
Gegner von rechts und von links zu¬ 
sammenbrechen. Der Traditionalismus 
war bemüht, eine unüberschreitbare 
Kluft zwischen sich und der Entwick¬ 
lung der modernen Gesellschaft zu be¬ 
festigen. Graf Albert de Mun erklärte 
1878: Le socialisme, c’est la Revolu¬ 
tion loyique, et nous sommes la Con- 
tre-R6uolution irr6conciliable. II n’y a 
rien de commun entre nous; mais, 
entre ces deux ternies, il n’y a plus de 
place pour le lib6ralisme. Die Tradi¬ 
tionalisten waren zum großen Teil 
prinzipielle Gegner nicht nur des so¬ 
zialen und politischen, sondern auch 
des technischen und wissenschaftlichen 
Fortschritts. Als Pater Ollivier 1897 in 
Notre-Dame über den Brand des Wohl¬ 
tätigkeitsbasars sprach, benutzte er die 
Katastrophe, um sie als Strafe der gött¬ 
lichen Vorsehung für den Hochmut des 
Jahrhunderts zu deuten. Durch ihr kla¬ 
gendes und verfluchendes Sichabschlie- 
ßen von aller modernen Kulturentwick¬ 
lung wurde die Kirche in Frankreich 
immer mehr zum Laudator temporis 
acti. Sie entfremdete sich die Massen, 
und auch von ihren Anhängern liehen 
ihr viele nur noch ein halbes Ohr. 
Besonders unter der Jugend waren 
viele gutangelegte und begeisterungs¬ 
fähige Naturen geneigt, die religiösen 
Werte zu verkennen, weil sie in dem 
Verhalten der kirchlichen Kreise nur 
überlebte Vorurteile und Alterserstar¬ 
rung sahen. Allerdings gab es auch un¬ 
ter den französischen Prälaten Persön¬ 
lichkeiten, die die offizielle Stellung¬ 
nahme der Katholiken beklagten. Der 
Bischof Gibier von Versailles sagte 1906 
in einem Hirtenbrief: Nous avonsperdu 
trente ans ä g6mir, a maudire et ä nous 
abstenir. Was für kindische Formen 
der Streit zwischen der kirchlich-kon- 


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Ernst Robert Curtius, Französische Kulturkämpfe 


556 


servativen und der demokratisch-frei¬ 
denkerischen („laizistischen“) Partei an¬ 
nahm, zeigt das Gezänk um den Eiffel¬ 
turm. Die einen prophezeiten das Mi߬ 
lingen des Baus, weil er zur Demüti¬ 
gung der Religion bestimmt sei; die 
andern sahen darin triumphierend eine 
Revanche für die Geschichte vom ba¬ 
bylonischen Turm. 

Und doch hielt Bureau eine Ausglei¬ 
chung des Antagonismus, unter dem 
Frankreich leidet, für möglich. Er sah 
Anzeichen dafür, daß beide Parteien 
ihren hundertjährigen Irrtum erkennen 
und daß man einer Verständigung 
näherkommen würde. 

Er konnte darauf hinweisen, daß sich 
in den Jahren 1890 bis 1892 in beiden 
Lagern, wenn auch vorerst nur inner¬ 
halb kleiner Kreise, die Erkenntnis 
durchrang, das moralische Problem sei 
falsch angefaßt worden. Aus dem kon¬ 
servativen Lager erging am 1. Januar 
1890 in der Revue des Deux Mondes 
der Aufruf des Grafen Melchior de 
Vogüö „An die Zwanzigjährigen“. Paul 
Desjardins formulierte 1891 ,Le devoir 
präsent'. Leo XIII. gab 1891 in der En¬ 
zyklika: Rerum Novarum den französi¬ 
schen Katholiken neue Richtlinien, die 
eine Versöhnung mit der Republik ins 
Auge faßten. Es war die Politik des 
„ralliement", die in Kardinal Lavigerie 
eine einflußreiche Stütze fand. 

Auch unter den politisch und geistig 
Linksstehenden erkannten einige Ein¬ 
sichtige, daß man einen Wechsel des 
Standpunkts vornehmen müsse, und 
daß die Fortschritte der modernen Kul¬ 
tur der moralischen Frage gegenüber 
versagt hätten. Man sprach von dem 
Esprit Nouveau, in dem Republikaner 
und Katholiken sich begegnen könn¬ 
ten. Der Politiker Spuller definierte in 
einer berühmten Rede vom 3. März 
1894 diesen neuen Geist, der ein Geist 


hochsinniger und weitherziger Toleranz 
sein müsse, ein Geist intellektueller und 
moralischer Erneuerung, der in völli¬ 
gem Gegensatz zu den bis dahin herr¬ 
schenden Parteistandpunkten stehen 
solle. 

Die öffentliche Meinung war damals, 
zu Beginn der 90er Jahre, dem morali¬ 
schen Problem gegenüber noch indiffe¬ 
rent. Es wurde nur scheinbar beiseite 
geschoben durch die Dreyfuskrise, die 
Ende 1894 begann. Seit den ersten Jah¬ 
ren des 20. Jahrhunderts zog es die 
Aufmerksamkeit der Philosophen und 
der gebildeten Schichten in steigendem 
Maße auf sich. Auch die Gegner der 
Traditionalisten gelangten zu der 
Überzeugung, daß das Ethische eine 
eigene Wertsphäre sei, unzurückführ- 
bar auf biologische oder ökonomische 
Faktoren. Durch die philosophischen 
und soziologischen Arbeiten der Dürk¬ 
heim, Buisson, S6ailles, Renard, Sorel 
wurde der naive Intellektualismus der 
älteren Richtung innerhalb der Libre- 
Pens6e überwunden. Es zeigte sich fer¬ 
ner, daß die Inhalte der christlichen 
Moral und der konkurrierenden philo¬ 
sophischen Moralen im wesentlichen 
identisch seien. Nirgends wurde ge¬ 
lehrt, daß Ehebruch oder Diebstahl gut 
seien. Besonders L6vy-Bruhl wies auf 
diesen Punkt hin (La morale et la 
Science des mceurs, 1905). 

Diese Ergebnisse bedeuteten eine 
nicht zu unterschätzende Annäherung 
der beiden feindlichen Parteien. Ein 
tiefgehender Gegensatz bestand aller¬ 
dings in der Frage der Begründung der 
Moral. Die Laizisten forderten a priori, 
diese Begründung müsse von jeder Re¬ 
ligion (viele fügten hinzu: auch von 
jeder Metaphysik) unabhängig sein. Sie 
sahen das „theokratische Gift" darin, 
daß die Kirche die Moral abhängig 
mache von der Unterordnung unter die 


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Gustav Htlbener, Samuel Butler der Jüngere 


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Autorität und das Dogma. In deutscher 
Begriffssprache ausgedrückt: die christ¬ 
liche Moral sei nicht autonom, sondern 
heteronom. Die Laizisten versuchten 
auf zwei Wegen eine neue, außerreli- 
giöse und außermetaphysische Begrün¬ 
dung der Moral: durch den Evolutio¬ 
nismus (L6vy-Bruhl) und durch den 
Solidarismus (Löon Bourgeois). Diese 
„wissenschaftliche“ Moral wurde bis¬ 
weilen mit religiösem Gefühlston vor¬ 
getragen, und G. Deherme konnte bei 
der Eröffnung seiner Volkshochschule 
sagen: II faut qae nous prenions la 
folie de la solidaritö, comme les mar- 
tyrs eurent la folie du Christ. 

Der Krieg zwischen Laizismus und 
Katholizismus, zwischen Wissenschaft 
und Glaube, war im Grunde ein Reli¬ 
gionskrieg. Die Welle neuer Religiosi¬ 
tät, die wir heute beobachten, begann 
damals heranzufluten. Sogar auf dem 
Internationalen Freidenkerkongreß in 
Rom 1904 fiel allen Beobachtern die re¬ 
ligiöse Atmosphäre auf. Und gleichzei¬ 
tig begann jene starke, noch immer im 
Wachsen begriffene Renaissance des 
französischen Katholizismus, die für die 
heutige Literatur Frankreichs so be¬ 
zeichnend ist. Für die französischen 
Katholiken, die sich nicht an den Tra- 
ditionalismus gefesselt hatten, lag also 
das Problem so: wird es möglich sein, 


die religiösen Energien, die jetzt einer¬ 
seits an den Wissenschaftsglauben, an¬ 
derseits an den Kultus der Tradition 
gebunden sind, freizumachen für einen 
religiös vertieften Katholizismus, der 
mit der modernen demokratischen und 
sozialen Bewegung Hand in Hand 
gehen kann? Würde dies gelingen, so 
wäre die unheilvolle hundertjährige 
Geistesspaltung überbrückt, und die 
„moralische Krise“ der Nation wäre 
überwunden. 

Wirkungsvolle Bestrebungen zu einer 
solchen Einigung der Geister waren in 
Frankreich während der letzten Frie¬ 
densjahre erwacht. Die von hohem Idea¬ 
lismus getragene katholische und de¬ 
mokratische Bewegung des Sillon 
wurde allerdings durch die kirchliche 
Autorität unterdrückt. Die jüngste 
Form des Traditionalismus, der Roya¬ 
lismus der Maurras-Schule, ging ein 
neues Bündnis mit dem konservativen 
Katholizismus ein. Der Krieg hat diese 
Verbindung gefestigt. Das Ergebnis der 
Wahlen bedeutet eine Niederlage der 
linksstehenden Parteien, wie sie sie seit 
Jahrzehnten nicht erlebt haben. Den¬ 
noch bleibt das moralische Lebenspro¬ 
blem Frankreichs auch heute noch so 
zu formulieren, wie Paul Bureau es vor 
zwölf Jahren getan hat. 


Samuel Butler der Jüngere. 

Von Gustav Hübener. 


l. 

Es gibt zwei Samuel Butler in der 
englischen Literatur: den bekannten Ver¬ 
fasser von „Hudibras“ (1612—1680) und 
einen unbekannteren (1835—1902), den 
wir hier zum Gegenstand unserer Be¬ 
trachtung machen wollen. Auf ihn wies 
zuerst Bernhard Shaw hin. Er bekannte 
in dem Vorwort zu „Major Barbara", 


daß er von entscheidendem geistigen 
Einfluß auf ihn gewesen sei. Dieser Sa¬ 
muel Butler war zu Lebzeiten auch in 
England fast völlig unbekannt. Noch 
1913 konnte der Literarhistoriker Walker 
die Behauptung aufstellen, daß er nie 
Aussicht habe, populär zu werden. Dann 
brachte der Krieg eine merkwürdige Ver¬ 
änderung. Zu den wenigen sicheren Fest- 


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Gustav Hübener, Samuel Butler der Jüngere 


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Stellungen, die wir schon jetzt über die 
Literaturentwicklung in England wäh¬ 
rend des Krieges machen können, gehört 
die, daß Butler sich heute eines lebhaf¬ 
ten, ständig wachsenden Interesses er¬ 
freut. Zwei Bücher sind über ihn er¬ 
schienen, wie als das mindeste konsta¬ 
tiert werden kann: das eine von Gilbert 
Cannan, das andere von John Harris. 
Die Zeitungs- und Zeitschriftenartikel 
über ihn sind zahlreich. Butler wird der 
einzige große Satiriker des 19. Jahrhun¬ 
derts genannt, der Desillusionist des 
viktorianischen Zeitalters und als der 
Begründer eines neuen Evolutionsglau¬ 
bens gepriesen. 

Die deutsche Wissenschaft weiß bis 
jetzt nur weniges über ihn zu sagen. 
Kellner 1 ) hat richtig seine Bedeutung 
für die Anwendung des theoretischen 
Evolutionsgedankens in einer prakti¬ 
schen Weltanschauung betont, ohne aber 
deren Typus näher zu bestimmen. Fehr 2 ) 
faßte ihn zuletzt unter die Formel einer 
Vergeistigung des Darwinismus und gab 
nur eine vorläufige, wenn auch wert¬ 
volle Orientierung. 

Samuel Butler wurde am 4. Dezember 
1835 geboren auf einer Landpfarre zu 
Nottinghamshire. Sein Vater und Gro߬ 
vater waren Geistliche der Church of 
England, der letztere war sogar Bischof; 
seine Mutter dagegen war Tochter eines 
Zuckerfabrikanten. So zeigt Butlerschon 
in seiner Herkunft jene eigentümliche 
Mischung von Kaufmännischem und 
Geistlichem, die für seine geistige Eigen¬ 
art charakteristisch ist. Er wurde erzo¬ 
gen, Geistlicher zu werden, und mit 
dieser Bestimmung 1854 nach Cam¬ 
bridge geschickt. Hier herrschten da¬ 
mals die Simeoniten, eine Gruppe in 


1) Die englische Literatur im Zeitalter 
der Königin Victoria. 

2) Streifzüge (1912). Erforschung des mo¬ 
dernen Englands (1915). 


der Church of England, die sich beflei¬ 
ßigte, den Enthusiasmus des Glaubens 
zu beleben. Mit ihr hatte Butler ein 
Scharmützel, in dem er zuerst seine 
skeptische Ader zeigte. Die Simeoniten 
hatten Traktate in die Briefkästen der 
Universitätsstadt geworfen. Butler ver¬ 
teilte darauf eine von ihm selbst ver¬ 
faßte Parodie in die Kästen der Si¬ 
meoniten, in der er mit beißendem 
Spott ihnen häufigere Waschungen 
empfahl. 

Nach Beendigung seiner Cambridger 
Studien bereitete er sich in London auf 
sein Amt vor, und hier trat die entschei¬ 
dende skeptische Krisis ein. Er hatte in 
einer Armenschule zu unterrichten und 
stellte hier fest, daß seine ungetauften 
Zöglinge dieselben Vorzüge und Fehler 
sittlicher Art aufwiesen wie die getauf¬ 
ten. Die hieran angeknüpften fundamen¬ 
talen Zweifel, Zweifel durchaus auf dem 
Boden und im Sinne des überlieferten 
Buchstabenglaubens, veranlaßten ihn, 
seine geistliche Laufbahn aufzugeben. 
Es entspann sich eine heftige Korrespon¬ 
denz mit seiner Familie, die ihre Re- 
spektabilität anscheinend durch den Ent¬ 
schluß des Sohnes erschüttert glaubte. 
Aber Butler ließ sich nicht umstimmen; 
er wanderte 1859 nach Neuseeland aus. 
Hier kaufte er sich ein Pferd und ritt in 
die Berge, um sich nach einem geeigne¬ 
ten Platz für eine Schaffarm umzusehen. 
Die fünf Jahre Open-air-life, die er auf 
dieser zubrachte, waren von großem 
Segen für seine Gesundheit und auch 
von finanziellem Erfolge, so daß er 1864 
nach England zurückkehren konnte, um 
sich seinen literarischen Neigungen zu 
widmen. 1872 veröffentlichte er „Ere- 
whon“, einen satirischen Roman, der 
später einer neuseeländischen Stadt den 
Namen lieh. Um einen höheren Zins¬ 
fuß für sein Vermögen zu erzielen, 
wandte sich aber Butler noch einmal 


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Gustav Hübener, Samuel Butler der Jüngere 


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einer geschäftlichen Unternehmung zu. 
Er wurde Direktor einer Gesellschaft 
in Kanada. Hier aber verlor er fast sein 
ganzes Vermögen, und nur die durch 
den Tod des Vaters ihm 1886 zufal¬ 
lende Erbschaft entriß ihn der Not. 
Ohne Unterbrechung wandte er sich 
dann in London seinem literarischen 
Werke zu, das in zirka 16 Bänden vor- 
liegfcM902 veröffentlichte er „Erewhon 
revfsited“, die Fortsetzung zu seinem 
schriftstellerischen Erstling. Erst nach 
seinem Tode erschien sein haupt¬ 
sächliches episches Werk „The Way 
of all Flesh", an dem er von 1872 bis 
1884 arbeitete. 

Wenn wir die allgemeinen Züge, die 
in diesem Lebensschicksal liegen, her¬ 
auszuheben suchen, so fällt die eigen¬ 
tümliche Verbindung von theologisch- 
literarischer Bildung mit einer Tätigkeit 
als Finanzmann und Kolonisator auf. 
Große Männer stehen stets an den Schnitt¬ 
punkten der geistigen Hauptstraßen einer 
Zeit. Wenn wir diese für das viktoriani¬ 
sche Zeitalter festzulegen versuchen, so 
ist einmal ein allgemeines Fortströmen 
vom Offenbarungsglauben zur Skepsis 
zu beobachten in den sogenannten lati- 
tudinarischen Tendenzen innerhalb der 
Church of England und andererseits in 
dem Agnostizismus des außerkirch¬ 
lichen Publikums. Ferner ist jenes un¬ 
geheure Streben nach weltlicher Macht 
charakteristisch, wie es sich im Indu¬ 
strialismus und Imperialismus damals 
zeigte. Es ist nun für Butler bezeich¬ 
nend, daß er eine mittlere Stellung in 
dieser geistigen Situation einnahm. Er 
war weder ein Cecil Rhodes, der sich mit 
rücksichtsloser Energie für die Macht¬ 
expansion einsetzte, noch ähnelte er 
dem anderen extremen Typus der Zeit, 
wie er uns in Newman entgegentritt, der 
alles Heil für seine Engländer davon 
erträumte, daß sie wie die ersten Chri¬ 


sten würden. Butler war noch gerade 
so kirchlich, „broadchurchman“, um 
sich nicht ganz dem religiösen Leben 
zu entziehen, und er war noch gerade 
so viel Finanzmann, daß er die ma¬ 
teriellen Bestrebungen seiner Zeit ver¬ 
stehen und wiedergeben konnte. 

2 . 

Das Konstruktionsmotiv in „Ere¬ 
whon“, dem wir uns hier zuerst in einer 
Betrachtung des epischen Werkes un¬ 
seres Verfassers zuwenden, ist seit Cy- 
rano de Bergerac und Swift für den 
philosophisch-satirischen Roman tra¬ 
ditionell. Es handelt sich um eine Reise 
des Helden in ein fremdes Land, durch 
dessen Schilderung zugleich eine Satire 
zeitgenössischer Zustände und ein 
Wunschbild, eine Utopie gegeben wird. 
Mr. Higgs, der Held Butlers, übersteigt 
eine ungeheure Gebirgskette in einem 
fremden Kolonialland. In der Beschrei¬ 
bung dieser Expedition, die mit dem tra¬ 
ditionellen englischen Realismus ausge¬ 
führt wird, sind neuseeländische Erfah¬ 
rungen des Verfassers verwertet Von 
der Höhe der Gebirgskette aus, auf der 
seltsam tönende Steinriesen den Rei¬ 
senden erschrecken, wandert dieser tal¬ 
wärts in ein Land, dessen schöne Be¬ 
wohner ihn allmählich in folgende 
Grundzüge ihrer Moral einweihen. Wer 
in diesem Lande Erewhon krank ist, 
wird so beurteilt und behandelt wie je¬ 
mand, der sich in Europa rechtlich und 
sittlich verirrt hat; und andererseits: 
wer sich hier ethisch vergangen hat, wird 
so bewertet wie die physisch Erkrank¬ 
ten bei uns. Der Reisende erlebt z. B. den 
Fall, daß ein angesehener Kaufmann 
des Landes, Mr.'Nosnibor, an der Börse 
unehrliche Spekulationen und Unter¬ 
schlagungen begangen hat. Nach eini¬ 
ger Zeit ergreift ihn die Reue. Er geht 
nach Hause und ruft den moralischen 


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Gustav Hübener, Samuel Butler der Jüngere 


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Arzt des Landes, den „moral straigh- 
tener“. Nachdem dieser seine Beichte 
angehört hat, verspricht er Mr. Nosni- 
bor Besserung unter der Bedingung, 
daß er die ihm anempfohlene Kur auf¬ 
merksam befolge. Diese besteht vor al¬ 
lem darin, daß der Kaufmann täglich 
gepeitscht wird. Das verhindert nun 
aber nicht, daß, sobald die Kunde von 
seinem sittlichen Fall in die Stadt ge¬ 
drungen ist, seine zahlreichen Freunde 
in Wagen bei ihm vorgefahren kom¬ 
men, um sich nach seinem Befinden 
zu erkundigen, zu hören, wie alles kam, 
welche Symptome sich zuerst zeigten, 
und ihm gute Besserung zu wünschen. 
Zu der anderen Seite der Moral Ere- 
whons gehört es, daß dort Krankheit 
mit Zwangsarbeit und Gefängnis be¬ 
straft wird. Was ist die Folge? Es gibt 
einerseits tatsächlich weniger Krank¬ 
heiten in Erewhon, da sich jeder nach 
Kräften bemüht, sich gesund zu erhal¬ 
ten. Andererseits werden viele Krank¬ 
heiten vertuscht oder verschwiegen. Es 
ist z. B. eine beliebte Ausrede, wenn 
sich jemand unpäßlich fühlt, man habe 
nur ein Paar Socken auf dem Markt 
gestohlen. Was will Butler mit dieser 
Umwertung sagen? Gott liegt das In¬ 
dividuum nicht so am Herzen wie die 
Gattung, der Staat. Es ist im Interesse 
des Staates, möglichst viele gesunde 
und gedeihende Bürger zu haben. 
Kranke und auch Unglückliche sind 
ihm ein Ballast. Mr. Higgs erlebt z. B. 
den Fall, daß einem Witwer der Pro¬ 
zeß gemacht wird, da er über den Tod 
der von ihm geliebten Frau unglück¬ 
lich ist, und der Prozeß verläuft nur 
deshalb einigermaßen günstig für ihn, 
weil er noch das Glück im Unglück 
hatte, daß ihm seine Frau ein beträcht¬ 
liches Vermögen hinterließ. Es ist eine 
durchaus sinnvolle Folge dieser Prin¬ 
zipien, daß fernerhin Reichtum vom 


Staate belohnt wird. Große Vermögen 
sind über eine bestimmte Grenze hin¬ 
aus steuerfrei. Und auf reiche Erben 
ist die Gesellschaft besonders stolz, da 
sie als die kompliziertesten Phänomene 
der bisherigen Entwicklung angesehen 
werden. Auf das sittliche Verdienst wird 
hierbei nicht geachtet, sondern nur auf 
das materielle Ergebnis. Man vergleiche 
hierzu, wie auch sonst die Parallelen, 
bei Shaw die Worte, die dieser in „Ma¬ 
jor Barbara“ Undershaft in den Mund 
legt. 

Der subjektive geschichtliche Sinn 
dieser Umwertung Butlers war der, die 
Lebensunzulänglichkeit des erkalteten 
Puritanismus zu überwinden, den Zeit¬ 
konflikt zu lösen, der in dem Gegensatz 
des patriarchalischen Offenbarungs¬ 
glaubens und der materiellen Tenden¬ 
zen lag. Es war stets das bewußte Wol¬ 
len Butlers, die Illusionen, die Shams 
seiner Zeitgenossen aufzuzeigen. Die 
Ethik Erewhons sollte den Viktorianem 
das von ihnen erstrebte und nach But¬ 
ler erstrebenswerte Lebensziel deutlich 
machen: den Komfort, und zweitens 
durch die medizinische Betrachtung des 
Moralischen darauf hinweisen, daß viele 
Verbrechen durch Verbesserung der so¬ 
zialen Verhältnisse zu mildern und zu 
verhindern wären. Es ist aber bemer¬ 
kenswert, daß Butler trotzdem gegen 
den Sozialismus seiner Zeit war. Er 
sah in diesem eine Sucht des einzelnen, 
die Verantwortung von sich auf die 
Allgemeinheit abzulenken. 

Scheint so der Roman einen Angriff 
auf den Offenbarungsglauben und die 
traditionelle Ethik von der Seite der 
englischen Nützlichkeitslehre und des 
Geschäftsgeistes zu bedeuten, so ist 
doch andererseits für Butler auch cha¬ 
rakteristisch, daß er sich im Erewhon 
gegen die Arbeit um der Arbeit willen 
ausspricht. Er ist dem englischen Rent- 


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nergeist gemäß für den Geldbesitz, aber 
gegen das hochkapitalistische Arbeits¬ 
fieber. In einer grandiosen Satire auf 
die Entwicklung der Maschinen schil¬ 
dert er, wie sie in Erewhon die Men¬ 
schen so zu ihren Sklaven machten, 
daß diese sich schließlich empörten 
und alle Maschinen zerschlugen. Man 
ist auf den vorindustriellen Wirt¬ 
schaftszustand zurückgekehrt, und je¬ 
der Gebrauch eines komplizierten Werk¬ 
zeuges ist untersagt. Maschinen sind 
nur noch in den Museen aufgestellt, 
und als Mr. Higgs, der Reisende, im 
Besitze einer Uhr ertappt ist, wird ihm 
der Prozeß gemacht. 

Wenn wir den betrachteten Roman 
historisch einordnen wollen, so ist vor 
allem seine Abhängigkeit von Darwin 
bemerkenswert. Butler hatte in seiner 
Bergeinsamkeit auf Neuseeland das 
damals neuerschienene Werk „the ori¬ 
gin of species“ gelesen, und es hatte 
einen nachhaltigen Eindruck auf ihn 
ausgeübt. Der Grundgedanke Erewhons 
ist das von Darwin aufgestellte oberste 
Lebensprinzip: the survival of the fit¬ 
test. Aus der höchsten Norm, der vitalen 
Bewährung im Kampf ums Dasein, er¬ 
gibt sich Butlers Ethik im Erewhon 
als sinnvolle Folge. Der darwinistische 
Gedanke ist auch in Butlers Auffassung 
von der Entwicklung der Technik so¬ 
zusagen als formales Prinzip maßge¬ 
bend gewesen. Zweifellos lag von Pea- 
cock und Ruskin her eine fundamen¬ 
tale Kritik des Industrialismus in der 
Luft, aber erst durch die Darstellung 
der Maschinen als selbständiger Orga¬ 
nismen wurde die ganze naturgesetz¬ 
liche Wucht ihrer Entwicklung durch 
Butler zum Ausdruck gebracht. 

Die unmittelbare Nachwirkung Ere¬ 
whons war gering. Morris erwähnt 1882 
in seinem Diary, den Roman gelesen 
zu haben, und als er gegen die staats¬ 


sozialistische Utopie Bellamys„Looking 
backward“ in den „News from No- 
where“ ein Gegengewicht schaffen 
wollte, ließ er sich zweifellos außer 
durch Ruskin durch Butler beeinflus¬ 
sen in den umwertenden Gesetzen sei¬ 
nes Traumlandes, dessen Leben sich 
wie das Erewhons vor allem in Schön¬ 
heit und Gesundheit erfüllt und den 
Haß gegen die Maschinen zu seiner 
Grundlage macht. 

In „Erewhon revisited“ schildert But¬ 
ler, wie Mr. Higgs, der das Land im 
Luftballon mit einer schönen Einge¬ 
borenen verlassen hatte, nach seiner 
Rückkehr nach längerer Zeit sich als 
„sunchild“ göttlich verehrt sieht. Er ist 
entsetzt. Aber nachdem er vergeblich 
versucht hat, die Verehrung von sich 
abzuwenden, kommt er zu dem re¬ 
signierten Ergebnis: „Wenn ihr nicht 
meine göttliche Natur mir ganz und 
gar absprechen könnt, so macht aus mir 
meinetwegen einen Pflock, an dem ihr 
eure besten ethischen und spirituellen 
Begriffe aufhängt.“ Man sieht also, daß 
Butler durch Gibbons Begriff von der 
Nützlichkeit der Religionen beeinflußt 
ist, den der Historiker im 15. Kap. sei¬ 
nes „Decline and Fall of the Roman 
Empire“ entwickelt hatte. Es ist be¬ 
zeichnend für Butler, daß er nicht das 
Jenseits, „the unseen world“, bezwei¬ 
felt, aber zu der ebenso charakteristi¬ 
schen Folgerung kommt, daß es besser 
sei, wegen der Unbegreiflichkeit der 
jenseitigen Welt sich mit dieser ge¬ 
genwärtigen zu beschäftigen. 

3. 

Wie in „Erewhon“ steht in dem nach¬ 
gelassenen Werke Butlers, „The Way 
of all Flesh“, im Mittelpunkt die Be¬ 
kämpfung der Illusionen seinerzeit. Und 
zwar vor allem der Beziehungen zwi¬ 
schen Eltern und Kindern im Schatten 


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Gustav Hübener, Samuel Butler der Jüngere 


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der Church of England. Schon der Her¬ 
ausgeber Streatfield hat darauf hinge¬ 
wiesen, daß der Roman als eine Illustra¬ 
tion der von Butler in andern Schriften 
dargestellten teleologischen Vererbungs¬ 
theorie aufzufassen ist. Butler sieht im 
Gegensatz zu Darwin ein Zweckprinzip 
nicht nur im Ergebnis der Entwick¬ 
lung, sondern hält es in der gesamten 
Evolution für mitwirkend. Aber es 
ist nicht nur dieser biologische Grund¬ 
gedanke, den sein Roman enthält; auch 
in der Auffassung der bewußten Lüge 
als einer berechtigten Mimicry der 
menschlichen Natur spiegelt sich Butlers 
Biologie wider. — Der Roman wird in 
der Ichform erzählt von einem an den 
Begebenheiten wenig beteiligten Freund 
der Famiiiedes Helden. Hierdurch rücken 
die Ereignisse in einen der epischen Ent¬ 
wicklung angemessenen, ruhigen Ab¬ 
stand, ein Kunstmittel, das Z.B. schon im 
„Castle Rackrent“ von Miß Edgeworth 
verwandt wurde. 

Die Erzählung beginnt mit der Schil¬ 
derung des Urgroßvaters des Helden. 
Er lebte als Tischler am Ende des 
18. Jahrhunderts, und es wird vor allem 
hervorgehoben, daß er weit vernünf¬ 
tiger und vor allem ehrlicher war als 
der Großvater und Vater. Bei dem 
Großvater, einem Verleger religiöser 
Literatur, beginnt der merkwürdige Ge¬ 
gensatz zwischen der konventionellen 
Romantik der Ansichten und den das 
Handeln beherrschenden Motiven. Es 
werden für erstere ergötzliche Beispiele 
aus einem Tagebuch mitgeteilt, das der 
Großvater auf einer Kontinentreise nach 
der Schlacht bei Waterloo führte. Auf 
dem Großen St. Bernhard, wo er über¬ 
nachtete, konnte er nicht einschla- 
fen, da er in demselben Bett wie Na¬ 
poleon lag und dazu noch in einem 
Kloster (!). Von seinem Enkel dagegen 
wird lobend erzählt, wie er von einer 


Besteigung des Großen St. Bernhard nur 
zu berichten wußte, daß er oben die 
Hunde gesehen hatte. — In scharfem Ge¬ 
gensatz zu der Romantik der Meinungen 
steht bei dem Großvater vor allem sein 
kalter Geschäftssinn und sein tyranni¬ 
sches Verhalten gegen seine Kinder. Die¬ 
ses wird von Butler historisch aufge¬ 
faßt. Das freundliche natürliche Verhält¬ 
nis der Elisabethaner zu ihren Kindern 
wird hervorgehoben im Gegensatz zu 
dem elterlichen Geiste im Puritanismus, 
in dem etwas von den Geschichten von 
Abraham und Jephta aus dem Alten 
Testamente fortlebte. Es wird darauf 
hingewiesen, daß in den Romanen von 
Richardson, Smollet und Sheridan der 
Vater stets als ein herrschsüchtiger, hef¬ 
tiger Charakter geschildert wurde. Auch 
aus Jane Austens „Novels“ wehte noch 
eine verhaltene Angst vor dem väter¬ 
lichen Gebieter. Der Vater ist bei But¬ 
ler Geistlicher und prügelt den Sohn, 
wie er in seiner Jugend geprügelt 
wurde. Die oberste Erziehungsmaxime 
jener Generationen war nach der An¬ 
schauung unseres Satirikers die, den 
Willen der Kinder zu brechen, um sie 
zu absolutem Gehorsam gegen Gott 
und Eltern zu bringen. Wir sind damit 
bei der Geschichte des Ernest Pontifex, 
dem Hauptteile des Romans, angelangt. 
Er ist nicht der äußeren Form der ge¬ 
schilderten Begebnisse, aber ihrem We¬ 
sen nach autobiographisch. Es ist eine 
Bildungsgeschichte, wie sie seit „Wil¬ 
helm Meister“ in England allgemein be¬ 
liebt war. Ernest Pontifex wird zuerst 
auf einer Public School und dann in 
Cambridge im Geiste der Church of 
England erzogen, deren Situation am 
Anfang des Jahrhunderts als allgemei¬ 
ner Hintergrund gezeichnet wird. Diese 
Schilderung ist zugleich ein Beitrag zu 
der Frage: wie wirkte die sogenannte 
Literatur auf die breiten Schichten des 


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Gustav Hilbener, Samuel Butler der Jüngere 


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lesenden Publikums jener Zeit? Butler 
bezeichnet Buckles „History of Civili- 
sation“ und John Stuart Mills „Li¬ 
berty“ als die gefährlichsten und auf¬ 
regendsten Bücher der Epoche. Trotz¬ 
dem erklärt er auch ihren Einfluß auf 
Ernest Pontifex und seine Freunde für 
gering. Er sieht als das bezeichnende 
Merkmal der allgemeinen Stimmung in 
der Kirche Gleichgültigkeit und Schläf¬ 
rigkeit an. Das Feuer des Evangoli- 
kanismus, der versucht hatte, mit einer 
Art methodistischem Puritanismus das 
Leben in der Church of England neu 
anzuregen, war längst erloschen, ge¬ 
schichtlich geworden. Nur die Simeo- 
niten stellten noch eine schwache Über¬ 
lieferung jener Bewegung dar. Die Ox¬ 
fordströmung war erst in ihren An¬ 
fängen. Bis 1859, wo durch Darwin 
und die „Essays and Reviews“ mit 
ihrer Verteidigung der kritischen Me¬ 
thode von außen und innen neue Er¬ 
regungen der Kirche entstanden, störte 
nichts ihren lethargischen Frieden. Vor 
diesem allgemeinen Hintergrund ver¬ 
läuft die Jugendentwicklung Ernests. 
Nach dem Studium in Cambridge geht 
er nach London, um hier, angeregt 
durch die soziale Bewegung, wie sie 
Kingsleys Roman eines Schneiderge-/ 
seilen und auch Dickens repräsentieren, 
sich der geistlichen Arbeit in den Ar¬ 
menvierteln zuzuwenden. Er erleidet 
kläglich Schiffbruch. Ein Besuch bei 
einem Kesselflicker, der rationalistisch 
verfängliche Fragen nach der Harmonie 
der Evangelien stellt, erschüttert völlig 
seinen Glauben. Ein anderer Besuch 
stürzt ihn in eine schwere sittliche Ver¬ 
irrung, so daß er ins Gefängnis gewor¬ 
fen wird. Butler wollte zeigen, wie die 
Erziehung im Geiste der Church of 
England seinen Helden ganz unvorbe¬ 
reitet gelassen hatte gegenüber den 
Wirklichkeiten des Lebens und den 


Wirklichkeiten in seiner eigenen Brust. 
Nach der Entlassung aus dem Gefäng¬ 
nis hat Ernest Pontifex bitterste Not 
zu durchkämpfen, bis auch ihn das 
Allheilmittel Butlers rettet: er erbt. 
Darauf lebt er als freier Schriftsteller 
in London als „broadchurchman“ und 
getreu den quietistischen und comfor- 
tistischen Idealen des Dichters. Eine 
Episode des Romanes ist für den Te¬ 
nor des Ganzen charakteristisch: Der 
Vater, der nichts von der Erbschaft, 
nur vom Gefängnis wußte, wünschte, 
daß Ernest zurückkehrte, aber er fand, 
wie Butler sagt, er hätte zurückkehren 
sollen, wie es sich für einen respek¬ 
tablen, wohlgeordneten verlorenen Sohn 
gehörte, nämlich heruntergekommen, 
mit gebrochenem Herzen und Ver¬ 
zeihung erflehend von dem zärtlichsten 
und langmütigsten aller Väter. Wenn 
er Schuhe und Strümpfe und heile Klei¬ 
der überhaupt besäße, sollte das nur 
sein, weil es ihm gnädigerweise ge¬ 
stattet war, nicht völlig in Lumpen und 
Fetzen zu erscheinen. Aber nun war 
er stolz angekommen in einem grauen 
Ulster, mit blauweißem Shlips und bes¬ 
ser aussehend, als der Vater ihn je im 
Leben gesehen hatte. Das war „unprin- 
cipled“, das sprach gegen die Grund¬ 
sätze einer anglikanischen Familie. 

Butlers Haltung gegenüber dem Puri¬ 
tanismus ist neu. Alle jene Züge, mit 
denen im Mittelalter in den Moralitä¬ 
ten die Hypokriten gekennzeichnet wur¬ 
den, sind in der Renaissance von Ben 
Jonson z. B. im Bartholomew Fair auf 
die Puritaner angewandt und gestei¬ 
gert. Für die Gegner ist der Puritaner 
der bewußte Heuchler. Auch Samuel 
Butler der Ältere schildert in seinem 
„Sir Hudibras“ den Puritaner als den 
Inbegriff perfider Scheinheiligkeit. Vom 
18. Jahrhundert an kommt mit dem 
neuen Begriff des „cant“, der erstens 


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Gustav Hübener, Samuel Butler der Jüngere 


die bewußte konventionelle Lüge und I 
zweitens die innere Verlogenheit bedeu¬ 
tet, eine neue Kategorie des Werturteils 
für die Gegner des Puritanismus auf. 
Die Stellungnahme Samuel Butlers des 
Jüngeren unterscheidet sich auch von 
dieser. Er verspottet die Puritaner mit 
Wohlwollen. Gewiß, er stellt fest, daß 
sie Heuchler seien, aber er entschuldigt 
dieses mit der Enge und Absurdität 
ihres persönlichen Buchstabenglaubens, 
der ihnen in seiner Lebensunzuläng¬ 
lichkeit nur den Ausweg der Heuche¬ 
lei ließe. Die Grundeinstellung im „Way 
of all Flesh“ ist, wie gesagt, die biolo¬ 
gische. Keines Menschen Leben, meint 
Butler, sei eine sehr schlimme Lüge, so¬ 
lange er nur überhaupt lebt und ge¬ 
sund ist. Ein langes Leben und die 
Sorge für ausreichenden Lebensunter¬ 
halt sind für Butler die obersten, ent¬ 
sühnenden Gesichtspunkte. Die Haupt¬ 
sünde, die er den alten Generationen 
vorwirft, ist die, daß sie sich durch 
ihre lebensunzulänglichen, puritani¬ 
schen Ansichten behindern ließen, ihr 
Leben so erfreulich und behaglich zu 
gestalten wie möglich. — 

Wir stellen zum Schlüsse die Frage: 
Wie kommt es, daß Butler heute in 
England so populär geworden ist? 3 ) Es 


I fehlt hier der Raum, die Gründe für 
die Wirkung seines umfangreichen bio¬ 
logischen Werkes ausführlicher zu 
erörtern. Nur das sei angedeutet: zwei¬ 
fellos ist anzunehmen, daß seine teleo¬ 
logische Evolutionstheorie, die an La- 
marck erinnert, in England von jener 
Zeitstimmung aufgenommen wurde, die 
sich in der begeisterten Begrüßung 
des französischen Vitalisten Bergson 
in Oxford und London offenbarte und 
der neuerdings H. G. Wells mit seiner 
Religionsstiftung in „God the invisible 
King“ entgegenkam. Den entscheiden¬ 
den Grund für Butlers heutigen Erfolg 
als Epiker und Satiriker bildet 
sicherlich der innere Abstand, den das 
jetzige England in den Erschütterun¬ 
gen des vergangenen Krieges zum vik¬ 
torianischen Zeitalter gewonnen hat. 
Erst jetzt fühlt man dieses als abge¬ 
schlossen daliegen und versteht daher 
die Kritik Butlers. Andererseits ist auch 
seine positive Nachwirkung nicht er¬ 
staunlich. Ist er doch mit seinem Com- 
fort-Ideal, seinem den Zeitumständen 
stets willigen, praktischen common sense- 
und seinem im ganzen in politischen und 
kirchlichen Dingen gemäßigt konserva¬ 
tiven Geiste Prototyp breiter Schichten 
des gebildeten, modernen England. 


Nachrichten und Mitteilungen. 


Neue Literatur zur Geschichte des Altertums.*) 

Ausgang, nicht Untergang des Heiden¬ 
tums betitelt mit Recht Joh. Geffcken“) 
sein gehaltvolles Buch über den Sieg des 


3) Eine ausführliche Biographie ist dort 
vor kurzem erschienen, Samuel Butler, 
Author of 'Erewhon’. A Memoir. By Henry 
Festing Jones. (Macmillan and Co.) 2Bde. 
42 Sch. Anm. der Red. 

*) Siehe Heft 5. 

54) Der Ausgang des griechisch-römischen 
Heidentums. Religionswissenschaftliche Bi¬ 
bliothek. Herausgeg. von W. Streitberg 6, 
Heidelberg 1920, C. Winter. 


Christentums im Römerreich. „Manch edles 
Kleinod der Vergangenheit ward ins neue 
Haus hinübergerettet.“ Daher verlangt die 
geschichtliche Betrachtung dieses Riesen¬ 
kampfes genaue Kunde über die beiden 
Gegner. Nachdem Harnack die Mission 
und Ausbreitung des Christentums in den 
ersten drei Jahrh. geschildert hat (3. AuQ. 
1915), sucht das vorliegende Werk dem 
unterlegenen Kämpfer gerecht zu wer¬ 
den, was so oft die Pflicht des vorsichtig 
abwägenden Geschichtschreibers ist. Die 
antiken Kulte, nicht nur die griechisch-rö¬ 
mischen, wie im Titel viel zu eng gesagt 
wird, und die letzte Philosophie desHeiden- 


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Nachrichten und Mitteilungen 


tums werden uns vor Augen geführt, und 
wir sehen, wie die antike Welt seit dem 
3. Jahrh. unter dem Druck der schweren 
äußeren und inneren Nöte der Zeit aus 
einer Welt des Wissens in eine Welt des 
Glaubens sich wandelt, wie auch heidnische 
Religionen, der persische Mithras, die ägyp¬ 
tische Isis, die kleinasiatische „große Mutter“ 
und die syrischen Baalim eine großzügige 
Missionstätigkeit parallel derjenigen des Chri¬ 
stentums ausüben. Hat sich der Verf. in diesen 
Abschnitten mehr referierend verhalten, so 
steht er dann auf dem Boden eigener For¬ 
schung bei der Darstellung der antiken 
Philosophie. Wir lernen, wie das Denken 
der großen Vorkämpfer des Heidentums 
immer mehr religiös sich vertieft, und sehen, 
wie im Neuplatonismus die Philosophie 
schließlich zur Theologie wird und den alten 
Götterglauben spiritualisiert. Der Verf. be¬ 
dauert es mit Recht in der Einleitung, daß 
er Kultus und Philosophie voneinander ge¬ 
trennt behandeln müsse. „Weit schönerund 
überzeugender wäre es sicherlich, eine Ge¬ 
schichte des religiösen Bewußtseins der Hei¬ 
den in jener Zeit zu schreiben, die seelischen 
Vorgänge als Ganzes zu beleuchten.“ Aber 
so weit sind wir noch nicht, ebenso wie uns 
audi die Antwort noch fehlt auf die Frage 
nach den Gründen des christlichen Sieges. 
Dieser bleibt ein „ernstes Problem, das nicht 
durch eine Reihe schnell aufzuzählender Fak¬ 
toren zu lösen ist." Der Personenforschung 
des ausgehenden Altertums sind mehrere 
neue Bücher gewidmet. Otto Seeck 66 ) hat 
ein großes Werk geliefert, das eine Vorarbeit 
zur Prosopographie der christlichen Kaiser¬ 
zeit und gleichzeitig eine Ergänzung zu 
Mommsens Ausgabe des Codex Theodosia- 
nus darstellt. Es wird in beiderlei Hinsicht 
derForschungwertvolleDienste leisten. Joh. 
Sund wall ist auf demselben Gebiet mit 
zwei Werken hervorgetreten. Das erste 60 ) 
beschäftigt sich mit der Geschichte des unter¬ 
gehenden Weströmerreiches, das seit 395 
einer Ruine gleicht, „von der nur die Um¬ 
risse sichtbar sind, das Innere aber abge¬ 
tragen ist.“ Das zweite 67 ) setzt diese Stu- 


55) Regesten der Kaiser und Päpste für 
die Jahre 311—476 n. Chr. Stuttgart 1919, 
J. B. Metzler. 

56) Weströmische Studien. Berlin 1915, 
Mayer & Müller. 

57) Abhandlungen zur Geschichte des aus¬ 
gehenden Römertums. öfversigt af Finska 


dien bis vor die Zeit Gregors d. Gr. herunter 
fort und enthält eine tüchtige Untersuchung 
über die Politik des römischen Senates unter 
Odovacar und dem Gotenregiment. Damals 
ist der letzte Stoß gegen den Lebensnerv 
des Standes geführt worden. Das Ende des 
Senates aber bezeichnet das Ende einer 
langen Entwicklung. „Damit sank das Alter¬ 
tum in Italien endgültig in sein Grab; denn 
i der Senat war das zähe Bindeglied der alten 
römischen Kultur und Überlieferung, auch 
in den Zeiten der Barbarenherrschaft.“ Ernst 
Stein 68 ) widmet seinem Lehrer L. M. Hart¬ 
mann Studien über zwei Jahrzehnte byzan¬ 
tinischer Geschichte nach dem Tode Justi- 
nians, vor allem der damals von neuem be¬ 
ginnenden Auseinandersetzung mit dem 
Perserreich, die mit Hilfe der jetzt in der 
Geschichte auftauchenden Türken auf die 
Angliederung Armeniens und seiner kriegs¬ 
tüchtigen Bevölkerung an das Reich aus¬ 
ging. Die Folge dieser einseitig gegen 
Osten orientierten Politik war die sträf¬ 
liche Vernachlässigung des Westens, wo 
Italien den Langobarden zum Opfer fiel und 
582 auch Sirmium für immer dem Reiche 
verloren ging, eine Einbuße, „deren mora¬ 
lische Bedeutung die strategische weit über¬ 
traf“. Lu jo Brentano 69 ) hat ein Kapitel 
aus seinen Vorlesungen über Wirtschafts¬ 
geschichte und zwar dasjenige über Byzanz 
veröffentlicht. Die verdienstliche Arbeit, die 
hauptsächlich aus zweiter Hand, allerdings 
ohne Berücksichtigung der neuesten Litera¬ 
tur 00 ), schöpft, vermag dem Kenner kaum 
etwas Neues zu sagen, dürfte aber vielleicht 
geeignet sein, die Aufmerksamkeit der Na¬ 
tionalökonomen endlich mehr als seither 
auf dieses gerade für unsere heutige Zeit 
so interessante Gebiet zu lenken. Es sei nur 
an die Organisation des Gewerbebetriebs 


Vetenskaps-Societetens Förhandlingar Bd. 
LX (1917/18) Afd. B. Nr. 2. Helsingfors 1919. 

58) Studien zur Geschichte des byzan¬ 
tinischen Reiches, vornehmlich unter den 
Kaisern Justinus II. und Tiberius Constan- 
tinusVIII. Stuttgart 1919, J. B. Metzler. M. 18. 

59) Die byzantinische Volkswirtschaft, 
Schmollcrs Jahrbuch für Gesetzgebung, Ver¬ 
waltung und Volkswirtschaft im deutschen 
Reich. 41, 2. (1917). S. 7 (569) ff. 

60) Unbenutzt geblieben ist z. B. die Ar¬ 
beit meines Schülers Albert Stöckle, 
Spätrömische und byzantinische Zünfte, 
Untersuchungen zum sog. inagx^'ov ßtßllov 
Leos des Weisen. Klio 9. Beiheft, 1911. 


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575 


Nachrichten und Mitteilungen 


und des Handels unter dem Zeichen des 
Staatsmonopols, weiter an die ausgedehnte 
Schutzpolitik zugunsten des Bauernstandes 
erinnert. Die Zeit der Einwohnerwehren 
hört vielleicht auch mit Interesse von der 
Existenz einer Privatarmee der Großgrund¬ 
besitzer in Byzanz neben dem staatlichen 
Heer. Zum Schluß noch ein kurzes Wort 
über zwei Werke, die über den Anfang des 
Mittelalters neue Gedanken produzieren. Die 
Forschung behandelt heute bekanntlich mit 
Vorliebe die Kontinuitätsprobleme von Alter¬ 
tum und Mittelalter an Stelle der Betonung 
der Zäsur, die früher eine so große Rolle 
spielte und daher heute noch in Hand- und 
Schulbüchern ihr Unwesen treibt bis zu dem 
unseligen Jahr 476, in welchem angeblich 
der letzte römische Kaiser in der Versenkung 
verschwindet. A. Dopsch 81 ) hat die ganze 
Frage vom Standpunkt des Wirtschafts¬ 
historikers in breit angelegter Darstellung 
neu zu beantworten begonnen, und an seinem 
Buche ist erfreulich, daß er auch das massen¬ 
hafte Ausgrabungsmaterial durchgearbeitet 
hat, ein Zeichen, daß die römisch-germa¬ 
nische Kommission auch in die Reihen der 
mittelalterlichen Historiker hinein zu wirken 
beginnt. Ganz neue und weite Perspektiven 
eröffnet das Werk von Jos.Strzygowski 8 *). 
Er hat seine alte These, daß die Kultur der 
klassischen Völker in der zweiten Hälfte 
des Altertums vom Orient eine Erneuerung 
erfahren habe, ergänzt durch die Heraus¬ 
arbeitung der Einflüsse, die von den No¬ 
maden und Nordvölkern Asiens ausgehen, 
den Völkern, die man unter dem Namen 
der altaischen Rasse zusammenfaßt, die dann 
die sogenannte Völkerwanderung in Europa 


61) Wirtschaftliche und soziale Grund¬ 
lagen der europäischen Kulturentwicklung 
aus der Zeit von Cäsar bis auf Karl den 
Gr. Teil I. Wien 1918, Seidel. 

62) Altai-Iran und Völkerwanderung. 
Ziergeschichtliche Untersuchungen über den 
Eintritt der Wander- und Nordvölker in die 
Treibhäuser geistigen Lebens. Anknüpfend 
an einen Schatzfund in Albanien. Mit 229 
Abb. u.lOLichtdrucktafeln. Leipzig 1917, J.C. 
Hinrichs. 


576 


heraufgeführt und ganz neue Dekorations¬ 
formen dorthin gebracht haben. Vorher und 
nachher sind im Orient, speziell in Iran, 
türkisch-nordarische (sakisch-parthische) und 
indische Kulturströme zusammengetroffen, 
die für die Ausbildung der altarmenisch¬ 
christlichen 8 ’) wie der islamischen Kunst 
von größter Bedeutung geworden sind. 
Leider spielt bei Str. das unbewiesene und 
unbeweisbare Moment der Rasse eine zu 
große Rolle. Dagegen zu loben ist die Aufgabe 
des einseitig klassizistischen und europa¬ 
zentrischen Standpunktes und die Betonung 
der universalhistorischen Gesichtspunkte. 
Nicht mehr Europa sondern Eurasien ist 
der Schauplatz dieser Betrachtungsweise, 
die für die Erforschung der Völkerwande¬ 
rungszeit und des beginnenden Mittelalters 
neue Bahnen zu weisen sucht. Nicht allein 
die Germanen und Araber führen den kul¬ 
turellen Umschwung herbei sondern auch 
die Nomaden und Nordvölker mit ihrer 
Freude an geometrischen Linien, Flächen 
und Farbenspielen. Das dekorative Element 
war bei ihnen ausschlaggebend, der Aus¬ 
gangspunkt liegt im fernen Osten. Wir 
müssen uns gewöhnen, neben der Wasser¬ 
straße des Mittelmeers den großen Ober¬ 
landweg von Persien über Armenien und 
das Schwarze Meer nach Südrußland und 
den Donauländern mehr in den Kreis der 
historischen Betrachtung zu ziehen. Str. 
erwartet große Resultate von der Bearbei¬ 
tung der Funde der Völkerwanderungszeit 
im ungarischen Nationalmuseum zu Buda¬ 
pest. So sehen wir auch hier in den An¬ 
fängen der nordeuropäischen Geschichte 
die Archäologie heute in führender Stellung, 
gerade so wie das nach unseren früheren 
Ausführungen bei der Aufhellung der alt- 
orientalischen Probleme der Fall gewesen 
war. 

Breslau, März 1920. 

_ Ernst Kornemann. 

63) Vgl. hierzu auch das große, an neuem 
Material ungemein reiche Werk desselben 
Verfassers: Die Baukunst der Armenier und 
Europa. 2 Bde. Wien 1918, Anton Schrott 
& Co. * 


Für die Schriftleltung verantwortlich: Professor Dr. Max Cornlcelius, Berlin W 30, Lultpoldstrafle 4 . 

Druck von B. G. Teubner ln Leipzig. 


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INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT 

FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK 


14. JAHRGANG HEFT 7 


JULI 1920 


Die ethnographischen Verhältnisse Rußlands. 

Von M. Murko. 


Vor dem Kriege umfaßte Rußland die 
Hälfte von .Europa, auch ohne Finn¬ 
land, Polen und Kaukasus, die geo¬ 
graphisch nicht dazu gehören, und die 
Hälfte von Asien, ein Sechstel des gan¬ 
zen Festlandes. Hinter dem englischen 
Weltreich bleibt es um 8 Millionen qkm 
zurück, aber während dieses über die 
ganze Erde verstreut ist, bildet das 
russische Reich eine kompakte, konti¬ 
nental zusammenhängende Masse. An¬ 
dere Kontinentalstaaten wie das chine¬ 
sische Reich und die Vereinigten Staa¬ 
ten von Nordamerika übertrifft es um 
das Doppelte, im Vergleich mit Deutsch¬ 
land ist es vierzigmal so groß. 1 ) Dieses 
’ Riesenreich scheint nun aus seinen Fu¬ 
gen zu gehen, und es gibt Kreise, die 
noch heute vorgeben, mit Rußland als 
Weltmacht sei nicht mehr zu rechnen, 
obgleich die Bolschewiken allein, die 
doch nur einen Bruchteil seiner Be¬ 
völkerung bilden, der ganzen Eintente 
und allen von ihr geförderten Gegnern 
im Norden, Westen, Süden und Osten 
trotzen. Die Zukunft ist allerdings un¬ 
gewiß. Um so wichtiger ist es daher 
in einer Zeit, in welcher neue Staaten 
auf Grund des Nationalitätenprinzips 
entstanden oder im Werden begriffen 
sind, die realen Faktoren kennen zu ler¬ 
nen, welche Rußlands Schicksale be¬ 
stimmen. Von diesem Gesichtspunkte 
will ich also über die ethnographischen 
Verhältnisse Rußlands sprechen, wo¬ 
bei ich von dem wichtigsten Merkmal, 

U^A. Hettner, Rußland*, 4, 237. 


der Sprache, ausgehe, als stark ma߬ 
gebend die Religion berücksichtige und 
wo nötig auch die historische Entwick¬ 
lung erwähne. 1 “) 

Zur Veranschaulichung der bunten 
Völkermenge Rußlands leistet uns noch 
heute die besten Dienste Rittichs 
Ethnographische Karte des europäi¬ 
schen Rußland, die im Auftrag und 
unter Aufsicht der russischen Geogra- 
graphischen Gesellschaft 1875 in St. 
Petersburg erschienen ist. Diese Karte 
konnte natürlich die Resultate der er¬ 
sten und einzigen allgemeinen Volks¬ 
zählung in Rußland vom J. 1897 nicht 
berücksichtigen, doch bietet sie im all¬ 
gemeinen ein richtiges Bild von der 
Verbreitung der einzelnen Völker, das 
sich im Laufe von Jahrzehnten eher 
zugunsten der Russen verschoben hat 
als umgekehrt. Die Farbenbezeichnung 
ist allerdings oft unzulänglich. So sind 
die Gebiete der Groß-, Weiß- und 
Kleinrussen zu wenig deutlich geschie¬ 
den, unter den Esthen und Letten ist 
die starke deutsche Oberschicht zu we¬ 
nig ersichtlich, unter den Litauern, 
Weißrussen und einem großen Teil der 
Kleinrussen die polnische, überhaupt 
ist das öfters vorkommende Nebenein¬ 
anderleben verschiedener Völker nicht 
genügend veranschaulicht, was aller¬ 
dings auch schwer durchzuführen ist. 
Dagegen muß ich rühmend hervorhe¬ 
ben, daß Rittich nicht mit großen Far- 


la) Gesprochen und geschrieben im Fe¬ 
bruar 1920. 



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M. Murko, Die ethnographischen Verhältnisse Rußlands 


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l>enflecken arbeitet, sondern nur wirk¬ 
lich bewohnte Gebiete andeutet, z. B. 
im Norden, wo die Russen bloß an 
den Flüssen Vorkommen, ln deutscher 
Bearbeitung erschien diese Karte in 
Petermanns Mitteilungen 1878, 
Darauf sind alle russischen Siede¬ 
lungsgebiete mit grüner Farbe bezeich¬ 
net, so daß sie in der Tat eine impo¬ 
sante Fläche ausmachen, während die 
Verteilung der Groß-, Weiß- und Klein¬ 
russen auf einer besonderen Karte er¬ 
sichtlich gemacht wird. Auf Rittichs 
Originalkarte oder auf den Petermann- 
schen Bearbeitungen beruhen alle Dar¬ 
stellungen der ethnographischen Ver¬ 
hältnisse Rußlands, der Slawenwelt-’), 
Osteuropas 3 ) und Europas auf Einzel¬ 
karten, in Atlassen und enzyklopädi¬ 
schen Werken. Als die jüngsten Karten 
erwähne ich die von Haack-Herz- 
berg, Anteil der Völker an der Ge¬ 
samtbevölkerung Europas, Dietrich 
Schäfers Völkerkarte von Europa 
und zuletzt „Völkerkarte von Osteuropa“ 
von Dr. Richard Pohle und Her¬ 
bert Heyde (Berlin, Geaverlag).Diese 
„nach amtlichen Quellen entworfene 
und bearbeitete“ allerjüngste Karte ist 
kein Fortschritt. Die ausgesprochenen 

2) Besonders beachtenswert die Karte in 
dem Werke von L. Niederle, Obozr&nie 
sovremennago slavjanstva (Übersicht des 
zeitgenössischen Slawentums) in der Enci- 
klopedija slavjanskoj fllologii der Petersbur- 

er Akademie der Wissenschaften, Heft 2, 

etersburg 1909. Das Werk ist auch fran¬ 
zösisch, tschechisch und slowenisch erschie¬ 
nen. Dieselbe Karte ist wiederholt in dem 
Sammelwerk Slovanstvo, Prag 1912. Die 
ethnographische Karte der Slawenwelt in 
dem Werke von Prof. T. D. Florinskij 
Slavjanskoe plemja (Kiew 1907) ist etwas 
primitiv ausgeführt, bietet aber den Vor- 
und Nachteil, daß sie auch Sibirien als Fort¬ 
setzung von Rußland in demselben Ma߬ 
stabe bringt. 

3) Am besten ist die ethnographische 
Übersichtskarte von Osteuropa in dem Werke 
von Stephan RudnyCkij, Ukraina, Wien 
1916. 


Farben sind zwar sehr übersichtlich, 
doch geben die großen Farbenflächen 
trotz ihrer schwarzen Striche oft eine 
ganz falsche Vorstellung; z. B. könnte 
man die Wogulen in der .Nordostecke 
für ein großes Volk halten, während 
sie 1897 nur 7000 Seelen zählten. Be¬ 
züglich der Völkermischung sind die 
Deutschen im Baltikum durch Streifen 
stark angedeutet, doch die in gleicher 
Lage befindlichen Polen in den litaui¬ 
schen Gebieten nur schwach, in „Weiß- 
ruthenien“ und in den westlichen klein¬ 
russischen Gebieten aber ganz ver¬ 
schwiegen, dagegen in Ostgalizien wie¬ 
der zu stark hervorgehoben. 4 ) 

Da ein bedeutender Teil der Klein¬ 
russen seit der Teilung Polens dem 
Reich der Habsburger angehörte, so 
brauchen wir zur Ergänzung der Völ¬ 
kerkarte Rußlands noch die Spra¬ 
chenkarte der österreichisch¬ 
ungarischen Monarchie von Fr. 
Le Monnier (Wien 1888), die gleich¬ 
falls schon alt ist, aber bis heute als 
Grundlage für alle sonstigen Karten dient 

Eine Übersichtskarte der eth¬ 
nographischen Verhältnisse 
von Asien und von den angrenzen¬ 
den Teilen Europas bearbeitete auf 
Grund von Fr. Müllers Allgemeiner 
Ethnographie Vinzenz von Haardt 
und gab sie mit Unterstützung der 
Wiener Akademie der Wissenschaften 
heraus (Wien 1887). 

1 . 

Zum besseren Verständnis der weite¬ 
ren Ausführungen empfiehlt es sich in 
aller Kürze zu zeigen, wie das russische 
Volk und der russische Staat entstan¬ 
den und gewachsen sind. 

4) Über die polnische Auffassung der 
polnisch-russischen Grenzfragen orientieren 
am besten die Karten in dem Sammelwerk 
Polen, Entwicklung und gegenwärtiger 
Zustand. Bern 1918. 


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M. Murko, Die ethnographischen Verhältnisse Rußlands 


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Die ältesten historisch erreichbaren 
Sitze der Slawen finden wir im öst¬ 
lichen Polen und-in den anliegenden 
weiß- und kleinrussischen Gebieten. 
Wie nach dem Westen und Süden brei¬ 
teten sich von hier aus Slawen auch 
nach dem Norden und Osten aus, so 
daß wir im 10. Jahrh. eine ganze Reihe 
slawischer Stämme von Nowgorod bis 
Kiew und seine östliche und südliche 
Umgebung antreffen. Weiter im Nord¬ 
osten, im ganzen Stromgebiet der 
Wolga und an der Oka gab es finni¬ 
sche Völkerschaften, die süd- und süd¬ 
ostrussische Steppe wurde aber von 
mongolischen und türkisch-tatarischen 
Nomaden aufgesucht und beherrscht. 
In Kiew, wo sich der berühmte Ostweg 
von der Ostsee bis zum Schwarzen Meere 
und nach Konstantinopel mit dem Han¬ 
delsweg aiis Polen kreuzte, bildete sich 
ein Mittelpunkt staatlichen Lebens, an 
dessen Konsolidierung aus Ostschwe¬ 
den gekommene Waräger ein beson¬ 
deres Verdienst hatten. Normannischer 
Herkunft war jedenfalls die Dynastie 
Ruriks, deren Mitglieder ein einigendes 
Band um die verschiedenen russischen 
Stämme und Teilfürstentümer schlan¬ 
gen. Auch deren gemeinsamer Name 
Ruö, in byzantinischer Form 'Päs, 
stammt vielleicht aus dem germani¬ 
schen Norden. Auf dem ganzen Ge¬ 
biete bildete sich eine Sprache, deren 
gemeinsame Merkmale noch heute alle 
russischen Dialekte gegenüber den üb¬ 
rigen slawischen Sprachen auszeichnen. 
Ein besonders wichtiges Bindemittel für 
die russischen Stämme war auch das 
von Wladimir 988 aus Konstantinopel 
bezogene Christentum und die aus Bul¬ 
garien stammende Kirchen- und Litera¬ 
tursprache, also eine südslawische 
Sprache. Die Kiewer Metropolie erhielt 
die russische Staatseinheit auch in den 
Zeiten der lose miteinander verbunde¬ 


nen Teilfürstentümer und zahlreicher 
innerer Kämpfe. Orthodox (pravo- 
slavnyj) und Russisch blieben identi¬ 
sche Begriffe bis auf den heutigen Tag. 
Selbst als im alten Polen zahlreiche 
Russen für die Union mit Rom ge¬ 
wonnen wurden, bildeten ihr orienta¬ 
lischer Ritus und die slawische Kir¬ 
chensprache ihr unverwüstliches Merk¬ 
mal, und wenn man in den letzten 
Jahrzehnten in Ostgalizien, wo die 
Union noch heute in Geltung ist, einen 
Ruthenen nach seiner Nationalität 
fragte, so antwortete er: ja ru&koji viry 
(ich gehöre dem russischen Glauben 
an). Mit dem Christentum kamen auch 
die Grundlagen der geistigen und ma¬ 
teriellen Kultur aus Byzanz, die im 
Verhältnis zu Westeuropa damals nicht 
gering war, aber mit ihrem Konserva¬ 
tismus und ihrer Erstarrung auch Ru߬ 
land verhängnisvoll wurde. Wir müs¬ 
sen weiter bedenken, daß die griechi¬ 
sche Kirche die antike Religion weniger 
überwand als die römische. Was das 
bedeutet, will ich nur mit einem Bei¬ 
spiel zeigen. Der hl. Augustinus be¬ 
kämpft in seinen Confessiones die To¬ 
tenmahle und berichtet dabei, wie der 
hl. Ambrosius, Bischof von Mailand, 
am Ende des vierten Jahrhunderts sei¬ 
ner Mutter verbot, nach afrikanischer 
Sitte Brei, Brot und Wein auf die 
Gräber der Märtyrer zu tragen. Diese 
Sitte verschwindet in der Tat bald im 
ganzen Abendlande, bei den Russen 
und den übrigen orthodoxen Slawen 
sind aber Totenmahle am Grabe noch 
heute nach dem Begräbnis und an ver¬ 
schiedenen Totentagen üblich. 5 ) 

Bei dem großen Mongoleneinfall in 
Europa 1240 wurde Südrußland ver¬ 
wüstet und Kiew dem Boden gleich¬ 
gemacht. Das Zentrum des russischen 

5) Vgl. des Verf. Abhandlung „Das Grab 
als Tisch“, Wörter und Sachen II, 79—160. 

19* 


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M. Murko, Die ethnographischen Verhältnisse Rußlands 


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Staates kam infolgedessen nach dem 
Nordosten, zuerst nach Wladimir an 
der Kljazma und allmählich nach Mos¬ 
kau, das gleichfalls einen wichtigen 
Knotenpunkt für den Handel bildete 
und geschickte Fürsten hatte, die ihren 
Reichtum zur Erwerbung des Gro߬ 
fürstentitels in der Goldenen Horde 
ausnützten. Die russischen Fürsten im 
Nordosten waren eigentlich Statthalter 
tatarischer Chane, so daß dadurch 
orientalische Einflüsse im russischen 
Staats- und Volksleben bedeutend ver¬ 
stärkt wurden und fortwirkten, als die 
Moskauer Großfürsten das Tatarenjoch 
abgeschüttelt hatten. Damit hängt auch 
zusammen, daß das föderative System, 
das im Kiewer Rußland herrschte, in 
Moskau der byzantinischen Autokratie 
und der orientalischen Despotie Platz 
machte. Nach dem Fall von Konstanti¬ 
nopel betrachtete sich Moskau als das 
dritte Rom, dem ein viertes nicht fol¬ 
gen sollte. Mit „der Sammlung der 
russischen Erde“ und der äußeren 
Machtentfaltung ging aber auch eine 
starke Kolonisation an der Wolga und 
Oka vom 13.—15. Jahrh. einher, die 
von Moskau und noch früher sehr stark 
auch von der Handelsrepublik Nov- 
gorod ins Werk gesetzt wurde. So fällt 
die Gründung von Niznij Novgorod, 
d. h. Unter-Novgorod, am Zusammen¬ 
fluß der Wolga und Oka in das J. 1241. 
Wir sind darüber wenig unterrichtet, 
wie es bei dieser Kolonisation zuging, 
aber es scheint, daß die finnische Be¬ 
völkerung meist im friedlichen Wett¬ 
kampfe von den durch staatliche Or¬ 
ganisation und durch ihr Christentum 
höher stehenden Russen zurückgedrängt 
und zum großen Teil auch aufgesogen 
wurde. 

Das Moskauer Reich wuchs zu im¬ 
mer größeren Aufgaben heran, so daß 
es den tatarischen Chanaten von Kasan 


(1552) und Astrachan (1556) ein Ende 
bereitete und sich großrussische Ko¬ 
saken auch bereits im 16. Jahrh. sogar 
am Terek vor dem Kaukasusgebirge 
festsetzten. 1581 wurde auch schon Si¬ 
birien erobert, und in unglaublicher 
Schnelligkeit drangen die Russen sogar 
bis zu den Küsten des Stillen Ozeans 
vor. Moskau richtete aber seine Blicke 
auch nach dem Westen, nach den Kü¬ 
sten des Baltischen Meeres und nach 
den polnisch-litauischen Provinzen, die 
eine orthodoxe russische Bevölkerung 
hatten. Nicht umsonst nannten sich die 
Moskauer Herrscher Großfürsten und 
dann Zaren „von ganz Rußland" (vseja 
Rusi, seit dem 16. Jahrh. in gelehrter 
byzantinischer Form vseja Rossü). 

Wir müssen uns vor Augen halten, 
daß nach dem Fall von Kiew ein Teil 
der südrussischen Bevölkerung sich 
nach dem Westen bis in die Karpathen 
zurückzog. In diesem „Rotrußland“ (der 
Name ist nicht aufgeklärt) spielte das 
Fürstentum Haliö und Wladimir (davon 
das österreichische „Galizien und Lo- 
domerien") keine geringe Rolle (Fürst 
Daniil erhielt 1254 sogar die Königs¬ 
krone von Innocenz IV.), wurde aber 
zuletzt ein Streitobjekt zwischen Un¬ 
garn und Polen, bis sich die Piasten 
und Anjous einigten und Haliö mit 
Lemberg 1340 vom König Kazimir d. G. 
zu Polen geschlagen wurde, 1366 auch 
Wladimir in Wolhynien. Diese Ge¬ 
biete hatten gleichfalls den Namen RuS 
beibehalten und wurden auch als Be¬ 
standteile des polnischen Reiches so 
benannt. Im mittelalterlichen Latein 
wurde für das Land der Name Ru- 
thenia, für seine Bewohner Rutheni 
gebraucht, der ebenso zu bewerten ist 
wie Böhmisch oder Ungarisch und nicht 
erst von Österreich erfunden wurde, 
wie Polen und Russen behaupteten. 
In einer byzantinischen Urkunde kommt 


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M. Murko, Die ethnographischen Verhältnisse Rußlands 


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aber für Haliö schon 1292 die Bezeich¬ 
nung (uxQii 'Pa6<sCcc vor, also Kleinru߬ 
land, mit offenbarer Beziehung auf das 
größere im Nordosten. 

Merkwürdig war das Schicksal an¬ 
derer klein- und der weißrussischen 
Gebiete. Auf dem Boden der Litauer, 
die keine Slawen sind, entstand ein 
Fürstentum, das sich bald nach dem 
slawischen Osten auszubreiten begann. 
Schon Gedimin vereinigte 1318—1320 
das ganze Gebiet der alten Krivicer, in 
denen wir Vorfahren der Weißrussen 
zu erblicken haben, mit Litauen, ja all¬ 
mählich kamen auch kleinrussische Ge¬ 
biete bis nach Kiew und sogar über den 
Dniepr hinaus dazu. In diesem Litauen 
war die russische Kultur so stark, daß 
sie auch nach der Taufe Jagiellos (1386), 
welcher die eigentlichen Litauer der 
katholischen Religion zuführte, im 
Lande herrschend blieb und ein Kir¬ 
chenslawisch mit sehr vielen weiß- und 
kleinrussischen Elementen vom 14. bis 
fast zum 17. Jahrh. als Amtssprache 
diente, denn nach dem Litauischen Sta¬ 
tut mußten die Akten „mit russischen 
Buchstaben“ geschrieben werden. Nach 
der politischen Union von Lublin (1569), 
welche dem litauischen Kleinadel in 
seinem Kampfe gegen die Magnaten die 
Rechte des polnischen Adels brachte, 
und nach der kirchlichen Union von 
Brest (1596), welche einen großen Teil 
der Klein- und Weißrussen dem Papste 
und der lateinisch-polnischen Kultur 
unterordnete, machte allerdings die Po- 
Ionisierung der oberen Stände große 
Fortschritte und blieb selbstverständ¬ 
lich nicht ohne Einwirkung auch auf 
die niederen, so daß starke Polonismen 
auch in die Sprache der Weiß- und 
Kleinrussen Eingang fanden. 

Das polnische Reich verwendete im 
SO kleinrussische Kosaken als Grenz¬ 
wächter gegen die Krim-Tataren und 


gegen die Türken. Eine solche Grenz¬ 
mark hieß Ukräjna oder Ukrajina (diese 
Betonung ist jetzt im Kleinrussischen 
üblich), ähnlich wie Österreich seine 
Krajina, deutsch Militärgrenze gegen 
die Türkei hatte. Ein anderer Name war 
Hetmanscina, d. h. das Gebiet des Het- 
man, des gewählten Oberhauptes der 
Kosaken. Wenn wir noch Ru£ im Sinne 
von Kleinrußland und Malorossija hin¬ 
zunehmen, so finden wir drei, oder 
eigentlich vier Benennungen für Ge¬ 
biete der immer mehr den Südosten 
kolonisierenden Kleinrussen, aber kei¬ 
ner bezeichnete das ganze Land. 6 ) Der 
Name „Kleinrußland“ wurde in Moskau 
1654 offiziell in den Zarentitel aufge¬ 
nommen, als die Kosaken, unzufrieden 
mit den politischen, religiösen und so¬ 
zialen Zuständen Polens, sich mit dem 
Hetman Bogdan Chmelnickij unter den 
Schutz des Moskauer rechtgläubigen 
Zaren stellten, der ihnen vollständige 
Autonomie zusicherte, die aber schnell 
beschnitten wurde, weshalb die Ko¬ 
saken bald wieder mit Polen und so¬ 
gar der Türkei paktierten; da teilten 
sich Moskau und Polen im Frieden von 
Andrusov (1667) das kleinrussische Ge¬ 
biet, wobei das ganze rechte Dniepr- 
ufer bei Polen blieb bis zu seiner Tei¬ 
lung 1772. Der Moskau überlassenen 
Ukraine konnte auch der Schwedenkö¬ 
nig Karl XII. unter Mazepa zu keinem 
neuen Leben verhelfen, da er die 
Schlacht von Poltava (1709) verlor, und 
die Kaiserin Katharina II. zerstörte das 
letzte Bollwerk der kleinrussischen Ko¬ 
saken, die Sic im Zaporozje, d. h. im 
Gebiete „hinter den Stromschnellen“ 
des Dniepr (1775). Die Kaiserin Katha¬ 
rina nützte aber auch die religiösen und 


6) Vgl. N. Kostomarov in seiner Ab¬ 
handlung „Zwei russische Volkstümer“ in 
der Gesamtausgabe Istoriöeskija monografli, 
Bd. I, S. 61, Petersburg 1872. 


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M. Murko, Die ethnographischen Verhältnisse Rußlands 


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sprachlichen Verhältnisse in den weiß- 1876 jeden Gebrauch der kleinrussi- 

und kleinrussischen Provinzen des pol- sehen Sprache verbot. Unterdessen 

nischen Reiches aus, um ihm den Un- hatte diese aber eine starke Pflege in 

tergang zu bereiten. Nach den Teilun- Galizien gefunden, wohin nun die 

gen Polens (1772—1795) kamen alle Ukrainer ihre Blicke richteten und die 

weißrussischen und der größte Teil der dortigen Zeitschriften und die Lember- 

kleinrussischen Gebiete zu Rußland, ger Sevcenko-Gesellschaft der Wissen- 

Galizien aber zu Österreich; 1839 wurde schäften, die sich zu einer wahren Aka- 

unter dem Kaiser Nikolaus die kirch- demie ausbildete, geistig und materiell 

liehe Union durch eine Reunion abge- förderten. Bezeichnend ist die Behand- 

löst, so daß auch die Glaubenseinheit lung des Namens für die Sprache und 

der russischen Stämme wiederherge- das Volkstum ihres Wirkungskreises: 

stellt wurde und nur Galizien bei Rom zuerst Ukraina-RuS und ruöko-ukraTns- 

verblieb. kyj, dann aber nur Ukraina und ukra- 

Mit der fortschreitenden Europäisie- inskyj, so daß der allgemeinnatio- 

rung Rußlands wurde auch der Bann na i e Name Ukraine, ukrainisch sehr 

der Kirchensprache gebrochen, und um j un g j st . Daneben gab es in Galizien 

die Mitte des 18. Jahrh. begann die allerdings auch eine Richtung, welche 

Einführung der Volkssprache in die an der Einheit der russischen Schrift- 

Literatur, in welcher der Moskauer Dia- spräche und Kultur festhielt. Ironisch 

lekt die Herrschaft erlangte. Dieser Pro- wurden die beiden Parteien nach der 

zeß wurde am Beginn des 19. Jahrh. Aussprache des s im Namen „russisch“ 

vollendet und zu den großen Schrift- (ruskyj und russkij) die „Weichen“ und 

steilem, welche die russische Schrift- die „Harten“ genannt. Recht bezeich- 

sprache und ihre bedeutende Litera- nen d für das Verhältnis zwischen Groß- 

tur schufen, gehört auch Gogol, ein un d Kleinrussisch! Man findet es unter 

typischer Kleinrusse. In gleicher Weise solchen Umständen begreiflich, daß sich 

begann man aber im Süden bereits am Rußland auch die Vernichtung des ukra- 

Ende des 18. Jahrh. auch kleinrussisch inischen Piemont und die Eroberung 

zu schreiben, liebevoll wurde auch das des letzten Fleckens russischer Erde 

kleinrussische Volkstum studiert, das außerhalb Rußlands als Kriegsziel 

Kosakentum fand eine echt romantische steckte. 

Verherrlichung und seinen großen Dich- 2. 

ter im genialen Taras Sevßenko, der Nach diesen Voraussetzungen sehen 
aus dem leibeigenen Bauernstände her- wir uns die heutigen Siedlungsgebiete 

vorgegangen war und so recht den der russischen Stämme in großen Zügen 

demokratischen Charakter der neuen an. Kompakte Siedlungen gehen im 

Bewegung charakterisiert. In Kiew bil- Westen vom Weißen Meer über den 

dete ein Kreis von Gelehrten und Ladogasee zur Newamündung, längs 

Schriftstellern, zu denen auch Sevöenko des Finnischen Meerbusens bis Narwa, 

gehörte, eine Cyrill- und Method-Bru- längs des Peipussees bis nördlich von 

derschaft, die auch eine Föderation sla- Drissa, von dort westlich bis Dünaburg. 

Wischer Völker im Programme hatte, ein wenig südlich und dann in einem 

Die Regierung löste die Gesellschaft großen Halbbogen westlich um Wilna 

auf und verfolgte weiter das anrüchig herum, dann in einer westlichen Linie 

gewordene Ukrainophilentum, bis sie von Grody bis Avgustov, von da süd- 


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M. Murko, Die ethnographischen Verhältnisse Rußlands 


lieh ungefähr in einer geraden Linie bis 
Tomaszöw an der galizischen Grenze, 
doch sind diese Gebiete stark mit Po¬ 
len gemischt, so daß der westlich des 
Bug gelegene Streifen Kongreß-Polens 
ungemein verwickelte Verhältnisse auf¬ 
weist, da es hier auch kleinrussisch 
sprechende Katholiken gibt, die leicht 
zu Polen werden, was den Streit um 
das Gebiet von Cholm (poln. Chehn) 
erst recht erklärt. 7 ) Westlich davon bei 
Tarnogrod überschreitet die Grenze Ga¬ 
lizien und erreicht nördlich der Fe¬ 
stung PrzemySl den San, geht aber in 
den Karpathen noch viel weiter nach 
Westen und überschreitet sogar ihre 
südlichen Abhänge in Ungarn bis zur 
Bukowina, deren nordwestlicher Teil 
auch kleinrussisch ist. Dabei gibt es in 
Ostgalizien eine sehr starke polnische 
Oberschicht, ebenso in den anliegen¬ 
den Gouvernements von Wolhynien 
und Podolien in Rußland, wo dann der 
Dniestr eine Grenze bildet, doch gibt 
es starke klein russische Minoritäten 
auch an seinem rechten Ufer in Bessa- 
rabien bis zur Donaumündung. An das 
Schwarze Meer reichen die Russen bis 
zum Hochgebirge des Kaukasus, doch 
bevölkern sie dessen östlichen Teil nur 
an der Küste des Kaspischen Meeres^ 
dann die beiden Ufer der Wolga in 
deren unterstem Lauf, weiter sind aber 
im ganzen Wolgagebiet östlich von 
Niznij Novgorod bis zum Ural verschie¬ 
dene finnische und namentlich starke 
tatarische Völkerschaften zwischen den 
Russen eingesprengt. Im Norden be¬ 
siedelten Russen die Ufer der Flüsse, 
die schiffbar sind und Fischern reiche 
Beute versprechen, denn Fische sind 


7) Vgl. auf russischer Seite „Karten der 
russischen und orthodoxen Bevölkerung des 
Cholmer Rußland* mit statistischen Tabel¬ 
len von V. A. Francev, Warschau 1909 
(russisch). 


für die sehr lange fastenden Russen ein 
wichtiges Nahrungsmittel. Die Gebiete 
am Onegasee und am Weißen Meere 
sind das Island des russischen Volks¬ 
epos, der Bylinen, die eine tausendjäh¬ 
rige Geschichte hinter sich haben. Die 
mit der rauhen Natur am Weißen Meere 
kämpfenden Russen sind nicht arm, 
sondern selbstbewußt und nennen die 
Beamten — kaiserliche Bettler. Das ist 
ein interessanter Beitrag zur Geschichte 
der russischen Kolonisation und macht 
uns begreiflich, warum der Provinz¬ 
russe, abgesehen von seiner Geduld, 
verhältnismäßig so leicht die Autokra¬ 
tie und nun den Terror erträgt, denn 
Gott ist hoch, der Zar und nun Lenin 
aber weit. 

Sibirien hat eine russische Kernbe¬ 
völkerung in einem breiten Streifen 
von Omsk bis zum Baikalsee und dann 
bis zur Bogenkrümmung des Amur 
(der letzte große Ort ist Nertschinsk), 
sonst sind aber nur die Ufer der Flüsse 
und auch des Meeres von Russen be¬ 
siedelt. Das Riesengebiet von Sibirien 
ist aber fast ganz russisch (nach Flo- 
rinskij 87 o/o der Bevölkerung, nach 
Niederle allerdings bloß 80,9°/o), doch 
ist die Bevölkerung sehr dünn (0,5 auf 
1 Quadratwerst) und zählte 1897 nur 
gegen 5 Millionen Russen und 3 /* Mil¬ 
lionen der verschiedenartigsten Fremd- 
Völker, die meist in sehr kleinen Grup¬ 
pen, aber auf Riesenflächen weit zer¬ 
streut sind. Überdies hat die russische 
Kolonisation unterdessen sehr stark zu¬ 
genommen; in den nach 1897 folgenden 
9 Jahren sollen nicht weniger als 
1350000 Russen eingewandert sein. 

Die Kolonisten im europäischen und 
asiatischen Rußland sind überwiegend 
Großrussen. Doch gibt es überall, auch 
in Sibirien, Kleinrussen, selten sind 
Weißrussen außerhalb ihres Siedlungs¬ 
gebietes. 


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M. Murko, Die ethnographisdien Verhältnisse Rußlands 




Weißrussen überwiegen nur in vier 
Gouvernements: Mogilev (82,8%), Minsk, 
Wilna (nur 56%) und Vitebsk (52,95 
Prozent); in den anliegenden Gouverne¬ 
ments sind sie nur noch in kleinen 
Prozentsätzen vertreten, am stärksten 
in Smolensk (6,61%). Das kleinrussische 
oder ukrainische Volkstum überwiegt 
in den acht südlichen Gouvernements: 
Poltava (92,98%), Podolien, Charkov, 
Kiew, Wolhynien, Jekaterinoslav, Cerni- 
gov (66,41%) und Cherson (53,48%). 
Stark vertreten ist es noch im Gebiet 
der Kuban-Kosaken, in den Gouverne¬ 
ments Taurien, Stavropol, Voronez 
(36,18%), im Gebiet der Don-Kosaken 
(28®/o) und in den Gouvernements 
Kursk, Bessarabien (19,67%), Grodno 
in Litauen (22,61%), Sedlec in Polen 
(13,97 o/o). 

Im J. 1897 zählte Rußland 128924289 
Einwohner, davon 83933567 Russen, 
daher mit Ausschluß von Finnland 
zwei Drittel (66,8%) der Gesamtbevöl¬ 
kerung. Darunter 55667469 Großrus¬ 
sen, 22380551 Kleinrussen und 5885547 
Weißrussen; demnach Großrussen dop¬ 
pelt soviel als Klein- und Weißrussen 
zusammen. Wenn man noch die Klein¬ 
russen Galiziens (3 340 000), der Buko¬ 
wina (340000) und Ungarns (653000) 
nach der Volkszählung von 1900 hin¬ 
zuzählt, so gab es gegen Ende des vo¬ 
rigen Jahrhunderts Kleinrussen über 
26 Millionen, Russen überhaupt gegen 
88 Millionen. Für spätere Jahre sind 
nur Berechnungen nach dem jährlichen 
Zuwachskoeffizienten möglich, als den 
manche 1,25, andere 1,5 annehmen. Da¬ 
nach hätte Rußland vor dem Kriege 
1914 eine Gesamtbevölkerung von un¬ 
gefähr 141 oder 193 Millionen gehabt, 
während eine Schätzung russischer Sta¬ 
tistiker für 1913 176,4 Millionen ergab. 
Die Wahrheit dürfte also ungefähr in 
der Mitte liegen, und danach sind auch 


die auf 1914 entfallenden Berechnun¬ 
gen nach den obigen Koeffizienten zu 
beurteilen: Russen 105 oder 126 Mil¬ 
lionen, Großrussen gegen 70 oder 83,5 
Millionen, Weißrussen 7356933 oder 
8828520, Kleinrussen gegen 28 oder 
33,5 Millionen (in Rußland allein). Aus¬ 
wanderer, hauptsächlich in Nord¬ 
amerika, sind dabei nicht berücksich¬ 
tigt. 

Nun können wir kurz auch die 
Kernfrage der russischen Ethnogra¬ 
phie erörtern: ist ein Auseinandergehen 
der russischen Stämme in drei Na¬ 
tionalitäten, Schriftsprachen 
und Staatswesen möglich und 
wahrscheinlich? Bei den Weißrussen 
ist das ausgeschlossen, um sie werden 
sich nur die Russen und Polen strei¬ 
ten. Man bedenke nur, daß Mickiewicz 
inNowogrödek im Gouvernement Minsk 
geboren ist und daß die ersten Worte 
seines Epos Pan Tadeusz lauten: „Li¬ 
tauen, mein Vaterland!“ Dieses histo¬ 
rische Litauen mit seiner litauischen 
und weißrussischen Bevölkerung hat 
jeder Pole in sein Herz eingeschlossen. 
Anderseits wird der weißrussische Dia¬ 
lekt zwar sprachwissenschaftlich eifrig 
studiert, besitzt aber nicht einmal eine 
praktische Grammatik, und Versuche, 
das Weißrussische zu schreiben gehen 
über die Dialektschriftstellerei anderer 
Völker nicht hinaus. Eine „Republik 
Weißruthenien“ war daher von vorn¬ 
herein eine Totgeburt. 

Sehr verwickelt ist die Frage bezüg¬ 
lich der Kleinrussen oder Ukrainer, 
über welche die Ansichten stark geteilt 
sind. Es kommt dabei sehr viel auf 
den Ausgangspunkt ,an, was ich am 
nächst liegen den Beispiel deutlich ma¬ 
chen will. Mein Vorgänger in Leipzig. 
A. Leskien, ein hervorragender ver¬ 
gleichender Sprachforscher und slawi¬ 
scher Grammatiker, betrachtete das 


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593 


M. Murko, Die ethnographischen Verhältnisse Rußlands 


594 


Kleinrussische nur als einen Dialekt 
des Russischen. Leskien war ein Deut¬ 
scher aus Kiel, der das Plattdeutsche 
sehr gut kannte. Nun ist der Unter¬ 
schied zwischen Niederdeutsch und 
Hochdeutsch bei weitem größer als 
zwischen Groß- und Kleinrussisch, na¬ 
mentlich im Konsonantismus, worin 
das Niederdeutsche noch auf dem 
Standpunkte der ersten Lautverschie¬ 
bung steht. Ich gehöre jedoch einem 
der kleinsten slawischen Völker an und 
bin in Österreich aufgewachsen, wo 
die Ruthenen Galiziens und der Buko¬ 
wina Sprachenrechte hatten und ihre 
Sprache eifrig pflegten. Wenn nun die 
Ukrainer in Rußland dasselbe tun wol¬ 
len, so ist das ihre Sache, Schriftspra¬ 
chen werden ja nicht von Gelehrten, 
sondern von Schriftstellern geschaffen, 
beim Volke entscheidet aber das Be¬ 
dürfnis oder sein Wille. So faßten auch 
viele tonangebende Russen die Sache 
auf und die Abteilung für russische 
Sprache und Literatur der Petersbur¬ 
ger Akademie der Wissenschaften gab 
1905 auf eine Anfrage der Regierung 
das Gutachten ab, daß die Umgangs¬ 
sprache der Kleinrussen zur Sprache 
der neuen kleinrussischen Literatur ge¬ 
worden und daher ihre Pflege berech¬ 
tigt sei. Politische Bedenken wollten 
die russischen Liberalen nicht gelten 
lassen: z. B. lehnte der Literarhistori¬ 
ker und Ethnograph Pypin den Ver¬ 
dacht eines hochverräterischen Sepa¬ 
ratismus mit der wegwerfenden Frage 
ab, wohin die Kleinrussen abfallen 
könnten. Dem Präsidenten der russi¬ 
schen Abteilung der Akademie, A. 
Sachmatov, dem führenden russischen 
Linguisten, der an dem genannten Gut¬ 
achten stark beteiligt war, bereitete da¬ 
her die Haltung der Ukrainer im Welt¬ 
kriege die größte Enttäuschung und 
mehr Schmerz als die Bauernbanden, 


die sein Gut bei Saratov vernichteten. 
Aber auch Deutschland, das mit einer 
selbständigen Ukraine Frieden schloß, 
wußte mit ihr nichts anzufangen und 
trieb eine dilettantenhafte Schaukel¬ 
politik, die noch heute von der deutsch¬ 
ukrainischen Gesellschaft in Berlin leb¬ 
haft bekämpft wird. Die Hauptschuld 
wird auf die großrussisch orientierten 
Deutschen aus Rußland geschoben. 
Man versteht aber auch leicht den 
Standpunkt eines russischen Deutschen, 
der mit der russischen Schriftsprache 
im ganzen Reich fortkommen will und 
den Wert eines großen Wirtschaftskör¬ 
pers lebhaft fühlt. Vorsichtig und ver¬ 
nünftig behandelt die Frage der Geo¬ 
graph A. Hettner 8 ), welcher erklärt, 
daß die geographischen Verhältnisse 
einer Trennung nicht günstig sind, denn 
die Volksgrenze fällt mit keiner Na¬ 
turgrenze zusammen. Das sieht auch 
ein Laie sofort, wenn er z. B. das Step¬ 
pen- oder Schwarzerdegebiet betrachtet. 
Überdies sind Großrußland und die 
Ukraine wirtschaftlich und auch poli¬ 
tisch aufeinander angewiesen. Nament¬ 
lich wäre die Ukraine, die ohnehin nicht 
alle Volksgenossen umfassen könnte, 
gegenüber ihren mißgünstigen Nach¬ 
barn zu schwach, Rußland kann sich 
aber unter keinen Umständen vom 
Schwarzen Meere verdrängen lassen. 
Und was hätte die Welt von einer 
selbständigen Ukraine? Nach Konstan¬ 
tinopel und nach den Meerengen hätte 
auch sie die Augen gerichtet und müßte 
sich gerade deshalb wieder an Moskau 
anlehnen. Über den Volkswillen der 
breiten Massen kann man sich schwer 
ein Urteil bilden, bezüglich der Schrift¬ 
sprache fand ich aber eine mich ver¬ 
blüffende Statistik im Katalog der rus¬ 
sischen Abteilung der Bugra. Danach 


8) Rußland’, 304. 


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595 


Leo Spitzer, Barbusse und Duhamel 


erschienen 1910 an selbständigen Wer¬ 
ken in russischer Sprache 22 321 Titel, 
in kleinrussischer — 180. Da stehen die 
Ukrainer unter den Völkern Rußlands 
erst an 9. Stelle. Nach der Revolution 
1905 erschienen zwar zahlreiche Zei¬ 
tungen und Zeitschriften, aber es 
scheint ihnen meist kein langes Le¬ 
ben beschieden gewesen zu sein; sonst 
fiel mir aber die große Zahl grammati¬ 
scher und ähnlicher Handbücher auf, 
doch ein 30—40-Millionen-Volk, was 
die Ukrainer sein wollen, braucht et¬ 
was mehr für seine geistigen Bedürf¬ 
nisse. Aus dieser Statistik ersieht man 
aber auch den hohen Kulturwert der 
russischen Sprache, die tatsächlich eine 
Weltsprache für das Riesenreich ist 
und auch an der Spitze der slawischen 
Völker steht, mögen diese im Westen 
noch so sehr fortgeschritten sein. Um 
die geistige Potenz der übrigen Völker 
Rußlands, von denen wir gleich reden 
werden, zu charakterisieren, führe ich 
noch folgende Zahlen an; an zweiter 
Stelle steht die polnische Sprache mit 
2062 Titeln, die jüdische 903, deutsche 
884, lettische 649, esthnische 454, ta¬ 
tarische 313, armenische 203, die fran¬ 
zösische (ohne eine entsprechende Be¬ 
völkerung!) 132, grusinische (georgi¬ 
sche) 117, litauische 103 usw., erst an 
18. Stelle steht der weißrussische Dia¬ 
lekt mit 14. 


• Wir können also von der ukraffi!- 
schen Frage mit der Erkenntnis schei¬ 
den, daß nur eine größere oder klei¬ 
nere Autonomie in Betracht kommt und 
■ für die Pflege der ukrainischen Spra¬ 
che in Rußland noch sehr viel getan 
werden müßte. Parallelen, wie solche 
Fragen gelöst werden können, hat der 
Weltkrieg in slawischen Staaten schon 
gebracht.In der tschechoslowakischen Re¬ 
publik ist die slowakische Sprache im 
ehemaligen nordwestlichen Ungarn, die 
wirklich nur ein wenig verschiedener 
Dialekt des Tschechischen ist, gleich¬ 
berechtigt, doch sind die Slowaken auf 
die tschechische Literatur angewiesen 
und werden es noch lange sein. Im 
neuen südslawischen Staat (Jugosla¬ 
wien) ist neben der serbokroatischen 
Sprache die slowenische gleichberech¬ 
tigt, die mit der serbokroatischen in 
dem Grade verwandt ist, daß die slo¬ 
wenischen Abgeordneten, als in der Na¬ 
tionalversammlung in Belgrad das Pro¬ 
tokoll zum erstenmal auch in slowe¬ 
nischer Sprache verlesen wurde, er¬ 
klärten, das sei nicht notwendig. Ein 
besonders interessantes Beispiel sind 
aber die nach Ungarn verschlagenen 
kleinrussischen Volkssplitter, für die 
eine autonome Provinz innerhalb der 
tschechoslowakischen Republik gebil¬ 
det wurde. (Schluß folgt.) 


Barbusse und Duhamel. 

Von Leo Spitzer. 


Den Abstand Barbusses von seinen 
französischen Zeitgenossen können wir 
ermessen — und wir müssen ihn sorg¬ 
lichst abmessen, um das Frankreich 
von heute nicht mißzuverstehen wie 
das von 1914/18 —, wenn wir seine 
Kriegsschilderung mit der Duhamels 


vergleichen: das Werk „Vie des Mar- 
tyrs 1914—1916“ spielt an derselben 
Stätte wie das Kapitel „Le poste de 
secours“ in „Le feu“, im Feldspital. 
Wenn etwas uns von der Vieldeutig¬ 
keit der Dinge, sofern sie menschlicher 
Beobachtung unterworfen werden, und 


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597 


Leo Spitzer, Barbusse und Duhamel 


598 


der Mannigfaltigkeit der menschlichen 
Beobachtungen, die verschiedene 
menschliche Individuen am selben Ob¬ 
jekt machen können, überzeugen kann, 
so ist es von alters her die Auffassung 
des Krieges durch verschiedene Be¬ 
obachter gewesen: Duhamel und Bar¬ 
busse sind Zeitgenossen, beide Fran¬ 
zosen, beide scharfe Beobachter und 
glänzende Darsteller volkstümlichen 
menschlichen Empfindens, besonders 
des menschlichen Leidens, beide von 
der Ungeheuerlichkeit dieses Krieges 
und des Krieges überhaupt überzeugt; 
und sie gelangen trotzdem nicht nur zu 
entgegengesetzten Urteilen über die 
„Lehre“, die aus dem Beobachteten zu 
ziehen sei, sie beobachten auch Ent¬ 
gegengesetztes. Es ist, als ob der Mensch 
nicht bloß der Spiegel aller Dinge sei, 
die Dinge scheinen auch abhängig vom 
beobachtenden Subjekt. 

Duhamel ist Beobachter wie Bar¬ 
busse: er will nicht das kleinste De¬ 
tail unterdrücken: „Pas une ride de 
votre visage ne m’6chappe“, — so sagt 
er zu den Verwundeten (Vie des Mar- 
tyrs, S. 228) — „pas une de vos an- 
goisses, pas un ffemissement de votre 
chair lacöfee. Et j’inscris tout cela, 
comme j’inscris vos paroles simples, vos 
cris, vos soupirs d’espoir, comme j’in¬ 
scris aussi l’expression de votre visage, 
ä l’heure solennelle oü l’on ne parle 
plus. Aucun de vos propos ne m’est in¬ 
different; aucun de vos gestes qui ne 
merite d’ötre rapporfe. II faut que tout 
oela contribue ä l’histoire de la grande 
6preuve“. Das ist also das Programm 
der Naturtreue, der Hingegebenheit ans 
Objekt — aber dies Objekt selbst zieht 
in der Darstellung naturgemäß von dem 
beobachtenden Subjekt an, es vermi¬ 
schen sich die Grenzen zwischen Ob¬ 
jekt und Subjekt. In der Verteilung der 
Proportionen liegt das Geheimnis ver¬ 


schiedenen Sehens. Auch Duhamel sieht 
gelegentlich den Egoismus der Men¬ 
schen im Kriege, wenn er von dem 
Spiel der Leidenschaften spricht, die 
selbst am Bette der Verwundeten nicht 
haltmachen (S. 208), wenn er die Lum¬ 
pensammler erwähnt, die in den Trüm¬ 
mern der Zerstörung nach ihrer Ware 
suchen (S. 209), oder etwa die sittliche 
Verdorbenheit der Soldaten, an deren 
Leichen man oft Frauenbriefe oder Lie¬ 
dertexte findet, die man den Hinter¬ 
bliebenen nicht zukommen lassen kann 
(S. 132), die Betulichkeit der heuchle¬ 
rischen Caritas, wenn er die bonnes 
Mesdames, die die Spitäler besuchen, 
des öfteren apostrophiert, zurechtweist, 
ihnen die wahrhaft Kranken zeigt. Aber 
im allgemeinen sieht Duhamel doch 
den französischen Soldaten, umstrahlt 
von der Leidensglorie des Märtyrers, in 
idealer Überlebensgroße. Duhamel malt 
wie seine romantischen Vorgänger 
„grandeur et servitude militaires“, oder, 
wie er sagt, man muß „retraoer dans 
sa v6rife et sa simplicife votre histoire 
de victimes fcmissaires, l’histoire de ces 
hommes que vous ötes dans la dou- 
leur“. Die Leiden des französischen 
Soldaten geben eine „majestueuse le- 
9on“, vor der die ganze Welt andächtig 
sich neigen möge (S. 229). Duhamel 
ist gelegentlich auf dem Wege zur so¬ 
zialistischen Lehre Barbusses von der 
gegenwärtigen ungleichen Verteilung 
des Leidens, wenn er von der isolie¬ 
renden Kraft des Leidens spricht 
(S. 196): „En döpit de toute protestation 
de Sympathie, l’ötre, dans sa chair, 
souffre toujours solitairement, et c’est 
aussi pourquoi la guerre est pos- 
sible ...“ Aber er hat nicht das Zeug 
zum Revolutionär oder zum Politiker: 
er begnügt sich, das Leiden des Sol¬ 
daten zu schildern, und wie ein braver 
Chirurg an der Front verzichtet er an- 


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Leo Spitzer, Barbusse und Duhamel 


600 


gesichts des drängenden Gebots der 
Stunde auf alles Philosophieren über 
Ursprung und Zweck, Berechtigung und 
Sinn des Krieges, Es ist soviel zu tun 
und zu helfen, da darf man nicht grü¬ 
beln und denken. „Eh bien, soit! soit! 
Pour moi, je veux rester ä cette place, 
entre les brancards chargös d’une 
grande douleur. Voici l’heure, oü l’on 
peut douter de tout, de l’homme et du 
monde, et du sort que l’avenir röserve 
au droit. Mais on ne peut pas douter de 
la souffranoe des hommes. Elle est la 
seule chose certaine ä cet instant du 
sifecle. Je resterai donc ä m’enivrer de 
cette sinistre 6vidence“ (S. 209/10). 
„Vous tous, Messieurs, qui vous r6unis- 
sez pour parier des causes de la guerre, 
de la fin de la guerre, de l’usure des 
effectifs et des bases de la sociötü fu- 
ture, excusez-moi de ne point vous 
donner mon opinion sur ces graves 
questions; je suis vraiment trop occupü 
par la plaie de ce malheureux Gr6- 
goire.“ Duhamel zieht den Rahmen sei¬ 
ner Bilder ganz eng: er versenkt sich 
mit seinem ganzen Herzen in das Lei¬ 
den der Menschheit, er beschreibt bloß, 
und gewiß ist mit diesem Minus, der 
Absage an die Gedanken des Tages 
und der Öffentlichkeit, ein künstleri¬ 
sches Plus, eine Verinnerlichung seiner 
Darstellung, verbunden. Jeder Franzose, 
ob Scharf- oder Flaumacher, wird wider¬ 
spruchslos Duhamel lesen können, wäh¬ 
rend Barbusse bei seinen französischen 
Durchschnittslesern auf Schritt und 
Tritt auf Widerspruch stoßen wird. 

Und doch ist Duhamel nicht apoli¬ 
tisch, wie es auch der brave Chirurg, 
an den wir erinnerten, nicht sein wird, 
der am Feierabend oder auf Urlaub ge¬ 
wiß einer ganz bestimmten politischen 
Richtung gegenüber seine Zustimmung 
äußern wird, wie es überhaupt niemand 
sein konnte, der diese je nachdem bald 


groß, bald klein genannte Zeit denkend 
miterlebte: Duhamel verfolgt auch eine 
Tendenz, nur ist diese Tendenz weni¬ 
ger lehrhaft abgelöst von dem Bericht, 
sie ist organisch verwebt in diesen und 
scheint desto zwingender, je mehr sie 
erraten werden kann. 

Und ferner: Duhamel ist mehr tra¬ 
ditioneller Franzose als Barbusse, der 
nur in seinem Aufklärungsglauben auf 
gut französischem Boden steht, aber mit 
seinem Internationalismus und Euro- 
päertum das Erbe der Väter verleugnet. 
Wie Duhamel sein Thema möglichst eng 
zu begrenzen suchte (das Leid des fran¬ 
zösischen Märtyrersoldaten), so hat er 
auch in nationaler Beziehung sich wil¬ 
lentlich Schranken unterworfen: es han¬ 
delt sich selbstverständlich nur um den 
französischen Soldaten. Gleich die 
ersten Zeilen des ersten Kapitels ziehen 
den Rahmen: „Des campagnes dfefigurees 
oü le canon regne, jusqu’ aux mon- 
tagnes du Sud, jusqu’ä l’Ocüan, jusqu’au 
rivage ötincelant de la mer inte- 
rieure, le cri des hommes blesses re- 
tentit ä travers le territoire et, de par 
le monde, un immense cri semblable 
s’616ve et lui r6pond“ — Frankreich 
allein leidet und die Welt hört seinen 
Leidensruf. Und nun ein paar Stücke 
aus dem letzten Kapitel: „Hommes de 
mon pays, j’apprends chaque jour ä 
vous connaitre, et c’est pour avoir con- 
templ6 votre visage au fort de la souf¬ 
franoe que j’ai forme un espoir reli- 
gieux en l’avenir de notre race. C'est 
surtout pour avoir admirö votre rösigna- 
tion, bontfe native, votre oonfianoe sereine 
en des temps meilleurs, que je fais en- 
core credit ä l’avenir moral du monde. 
A l’heure möme oü l’instinct le plus 
naturel enseigne ä l’univers la feroöte, 
vous gardez, sur vos lits de douleur, 
une beaut6, une puretö du regard qui 
rachetent, ä elles seules, 1’immense 


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<301 


Leo Spitzer, Barbusse und Duhamel 


602 


crime. Hommes de France, votre naive 
grandeur d’äme disculpe toute l’hu- 
manitö de son plus grand crime et la 
relöve de sa plus profonde döcheance. 

... Unions des coeurs purs pour 
l’6preuve! Union des coeurs purs pour 
que notre pays se connaisse ets’admire! 
Union des coeurs purs pour la rödem- 
ption du monde malheureux“ — Frank¬ 
reichs Leiden erlöst die Welt. 

Also die traditionelle französische 
Auffassung der Franzosen als Diener 
der Weltkultur, als Märtyrer für die 
Menschheit, als Erlöser der Menschheit, 
eine „le^on morale“, die, wenn auch in 
einer niemand verletzenden Form gebo¬ 
ten, doch in der Selbstverherrlichung 
gipfelt, ein Stück uneingestandener Kul¬ 
turpropaganda für das Franzosentum 
und also doch nicht so apolitisch, wiees 
zuerst den Anschein hatte. Gewiß, Du¬ 
hamel denkt oft an die Menschheit (so 
wenn er einen Abschnitt mit dem Sto߬ 
seufzer beendet, die Menschheit habe 
niemand, der ihr in ihrem fortschrei¬ 
tend gefährlicher werdenden Leiden 
beistehe wie dem kranken Soldaten der 
Pfleger, S. 150), aber er sieht doch 
vor allem Franzosen vor sich, und es 
scheint ihm nicht der für den Euro¬ 
päer so einfache Gedanke zu kommen, 
daß auch drüben, jenseits der fran¬ 
zösischen Frontlinie, Menschen mit dem¬ 
selben Heroismus leiden und eben¬ 
solche Märtyrer der Menschheit darstel¬ 
len, ja daß diese Parallelität des Lei¬ 
dens bei den beiden Feinden ein tra¬ 
gischer Zug des Kriegerlebens genannt 
werden könnte. Nur schüchtern heißt 
es etwa anläßlich des Heiterkeitsbe¬ 
dürfnisses der schmerzgepeinigten 
„Märtyrer“ (S. 128): „C’est peut-ötre 
une des particularit6s ou des gran- 
deurs de notre race, c’est sans 
doute, plus g6n6ralement, un 
i m p 6 r i e u x besoin de 1’ h u m a n i 16 


entiere.“ Die Solidarität der Mensch¬ 
heit ist bei Duhamel nicht zu spüren: 
gerade der Abschnitt „La troisiöme Sym¬ 
phonie“, der ein Zugeständnis an den 
Feind bedeuten sollte, die Erzählung 
von jenem haßerfüllten kriegsgefan- 
genen deutschen Feldwebel Spät, der 
sich nur für einen Augenblick aufhei¬ 
tert, als der behandelnde Arzt ein Mo¬ 
tiv der Beethovensymphonie pfeift, 
zeigt, wie alle inneren Brücken zwi¬ 
schen Frankreich und Deutschland ab¬ 
gebrochen sind: „Par-dessus l’abime, un 
fröle pont venait d’etre tendu soudain.. 
La chose dura quelques secondes, et 
j’y revais taujours, quand je sentis de 
nouveau tomber sur moi une ombre 
glaciale, irrfevocable, qui 6tait le re- 
gard adversaire de Monsieur Spät.“ Du¬ 
hamel ist kindisch genug, die Schuld 
am innern „Abgrund“ bloß der anderen 
Seite zuzuschieben. Das ist wieder Po¬ 
litik... Gewiß, Duhamels Patriotismus 
hat nichts von der Renommierverve 
eines Renö Benjamin (dessen Ga spar d 
vor allem Pariser und bloß eine Um¬ 
kostümierung des mit Bonmots wie 
mit dem Leben spielenden Gavroche 
ist); er ist durch Leiden verinnerlicht, 
ein Patriotismus, der nicht zur selbst¬ 
gewissen moralischen Feistheit bei¬ 
trägt, sondern stets durch Taten, durch 
Dulden erprobt werden muß. Ja, aus 
dem Dulden und Leiden selbst kann 
er erst induziert werden: die Toten 
eines Soldatenfriedhofs scheinen Du¬ 
hamel im Chor zuzuflüstern (S. 96): 
„II y a donc quelque chose de plus 
precieux que la vie, il y a donc quel¬ 
que chose de plus n6cessaire que la 
vie... puisque nous sommes id.“ Das 
ist diskret genug ausgedrückt — aber 
es ist der Ausdruck des opfervollen 
Patriotismus. 

Aus demselben Objekt, dem Krieg, 
hat Duhamel eine patriotische „le^on“. 


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604 


603 Robert Gradmann, Die Erdkunde und ihre Nachbarwissenschaften 


Barbusse sein Programm eines vater¬ 
landslosen Weltbürgertums herausge¬ 
lesen. 

Beide begegnen sich in der Kriegs¬ 
feindschaft. Duhamel betrachtet den un¬ 
ermeßlichen Jammer des Krieges als 
Sühne der Sünde des Krieges, Bar¬ 
busse als Blutzeugen gegen diese Sünde, 
die vertilgt werden müsse. Der Tra¬ 
ditionalist sieht im selben Objekt eine 
Stütze des Bestehenden, in dem der 
Revolutionär den wankenden Grund der 
gegenwärtigen Weltordnung erblickt. 
Der Traditionalist ist stets akademi¬ 
scher, zurückhaltender, vornehmer, der 
Revolutionär drastischer, krasser, ge¬ 
walttätiger im Ausdruck wie im In¬ 
haltlichen. Barbusse hat in sein auf 
dem Hilfsplatz spielendes Kapitel alle 
möglichen Scheußlichkeiten des gemar¬ 
terten menschlichen Fleisches und da¬ 
neben alle mögliche Theorie und ab¬ 
strakte Betrachtungen hineingestopft, 
während Duhamel in seinem Buche 
mehr die innerliche Seelenverfassung 
der fleischlich Gemarterten malt, dabei 
sorgsam alles Allzukrasse mildernd, das 
blutrote Gemetzel in den Spitälern mit 
den sanftesten Tönungen des seelischen 
Leidens versetzend, estompierend, und 
nur mit den Gedanken seiner Soldaten 
— fast hätte ich gesagt: Patienten — 

Die Erdkunde und ihre 

Von Robert 

Die Geographie ist eine der ältesten 
und eine der jüngsten Wissenschaften, 
eine der bekanntesten und eine der un¬ 
bekanntesten. Herodot war bei weitem 
nicht ihr erster Vertreter; aber in den 
Kreis ihrer akademischen Schwestern 
ist sie kaum erst seit einem Menschen¬ 
alter als ebenbürtige Gespielin aufge¬ 
nommen worden. So glaubt jedermann 
genau zu wissen, was man unter Geo- 


denkend. Dem Feinnervigen wird das 
Vergeistigte, Versöhnliche an Duhamel 
besser behagen als die rücksichtslose 
Derbheit Barbusses. Duhamel ist mehr 
Klassizist, Barbusse mehr Naturalist. 
Jener will erbauen und belehren, dieser 
empören und zum Aufruhr reizen. Der 
eine ist ein vornehmerer Künstler, der 
andere ein leidenschaftlicherer Volkstri¬ 
bun. Für den einen ist die Parole Frank¬ 
reich, für den anderen die Vereinigten 
Staaten der Welt, wenn auch jener 
Frankreich für die Welt arbeiten las- 

i 

sen, dieser sein Projekt durch Frank¬ 
reich verwirklicht sehen möchte. Und 
so wird denn der Franzosen freund lie¬ 
ber nach Duhamels Martyrologium, der 
gute Europäer nach dem Feuerbuche 
greifen. Um Duhamels Buch zu schrei¬ 
ben. war vor 'allem ein französisches 
Herz notwendig, zu dem Barbusses der 
Mut des Einsamen. Duhamel hat Frank¬ 
reich, Barbusse die Internationale hin¬ 
ter sich. Aber da letztere von keiner ' 
kompakten Majorität, keinem Terri¬ 
torium, keiner positiven Macht ge¬ 
stützt wird und nur im Reiche der 
Gedanken lebt, ist wohl Duhamel vor¬ 
derhand reichlicherer Gefolgschaft sicher 
— Barbusse bleibt der mutige Rufer 
in der Wüste. 

Nachbarwissenschaften. 

Gradmann. 

graphie versteht, und doch herrscht 
über ihre wahren Ziele große Unklar¬ 
heit bis in die Kreise der Höchstge¬ 
bildeten. 

Sie hat eigentümliche Schicksale ge¬ 
habt. Im Altertum hat sie bereits eine 
Zeit hoher Blüte durchlebt. Aber ihre 
allzu vielseitige Nützlichkeit und prak¬ 
tische Verwendbarkeit ist ihr immer 
wieder zum Verhängnis geworden. Von 


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605 


Robert Gradmann, Die Erdkunde und ihre Nachbarwissenschaften 


606 


allen Seiten wurde sie als Hilfswissen¬ 
schaft in Anspruch genommen, als 
Hilfswissenschaft, die ja nur oberfläch¬ 
lich betrieben zu werden braucht, und 
ihre wahre Bestimmung hatte man 
darüber ganz vergessen. Wie nun im 
letzten Drittel des neunzehnten Jahr¬ 
hunderts unter Führung von Oskar 
Peschei die Geographie als Wissen¬ 
schaft wieder einmal entdeckt wurde, 
wie man erkannte, daß sie aus ihrer 
Aschenbrödelstellung befreit und wie 
jede Wissenschaft um ihrer selbst wil¬ 
len betrieben werden muß, um ihre 
ganze Tiefe, Kraft und Schönheit zu 
offenbaren — da fand es sich, daß das 
angestammte Gut der Entrechteten teils 
verwahrlost, teils in fremde Hände 
übergegangen war. Es kostete Mühe, 
auch nur Grenzen und Umfang des 
zuständigen Gebiets wieder festzustel¬ 
len. Das Ganze in eine feste Ordnung 
zu bringen, ein wohlgegliedertes Lehr¬ 
gebäude aufzurichten, wie es andere 
Wissenschaften unter allgemeiner An¬ 
erkennung längst besitzen, das ist bis 
heute noch nicht gelungen. Die Geo¬ 
graphie ist hier in der gleichen Lage 
wie ganz junge Wissenschaften, wie 
etwa die Anthropologie, die Prähistorie, 
die Sozialwissenschaft. 

Diesen Übergangszustand möglichst 
bald zu überwinden, die Merkmale der 
Unreife möglichst gründlich abzustrei¬ 
fen, muß das angelegentliche Bestre¬ 
ben aller Fachvertreter sein. Mit be¬ 
sonderem Danke begrüßen wir daher 
die Möglichkeit, vor einem so ansehn¬ 
lichen Gerichtshof wissenschaftlich Ge¬ 
bildeter unsere Auffassung darzulegen 
und, so viel an uns ist, die brennenden 
Prinzipienfragen ihrer Lösung entge- 
genzu führen. 

1 . 

Die Grundfrage ist bereits gelöst; es 
brauchen nur noch die Folgerungen 


I 

gezogen zu werden. Die Stellung 
der Erdkunde im System der Wis¬ 
senschaften hat Alfred Hettner in 
vollkommen überzeugender Weise fest¬ 
gelegt. Man kann eine Gruppe von 
konkreten Wissenschaften unterschei¬ 
den, wozu neben den beschreibenden 
Naturwissenschaften die Völker- und 
Staatenkunde, die Wirtschaftslehre, die 
Sprach-, Religions- und Kunstwissen¬ 
schaft gehört. In allen diesen Wissen¬ 
schaften lassen sich die Gegenstände je 
von drei verschiedenen Standpunkten 
aus betrachten, entweder nach ihren 
sachlichen Eigenschaften oder nach 
ihrer zeitlichen Entwicklung oder nach 
ihrer räumlichen Anordnung. Das erste 
ist die systematische, das zweite die 
geschichtliche, das dritte die geogra¬ 
phische Betrachtungsweise. 

Natürlich steht es jedem Vertreter 
der einzelnen systematischen Wissen¬ 
schaften frei, die dreifache Betrach¬ 
tungsweise gleichzeitig an seinem Ge¬ 
genstände .durchzuführen, also neben¬ 
bei auch historisch und geographisch 
zu arbeiten. Allein anerkanntermaßen 
genügt es nicht, daß der Jurist Rechts¬ 
geschichte, der Nationalökonom Wirt¬ 
schaftsgeschichte, ein anderer Kriegs¬ 
und Staatengeschichte, Kunst-, Litera¬ 
tur- oder Religionsgeschichte betreibt. 
Es muß auch eine Universalgeschichte 
geben, und dazu bedarf es beson¬ 
derer Historiker, deren Lebensberuf 
es ist, die Entwicklung der Gesamtkul¬ 
tur nach allen ihren Zweigen und deren 
gegenseitigem Ineinandergreifen durch 
die einzelnen Zeitalter hindurch zu er¬ 
forschen und zur Darstellung zu 
bringen. 

Was für die Geschichte, die Zeitwis¬ 
senschaft, gilt, das gilt ebenso für die 
Raumwissenschaft, die Geographie. Es 
genügt nicht, daß der eine die Gestal¬ 
tung der Erdrinde, ein anderer die 


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€07 


Robert Gradmann, Die Erdkunde und ihre Nachbarwissenschaften 



Verbreitungsverhältnisse der Pflanzen¬ 
welt, ein dritter die räumliche Anord¬ 
nung der Menschenrassen, der Völker 
und Staaten, der Wirtschafts- und Sied¬ 
lungsformen je über den ganzen Erd¬ 
ball verfolgt. Es bedarf noch der Unter¬ 
suchung und Darstellung, wie alle die 
einzelnen Erscheinungsreihen innerhalb 
der einzelnen Erdräume Zusammenwir¬ 
ken und ineinandergreifen. Dies ist die 
Lebensaufgabe des Geographen. Mit 
anderen Worten: die Geographie ist 
ihrem Wesen nach nichts anderes als 
Länderkunde, dasselbe, was ein Hero- 
dot, ein Ptolemäus und Strabo, was 
Sebastian Münster und Karl Ritter ge¬ 
trieben haben und was man auch im 
gewöhnlichen Leben allgemein unter 
Geographie versteht. 

Die neuere wissenschaftliche Auf¬ 
fassung der Geographie unterscheidet 
sich von der vulgären nur durch Merk¬ 
male, die im Begriff der Wissenschaft 
selber liegen. Sie kann sich nicht be¬ 
gnügen mit den einfachsten, an der 
Oberfläche liegenden geographischen 
Tatsachen, wie sie für manche prak¬ 
tischen Zwecke ja wohl ausreichend 
sein mögen; sie muß wie jede Wissen¬ 
schaft nach Gründen fragen, den Ur¬ 
sachen der Erscheinungen nachforschen. 
Da die einzelnen Erscheinungsreihen, 
wie Klima, Boden, Pflanzenwelt, 
menschliche Wirtschaft, Siedlung und 
Verkehr, in mancherlei Wechselwirkung 
stehen, so führt die kausale Betrach¬ 
tungsweise ganz von selbst zu einer 
besonders innigen Verknüpfung der 
verschiedenen Erscheinungsreihen, und 
es kommt so das in sich geschlossene, 
harmonische Landschaftsbild zustande, 
das jedem Geographen als begeistern¬ 
des Ziel vorschweben muß und das 
bei der zergliedernden Betrachtungs¬ 
weise der einzelnen systematischen 
Wissenschaften so leicht verloren geht. 


Und da die Ursachen der gegenwärti¬ 
gen Zustände großenteils in der Ver¬ 
gangenheit liegen, kommt mit der kau¬ 
salen zugleich die genetische Auffas¬ 
sung, der entwicklungsgeschichtliche 
Gedanke, kommt ein historischer und 
erdgeschichtlicher Zug in die Geogra¬ 
phie herein, der dem Fernerstehenden 
leicht als Fremdkörper erscheinen mag. 
Der Geograph darf den neu errunge¬ 
nen Standpunkt schon deshalb nicht 
preisgeben, weil die erklärende, an die 
Entwicklungsgeschichte anknüpfende 
Beschreibung meistens zugleich die 
beste, anschaulichste und bei aller 
Kürze inhaltreichste Beschreibung über¬ 
haupt ist. Wenn ich von einem 
Vulkan, einem Maare, einem glazialen 
Trogtal, einem Kar, einer Anschwem¬ 
mungsküste, einer Kliffküste, einem 
Waldhufendorf rede, so habe ich da¬ 
mit jedesmal die Entstehung angedeu¬ 
tet, zugleich aber dem Kenner eine sol¬ 
che Fülle von Merkmalen dargeboten, 
wie sie eine rein formale Beschreibung 
niemals in gleicher Kürze enthalten 
könnte. 

So klar und einfach die Auffassung 
der Geographie als Länderkunde ist, 
so ist sie doch im Rahmen des allge¬ 
meinen Systems der Wissenschaften 
völlig neu und muß sich gegenüber 
älteren Formulierungen, die heute noch 
nicht ganz überwunden sind, erst 
durchsetzen. Bei der Wiederentdeckung 
der Geographie als Wissenschaft suchte 
man begreiflicherweise die Ziele mög¬ 
lichst hoch zu stecken. Man knüpfte 
an die Problemstellung an, wie sie im 
Altertum Anaximander von Milet und 
Pythagoras, wie sie später Varenius, Im¬ 
manuel Kant und Alexander von Hum¬ 
boldt sich zu eigen gemacht hatten: 
man trieb allgemeine Geographie im 
Sinne einer Wissenschaft von der Erde, 
wozu der Name „Geographie“ oder 


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609 


Robert Gradmann, Die Erdkunde und ihre Nachbarwissenschaften 


610 


„Erdkunde“ noch besonderen Anreiz 
bot. Also nicht bloß Raumwissenschaft 
sondern zugleich systematische Wis¬ 
senschaft vom Erdganzen sollte sie 
sein. Nun ist eine solche allumfassende 
Wissenschaft von dem Planeten, auf 
dem wir leben, gewiß ein erhabener 
Gedanke; allein für seine Durchführung 
wäre heute auch Humboldts Geist an 
Spannweite nicht mehr ausreichend. 
Die allgemeine Erdwissenschaft müßte 
neben einem tüchtigen Stück Astrono¬ 
mie die höhere Geodäsie, die gesamte 
Geophysik, mindestens die gesamte all¬ 
gemeine Geologie, daneben die Völker¬ 
kunde und eine Reihe von Geisteswis¬ 
senschaften umfassen. Jede dieser Diszi¬ 
plinen ist inzwischen zur selbständi¬ 
gen Wissenschaft herangewachsen, die 
für sich allein imstande ist, ein ganzes 
Menschenleben auszufüllen. Sie alle ne¬ 
beneinander gründlich zu betreiben, ist 
heute ein Ding der Unmöglichkeit, und 
es besteht auch gar kein Bedürfnis da¬ 
für, da jede von ihnen längst in guten 
Händen ist. Trotzdem wirkt die fehler¬ 
hafte Begriffsbestimmung immer noch 
nach und bringt die Geographie in den 
falschen Verdacht einer Allerweltswis¬ 
senschaft, die alles mögliche und nichts 
gründlich betreibt. 

Freiherr Ferdinand von Richtho- 
fen war der erste, der gegenüber sol¬ 
chen allzu hoch gesteckten Zielen seine 
geographische Meisterschaft in der Be¬ 
schränkung bewährt hat. Er erkannte, 
daß die Grenzen der Geographie viel 
enger gezogen werden müssen, und er 
hat sie in der praktischen Durchfüh¬ 
rung bereits ganz ähnlich gezogen, wie 
dies die neue Richtung tut; sie kann ihn 
geradezu als ihr Vorbild in Anspruch 
nehmen. Allein nach dem treffenden 
Ausdruck dafür hat er vergeblich ge¬ 
rungen. Die Geographie als „Lehre von 
der Erdoberfläche“ ist keine glückliche 

Internationale Monatssdirift 


Wendung; sie läßt die verschiedensten 
Deutungen zu, und ganz entgegenge¬ 
setzte Auffassungen, teils viel zu ein¬ 
seitige, teils viel zu weite, konnten 
sich auf sie berufen. 

Für uns ist die Länderkunde der 
Kern, ja das eigentliche Wesen der Geo¬ 
graphie, und die allgemeine Geographie 
ist nichts als Einleitungswissenschaft; 
sie hat die Aufgabe, alle diejenigen 
Kenntnisse zu vermitteln, die für das 
Verständnis und den kunstgerechten 
Betrieb der Länderkunde erforderlich 
sind. Sie tritt damit in eine dienende 
Stellung zurück und muß sich von den 
Bedürfnissen der Länderkunde ihre 
Aufgaben vorschreiben lassen. Diese 
sind weit bescheidener, als das abge¬ 
lehnte Programm einer allgemeinen 
Wissenschaft von der Erde sie verlangt. 

Mit dieser strafferen Zusammenfas¬ 
sung glauben wir auch unserer akade¬ 
mischen Aufgabe am besten zu dienen. 
Denn wenn im Lauf der letzten Jahr¬ 
zehnte allenthalben an deutschen Hoch¬ 
schulen Lehrstühle der Geographie er¬ 
richtet worden sind, so geschah das 
schwerlich, um enzyklopädische Kom¬ 
pilationen aller auf die Erde bezüg¬ 
lichen Wissenschaften vortragen zu las¬ 
sen, vielmehr um die heute doppelt 
notwendige Kenntnis fremder Länder 
und die vertiefte Kenntnis des eigenen 
Vaterlandes und damit auch die Liebe 
zu ihm zu vermitteln und in weiten 
Schichten auszubreiten. 

2 . 

Auch bei solcher Selbstbeschränkung 
bleibt die Geographie nicht von der 
Auflage befreit, ihr Arbeitsfeld 'in Wei¬ 
tem Umfang mit den Nach bar wis&n- 
schaften zu teilen und sich somit fast 
beständig auf Grenzgebieten zu bewe¬ 
gen Wer ein Land beschreiben will, 
muß die eigentümliche Gestaltung der 

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611 Robert Gradmann, Die Erdkunde und ihre Nachbarwissenschaften 612 


festen Erdrinde und die Verteilung der 

Gewässer beschreiben, er muß Klima 
und Pflanzendecke berücksichtigen, 
muß sich eingehend auch mit den Be¬ 
wohnern und deren Werken beschäfti¬ 
gen, schon deshalb, weil sie der Kul¬ 
turlandschaft die entscheidenden Züge 
aufgeprägt haben. Die Geographie teilt 
geradezu jedes ihrer Objekte mit an¬ 
deren Wissenschaften: das liegt in der 
Natur der Sache und läßt sich nicht 
ändern, mögen sich auch noch so ver¬ 
wickelte und unbequeme Rechtsver¬ 
hältnisse daraus ergeben. 

Die Geschichtswissenschaften sind in 
einer ähnlichen und doch weit gün¬ 
stigeren Lage. Die ältesten Perioden 
der Erdgeschichte bis zum Erscheinen 
des Menschen sind ausschließlich Sache 
des Geologen; die Urgeschichte behan¬ 
delt der Prähistoriker nach eigenen 
Methoden, und nur die jüngsten Perio¬ 
den bleiben dem eigentlichen Histori¬ 
ker überlassen. Hier spielen die natür¬ 
lichen Veränderungen der Erdober¬ 
fläche nur noch eine untergeordnete 
Rolle, und so kann der Historiker auf 
eine engere Fühlung mit den Naturwis¬ 
senschaften ungestraft verzichten. Diese 
Arbeitsteilung ist eine wesentliche Er¬ 
leichterung. Der Geograph hat es nicht 
so gut; er hat es, ob er nun Mittel¬ 
europa oder die Südseeinseln, ob er 
Tropenland schäften oder solche des ge¬ 
mäßigten Gürtels zu seinem Arbeits¬ 
gebiet erwählt, stets mit der Natur und 
dem Menschen zu tun, und ist dadurch 
zu einer fast beängstigenden Vielsei¬ 
tigkeit gezwungen. 

Freilich verfährt die Länderkunde nicht 
mehr in der naiv dilettantischen Weise, 
daß planlos alles nur Erdenkliche her¬ 
beigezogen wird, was innerhalb des 
einzelnen Erdraums irgendwie „sehens¬ 
würdig“ oder sonst „bemerkenswert“ 
erscheint. Es lassen sich recht wohl 


feste Grundsätze dafür aufstellen, was 
geographisch bedeutsam ist und was 
nicht; auch aus der Geographie der 
einzelnen Erscheinungsreihen entneh¬ 
men wir für die Länderkunde nur eine 
Auswahl nach ganz bestimmten Ge¬ 
sichtspunkten. Aber Unmögliches hat 
man versucht, wenn man jene Grenz¬ 
gebiete so aufteilen wollte, daß ein be¬ 
stimmter Anteil dem Geographen, ein 
anderer dem Vertreter der entsprechen¬ 
den systematischen Wissenschaft als 
selbständiges Arbeitsgebiet zufällt. So 
wollte man die Klimatologie ausschlie߬ 
lich der Geographie Vorbehalten; die 
Physik sollte sich auf die Meteorologie 
beschränken. Die Verbreitung der ein¬ 
zelnen Wirtschaftsformen über die 
ganze Erde sollte lediglich Sache des 
Nationalökonomen sein, der Geograph 
sollte sich nur mit den wirtschaft¬ 
lichen Verhältnissen der einzelnen Erd¬ 
räume beschäftigen oder gar nur mit 
den natürlichen Grundlagen der 
menschlichen Wirtschaft. Mit dem glei¬ 
chen Recht könnte man verlangen, daß 
der Botaniker sich auf die Verbreitung 
der einzelnen Sippen, der Geograph 
auf die botanische Ausstattung der ein¬ 
zelnen Erdräume beschränkt. Solche 
künstlich aufgerichteten Schranken sind 
nur dazu da, um von beiden Seiten be¬ 
ständig übersprungen zu werden. Man 
muß sich ein für allemal damit abfin- 
den, daß alle diese Grenzgebiete unteil¬ 
bare Kondominate sind, mit allen Un¬ 
bequemlichkeiten dieses eigentümlichen 
völkerrechtlichen Verhältnisses, Arbeits¬ 
felder, zu deren Beackerung jede der 
beiden Nachbarwissenschaften gleiches 
Anrecht hat. Der Unterschied besteht 
nur darin, daß der Geograph anders 
betont als der Systematiker, daß er auf 
das landschaftlich Bedeutsame und 
geographisch Wirksame besonderen 
Nachdruck legt und andere Dinge, mö- 


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Robert Gradmann, Die Erdkunde und ihre Nachbarwissenschaften 


614 


gen sie von sonstigen Gesichtspunkten 
aus noch so bemerkenswert sein, in 
den Hintergrund treten läßt. 

Zur Länderkunde gehört vor allem 
die Länderbeschreibung. Der Geograph 
hat daher in erster Linie alles das zu 
berücksichtigen, was einen wesent¬ 
lichen Bestandteil der unmittelbar sinn¬ 
lich wahrnehmbaren Landschaft aus¬ 
macht; das verstehen wir unter dem 
landschaftlich Bedeutsamen. Um die 
volle Würdigung dieses Gesichtspunkts 
hat sich besonders Otto Schlüter 
verdient gemacht. Daneben gibt es aber 
eine große Anzahl von Tatsachengrup¬ 
pen, die ohne unmittelbar in der Land¬ 
schaft hervorzutreten, durch ihre Wirk¬ 
samkeit gegenüber anderen Erschei¬ 
nungsreihen um so bedeutungsvoller 
werden. Dazu gehören z. B. klimatolo- 
gische Werte wie Luftdruck, mittlere 
Luftwärme, mittlere Niederschlagshöhen 
oder auch kulturgeographische Erschei¬ 
nungen wie politische Grenzen, Ver¬ 
breitung der Sprachen, der Religions¬ 
bekenntnisse. Das verstehen wir unter 
dem geographisch Wirkungsvollen. 

Das Rechtsverhältnis des Kondomi¬ 
nats erleidet nur ganz wenige Ausnah¬ 
men. Gewisse Grenzgebiete sind bisher 
von den systematischen Wissenschaf¬ 
ten vernachlässigt und der Geographie 
zur alleinigen Bearbeitung überlassen 
worden; kraft eines vorläufigen Ver¬ 
zichts gelten sie daher einstweilen als 
deren alleiniges Eigentum. Aber dieses 
Verhältnis ist jeden Tag kündbar. So 
hat im Altertum und bis tief in die 
Neuzeit herein die Topographie, die 
Feststellung der Lageverhältnisse, als 
wuchtigster und unveräußerlicher Be¬ 
standteil der Geographie gegolten; das¬ 
selbe galt bis vor kurzem für die Völ¬ 
kerkunde. Heute sind sie beide zu selb¬ 
ständigen Disziplinen herangewachsen. 
Die politische Geographie, als Wissen¬ 


schaft erst vor zwei Jahrzehnten von 
dem Geographen Friedrich Ratzel 
ins Leben gerufen, wird neuerdings 
durch den Schweden Kjellön ener¬ 
gisch und mit Erfolg für die neue 
Wissenschaft der Staatenkunde in An¬ 
spruch genommen, und nicht minder 
eifrig wird jetzt unter der Marke der 
Weltwirtschaft von nationalökonomi¬ 
scher Seite Wirtschafts- und Verkehrs¬ 
geographie getrieben. Die Nachbarwis¬ 
senschaften machen damit nur von 
ihrem guten Rechte Gebrauch. 

Im Alleinbesitz der Geographie befin¬ 
det sich augenblicklich nur noch die 
Geomorphologie und die Siedlungsgeo¬ 
graphie. Öie Geomorphologie oder die 
Lehre von den Formen der Erdober¬ 
fläche und ihrer Entstehung muß 
grundsätzlich als ein Grenzgebiet zwi¬ 
schen Geographie und Geologie ' an¬ 
erkannt werden. Aber während diese 
Disziplin für den Geologen nur unter¬ 
geordnete Bedeutung hat und bisher 
von seiner Seite nur wenig beachtet 
wurde, ist sie für den Geographen die 
unerläßliche Grundlage jeder länder¬ 
kundlichen Darstellung. Seit ihrer Ent¬ 
deckung durch Oskar Peschei und 
ihrem ersten Ausbau durch Ferdi¬ 
nand v. Richthofen und Albrecht 
Penck wird sie daher von den Geo¬ 
graphen aufs eifrigste gepflegt, und 
man darf wohl sagen, mit glänzendem 
Erfolg. Aber unbestrittener Alleinbesitz 
ist sie schon jetzt nicht mehr. Be¬ 
reits haben einzelne Geologen begon¬ 
nen, von dem gemeinsamen Grenz¬ 
gebiet auch ihrerseits Besitz zu er¬ 
greifen, und in der Folge wird dies 
sicher noch in größerem Umfang ge¬ 
schehen; eine Mitarbeit, über die wir 
uns nur freuen können. Ebenso kann 
eines Tages die Siedlungskunde als 
eigene Wissenschaft erstehen und von 
der älteren Schwesterwissenschaft ihren 

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Robert Gradmann, Die Erdkunde und ihre Nachbarwissenschaften 


616 


Anteil an der Siedlungsgeographie for¬ 
dern. 

So dürfte bald von den sämtlichen 
Erscheinungsreihen, mit denen es die 
Länderkunde zu tun hat, keine einzige 
mehr der Geographie zur alleinigen 
Bearbeitung zur Verfügung stehen. 
Aber auch dann bleibt dem Geogra¬ 
phen noch ein großes, selbständiges 
Arbeitsfeld; das ist die Verknüpfung 
der verschiedenen Erscheinungsreihen. 
Sie kann im Rahmen der Länderkunde, 
aber auch in Form von besonderen 
Einzeluntersuchungen erfolgen. 

Die Länderkunde macht niemand dem 
Geographen streitig. Wenn sich ein an¬ 
derer darin versucht, so ist er sich be¬ 
wußt, in diesem Augenblick als Geo¬ 
graph tätig zu sein, und eine kunstge- 
gerechte Ausführung wird schwerlich 
gelingen ohne die besondere geogra¬ 
phische Vorbildung, zu der die gleich¬ 
zeitige Beherrschung einer Reihe von 
Grenzgebieten ganz wesentlich gehört. 

Eine solche vielseitige Vorbildung be¬ 
fähigt aber auch allein zu einer be¬ 
stimmten Klasse von Einzeluntersuchun¬ 
gen, deren Eigentümlichkeit in der Ver¬ 
knüpfung scheinbar entlegener Erschei¬ 
nungsreihen besteht. So ist es zwar für 
jeden Botaniker selbstverständlich, daß 
er, um die Verbreitung einer beliebigen 
Pflanzenart zu erklären, auf Klima- und 
Bodenverhältnisse zurückgreifen muß. 
Ebenso ist jedem Statistiker wohlbe¬ 
kannt, durch welche Ursachen eine ört¬ 
liche Zusammenballung der Bevölke¬ 
rung bedingt sein kann: hohe Boden¬ 
fruchtbarkeit, Vorkommen von minera¬ 
lischen Bodenschätzen, günstige Ver¬ 
kehrslage, politische Begünstigung, und 
daß er sich mit all diesen Verhältnis¬ 
sen vertraut machen muß, um das Pro¬ 
blem zu lösen. Aber es gibt auch ent¬ 
ferntere und weniger auf der Hand 
liegende Beziehungen. So lassen sich 


ganz unerwartete Zusammenhänge er¬ 
kennen zwischen Pflanzengrenzen und 
Siedlungsgrenzen. In den TropenLUn- 
dern knüpft sich eine dichtere Bevöl¬ 
kerung, wie besonders Ratzel gezeigt 
hat, stets an die Steppen- und Savan¬ 
nengebiete; die weiten Regenwaldge¬ 
biete sind fast menschenleer. Die Ver¬ 
breitung der Araber zeigt gewisse Be¬ 
ziehungen zur Verbreitung der Dattel¬ 
palme, oder um ein Beispiel aus der 
Nähe zu wählen: die Grenzen des frän¬ 
kischen Nadelholzgebiets fallen annä¬ 
hernd zusammen mit dem rätischen und 
obergermanischen Limes des einstiger. 
Römerreiches. Besonders merkwürdige 
Beziehungen bestehen auch zwischen 
Siedlungsformen und bestimmten Orts¬ 
namenformen, weiterhin zwischen vor¬ 
geschichtlicher Besiedlung und anderer¬ 
seits der Verbreitung bestimmter Pflan¬ 
zengruppen und bestimmter Nieder¬ 
schlagsverhältnisse, Zusammenhänge 
die auf den Gang der Besiedlungsge¬ 
schichte und damit auf die Grundlagen 
der heutigen Siedlungsverhältnisse 
überraschende Lichter werfen. Kaum 
jemand anders als der Geograph ist in 
der Lage, alle diese Zusammenhänge 
überhaupt zu bemerken, geschweige 
denn zu enträtseln. Der Naturforscher 
hat in der Regel mit der Geschichte 
und Völkerkunde, der Historiker mit 
den Naturwissenschaften zu wenig Füh¬ 
lung. Für den Geographen liegt hier 
eines der lohnendsten Arbeitsgebiete 
wo er seinen Scharfsinn üben und den 
Vorteil seiner vielseitigen Vorbildung 
ausnützen kann. Hier winkt ihm reiche 
Beute an neuen, nur ihm allein zugäng¬ 
lichen Entdeckungen. 

3. 

Für die Selbständigkeit und das An¬ 
sehen einer Wissenschaft ist es beson¬ 
ders förderlich, wenn sie neben einem 


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Robert Gradmann, Die Erdkunde und ihre Nachbarwissenschaften 


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gut abgegrenzten Stoffgebiet auch über 
besondere Arbeitsweisen verfügt, die 
ihr alleiniges geistiges Eigentum und 
nur dem Fachmann erreichbar sind, 
so wie etwa die Medizin, die Physik 
und Chemie, die biologischen Wissen¬ 
schaften mit ihren mikroskopischen 
und experimentellen Untersuchungsme¬ 
thoden oder die Geologie mit ihrer 
paläontologischen Methode. Auch nach 
dieser Richtung nimmt die Geographie 
eine kaum beneidenswerte Sonderstel¬ 
lung ein: sie ist besonders reich an 
Methoden, aber arm an solchen, auf die 
sie ein ausschließliches Anrecht be¬ 
sitzt. 

Es ist ein verhängnisvoller Irrtum, 
wenn man glaubt, die erwünschte Ar¬ 
beitsteilung etwa in der Weise durch¬ 
führen zu können, daß die einzelnen 
Grenzgebiete von den Vertretern der 
entsprechenden systematischen Wissen¬ 
schaften je mit ihren besonderen geo¬ 
logischen, botanischen, physikalischen, 
historischen, vom Geographen aber aus¬ 
schließlich mit geographischen Metho¬ 
den zu bearbeiten wären. Damit würde 
man zu jenem unerträglichen Zustande 
zurückkehren, daß jeder seine eigene 
Methode für die alleinseligmachende 
hält, daß man z. B. in vorgeschichtlichen 
Fragen, wie das der treffliche Viktor 
Hehn getan hat, vom philologischen 
Standpunkt aus für falsch erklärt, was 
von einem anderen, etwa dem archäo¬ 
logischen, unzweifelhaft feststeht. Es 
gibt nur eine Wahrheit, und sie muß 
mit allen verfügbaren Erkenntnismit¬ 
teln gesucht werden. Wer auf einem 
Grenzgebiet selbständig forschen will, 
muß sich auch mit den Methoden der 
Nachbarwissenschaft unbedingt vertraut 
machen. Aus der großen Zahl der geo¬ 
graphischen Grenzgebiete ergibt sich 
damit für die Geographie eine noch 
größere Vielheit von Methoden, die den 


Nachbarwissenschaften zu entlehnen 
sind. 

Daneben verfügt die Erdkunde aller¬ 
dings noch über einige besondere For- 
schungs- und Darstellungsmethoden, 
auf die ihr ein geistiges Eigentums¬ 
recht unzweifelhaft zusteht. Allein auch 
sie verbürgen noch nicht die unabhän¬ 
gige Stellung der Geographie. Teils ge¬ 
hören sie nicht mehr ihr allein an, 
teils sind sie nur in Verbindung mit 
anderen Methoden verwendbar. 

Die kartographische Methode oder 
die Kunst, sich in Form eines Grund¬ 
risses eine genaue Übersicht über be¬ 
liebige räumliche Verhältnisse an der 
Erdoberfläche zu verschaffen, war von 
jeher mit der Geographie aufs engste 
verbunden und wird noch heute von 
ihr als vornehmstes und unschätzbares 
Darstellungsmittel und neuerdings, seit 
die Land- und Seekartenwerke großen 
Maßstabs vorliegen, immer mehr auch 
als Forschungsmittel benutzt. Aber die 
Verbindung mit der Geographie hat 
sich gleichwohl gelockert. Aus der 
Kartographie ist eine eigene technische 
Wissenschaft in Verknüpfung mit der 
Geodäsie geworden, und zugleich ist 
ihre Handhabung in so weite Kreise ge¬ 
drungen und findet so mannigfaltige 
Verwendung für technische und wis¬ 
senschaftliche Zwecke aller Art, daß man 
von einer rein geographischen Methode 
hier längst nicht mehr sprechen kann. 

Daß die Geographie sich eine eigene 
Kunstsprache geschaffen hat und sie 
zu immer größerer Klarheit und 
Schärfe auszuarbeiten strebt, daß sie 
ihr Gebiet, das ist die Erdoberfläche, 
durch Gliederung in „natürliche Land¬ 
schaften“ zu bemeistern sucht, vermag 
ihr ebensowenig eine besondere Stel¬ 
lung zu verschaffen; ganz dasselbe tun 
auch andere Wissenschaften auf ihrem 
Gebiete. 


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Robert Gradmann, Die Erdkunde und ihre Nachbarwissenschaften 


620 


Etwas der Geographie Eigentümliches 
scheint dagegen die jetzt sehr viel an¬ 
gewandte sogenannte morphologische 
Methode. Sie besteht darin, daß man 
aus den Formen der Erdoberfläche un¬ 
mittelbar auf die Art ihrer Entstehung 
zurückschließt. Man schließt z.B. aus 
dem Vorkommen von Flußterrassen auf 
wiederholte, durch eine Ruhelage un¬ 
terbrochene Talvertiefung, aus einer be¬ 
stimmten Form des Talquerschnitts auf 
ehemalige Vergletscherung, aus be j 
stimmten Küstenformen auf Küstenzer¬ 
störung durch die Meeresbrandung 
oder auch auf Küstenhebung und Ko¬ 
stensenkung. Auch die vielgenannte 
„deduktive“ Methode der Amerikaner 
unter Führung von W. M. Davis ist 
nichts anderes als die morphologische 
Methode in etwas abenteuerlicher Ver¬ 
schleierung. — Die Anwendung der 
morphologischen Methode erfordert be¬ 
sondere Vorsicht und Besonnenheit: sie 
hat der Geographie die überraschend¬ 
sten Erfolge, aber auch manche emp¬ 
findliche Niederlage gebracht. Wirtnüs¬ 
sen uns darüber klar sein, daß die Ge¬ 
fahr des Zirkelschlusses hier ganz be¬ 
sonders naheliegt: aus den Formen der 
Erdoberfläche schließen wir auf ge¬ 
wisse Vorgänge, und diese Vorgänge 
sollen ihrerseits wieder die Ober¬ 
flächenformen erklären. Nach gesun¬ 
den wissenschaftlichen Grundsätzen 
darf die morphologische Methode im¬ 
mer nur ein Notbehelf sein; stets muß 
es unser Bestreben sein, die Vorgänge, 
durch die wir die Formen erkLären wol¬ 
len, womöglich anderweitig, nament¬ 
lich auf geologischem Wege, nachzu¬ 
weisen. Es war daher gegenüber Os¬ 
kar Peschei ein bedeutender Fort¬ 
schritt, wenn Ferdinand von Richt¬ 
hofen die Morphologie entschieden 
auf geologische Grundlage stellte, und 
ebenso gewiß ist es ein Rückschritt, 


wenn sich die amerikanische Schule 
aufs neue darauf versteift, ganz ohne 
geologische Hilfsmittel, ausschließlich 
mit rein geographischen Methoden Mor¬ 
phologie treiben zu wollen. 

Übrigens ist die morphologische Me¬ 
thode nur ein spezieller Fall des auch 
sonst geübten Rückschlusses aus der 
geographischen Gegenwart auf die hi¬ 
storische Vergangenheit. So schließt 
man in gewissen Fällen aus der Ver¬ 
breitung der Pflanzen auf deren Ein¬ 
wanderungsgeschichte, aus gewissen 
Tatsachen der Tierverbreitung auf ehe¬ 
malige Landverbindungen zwischen den 
Kontinenten; so benutzt man die Ver¬ 
breitung bestimmter Siedlungsformen zu 
Rückschlüssen auf den Gang der Sied¬ 
lungsgeschichte. Solche Rückschlüsse 
haben stets einen besonderen Reiz; aber 
hinter jedem lauert die gleiche Gefahr 
des Zirkelschlusses, und jedesmal ist. 
wenn das Ergebnis nicht Hypothese 
bleiben soll, die Ergänzung durch eine 
anderweitige Erkenntnisquelle dringend 
geboten. 

Ähnlich verhält es sich mit der eben¬ 
falls vielgeübten und besonders frucht¬ 
baren Methode der geographischen Ver¬ 
gleichung, einer besonderen Form der 
Induktion. Bald handelt es sich um 
Vergleichung verschiedener Erdräume, 
bald um Vergleichung verschiedener 
Erscheinungsreihen oder um beides zu¬ 
gleich; aber jedesmal sind es Verbrei¬ 
tungsbilder, Kartenbilder, entweder aus¬ 
geführte oder nur gedachte, die mitein¬ 
ander verglichen werden. Es ist nicht 
ganz dasselbe, was Oskar Peschei, und 
auch nicht, was Karl Ritter unter „ver¬ 
gleichender Erdkunde“ verstanden hat. 

Die wertvollsten Dienste leistet die 
Methode als Prüfstein für vermutete 
Zusammenhänge, die bereits auf an¬ 
derem Wege erschlossen worden sind. 
Ein Beispiel aus der Siedlungsgeogra- 


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Robert Gradmann, Die Erdkunde und ihre Nachbarwissenschaften 


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phie. Die sog. Weilersiedlungen, d. 
h. die Ortschaften, deren Namen die 
Endung -weder als Grundwort enthal¬ 
ten, hat man auf römischen Ursprung 
zurückgeführt, weil das Wort, alt vi- 
lare, ohne Zweifel mit dem lateinischen 
villa zusammenhängt. Ist die Ansicht 
richtig, dann muß sich die Verbreitung 
der Weilersiedlungen auf das altrömi¬ 
sche Siedlungsgebiet beschränken. Dies 
trifft am Mittelrhein tatsächlich zu, aber 
gar nicht in Franken, wo die Ortsna¬ 
men mit der Endung -weder beträcht¬ 
lich über den römischen Limes hinaus¬ 
greifen, und auch nicht im Schwarz¬ 
wald, wo sie häufig sind in einem Ge¬ 
biet, das nachweislich erst im Mittel- 
alter gerodet wurde. Die Hypothese 
hat die Probe durch das Kartenbild 
nicht bestanden. 

Weit häufiger wird aus der Überein¬ 
stimmung der Verbreitungsbilder selbst 
erst ein innerer Zusammenhang er¬ 
schlossen. Legt man sich eine Karte 
über die Verbreitung des Nomadentums 
an und vergleicht sie mit einer pflan¬ 
zengeographischen Karte, so stellt sich 
heraus, daß die nomadische Lebens¬ 
weise an Wüsten- und Steppenländer 
gebunden ist. Sie ist demnach eine 
Anpassung an die Landesnatur und 
nicht, wie schon die Griechen lehrten 
und wie die Schulmeinung bisher all¬ 
gemein annahm, eine Kulturstufe, die 
angeblich jedes Volk zu durchlaufen 
habe; sie ist, wie Eduard Hahn ge¬ 
zeigt hat, ein geographisches, kein ge¬ 
schichtliches Phänomen. 

Aber nicht immer ist der Zusammen¬ 
hang so eindeutig. Oft wird auf Grund 
einer nur beiläufigen Übereinstimmung 
ein bestimmter Zusammenhang vermu¬ 
tet, der sich dann bei genauerer und 
umfassenderer Anwendung der verglei¬ 
chenden Methode als nicht stichhaltig 
erweist. Im Bereich alemannischer Sied- J 


lung treten Ortsnamen mit der Endung 
-ingen besonders häufig auf, ebenso 
häufig im fränkischen Siedlungsgebiet 
die Namen auf -heim. Auf Grund die¬ 
ser und ähnlicher Beobachtungen hat 
Wilhelm Arnold eine eingehende 
Siedlungsgeschichte deutscher Land¬ 
schaften aufgebaut und ist damit zu Er¬ 
gebnissen gelangt, die sich in wesent¬ 
lichen Beziehungen als verfehlt erwie¬ 
sen haben. Dagegen bestätigt sich 
durch Vergleichung mit der archäolo¬ 
gischen Fundkarte, die Arnold ver¬ 
schmäht hat, daß beide Namenendun¬ 
gen einer sehr frühen Siedlungsperiode 
angehören. Während daher z.B. das 
Regnitztal bis Forchheim herauf zu den 
frühbesiedelten Gegenden zu rechnen 
ist, muß die Umgebung von Erlangen 
und Nürnberg, wo altertümliche Na¬ 
men fehlen und dafür Namen auf -reut, 
-lohe, -bach, -dorf um so häufiger sind, 
erst im Mittelalter gerodet worden sein, 
wie überhaupt der größte Teil von 
Mittelfranken. Diesem Umstand ver¬ 
dankt man die zahllosen, weit ausein¬ 
andergezogenen, oft so malerisch zwi¬ 
schen die Wälder und Obstgärten ein¬ 
gestreuten kleinen Weiler und auch 
eine eigentümliche Flureinteilung, die 
eine Zersplitterung des Grundbesitzes 
und das Uberhandnehmen kleinbäuer¬ 
licher Verhältnisse weniger begünstigt, 
als dies in den großen geschlossenen 
Dörfern des älteren Kulturlandes am 
Rhein, Main und Neckar der Fall ist. 

Der überaus häufige methodische 
Fehler, daß man sich mit der ersten 
besten Lösung begnügt und sie durch 
die geographische Übereinstimmung 
ohne weiteres für erwiesen hält, läßt 
sich meist nur durch eine sorgfältige 
sachliche Untersuchung beseitigen, wo¬ 
bei außergeographische Methoden nicht 
zu entbehren sind. August Grise- 
bach hat den geistvollen Gedanken 


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Robert Gradmann, Die Erdkunde und ihre Nachbarwissenschaften 


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gehabt, die Grenzlinien der einzelnen 
Pflanzenareale mit der von Humboldt 
erdachten Methode der Isothermen zu 
verknüpfen. Schon diese Leistung allein 
hätte genügt, ihm einen dauernden 
Platz unter den bahnbrechenden För¬ 
derern der Pflanzengeographie zu si¬ 
chern. Deckt sich eine Pflanzengrenze, 
wie z. B. die Polargrenze des Wein¬ 
stocks in Mitteleuropa, mit einer Iso¬ 
therme des wärmsten Monats, so ist an¬ 
zunehmen, daß der Pflanze hier durch 
ungenügende Sommerwärme ein Ziel 
gesetzt ist. Entspricht sie einer Iso¬ 
therme des kältesten Monats, wie etwa 
die Ostgrenze der Stechpalme in 
Deutschland, so ist auf Frostempfind- 
iichkeit zu schließen. Mit vollem Recht 
hatte Grisebach ursprünglich die For¬ 
derung aufgestellt, die vorgenommene 
Deutung des geographischen Zusam¬ 
menhangs müsse jedesmal durch un¬ 
mittelbare botanische Beobachtung erst 
bestätigt werden; erst dann sollte die 
betreffende Pflanzengrenze als klima¬ 
tisch bedingte „Vegetationslinie“ gel¬ 
ten. In unseren beiden Fällen ist die 
Bestätigung einfach: die Erfahrung 
lehrt, daß die Rebe jenseits ihrer Po¬ 
largrenze die Beeren nicht mehr ge¬ 
nügend zur Reife bringt, und die Stech¬ 
palme geht, wenn sie außerhalb ihres 
natürlichen Verbreitungsgebiets ge¬ 
pflanzt wird, leicht durch Erfrieren zu¬ 
grunde. Aber sehr bald hat man diese 
Vorsichtsmaßregel außer acht gelas¬ 
sen, hat blindlings jede Pflanzengrenze, 
wenn sie mit irgendwelcher künstlich 
konstruierten klimatischen Linie in an¬ 
nähernde Übereinstimmung zu bringen 
war, als „Vegetationslinie" gedeutet 
und sie als unmittelbare Funktion des 
betreffenden klimatischen Elements auf¬ 
gefaßt. Auch Grisebach selbst ist von 
diesem methodischen Fehler nicht ganz 
freizusprechen. Indem man übersah, daß 


die geographische Übereinstimmung 
auch durch ganz andere, sehr mittel¬ 
bare Zusammenhänge bedingt sein, daß 
sie auch reiner Zufall sein kann, ist 
man zu zahllosen Fehlschlüssen ge¬ 
langt. Eine solche einseitige und feh¬ 
lerhafte Anwendung der geographi¬ 
schen Vergleichung ist es z. B„ wenn 
man die Waldgrenze auf der nörd¬ 
lichen Halbkugel durch die mittlere 
Juliwärme von 10° bestimmt sein läßt. 
Die behauptete Übereinstimmung mit 
der Isotherme ist ohnehin nur eine 
sehr beiläufige, und die genauere bota¬ 
nische Untersuchung lehrt, daß hier 
viel zu mannigfaltige und verwickelte 
Verhältnisse obwalten, als daß sie 
durch bloße Vergleichung mit irgend¬ 
welchen Linien gleicher mittlerer Luft¬ 
wärme erfaßt werden könnten. 

Ein Fall vorschnellen Sehließens aus 
bloßer geographischer Übereinstim¬ 
mung auf einen ganz bestimmten Zu¬ 
sammenhang war es auch, wenn man 
früher die Wüstenländer der Erde all¬ 
gemein als alte Meeresbecken auffaßte, 
nur wegen des Reichtums an Sand- und 
Salzböden und der weithin ebenen Ge¬ 
stalt. Heute sehen wir in dem allen 
nur die Folge des durch die planeta¬ 
rische Lage bedingten trockenen Kli¬ 
mas. Verschärfte geographische Ver¬ 
gleichung, verbunden mit klimatologi- 
schen, morphologischen, geologischen, 
pflanzengeographischen Beobachtungen 
hat uns zu der neuen Erkenntnis ge¬ 
führt. 

So sehen wir überall, wie die Me¬ 
thode der geographischen Vergleichung 
erst der Ergänzung und Nachprüfung 
durch fremde Methoden bedarf. Sie er¬ 
füllt ihren Zweck in erster Linie als 
heuristisches Prinzip. Das tut ihrem 
Werte keinen Eintrag. Auf den richti¬ 
gen Weg zu leiten, ja auch nur neue 
Probleme zu finden und zu neuartigen 


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Ernst Werner, Das Lektorat und die Ausbildung der Neuphilologen 


Gedankengängen anzuregen, kann für 
das Leben und den Fortschritt der Wis¬ 
senschaft mindestens ebenso fruchtbar 
sein wie die abschließende Lösung 
einer gegebenen Frage. 

Es hebt aber auch die Selbständig¬ 
keit der Geographie nicht auf, wenn 
sie mit fremden Methoden zu arbei¬ 
ten gezwungen ist. Nicht die Methode, 
die Fragestellung macht das Wesen der 
einzelnen Wissenschaft aus, und gerade 
dadurch unterscheidet sich die Wis¬ 
senschaft vom Handwerk, daß sie keine 
mechanische Arbeitsteilung kennt, daß 
sie sich nicht an ein bestimmtes Hand¬ 
werkszeug bindet. Der Schmied arbeitet 
mit Hammer und Amboß, der Schlos¬ 
ser mit Schraubstock und Feile, der 
Bader mit Pflaster und Schröpfkopf; 
aber der wissenschaftlich ausgebildete 
Arzt verwendet je nach Bedürfnis ne¬ 
ben den rein medizinischen auch die 
allerverschiedensten physikalischen,che¬ 
mischen, biologischen Methoden. Nicht 
minder erfolgreich bedient sich der Ju¬ 
rist, der Theologe historischer und phi¬ 
lologischer Methoden, und gerade die 


Herübemahme fremder Methoden in die 
eigene Wissenschaft hat häufig bahn¬ 
brechend gewirkt und entscheidende 
Fortschritte begründet. 

Die besonders vielfältige Berührung 
mit anderen Wissenschaften ist das 
Kreuz der Geographie, aber auch ihre 
Zierde. Sie bringt viel Arbeit und Un¬ 
ruhe und birgt auch eigentümliche Ge¬ 
fahren; aber sie bewahrt vor Enge und 
Einseitigkeit. Der Behagliche und Denk¬ 
träge und vor allem, wer zur Flüchtig¬ 
keit und Oberflächlichkeit neigt oder 
wer die Wissenschaft nur als ein Vir¬ 
tuosentum des Gedächtnisses auffaßt, 
der wird in der Geographie noch we¬ 
niger Lorbeeren ernten als anderswo. 
Aber wer den Dingen gerne auf den 
Grund geht, wer zugleich beweglichen 
Geistes ist und die Mühe und Ver¬ 
antwortung nicht scheut, sich je nach 
Bedürfnis bald in naturwissenschaft¬ 
liche, bald in geisteswissenschaftliche 
Probleme und Methoden einzuarbeiten 
und zu vertiefen, der mag es mit der 
Geographie versuchen; er wird loh¬ 
nende Arbeit die Fülle finden. 


Das Lektorat und die Ausbildung der Neuphilologen. 

Von Emst Werner. 


l. 

Es ist in diesen Tagen eine undank¬ 
bare Aufgabe, für die bessere Gestal¬ 
tung des neusprachlichen Unterrichts 
einzutreten. Handelt es sich doch da¬ 
bei in erster Reihe um die Sprache der 
Franzosen und Engländer, die bestrebt 
sind, das staatliche, wirtschaftliche und 
kulturelle Leben unseres Volkes zu zer¬ 
stören. Man ist wenig geneigt, die 
Werke ihrer Dichter und Denker als 
wertvollen Bildungsstoff für unsere Ju¬ 
gend anzusehen, und fordert statt des¬ 
sen gründlichere Beschäftigung mit der 


Muttersprache, mit dem eigenen Schrift¬ 
tum. 

Aber wollte man sich wirklich die 
Freude an Shakespeare, Carlyle und 
Dickens verderben lassen, so würde die¬ 
ser Verzicht doch nichts an der Tat¬ 
sache ändern, daß wir gegenwärtig 
mehr als je auf das Ausland angewie¬ 
sen sind und uns den aus dieser Lage 
sich ergebenden Notwendigkeiten nicht 
entziehen können. 

Schon während des Krieges wurde 
zugestanden, daß sich pianche Irrtümer 
hätten vermeiden lassen, wenn man 


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Ernst Werner, Das Lektorat und die Ausbildung der Neuphilologen 


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nicht nur die staatlichen Einrichtun¬ 
gen, die wirtschaftlichen Verhältnisse, 
sondern auch die Seelenverfassung un¬ 
serer Nachbarn besser gekannt hätte. 
So bekennt z. B., um eine amtliche 
Kundgebung aus dem dritten Kriegs¬ 
jahr anzuführen, die Denkschrift des 
preußischen Kultusministeriums über 
die Förderung der Auslandsstudien (ab¬ 
gedruckt in der Internat. Monatsschrift 
XI 514ff.): „Der Krieg hat auch die, die 
die es noch nicht wußten, darüber auf¬ 
geklärt, wie erschreckend unsere Un¬ 
kenntnis ausländischen Denkens gewe¬ 
sen ist." 

Wenn schon damals, bei Aussicht auf 
günstigen Verlauf des Krieges, Aus¬ 
landsstudien in gesteigertem Umfang 
für nötig angesehen wurden, wieviel 
mehr unter gegenwärtigen Verhält¬ 
nissen! 

Es soll nicht verkannt werden, daß 
die Denkschrift vor allem staatswis¬ 
senschaftliche Kenntnisse, und zwar des 
Auslandes in weitestem Sinne, im Auge 
hat, aber unsere nächsten Nachbarn in 
Westeuropa nicht ausschließt und die 
Erwerbung der erforderlichen Sprach- 
kenntnisse als unentbehrliche Vor¬ 
stufe voraussetzt. Den Grund zu einem 
Wissen letzterer Art legt an der höhe¬ 
ren Schule der Neuphilologe. Ihm sol¬ 
len Sprache und Dichtung, aber auch 
das Geistesleben der Völker, deren 
Sprache er lehrt, vertraut sein. Doch es 
ist ihm gegenwärtig, und wohl noch 
lange, verwehrt, diese Kenntnisse an 
der Quelle zu schöpfen. Daher gewin¬ 
nen die Ausbildungsmöglichkeiten, die 
das eigene Land bietet, erhöhte Bedeu¬ 
tung. 

In die Aufgabe, einzuführen in das 
Studium der fremden Sprache, teilt sich 
an unseren Universitäten der Ordi¬ 
narius mit dem Lektor meist in der 
Weise, daß ersterer, häufig unterstützt 


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von Extraordinarius und Privatdozent, 
vorzugsweise die geschichtliche Seite 
der Sprache, die ältere Zeit der Litera¬ 
tur pflegt, während letzterer die le¬ 
bende Sprache, häufig auch die neuere 
Literatur lehrt. Entspricht dieser Zu¬ 
stand den Anforderungen, die man an 
die Ausbildung der Lehrer neuerer 
Sprachen unter gegenwärtigen Verhält¬ 
nissen stellen muß? 

Offenbar ist man in weiten Kreisen 
der Neuphilologen nicht recht von dem 
augenblicklichen Stand der Dinge be¬ 
friedigt. Daher ist diese Frage auf der 
Vortagung des Allgem. Neuphilologen- 
Verbands behandelt worden, die als 
Vorbereitung für die Hauptversamm¬ 
lung an Pfingsten am 1. und 2. Nov. 
1919 in Halle stattfand. Danach soll, 
nach einem Referat von Geh. Rat 
Voretzsch, u. a. eine Vermehrung der 
Lektorstellen in der Weise gefordert 
werden, daß je ein Deutscher und ein 
geborener Franzose (Engländer) neben¬ 
einander wirken (so schon in der preu¬ 
ßischen Ministerialverordnung vom Ja¬ 
nuar 1919 empfohlen), denen an grö¬ 
ßeren Universitäten noch Assistenten 
beizugeben sind. 

Außerdem soll die Zahl der Professu¬ 
ren für romanische Philologie um zwei, 
die für Englisch um eine vermehrt 
werden. Es geht aus den Leitsätzen 
nicht hervor, daß einer Professur aus¬ 
schließlich oder auch nur vorzugsweise 
die neuere Zeit (Pflege der lebenden 
Sprache) zugewiesen werden soll; viel¬ 
mehr scheint der Wortlaut eine solche 
Teilung auszuschließen („eine schema¬ 
tische Trennung der Lehraufträge nach 
Sprachen oder Disziplinen müßte dabei 
vermieden werden“). Somit bleibt die 
Pflege der lebenden Sprache auch nach 
diesem Vorschlag dem Lektor überlas¬ 
sen; damit steht in Einklang, daß die 
Zahl der Lektoren vermehrt, u. U. auch 


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Ernst Werner, Das Lektorat und die Ausbildung der Neuphilologen 


Unterstützung durch Assistenten ins 
Auge gefaßt ist. 

Es ist kein Zweifel, daß durch die¬ 
sen Vorschlag die Lektorübungen we¬ 
sentlich gefördert werden sollen. Es 
erhebt sich nun die Frage, ob eine der¬ 
artige Maßregel genügt, um das er¬ 
strebte Ziel zu erreichen, oder ob noch 
weitere Schritte erforderlich sind. 

Um darauf eine Antwort geben zu 
können, sei die Stellung des Lektors, 
wie sie sich allmählich gestaltet hat, 
näher untersucht. Eine solche Prüfung 
wird dann zeigen, was von dem Lek¬ 
torat in seiner jetzigen Gestalt oder 
auch in der geplanten Erweiterung er¬ 
wartet werden darf. 

2 . 

Zunächst sei die Art der Besetzung 
betrachtet. 

Häufig wählte man zu Lektoren Aus¬ 
länder, meist solche mit sprachlicher 
und literarischer Fachbildung, wenn 
auch nicht ausschließlich; namentlich 
lautliche Schulung hat manchem ge¬ 
fehlt, wie neuerdings Stiefel auf 
Grund eigener und fremder Erfahrun¬ 
gen hervorhebt (Phonetik im fremdspr. 
Unterr. an Univ. u. Schule, Zeitschr. 
f. frz. u. engl. Unterr. XVIII 2. Heft 
1919, S. 130—35). Immerhin kann ein 
solcher Lektor, der in seinem Sprach¬ 
gefühl einen untrüglichen Maßstab für 
Feinheiten der Aussprache und des 
Ausdrucks besitzt, namentlich den Vor¬ 
geschrittenen wertvolle Hinweise geben. 

Manchmal entschied man sich indes¬ 
sen für einen Inländer, an dessen wis¬ 
senschaftliche Vorbildung man dann 
höhere Ansprüche stellen konnte. Ein 
Deutscher, der die Schwierigkeiten der 
Fremdsprache gewissermaßen am eige¬ 
nen Leibe erfahren hat, wird am 
ehesten in der Lage sein, nicht nur 
etw r aige Verstöße, z. B. in der Lautbil¬ 


dung, sofort zu erkennen, sondern auch 
das Wesen des Fehlers aufzudecken 
und Anleitung zu geben, wie er ver¬ 
mieden werden kann. Er hat den nöti¬ 
gen Abstand, der ihm den Überblick 
über den Gegenstand gewährt, während 
der geborene Engländer mitten drin 
steht, sich über vieles, was ihm von 
Jugend auf vertraut ist, noch nie Re¬ 
chenschaft abgelegt hat. i 

Indessen hat auch diese Lösung einst¬ 
weilen ihre Schattenseite. Ist der deut¬ 
sche Lektor einer Fremdsprache zu¬ 
gleich habilitiert, so wird er in erster 
Linie bestrebt sein, den Nachweis zu 
erbringen, daß er zum wissenschaft¬ 
lichen Vertreter seines Faches geeignet 
ist. Bei der zur Zeit immer noch herr¬ 
schenden hohen Bewertung der ge¬ 
schichtlichen Seite der Sprachforschung 
wird es ihm näher liegen, sein Arbeits¬ 
feld auf dem Gebiet der älteren Sprache 
und Dichtung zu suchen. „Ohne einen 
dicken Wälzer über Zustände vergan¬ 
gener Jahrhunderte gilt niemand als 
professorabel für das Bürgerliche Ge¬ 
setzbuch. Derselbe Zustand auf 
philologischem Gebiet. Die 
Sprachgeschichte, der histori¬ 
sche Lautwandel beherrscht das 
gelehrte Interesse“ (C. H. Becker, 
Gedanken zur Hochschulreform S. 12). 
Das schließt natürlich nicht aus, daß 
ein Privatdozent erfolgreich bestrebt 
sein kann, seine Pflicht als Lektor zu 
erfüllen; aber gerade wenn er ein tüch¬ 
tiger Mann ist, der etwas leistet, wird 
er durch eine Berufung dem Lektorat 
verloren gehen, sobald er sich in dieses 
eingelebt, sobald er wertvolle Erfah¬ 
rungen gesammelt hat, die seiner wei¬ 
teren Tätigkeit auf diesem Gebiet zu¬ 
gute kommen könnten. 

Manches scheint dafür zu sprechen, 
einen Lehrer an einer höheren Schule 
mit dem Lektorat zu betrauen. Man 


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kann aus einer großen Zahl diejenigen 
auswählen, die nicht nur über gründ¬ 
liche Fachkenntnisse verfügen, die sei¬ 
nerzeit im Auslande erworben, im Lauf 
der Berufstätigkeit erweitert, durch Rei¬ 
sen ins Ausland wieder aufgefrischt 
worden sind, sondern die auch in der 
Ausübung ihres Berufes ein gewisses 
Lehrgeschick an den Tag gelegt ha¬ 
ben. Was der Ausländer an der Fülle 
der Kenntnisse vor ihm voraus hat, 
wird er durch geschicktes Lehrverfah¬ 
ren ausgleichen können. Aber er wird 
angestrengt zu arbeiten haben, um aus 
dem vollen schöpfen zu können, na¬ 
mentlich wird er vermissen, daß ihm 
zur Ausarbeitung seiner Vorlesungen 
nicht die reichlicher bemessenen Ferien 
der Hochschullehrer zur Verfügung 
stehen. 

Eine teilweise Entlastung von seinen 
Pflichten an der Schule ist unerläßlich; 
aber auch dann ist es ein Notbehelf, 
der nur für eine beschränkte Zeit am 
Platze ist. Denn bei längerer Dauer 
einer solchen Doppelstellung ist zu be¬ 
fürchten, daß der Oberlehrer seiner 
Schule entfremdet wird. Auch wenn er 
sich bemüht, seinen Unterricht gewis¬ 
senhaft zu erteilen, so leidet doch die 
freie Weiterbildung im Beruf. Er ver¬ 
sagt es sich, einen Gegenstand, der im 
Unterricht aufgetreten ist, zu verfol¬ 
gen; statt Fragen der Erziehung nach¬ 
zugehen, wenden sich in seinen Muße¬ 
stunden die Gedanken der anderen Auf¬ 
gabe zu. So kommt das eigentümliche 
Mißverhältnis zustande, daß der Ober¬ 
lehrer seine Hauptkraft auf sein Neben¬ 
amt an der Universität verwendet, 
während die Schule, die ihm den grö¬ 
ßeren Teil seines Lebensunterhalts ge¬ 
währt, sich mit dem Rest begnügen 
muß. Ein solcher Zustand ist auf die 
Länge für den Oberlehrer unbefriedi¬ 
gend, der Universität, die es doch nicht 


nötig hätte, von der Schule zu borgen, 
wenig würdig, daher als dauernde 
Einrichtung kaum anzustreben. 

Nur vereinzelt findet sich die Lösung, 
daß ein Gelehrter sich ausschließlich der 
Aufgabe widmet, die Studierenden mit 
der lebenden Sprache vertraut zu ma¬ 
chen. Das hat seine triftigen Gründe. 
Das Lektorat wird nämlich nirgends 
als ein vollständiger Lebensbe¬ 
ruf gewertet, vielmehr sind die Be¬ 
züge nur so bemessen, daß ein Pri¬ 
vatdozent sie als Beisteuer für seine 
Wartezeit gerne annimmt, ein Oberleh¬ 
rer, der noch sein volles Gehalt emp¬ 
fängt, damit zufrieden sein kann, 
ebenso ein ausländischer Sprachlehrer, 
dem seine Stellung an der Universität 
als Empfehlung für seinen Privatunter¬ 
richt dient. 

3 . 

Mag nun auch diese Einrichtung ira 
einzelnen noch verbesserungsfähig sein, 
jedenfalls besteht wohl an allen Hoch¬ 
schulen Gelegenheit, sich in den wich¬ 
tigsten Fremdsprachen zu üben. Das 
Bedauerliche ist nur, daß von dieser 
Möglichkeit nicht in dem wünschens¬ 
werten Umfang Gebrauch gemacht 
wird. Es bedarf manchmal nachdrück¬ 
licher Hinweise durch den Ordinarius, 
und auch dann bleiben oft noch diejeni¬ 
gen fern, für die der Besuch am aller¬ 
nötigsten wäre, während strebsame Stu¬ 
denten zuweilen länger als für ihre 
unmittelbaren Zwecke erforderlich an 
den Lektorübungen teilnehmen. So er¬ 
schien z. B. eine Kandidatin wenige Wo¬ 
chen vor der mündlichen Staatsprüfung 
erstmals beim Lektor. Ihre Kenntnisse 
in der Sprache waren so gering, daß sie 
sich vor keiner Schulklasse hätte sehen 
lassen können; sie fiel in der Staats¬ 
prüfung verdientermaßen durch. Noch 
schlimmer als Fälle wie der vorlie¬ 
gende, der ja seine Sühne und hoffent- 


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Ernst Werner, Das Lektorat und die Ausbildung der Neuphilologen 


634 


lieh seine nachträgliche Abhilfe fand, 
sind solche, von denen Stiefel a. a. O. 
berichtet, daß nämlich der Kandidat 
trotz recht dürftiger Kenntnisse in der 
lebenden Sprache noch durchgelassen 
wird und eine Verlegenheit für den Di¬ 
rektor der Anstalt bildet, der er zuge¬ 
teilt wird. 

Diese Abneigung mancher Studieren¬ 
den, sich rechtzeitig mit der Ausbil¬ 
dung in der lebenden Fremdsprache 
zu befassen, verdient wohl eine nähere 
Beleuchtung. Es hat den Anschein, daß 
manche Studenten sich bei der Aus¬ 
wahl ihrer Vorlesungen weniger von 
dem Gegenstand oder der Art des Vor¬ 
trages leiten lassen als von der Erwä¬ 
gung, ob der Dozent auch prüft. Sie 
denken, es genüge, in den Vorlesungen 
und Übungen des prüfenden Dozenten 
einigen Eifer an den Tag gelegt zu 
haben, um bei der Prüfung über et¬ 
waige Klippen hinwegzukommen. Ge¬ 
wiß ist bei der Beurteilung eines Kan¬ 
didaten auch der Eindruck heranzu¬ 
ziehen, den er etwa im Seminar oder 
bei sonstigen Übungen gemacht hat; 
bekanntlich gibt es ganz tüchtige Men¬ 
schen, die eben keine Examensnaturen 
sind. Aber wesentlich anders als ein 
solcher billiger Ausgleich zwischen son¬ 
stiger Bewährung und Prüfungsleistung 
wäre es zu beurteilen, wenn ein Prü¬ 
fender, der selbst vorzugsweise die äl¬ 
tere Sprache und Dichtung in seinen 
Vorlesungen gepflegt hat, bei günsti¬ 
gem Ergebnis auf diesem Gebiet man¬ 
gelhafte Leistungen in der lebenden 
Sprache zu wenig ins Gewicht fallen 
ließe. Es unterliegt keinem Zweifel, daß 
manche Studenten geradezu auf eine 
derartige Bewertung bauen, nicht im¬ 
mer mit Recht, wie obiger Fall zeigt, 
aber auch diese irrige Meinung ist in 
Rechnung zu stellen. 

Daß auch die Extraordinarien diesen 


Mißstand empfinden, zeigen folgende 
Auslassungen: „Der Ordinarius hat die 
Pflichtkollegs zu lesen ..., er hat die 
Prüfungen abzuhalten und damit über 
das Schicksal der Studenten zu ent¬ 
scheiden. ... Die Pflichtkollegs besu¬ 
chen sie überwiegend ... bei demjeni¬ 
gen Mann, der sie nachher zu prüfen 
hat, dessen besondere Ansichten und 
ev. Liebhabereien sie kennen lernen und 
auf die sie sich rechtzeitig einstellen 
wollen“ (Schmeidler, Grundsätzliches 
zur Universitätsreform, Leipzig 1919, 
S. 33). 

4. 

Soll nun die Wirksamkeit des fremd¬ 
sprachlichen Lektors in der Weise ge¬ 
steigert werden, daß sie einen mög¬ 
lichst vollwertigen Ersatz für Aufent¬ 
halt im Ausland bietet, so kämen zu¬ 
nächst zwei Dinge in Betracht: Er muß 
eine wirkliche Lebensstellung 
erhalten (etwa mit dem Gehalt eines 
Oberlehrers) und an der Staatsprü¬ 
fung beteiligt sein, soweit die le¬ 
bende Sprache Gegenstand ist. 

Wenn die erste dieser Forderungen 
erfüllt ist, kann der Lektor (was einst¬ 
weilen höchstens vereinzelt der Fall 
ist) seinen Beruf als ausschließliche Be¬ 
schäftigung ausüben. Sein wichtigstes 
Arbeitsfeld wird dann nicht auf einem 
anderen, wenn auch nur wenig ab¬ 
liegenden Gebiet liegen, wie bei dem 
Privatdozenten; seine Kraft wird nicht 
von seinem Hauptamt beansprucht wie 
beim Oberlehrer; er ist nicht vom Pri¬ 
vatunterricht oder sonstigen Nebenver¬ 
dienst in Beschlag genommen wie der 
ausländische Lektor. Er wird mit Muße 
die einzelnen Zweige seines Faches wei¬ 
ter ausbauen, er wird z. B. die Lautbil¬ 
dung — vielleicht die wichtigsten euro¬ 
päischen Sprachen zusammenfassend — 
in Vorlesungen und Übungen in der 
Weise behandeln, daß der junge Neu- 


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635 Ernst Werner, Das Lektorat und die Ausbildung der Neuphilologen 636 


Philologe lernt, wie er in Zukunft mit 
Sicherheit die Fehler seiner Schüler er¬ 
kennen und richtigstellen kann. Der 
Lektor wird durch vertiefte Betrach¬ 
tung einzelner Fragen des Wortge¬ 
brauchs, des Satzbaus zeigen, daß auch 
die lebende Sprache sehr wohl Gegen¬ 
stand wissenschaftlicher Behandlung 
sein kann. Er wird auf Grund umfas¬ 
sender Belesenheit mit den wichtigsten 
geistigen Strömungen neuerer Zeit ver¬ 
traut sein, er wird Bescheid wissen in 
der staatlichen, wirtschaftlichen und 
künstlerischen Entwicklung, den An¬ 
schauungen, Sitten und Gebräuchen des 
Landes, so daß er dem Studierenden 
ein Führer sein kann in der Gedanken¬ 
welt neuerer Schriftsteller, sie anregen 
kann, etwa im Anschluß an etwas ge¬ 
meinsam Gelesenes, in Berichten und 
Vorträgen einzelne Hinweise weiter aus¬ 
zuführen. Auch wird er nicht nur zei¬ 
gen, wie man beim Übersetzen in die 
Fremdsprache den dieser eigenen Aus¬ 
druck und Satzbau findet, sondern 
auch sich bereit finden lassen, schrift¬ 
liche Ausarbeitungen in der Fremd¬ 
sprache, seien es nun Übersetzungen 
oder freie Aufsätze, auf ihre Sprach- 
richtigkeit durchzusehen und seine Vor¬ 
schläge zu einem mehr entsprechenden 
Sprachgebrauch einzutragen. 

Ein Mann, der in diesem Umfange 
sich seiner Aufgabe widmen kann, ist 
der gegebene Vertreter des Faches in 
der Staatsprüfung, wenigstens soweit 
die lebende Sprache deren Gegenstand 
ist. Er wird also den Text der Klau¬ 
surarbeit auswählen, diese beurtei¬ 
len und im mündlichen Teil die Aus¬ 
sprache und Sprachfertigkeit des Kan¬ 
didaten prüfen, vielleicht auch seine 
phonetischen Kenntnisse. Diese Anord¬ 
nung hätte jedenfalls die günstige Wir¬ 
kung, daß auch die minder Strebsamen 
veranlaßt würden, sich etwas mehr mit 


der lebenden Sprache zu befassen. Der¬ 
artige äußere Dinge sollen gewiß nicht 
überschätzt, aber auch nicht ganz au¬ 
ßer acht gelassen werden; denn man 
kann kaum erwarten, daß die Studie¬ 
renden Einrichtungen richtig werten, 
die von der Universität und der Staats¬ 
behörde erst in dritte Reihe gestellt 
werden. 

5 . 

Ist jedoch das Lektorat in dieser 
Weise ausgestattet und ausgestaltet, 
dann wird es nicht schwer fallen, einen 
geeigneten Vertreter zu finden, der be¬ 
reit ist, sich ausschließlich dieser Auf¬ 
gabe zu widmen. Es wird sich empfeh¬ 
len, bei der Auswahl nicht engherziger 
zu verfahren als früher, man wird also 
keine der bisherigen Möglichkeiten aus¬ 
schließen, allerdings auch vom Auslän¬ 
der fachwissenschaftliche Ausbildung 
fordern. Man mag dann, wie in Halle 
gefordert wurde, für Französisch und 
Englisch je einen Deutschen und einen 
Ausländer nebeneinander beschäftigen. 
Schon um der Verschiedenheit der Vor¬ 
kenntnisse willen muß man ja die Übun¬ 
gen in mehrere Stufen zerlegen; außer¬ 
dem darf die Zahl der Teilnehmer nicht 
zu groß sein, damit sich der Lektor 
dem einzelnen, namentlich auf dem Ge¬ 
biet der Aussprache, aber auch bei son¬ 
stigen Übungen, eingehender widmen 
kann. 

Es wäre allerdings noch zu erwägen, 
ob die Zeit schon gekommen ist, Eng¬ 
ländern und Franzosen ein solches Amt 
zu übertragen. Sollten wirklich Deut¬ 
sche aus England und Frankreich einst¬ 
weilen grundsätzlich ausgeschlossen 
sein, so wäre dies ein ernstliches Hin¬ 
dernis dafür, Angehörige dieser Staa¬ 
ten in den öffentlichen Dienst aufzu¬ 
nehmen. Eine Ausnahme wäre höch¬ 
stens solchen gegenüber am Platz, die 


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637 


Ernst Werner, Das Lektorat und die Ausbildung der Neuphilologen 


638 


schon vor dem Krieg in gleicher Eigen¬ 
schaft bei uns tätig waren. Abgesehen 
von letzterem Fall wird man indessen 
kaum vor eine solche Entscheidung ge¬ 
stellt sein, wenn man wirklich tüch¬ 
tige Ausländer gewinnen will. Die äu¬ 
ßeren Daseinsbedingungen, die wir als 
Schicksal unseres Volkes zu ertragen 
wissen, sind nicht verlockend für einen, 
der sich nicht mit uns verbunden fühlt. 
Dagegen finden sich unter den deut¬ 
schen Lehrern, die im Ausland, 
namentlich in England, eine zweite 
Heimat gefunden zu haben 
glaubten, gewiß manche, die den 
oben entwickelten Anforderungen genü¬ 
gen würden. Auf diese Lösung sei hier 
nachdrücklich hingewiesen I 

Im übrigen wird man Wert darauf 
legen, daß man Persönlichkeiten ge¬ 
winnt, die nicht nur die Sprache im 
Land selbst gründlich kennen gelernt 
haben, sondern auch eine gewisse Lehr¬ 
gabe besitzen. Handelt es sich doch 
weniger um Einführung in die For¬ 
schung als um Vorbereitung für den 
Beruf, und zwar durch Übermittlung 
einer Reihe einzelner Kenntnisse, die 
dann unmittelbare Verwendung finden. 

Man wird daher nicht nur junge Ge¬ 
lehrte, die etwa nach längerem Aus¬ 
landsaufenthalt sich zur Verfügung 
stellen, sondern auch in Zukunft Ober¬ 
lehrer für das Lektorat heranziehen. 

Ob man (namentlich im letzteren Fall) 
vorhergehende Habilitation mit demsel¬ 
ben Nachdruck zur Bedingung macht, 
wie Becker (S. 39) für den akademi¬ 
schen Nachwuchs und Spranger 
(Wandlungen im Wesen der Universität 
S. 19 und Anmerkung 9) schon für 
Lehraufträge verlangen, bleibe einstwei¬ 
len dahingestellt. Vielleicht genügt die 
von ersterem für Privatdozenten vorge¬ 
schlagene Befristung. 


6 . 

Eine derartige Entwicklung des Lek¬ 
torats wird von manchen Universitäts¬ 
kreisen wahrscheinlich als ein star¬ 
ker Eingriff in die bestehende Glie¬ 
derung der Hochschullehrer emp¬ 
funden, und es wird wohl nicht 
•an Widerständen fehlen. Sollte in¬ 
folgedessen der. vorgeschlagene Weg 
wirklich ungangbar sein, so könnte man 
schließlich an den Ausweg denken, daß 
ein derartiges Lektorat an der Tech¬ 
nischen Hochschule errichtet würde: 
man hat ja auch den Mathematikern 
auf diese Weise Gelegenheit zu gewis¬ 
sen Vorlesungen und Übungen gebo¬ 
ten, die von der Universität nicht ab¬ 
gehalten werden. Natürlich müßten diese 
Semester bei der Staatsprüfung ange¬ 
rechnet werden. Auch die Handelshoch¬ 
schulen, die ja der lebenden Sprache 
erheblich weiteren Raum gewähren, kö¬ 
rnen in Betracht. Für die Einheitlich¬ 
keit unserer akademischen Bildung wäre 
diese Verweisung von der Universität 
indessen nicht förderlich, wie Becker 
(a. a. O. S. 7) und Mahr holz („Der 
Student und die Hochschule", Berlin 
1919, bes. S. 23) überzeugend darlegen. 
Oder man könnte die Ausbildung in 
der lebenden Fremdsprache der Zeit 
nach der Staatsprüfung, dem Seminar- 
und Probejahr, zuweisen; vielleicht 
müßte dieses dann um ein Jahr ver¬ 
längert, die Universitätszeit entspre¬ 
chend verkürzt werden. Die Ausbil¬ 
dungszeit würde sich dann wie bei 
den Juristen gliedern in 3 7 2 Jahre Uni- 
versitätsstudium und 3 Jahre prak¬ 
tische Berufsbildung (statt 4 1 / 2 + 2). 
Mindestens die lautliche Schulung ließe 
sich nach der ersten Prüfung leicht 
nachholen, während für die sonstigen 
Kenntnisse, namentlich die breite Be¬ 
lesenheit, die ersten Semester geeig¬ 
neter wären, dann wäre keine Ver- 


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639 


Ernst Werner, Das Lektorat und die Ausbildung der Neuphilologen 040 


Schiebung der Zeitdauer nötig. Doch 
auch diesen Ausweg wird man nur 
im äußersten Fall ergreifen; zur Pflege 
der lebenden Sprache soll gerade in 
den ersten Semestern der Grund ge¬ 
legt werden, dagegen das Schulsemi¬ 
nar soll nur anleiten zur praktischen 
Ausübung des Berufes; die wissen¬ 
schaftliche Ausbildung soll in der 
Hauptsache der Universität verbleiben. 

Gegenüber diesen beiden Notbehel¬ 
fen wird vielleicht doch der oben ent¬ 
wickelte Plan Beifall finden. Es ist dies 
um so eher zu erhoffen, als er sich in 
gleicher Richtung bewegt mit einigen 
Hauptforderungen der Hochschul¬ 
reform. So verlangt, um nur die 
neuste Fassung zu nennen, der Antrag 
Dr. Taer, den die deutsche Volkspartei 
im Staatshaushaltsausschuß der Preu¬ 
ßischen Landesversammlung einge¬ 
bracht hat, u. a., daß dauernde Lehrbe¬ 
dürfnisse durch volle Ordinariate zu 
befriedigen sind, und daß alle Assisten¬ 
tenstellen, die nur von wissenschaftlich 
voll durchgebildeten Spezialisten be¬ 
kleidet werden können, in Stellen um¬ 
gewandelt werden, die rechtlich und 
materiell den Oberlehrerstellen gleich¬ 
stehen (beides vorbehaltlich der Finanz¬ 
lage!). In demselben Sinne äußern sich 
Linck („Gedanken zur Universitätsre¬ 
form“, Jena 1919, S. 9f.) und Becker 
(a. a. 0., S. 36; vgl. auch den im An¬ 
hang wiedergegebenen Erlaß des Unter¬ 
richtsministers Haenisch vom 17. Mai 
1919, in dem die Senate und Fakultä¬ 
ten ersucht werden, sich zu der Frage 
der Umwandlung sämtlicher planmäßi¬ 
ger Extraordinariate in persönliche Or¬ 
dinariate zu äußern). Nicht ganz soweit 
geht Schmeidler (bes. S. 42f.), der 
für die Extraordinarien nur eine ange¬ 
messene je nach Art ihres Auftrags ver¬ 
schieden abgestufte Bezahlung ver¬ 
langt; dagegen fordert er, daß sie zu 


den Prüfungen herangezogen wer¬ 
den. Becker nimmt zu letzterer Frage 
nicht Stellung; ihm schwebt das eng¬ 
lische Vorbild vor, wonach kein Pro¬ 
fessor einen Schüler prüft, den er selbst 
ausgebildet hat (S. 63). Auch eine solche 
Lösung wäre gegenüber dem jetzigen 
Zustand ein Fortschritt; näher auf das 
Für und Wider einzugehen, ist hier 
nicht der Ort. 

Was hier für den außerordent¬ 
lichen Professor verlangt wird, 
läßt sich sinngemäß auf die Ver¬ 
hältnisse des Lektors übertra¬ 
gen, von dem allerdings die Hoch¬ 
schulreform bis jetzt nicht zu sprechen 
scheint. Er gehört nach dem Wesen 
seiner Tätigkeit und seiner Aufgabe 
viel mehr zu den Extraordinarien als 
zu den Vertretern freier Künste, mit 
denen er ursprünglich auf gleicher Stufe 
stand. So hat z.B. der Zeichenlehrer 
an der Universität nur Dilettanten 
einige Anleitung zu geben; berufsmä¬ 
ßige Ausbildung im Zeichnen und Ma¬ 
len ist anderswo zu finden. Dagegen 
dem Lektor — wenigstens soweit die 
von ihm vertretenen Sprachen Unter¬ 
richtsfächer höherer Schulen sind — 
ist derjenige Teil der sprachlichen Aus¬ 
bildung des künftigen Oberlehrers an¬ 
vertraut, den er unmittelbar in seinem 
Amt anzuwenden hat. 

Wird also die Stellung des fremd¬ 
sprachlichen Lektors innerhalb des aka¬ 
demischen Lehrkörpers entsprechend 
seiner Bedeutung, wie oben vorgeschla¬ 
gen, gehoben, so wird wie bei den 
Extraordinarien seiner Wirksamkeit erst 
die rechte Grundlage gegeben. Dann 
wird er mit dem wünschenwerten Er¬ 
folg dem künftigen Oberlehrer einen 
wichtigen Teil seiner Berufsbildung 
übermitteln können, und dann erst wer¬ 
den durchweg auf unseren höheren 
Schulen trotz aller zur Zeit bestehen- 


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641 


Nachrichten und Mitteilungen 


642 


den Schwierigkeiten die lebenden 
Fremdsprachen in einer Weise gelehrt 
werden können, die den gesteigerten 
Anforderungen der Jetztzeit gerecht 
wird; sagt doch die genannte Denk¬ 
schrift: Auslandskenntnisse sind 


bei einem Weltvolk nicht nur 
das Rüstzeug für Ausländs¬ 
deutsche und Auslandsinter¬ 
essenten, sondern ein unent¬ 
behrlicher Bestandteil der na¬ 
tionalen Bildung. 


Nachrichten und Mitteilungen. 


Die Zukunft unserer Auslandkunde. 

Der neu aufgeblühten wissenschaftlichen 
Auslandkunde geht es ähnlich wie anderen 
jungen Zweigen unseres Kulturlebens: Ein¬ 
sicht und Wille zu ihrer Förderung sind 
endlich vorhanden, große Pläne stehen vor 
der Verwirklichung — da fehlen die Mittel, 
sie durchzufllhren. Mit einer solchen Gefahr 
bedroht die Entwertung des deutschen Gel¬ 
des die Auslandkunde, soweit sie auf aus¬ 
ländische Quellen angewiesen ist. Die Theo¬ 
rie der Auslandkunde war bereits vor dem 
Kriege auf dem besten Wege. Reich und 
Bundesstaaten wetteiferten in weitausschau- 
enden Plänen zu ihrer systematischen För¬ 
derung; es sei nur an die Denkschriften des 
Reichskanzlers und des preußischen Kultus¬ 
ministers 1 ). an den Organisationsplan des 
Hamburger Ausschusses für Auslandsfor¬ 
schung und an die großzügige Erweiterung 
der Bayerischen Staatsbibliothek im Hin¬ 
blick auf die Auslandsliteratur erinnert. 
Wissenschaftler und Männer des praktischen 
Lebens waren sich über Notwendigkeit und 
Nutzen theoretischer wie praktischer Aus¬ 
landkunde einig; die Öffentlichkeit nahm 
alle Projekte, die wie Pilze aus der Erde 
schossen, günstig auf. Eine natürliche Ar¬ 
beitsteilung trat insofern ein, als sich die 
Universitäten mehr auf die geisteswissen¬ 
schaftliche, die technischen und Fachschulen 
auf'die technisch-wirtschaftliche, die doppel- 
staatlichen Gesellschaften auf die kulturelle 
Seite der Frage einstellten. Einen guten 
Überblick über die Gesamtheit der Institute, 
ihre Veranstaltungen und Veröffentlichungen 
gibt der letzte Halbjahresbericht von Paul 
Salvisberg, Das Auslandsstudienwesen auf 
deutschen Hochschulen und praktische Kul¬ 
turarbeit im Ausland W.-S. 1918 19. (Mün¬ 
chen 1919, Akadem. Verlag.) Neben diese 
mehr theoretisch interessierten Körperschaf- 


1)S. Die Auslandsstudien im preußischen 
Landtag. Internat. Monatsschrift. Jg. 11. H. 7 8. 

Internationale Monatsschrift 


ten traten die doppelstaatlichen Wirtschafts¬ 
verbände, die auf eine meist regional be¬ 
grenzte Auslandsberichterstattung Wert leg¬ 
ten. Die meisten von ihnen sind bei Schuchart, 
Zur Frage der deutschen Außenhandelsför¬ 
derung (Berlin 1916, Simion), und im Hand¬ 
buch wirtschaftlicher Verbände und Vereine 
des Deutschen Reiches (2. Aufl., Berlin 1919, 
Spaeth & Linde) aufgezählt. Schließlich wur¬ 
den für die künftige Pflege der Auslandkunde, 
die ja eine klare geistige Einstellung ver¬ 
langt, neue Grundlagen gelegt, indem bei 
der Neugestaltung der Lehrpläne, besonders 
für den Erdkunde- und Geschichtsunterricht 
der Gesichtspunkt der Auslandkunde ma߬ 
gebend wurde. Die neuen Richtlinien findet 
man am besten bei Paul Wagner, Geogra¬ 
phischer Unterricht und Auslandkunde (Geo¬ 
graph. Abende i. Zentralinst. f. Erziehg. u. 
Unterricht H. 9, Berlin 1919, Mittler) dar¬ 
gestellt. 

Die hoffnungsvolle Entwicklung erfuhr 
durch den Krieg zunächst keine Unterbre¬ 
chung; im Gegenteil, durch den Krieg fiel 
es jedem, der es noch nicht wußte, wie 
Schuppen von den Augen, daß unsere Aus¬ 
landskenntnis vielleicht historischen, aber 
keinen Gegenwartswert mehr hatte, weder 
nach der politischen noch nach der kulturel¬ 
len Seite. Unsere Vorstellungen von in 
rascher Entwicklung begriffenen Kulturge¬ 
bieten wie Kanada, Sibirien oder Japan 
waren nach Maßstäben gebildet, die viel¬ 
leicht vor 20 Jahren Geltung hatten. Der 
Krieg spornte an, das Versäumte nachzu¬ 
holen. Die Einrichtungen dafür und die 
Wege, Auslandkunde zu verbreiten, sind 
noch kürzlich in einem Aufsatz von Willi 
Roß, Mehr Auslandkunde (Europ. Staats- 
u. Wirtschaftsztg. Jg. 4, 1919, Nr. 52, Berlin, 
Hofrichter) und von Siegfried Brase, Aus¬ 
landskunde (Die deutsche Nation, Jg. 2. 
1920, H. 2, Charlottenburg, Deutsche Verlags- 
Gesellschaft f. Politik u. Geschichte), erörtert 
worden. Mit der Länge des Krieges machte 

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Nachrichten und Mitteilungen 


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sich die Abschnürung vom Auslande auch 
für den Betrieb der Auslandkunde fühlbar. 
Es blieb zwar zur Beschaffung von Material 
der Weg über die Neutralen offen. Aber 
die Mehrzahl der staatlichen wie der pri¬ 
vaten Institute scheute den umständlichen 
und durch Zwischenstellen verteuerten Be¬ 
zug und gab sich der Hoffnung hin, die 
Lücken nach dem Kriege durch billigeren 
Einkauf zu schließen. Diese Hoffnung hat 
sich seit einem Jahr als eitel erwiesen. 

Auslandkunde läßt sich unmöglich von 
der Heimat allein aus treiben. Sie bedarf 
der Befruchtung aus der ursprünglichen 
Quelle, dem Auslande selbst. Diese Quellen, 
die in Friedenszeiten als breiter Strom des 
geistigen Austauschs flössen, schrumpfen 
infolge der deutschen Geldentwertung zu 
einem mageren Bächlein zusammen und 
werden versiegen, wenn das deutsche Geld 
auch den Rest seiner Kaufkraft im Auslande 
verloren hat. Die erste Quelle war die un¬ 
mittelbare Anschauung, wie sie sich durch 
Reisen gewinnen ließ. Reisen zu wissen¬ 
schaftlichen Zwecken werden sich auf lange 
Zeit verbieten, es sei denn nach den we¬ 
nigen Ländern mit einer Währung von noch 
geringerem absolutem Wert, als die unsere 
besitzt. Doch das sind meist Staaten von 
relativ unentwickelter Kultur. Die andere, 
ihrem Umfang nach weit wichtigere Quelle 
ist die gesamte gedruckte Erzeugung des 
Auslandes an Büchern, Zeitungen und Zeit¬ 
schriften, die uns im Frieden zu einem nicht 
viel höheren Preise als unsere eigene Pro¬ 
duktion zur Verfügung stand. Von dieser 
Quelle werden wir trotz des Friedensschlus¬ 
ses bald abgeschnitten sein. Schon der 
Preis des deutschen Buches ist in viel stei¬ 
lerer Kurve gestiegen als die Einkünfte, die 
dem Gelehrten und den wissenschaftlichen 
Anstalten, insbesondere den Bibliotheken, 
zu ihrer Anschaffung zu Gebote standen. 
Die Beschaffung der neuen deutschen Lite¬ 
ratur machte also bereits bedauerliche Ein¬ 
schränkungen nötig. Aber dieser Rüdegang 
ist erträglich im Vergleich zu dem Verzicht 
auf Auslandsliteratur, den uns die Entwer¬ 
tung unseres Geldes unerbittlich aufzwingt. 
Wenn nach den Ausführungen von Geheim¬ 
rat Harnack die Preußische Staatsbibliothek 
in Berlin als größte deutsche Bibliothek 
nicht einmal mehr ein Zehntel der auslän¬ 
dischen Zeitschriften halten kann, die in 
ihrem Friedenshaushalt vorgesehen waren, 
kann man sich einen Begriff davon machen, 


zu welchen Betriebseinschränkungen roma¬ 
nische, nordische oder englische Seminare, 
chemische, medizinische und technische In¬ 
stitute, die auf teuere Fachzeitschriften, In¬ 
strumente und Apparate angewiesen sind, 
greifen müssen. Der Zeitpunkt scheint nidit 
mehr fern, wo die wissenschaftliche Aus¬ 
landkunde aus Mangel an frischer Nahrung 
verkümmern muß. Welche Gefahr solch eine 
unfreiwillige Isolierung nicht nur für unsere 
kulturelle Entwicklung, sondern auch für 
die politische und wirtschaftliche Orientie¬ 
rung hat, braucht nach fünf Jahren Krieg 
nicht mehr dargelegt zu werden. Trotzdem 
muß versucht werden, diesen Zeitpunkt mög¬ 
lichst weit hinauszuschieben, vielleicht so 
weit, bis eine Erholung unserer Währung 
erlaubt, die empfindlichsten Lücken auszu- 
füllen und langsam auf den verschütteten 
Fundamenten neu aufzubauen. 

Die Notlage zu mildern, bieten sich ver¬ 
schiedene Wege. Zunächst muß sich die 
Zusammenarbeit der deutschen Bibliotheken 
immer enger gestalten. Schon jetzt findet 
ja ein weitherzig gehandhabter Leihverkehr 
zwischen ihnen statt, der die Schätze der 
einen den Benutzern der anderen Biblio¬ 
thek zugänglich macht. Bei selten verlang¬ 
ten Büchern ist dieser Weg gangbar. Er 
wird mit um so mehr Aussicht auf Erfolg 
beschriften werden, je mehr sich Gesamt¬ 
verzeichnisse nach dem Muster der Berliner 
Titeldrucke oder des Preußischen Gesamt¬ 
zeitschriftenverzeichnisses (1914), das einen 
Überblick über die in den deutschen Haupt¬ 
bibliotheken vorhandenen laufenden Zeit¬ 
schriften gestattet, einbürgern. Dem Ab¬ 
schluß der Neubearbeitung dieses Verzeich¬ 
nisses sehen alle wissenschaftlichen Kreise 
daher mit Spannung entgegen. 

Die Zusammenarbeit kann noch viel 
enger sein bei Bibliotheken an einem und 
demselben Ort. Hier müßte sie sich auf 
die Vermehrung der Bestände ausdehnen 
und zur Folge haben, daß Neuanschaffungen 
von einem gemeinsamen Standpunkt aus 
betrachtet und durchgeführt werden. Stehen 
beispielsweise drei hochwertige Werke wie 
Rein, Abessinien, Steffens, Westpatagonien, 
und Nansen, Sibirien, in Frage, so würde 
sich ein Osteuropa-Institut wahrscheinlich für 
Nansen, ein Südamerika-Institut für Steffens 
entscheiden usw.; die anderen Bibliotheken 
würden sich damit begnügen, das Werk 
ihren Benutzern am Orte nachzuweisen. 
Das setzt allerdings lokale Nachweiskata- 


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Nachrichten und Mitteilungen 


646 


löge voraus, wie sie die Rothschildsche Bi¬ 
bliothek für Frankfurt (s. Berghöffer, Der 
Sammelkatalog wissensch. Bibliotheken des 
deutsch. Sprachgebiets bei der Rothschild- 
schen öffentl. Bibliothek, Frankfurt a. M. 1919, 
Baer) und das Deutsche£Ausland-Institut in 
Stuttgart für die Württembergische Landes¬ 
bibliothek besitzt und für andere Biblio¬ 
theken unter Beschränkung auf Ausland- 
deutschtum und Auslandlcunde ausbaut. Mit 
Hilfe der Berliner Zetteldrucke lassen sich 
solche Nachweiskataloge, wenn nian sich 
auf die Neuerscheinungen beschränkt, un¬ 
schwer anlegen. Sie sind dann ein Mittel, 
die an Ort und Stelle vorhandenen Bücher¬ 
bestände ganz anders als bisher auszunützen. 
Es können also bei gemeinsamem Vorgehen 
der Bibliotheken hier Anschaffungsgelder 
gespart werden, die dann anderen Gebieten 
zugute kommen. Das gilt erst recht von 
den Zeitschriften, wo Doppelanschaffungen 
zu vermeiden und statt dessen möglichste 
Reichhaltigkeit innerhalb eines Bibliotheks¬ 
bezirkes anzustreben wäre. 

Bei Neuerscheinungen des Auslandes 
wird man froh sein müssen, wenn die wich¬ 
tigsten Buchwerke und Zeitschriften an den 
größten Bibliotheken vertreten sind. (Von 
dem Angebot neutraler Buchhändler, die 
Beträge für deutsche Bestellungen gegen 
eine mäßige Verzinsung [6%] zu stunden, 
Gebrauch zu machen, werden viele bisher 
nach dem Muster eines bürgerlichen Haus¬ 
halts verwaltete Bibliotheken zögern, um 
ihre Zukunft nicht mit einem völlig unsiche¬ 
ren Faktor zu belasten.) Alle Neuerwer¬ 
bungen dem Publikum möglichst rasch be¬ 
kannt zu geben, sei es durch besondere 
Zugangsverzeichnisse, sei es durch Ver¬ 
öffentlichung in einem Amtsblatt, ist nun¬ 
mehr ein dringendes Bedürfnis. Auch dann 
werden sich die Anschaffungen auf das 
Allernotwendigste beschränken müssen. Man 
kann z. B. zweifeln, ob das in Europa heute 
schon berühmte Buch von John Maynard 
Keynes, The economic consequences of the 
Peace (London 1919, Macmillan) heute in 
mehr als 20 Exemplaren in Deutschland all¬ 
gemein zugänglich ist. 

In gewissem Grade kann diesem Mangel 
durch zwei Mittel abgeholfen werden, durch 
indirekte Berichterstattung auf der einen 
und durch bessere Ausnutzung der wenigen 
vorhandenen Quellen auf der anderen Seite. 
Die indirekte Berichterstattung, die unter 
Angabe ihrer Quelle Auszüge und Zusam¬ 


menfassungen aus der Auslandpresse bringt, 
hat während des Krieges einen bemerkens¬ 
werten Aufschwung genommen. Es seien 
hier nur die wichtigsten allgemeinen poli¬ 
tischen und wirtschaftlichen Nachrichten¬ 
dienste genannt: Wirtschaftsdienst (Ham¬ 
burg), Weltwirtschaftliche Nachrichten 
(Kiel), Auslandsnachrichten herausgegeben 
vom Überseedienst, Internationales Telegra¬ 
phenbureau, Industrie- und Handelszeitung, 
Politische Nachrichten, Wirtschaftliche Nach¬ 
richten und Rotbuch der Auslandspresse 
(sämtlich in Berlin), Auslandspost und Zen¬ 
tralarchiv für Politik und Wirtschaft (beide 
in München). Neben ihnen gehen Dutzende 
von Nachrichtenblättern her, die entweder 
regional (für Polen, Finnland, Ukraine usw.) 
oder fachlich begrenzt sind wie «Auslands¬ 
recht“ (Berlin, Simion),(Technische) Auslands¬ 
nachrichten (Berlin, Siemens - Schuckert- 
Werke). Für die Zwecke des Kaufmanns 
und des Politikers werden diese Hilfsmittel 
genügen. Anders bei der rein wissenschaft¬ 
lichen Literatur. Gegenüber juristischen oder 
exakt wissenschaftlichen Schriften und allen 
illustrierten Werken muß jede auszugsweise 
Berichterstattung versagen. Hier kann nur 
die oben angedeutete genossenschaftliche 
Zusammenarbeit aller interessierten Stellen 
helfen. 

Ein zweiter von der Not gebotener Aus¬ 
weg ist die bessere Ausnutzung des 
Stoffes. Wenn die Valutamauer auch den 
Privatmann im allgemeinen vom Auslande 
absperrt, so gibt es immer noch eine Reihe 
kapitalkräftiger Zeitungsverleger und Groß- 
firmen, die sich Vertreter im Auslande leisten. 
Von ihnen laufen teils in Form von aus¬ 
führlichen Berichten, teils in Gestalt un¬ 
scheinbarer Nachrichten Beobachtungen ein, 
die, gesammelt und miteinander verglichen, 
eine leidlich zutreffende Zustandsschilderung 
des betreffenden Landes entstehen lassen. 
Es muß nur Stellen geben, die dieses Ma¬ 
terial planmäßig sammeln und zur Verfü¬ 
gung der interessierten Kreise halten. Für 
die wirtschaftlichen Materialien sind derar¬ 
tige Zentralstellen bereits geschaffen, die 
über glänzend ausgebaute Archive verfügen, 
wie etwa die Zentralstelle des Hamburgi- 
schen Kolonialinstituts in Hamburg oder 
das Institut für Seeverkehr und Weltwirt¬ 
schaft in Kiel. Neben ihnen stehen Spezial¬ 
institute, welche dieselbe Aufgabe für ihren 
Bezirk bearbeiten, etwa den Balkan, Ost¬ 
europa oder Mittel- und Südamerika. Eine 

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Nachrichten und Mitteilungen 


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Stelle, welche die Arbeiten aller dieser In¬ 
stitute unter dem Gesichtspunkt der Aus¬ 
landkunde zusammenfassend verwertet, ist 
im Deutschen Auslandinstitut in Stuttgart 
entstanden. Natürlich konnte es sich nicht 
darum handeln, der Spezialarbeit alter In¬ 
stitute nachzueifern. Das müßte die Kräfte 
jedes Unternehmens übersteigen und könnte 
im besten Falle zu unnützer, an der Ober¬ 
fläche haftender Doppelarbeit führen. Aber 
es besteht ein theoretisches wie praktisches 
Bedürfnis, einen Überblick über alle Orga¬ 
nisationen zu gewinnen, die sich irgendwie 
mit Auslandkunde befassen, um den In¬ 
teressenten an die richtige Schmiede, sei 
es ein Buch, einen Verein, eine Behörde 
oder eine Privatperson, zu verweisen. Die¬ 
ser Vermittlung dienen die Archive und die 
Bibliothek des Deutschen Auslandinstituts. 
Handelt es sich z. B- um Sibirien, so wird 
der Student Angaben über Bücher und Zeit¬ 
schriften, der Kaufmann über Wirtschafts¬ 
verbände und Handelskammern, der Aus¬ 
wanderungslustige über Siedelungsgenos¬ 
senschaften, Beratungsstellen, Reiseführer 
und Karten verlangen. Diesen verschieden¬ 
artigen Anforderungen zu genügen, ver¬ 
mochte nur ein sehr elastisches, auf der 
Grundlage der regionalen Länderkunde oder 
der Nationenwissenschaft aufgebautes Sy¬ 
stem, das die Kulturäußerungen aller Län¬ 
der nach ein und demselben Schema in 
seinen Bereich zog. Ein solches System 
wurde auf der Basis eines von Professor 
Kampffmeyer, dem Leiter der Deutschen 
Auslandsbibliothek in Berlin, geschaffenen 
Planes zugleich der Bibliothek und den Ar¬ 
chiven des Deutschen Auslandinstituts zu¬ 
grunde gelegt. Wenn es in der Bibliothek 
die Aufgabe erfüllen soll, die einschlägige 
Literatur an Büchern, Zeitschriften und Zeit¬ 
schriftenaufsätzen für ein Ländergebiet und 
die nach Ausweis ihrer Produktion auf die¬ 
sem Gebiet als Sachkenner anzusprechenden 
lebenden Autoren nachzuweisen, so erlaubt 
es den Archiven, die Fortschritte der Aus¬ 
landkunde, wie sie sich in Nachrichten¬ 
diensten, Vorträgen, Kursen, Instituts- und 
Vereinsveröffentlichungen beurkunden, fort¬ 
laufend festzustellen. Das Vereinsarchiv 
wird beispielsweise in der Lage sein, die 
Organisationen anzugeben, die sich wissen¬ 
schaftlich oder praktisch mit Ostasien be¬ 
schäftigen; die Bibliothek wird diese Nach¬ 
weise ergänzen, indem sie die Veröffent¬ 
lichungen dieser Vereine, Handelskammern, 


Hochschulinstitute oder doppelstaatlichen 
Verbände namhaft macht. Aus dieser Zu¬ 
sammenarbeit ergibt sich ein Querschnitt 
durch die auslandkundliche Tätigkeit auf 
irgendeinem Gebiet, der oft überrascht. Es 
zeigt sich etwa, daß es kaum zehn deutsche 
Schriftsteller gibt, die als Kenner Serbiens 
gelten können, während im gleichen Zeit¬ 
raum eine wenn nicht tiefe, so doch fabel¬ 
haft breite Türkenliteratur entstanden ist. 
Mit Hilfe desselben weitmaschigen Netzes 
läßt sich jede Zeitungsmeldung einfangen, 
die von irgendwoher eine Nachricht von 
deutschkundlichem Interesse bringt. So 
werden die Archive des Deutschen Aus¬ 
landinstituts nach vollendetem Ausbau ein 
geordnetes Nebeneinander länderkundlicher 
Materialien zeigen, bei dem das Gewicht 
auf die deutschen Belange und Beziehungen 
jeder Art gelegt ist. 

Ein dritter Weg zur bestmöglichen Aus¬ 
nutzung des Gegebenen ist die Beschrän¬ 
kung der Zeitschriften nach Zahl und 
Inhalt. In dieser Beziehung leben wir 
noch in einem Urzustand des Kampfes aller 
gegen alle, den man vom Standpunkt des 
nationalen Krafthaushalts als Anarchie be¬ 
zeichnen muß. Ist es nicht unsinnig, daß 
man Aufsätze über Spanien aus hundert 
Zeitschriften zusammensuchen muß, wäh¬ 
rend man sie in einer einzigen Zeitschrift 
beisammen finden könnte, teils als Original¬ 
abhandlungen, teils als Quellennachweise? 
Eine solche kulturwissenschaftliche Zeit¬ 
schrift könnte die besten Sachkenner und 
dementsprechend einen leistungsfähigen Ab¬ 
nehmerkreis um sich scharen. Für Spanien 
ist diese Aufgabe zufällig gelöst (Spanien. 
Zeitschrift für Auslandskunde. Hamburg, 
Bangert). Aber das gleiche Bedürfnis be¬ 
steht für Rußland, Skandinavien oder die 
Vereinigten Staaten. Statt dessen stehen 
wir einem Chaos von Zeitschriften gegen¬ 
über, von denen die Hälfte ein unbekann¬ 
tes und kümmerliches Dasein fristet. 

Was von den Zeitschriften gesagt ist, 
gilt auch von der Bibliographie; auch 
hier ist es Verschwendung, wenn ein und 
dasselbe Buch in hundert allgemeinen Bi¬ 
bliographien oder Literaturblättern wahllos 
aufgeführt wird, wie unsere Zeitschriften zu 
tun pflegen, während der Fachmann es nur 
in einer Fachbibliographie sucht und fin¬ 
det. Spezialisierung ist ein Gebot der 
Stunde. Es ist Kraftvergeudung, wenn der 
Geograph beim Gebrauch der sonst groß 


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Zeitschriftenschau 


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angelegten Dietrichschen Bibliographie der 
Zeitschriftenliteratur Hunderte von medizi¬ 
nischen Schlagwörtern überfliegen muß, 
wahrend ihm nur mit den geographischen 
gedient ist. Die Zukunft wird den Biblio¬ 
graphien gehören, die alles Material von 
einem bestimmten Gesichtspunkt aus sach¬ 
lich oder regional geordnet dem Leser dar¬ 
bieten. Einen solchen Versuch machen in 
ganz verschiedenen Formen etwa die in¬ 
zwischen eingegangene Bibliographie der 
Sozialwissenschaften, das Literarische Jahr¬ 
buch des Dürerbundes, das Weltwirtschaft¬ 
liche Archiv, die Jahrbücher für National¬ 
ökonomie und Statistik und die Mitteilun¬ 
gen des Deutsch-Südamerikanischen Insti¬ 
tuts. Das systematische Register zum Deut¬ 
schen Bücherverzeichnis 1911—1914 im Ver¬ 
lag des Börsenvereins der deutschen Buch¬ 
händler zu Leipzig wird sehnlichst erwartet. 

Sollte die wirtschaftliche Not schließlich 
dazu führen, statt der verschiedenen biblio¬ 
graphischen Mittelpunkte (Berlin, Leipzig, 
München) eine Zentralstelle zu schaffen, 
die, ähnlich wie die Kongreßbibliothek die 
Vereinigten Staaten, das ganze deutsche 
Sprachgebiet mit fertig gedruckten Titeln 
aller Neuerscheinungen an Büchern und 
Zeitschriftenaufsätzen versorgte — eine Aus¬ 
sicht, die der Bibliothekar an der Deutschen 
Bücherei, Dr. Frels, im Beiheft 47 zum 
Zentralblatt für Bibliothekswesen, Leipzig 
1919, Harrassowitz, eröffnet, so wäre diese 
Not als Lehrmeisterin in der Kunst zu be¬ 
grüßen, die wir so laut preisen und so wenig 
üben, der Organisation der wissenschaft¬ 
lichen Arbeit. 

Stuttgart, März 1920. Dr. H. Mannhart, 
Bibliothekar d. Deutsch. 

Ausland-Instituts. 

Die Ostmark. Eine Landeskunde des deut¬ 
schen Nordostens von Prof. Fritz Braun. 
Leipzig 1919, Friedr. Brandstetter. 

Das Büchlein bringt auf 100 Seiten eine 
Fülle des Wissenswerten über Bodengestal¬ 
tung, Klima, Pflanzen- und Tierleben, Be¬ 


wohner, Stadt- und Landleben, Kultur und 
politische Verhältnisse. Der Begriff Ost¬ 
mark wird weit gefaßt als das Grenzgebiet 
von Memel bis nach Oberschlesien (das aber 
nicht hineingezogen wird), von der Ostsee 
bis zu den Landesgrenzen, also ganz Ost- 
und Westpreußen, Hinterpommern, Posen 
und auch ein Teil von Niederschlesien. Per¬ 
sönliche Beobachtungen auf Wanderungen 
und Streifzügen werden in frischer, leben¬ 
diger, oft schwungvoller Darstellung ge¬ 
geben. Die überraschend mannigfaltigen 
Landschaften und Städtebilder werden an¬ 
schaulich und farbenreich hingestellt; deut¬ 
sche Kulturarbeit und Geistesleben im Ge¬ 
gensatz und Kampfe mit den Grenzvölkern, 
den Polen, Masuren und Litauern, erleben 
wir mit. Die verschiedenen Siedelungen; 
die Großstädte Königsberg, Danzig und 
Posen; die wechselnden Typen der kleinen 
Städte und Dörfer mit ihren Wohnstätten 
bis zum kassubischen Erdloch werden ge¬ 
kennzeichnet. Wie die Waldverteilung das 
Landsdiaftsbild bestimmt, den Dünen-, 
Heide- und Auwald, lernen wir kennen, 
und daß der Slawe im allgemeinen für 
Forstwirtschaft wenig tut. Mit warmer Hei¬ 
matliebe ist das alles geschildert. Das Buch 
verdient, überall, auch in Mittel- und Süd¬ 
deutschland, gelesen zu werden, wie auch 
die Ostmark, jetzt die arme, zerrissene und 
verstümmelte, jede Teilnahme verdient. 
„Sie bleibt in Kern und Wesen deutsch*, 
so schließt unser Buch, „ein Kind so vie¬ 
ler Schmerzen darf nicht verloren gehen“. 

Ein größeres Werk, Die Ostmark, Ein 
Heimatbuch, im selben Verlage, ist im Er¬ 
scheinen. Darin wird der Verfasser eigene 
Aufsätze mit solchen anderer Landeskun¬ 
diger zusammenstellen und herausgeben. 

Als vertriebener Ostmärker grüße ich mit 
Dank für Belehrung und Genuß den Ver¬ 
fasser, meinen Landsmann, Amtsgenossen 
und früheren Schüler vom Danziger Gym¬ 
nasium. 

Erfurt, Mai 1920. M. Rosbund. 


Zeitschriftenschau. 


Theologie. 

Mars regiert zwar nicht mehr die Stunde, 
aber die Nachwirkungen seiner Herrschaft 
werden länger dauern und empfindlicher 
sein, als man voraussah. Die Revolution, 
die Arbeitseinstellungen, das von unseren 


Feinden eingeschlagene Verfahren, den 
Friedensschluß lange hinauszuzögern und 
uns schwerste Friedensbedingungen aufzu- 
zulegen — wie das alles zusammengewirkt 
hat, den Druck von Büchern und Zeitschrif¬ 
ten und damit auch die wissenschaftliche 


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Zeitschriftenschau 


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Arbeit bei uns sehr zu erschweren, das 
haben wir hier nicht weiter zu besprechen; 
wir gehen den Ursachen nicht nach, aber 
wir sehen die Wirkung: von den Zeitschrif¬ 
ten, die während des Kriegs ihr Erscheinen 
einstellen mußten, sind nur wenige wieder 
zum Leben erwacht. 

Schon können Akademien ihre eigenen 
Veröffentlichungen nur mit Mühe drucken. 
Der Staat wird wenig helfen können, da 
er längst überschuldet ist. Nur durch groß- 
zügigeZusammenfassung derprivaten Opfer¬ 
willigkeit wird Besserung möglich sein. 
Auf theologischem Gebiet dient diesem 
Zwedc eine im letzten Winter in Berlin be¬ 
gründete Gesellschaft (Näheres durch Pro¬ 
fessor Greßmann, Berlin - Schlachtensee, 
Friedrich-Wilhelmstr. 60). In jedem Fall 
treten diese äußeren Schwierigkeiten, unter 
denen der Betrieb der Wissenschaft leidet, 
heute jedem sofort entgegen, der sich einen 
Überblick über die gelehrte Zeitschriften¬ 
literatur in Deutschland zu verschaffen 
sucht. 

Daneben besteht die schon im vorigen 
Jahr (13. Jahrg., Sp. 529) geschilderte Tat¬ 
sache fort, daß Krieg, Revolution und son¬ 
stige Not es nicht so rasch und nicht so 
leicht wieder zu der planmäßigen und ge¬ 
sammelten geistigen Arbeit an den großen 
wissenschaftlichen Fragen kommen läßt, 
sondern an die Stelle dieser Arbeit oft mehr 
die Behandlung von Tagesfragen getreten 
ist, die ernst und eindringend sein kann, 
aber eine andere Art der Schriftstellerei 
bedeutet, als die vor dem Krieg in unseren 
wissenschaftlichen Zeitschriften übliche. So 
ist der Abstand zwischen manchen eigent¬ 
lich wissenschaftlichen Zeitschriften und 
den mehr dem praktischen Leben zuge¬ 
wandten geringer geworden, wenigstens 
soweit es sich um die Wissenschaften von 
Staat, Recht, Wirtschaft, Religion, um wis¬ 
senschaftliche Erörterung ethischer, päd¬ 
agogischer und verwandter Fragen handelt. 
Und es kann auch heute noch nicht die 
Aufgabe dieser Übersicht über theologische 
Zeitschriften sein, eine geringe Zahl um¬ 
fänglicher oder durch ihren Inhalt neue 
Wege weisender Abhandlungen ausführ¬ 
lich zu würdigen und alles übrige zurück¬ 
zustellen. Eine Zeitschrift, die gerade durch 
prinzipielle Aufsätze oft neue Fragestellun¬ 
gen brachte und Anlaß zu lebhafter Dis¬ 
kussion gab, die Zeitschrift für Theo- 
logieund Kirche, ist im Berichtsjahr noch 


nicht wieder aufgelebt; erfreulicherweise 
hat sie aber 1920 wieder zu erscheinen be¬ 
gonnen. Der diesjährige Bericht wird noch 
wie der vorjährige eine größere Zahl meist 
kurzer Aufsätze zu umfassen haben; dar¬ 
unter ist zwar Tüchtiges, aber das Gesamt¬ 
bild zeigt durchaus noch die Spuren der 
Notzeit. Eine allgemeine Charakteristik 
gebe ich nur von denjenigen Zeitschriften, 
deren Art nicht schon im vorigen Jahre 
kurz geschildert worden ist. 

Mit dem ästhetischen und dem ethischen 
Gebiet ist es dem religiösen gemeinsam, 
daß hier das Denken und Urteilen der ver¬ 
schiedenen Menschen nicht das Maß von 
Übereinstimmung erreicht wie in den exak¬ 
ten Wissenschaften; eine Sonderstellung hat 
aber das religiöse Gebiet, sofern hier diese 
Verschiedenheit der Empfindungen und 
Überzeugungen zur Sonderung der Organi¬ 
sationen führt. Religiöses Leben ist tat¬ 
sächlich, von ganz vereinzelten, wenn auch 
bisweilen bedeutenden Ausnahmen abge¬ 
sehen, nur innerhalb organisierter religiöser 
Gemeinschaften vorhanden, und mit dem 
Leben dieser Gemeinschaften, der Kirchen, 
ist die wissenschaftliche Religionsforschung 
verwachsen, so gewiß sie andererseits oft 
genug in Gegensatz zu kirchlichen Über¬ 
lieferungen und Herrschaftsansprüchen ge¬ 
treten ist und treten muß. Am leichtesten 
können sich zu gemeinsamer religionswis¬ 
senschaftlicher Arbeit Gelehrte von verschie¬ 
denem Bekenntnis zusammenfinden, wenn 
diese Arbeit speziellen oder entlegenen re¬ 
ligionsgeschichtlichen Stoffen gilt, am schwer¬ 
sten, wenn es sich um grundsätzliche Fra¬ 
gen handelt, die zwischen diesen Bekennt¬ 
nissen strittig sind. Über Probleme der Ge¬ 
schichte fremder Religionen werden sich 
Katholiken und Protestanten, auch Juden 
und Atheisten leichter verständigen, als 
etwa Theisten und Atheisten über die sitt¬ 
lichen Motive und Wirkungen des Gottes¬ 
glaubens oder Katholiken und Protestanten 
über die Bedeutung Luthers. 

Beachtenswerte Beiträge zur Kenntnis 
fremder Religionen sind seit langer Zeit 
auch in den Missionszeitschriften ent¬ 
halten. So gewiß es Missionare ohne wis¬ 
senschaftlichen Sinn gegeben hat und gibt, 
so gewiß verdanken wir die erste Erfor¬ 
schung der Sprache, der Sitte und der Re¬ 
ligion namentlich vieler kulturell tiefstehen¬ 
der Völker den Männern, die dort das Chri¬ 
stentum zu verbreiten suchten. Aber das 


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Zeitschriftenschau 


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ganze Streben, nichtchristliche Völker für 
das Christentum zu gewinnen, hat seinen 
Sitz in Kreisen mit starkem religiösen Emp¬ 
finden, ausgeprägtem kirchlichen Interesse. 
So trägt die Mission natürlich kirchlichen 
Sondercharakter, ist evangelisch oder katho¬ 
lisch, anglikanisch oder methodistisch oder 
dgl., und so haben auch die der Mission 
dienenden Zeitschriften ihre konfessionelle 
Sonderart. Wenn eine von den deutschen, 
die Zeitschrift für Missionskunde und Re¬ 
ligionswissenschaft (herausg. von Dr. Witte 
in Berlin und Prof. Haas in Leipzig, Ber¬ 
lin SW 11, Hutten-Verlag), schon im Titel 
andeutet, daß sie einer objektiven religions¬ 
wissenschaftlichen Forschung dienen will, 
so ist diese Zeitschrift aus denjenigen Krei¬ 
sen des deutschen Protestantismus hervor¬ 
gegangen, die von Recht und Pflicht zu 
historisch-kritischer Forschung auch auf 
dem Gebiete der Religion überzeugt sind; 
die von ihnen geförderte Werbearbeit für 
das Christentum unter den Kulturvölkern 
Ostasiens, die der Allgemeine evangelisch¬ 
protestantische Missionsverein betreibt (und 
auch jetzt noch in Tsingtau und Japan trei¬ 
ben kann), wird aber eben deshalb von den 
Anhängern der älteren Missionsgesellschaf- 
ten oft unfreundlich beurteilt. Man muß 
wünschen, daß einerseits auch in außer¬ 
kirchlichen Kreisen das Verständnis für die 
Leistungen, zum mindesten für die kultu¬ 
rellen Leistungen der Mission wachse — 
England und Amerika waren uns in sol¬ 
chem Verständnis bisher weit überlegen —, 
andererseits unter den Missionaren draußen 
und den Missionsfreunden in der Heimat 
der Sinn für das Eigenartige und Wertvolle 
in fremden Religionen und für die Aufga¬ 
ben vergleichender Religionswissenschaft 
zunehme. Heute soll hier nicht von Mis¬ 
sionszeitschriften die Rede sein, sondern 
zunächst von einer wesentlich religions¬ 
historischen, die immer besonders von Alt¬ 
philologen getragen worden ist und an der 
Männer der verschiedensten Bekenntnisse 
mitarbeiten. 

Das Archiv für Religionswissen¬ 
schaft, das nach Dieterich und Wünsch 
jetzt Otto Weinreich, Prof, in Heidelberg, 
herausgibt, unter Mitwirkung von Bezold, 
Boll, Kern, Nilsson, E. Norden, Oldenberg, 
K. Th. Preuß, Reitzenstein, Wissowa (Leip¬ 
zig, Teubner), enthält im 19. Band (1917—19) 
größere Aufsätze von Wissowa, Nilsson, 
Scheftelowitz.Constantin Ritter, Joh.Geffcken. 


I Wissowa behandelt die interpretatio ro- 
mana fremder Göttemamen, d. h. den Brauch 
der Römer und Griechen, die Götternamen 
fremder Völker nicht wie sonstige Eigen¬ 
namen unverändert oder nur mit einiger 
lautlicher Anpassung an die eigene Sprache 
wiederzugeben, sondern sie meist, wie man 
die Appeilativa übersetzt, so durch die Na¬ 
men der entsprechenden römischen bzw. 
griechischen Gottheiten zu ersetzen, wobei 
nun natürlich im einzelnen oft die fremde 
Gottheit der römischen keineswegs voll ent¬ 
sprach, sondern lediglich gewisse Ähnlich¬ 
keiten vorhanden waren. Römer und Grie¬ 
chen selbst haben ja ihre an sich keines¬ 
wegs ganz einander entsprechenden Götter 
so parallelisiert und angeglichen. Merkur, 
Herkules, Mars, die Tacitus als Germanen¬ 
götter nennt, werden heute allgemein als 
Wotan, Donar, Tiu angesehen; in andern 
Fällen vermögen wir den Namen des frem¬ 
den Gottes nicht mehr zu ermitteln oder 
die Gleichung nicht zu vollziehen. Auf In¬ 
schriften der Eingeborenen werden teils die 
einheimischen, teils die lateinischen Na¬ 
men, teils beide nebeneinander angegeben. 
Nilsson, Prof, in Lund, erörtert die Vor¬ 
geschichte des Weihnachtsfests, die in den 
letzten Jahrzehnten schon mannigfach be¬ 
handelt worden ist, so von Usener und La- 
garde, wie auch die damit zusammengehö¬ 
riger Feste, z. B. die des Epiphanienfestes 
kürzlich von Holl. Die Menge der Probleme, 
die da zusammenwachsen, da es sich um 
die ganze Zeit der 12 Nächte handelt, und 
denen Nilsson etwa 100 Seiten widmet, läßt 
sich hier nur andeuten. Es handelt sich 
zum Teil um die Geschichte des Neujahrs¬ 
festes, das in Rom zu Ovids Zeiten noch 
ohne Schmaus begangen wurde, später, im 
4. Jahrh., dagegen mehrtägig und so üppig 
wie früher die im Dezember gefeierten Sa¬ 
turnalien. Vermummungen verschiedener 
Art, im Westen solche in Tiergestalt, im 
Osten eine Prozession mit Götter- und Frauen¬ 
masken, eine Art Karneval gehören in die¬ 
sen Festkreis. Die Christen haben ihr Weih¬ 
nachtsfest der römischen Bedeutung des 
25. Dezember als des dies invicti solis ent¬ 
gegengesetzt. Im Frühmittelalter wurde 
der Jahresanfang im Abendlande vom 1. Ja¬ 
nuar auf den 25. Dezember verlegt (zum 
1. Januar zurückgekehrt ist man dann nicht 
überall am gleichen Zeitpunkte; Luther z. B. 
begann das neue Jahr noch am 25. Dezem¬ 
ber). Der Zusammenhang zwischen unse- 


Dic 


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Zeitschriftenschau 


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ren Weihnachten und einem altgermani¬ 
schen Fest ist umstritten; leiten Armin 
Tille und Bilfinger alles Wesentliche des 
Weihnachtsfestes nicht von einem germa¬ 
nischen Sonnwendfest her, sondern teils 
aus der römischen Kalendenfeier, teils aus 
christlichen Gebrauchen, so erklärt Nilsson 
die große Rolle, zu der das Weihnachtsfest 
gelangte, doch daraus, daß hier ein vor¬ 
christliches Julfest nachwirkt, von dem wir 
freilich keine genauere Kenntnis haben, 
dessen Bedeutung aber nicht zuletzt im 
nordischen Klima begründet ist — der Win¬ 
ter ist die Zeit des Rühens und Feierns. 
Im Zusammenhang mit diesem Aufsatze 
Nilssons stehen solche von Weber über 
das Kronosfest in Durosturum (Silistria) — 
das Martyrium, das ein christlicher Soldat 
hier 303 erlitt, hängt mit diesem Fest zu¬ 
sammen, das den Saturnalien verwandt er¬ 
scheint — und von Boll über die Gleich¬ 
setzung von Kronos und Helios. C. Ritter 
behandelt Platons Gedanken über Gott und 
das Verhältnis der Welt und des Menschen 
zu ihm, die zum Teil nicht zur Harmonie 
gelangt sind, zum Teil auch von uns nur 
vorsichtig erschlossen werden können; z. B. 
darf man nicht alle Mythen Platons für bare 
Münze, Ausdruck seiner wissenschaftlichen 
Denkweise nehmen. Das Verhältnis Gottes 
zur Welt ist schließlich bei ihm doch nicht 
das pantheistische, sondern seine Gedanken 
stehen einem Panentheismus nahe, wie ihn 
im 19. Jahrh. Krause oder Fechner vertre¬ 
ten. Das Problem der Willensfreiheit er¬ 
fährt keine einheitliche Beantwortung. Zu¬ 
letzt geht R., von dem ein umfängliches 
Werk über Platon bereits zum Teil vorliegt, 
auf die eigentümliche Stelle der Nomoi ein, 
die den Atheismus bestraft sehen wollen; 
was R. hier zur Rechtfertigung der plato¬ 
nischen Denkweise aus dem ethischen und 
optimistischen Charakter des Gottesglaubens 
Platons anführt, scheint mir sie zwar zu er¬ 
klären, aber nicht zu rechtfertigen. Joh. 
Geffcken bespricht den Bilderstreit, den 
schon das ausgehende Altertum hatte. Es 
ist das kein so gewaltsamer Kampf wie 
der bekannte Streit, den das christliche 
Morgenland im Frühmittelalter um das Recht 
der Bilder im Kultus hatte; das morgen¬ 
ländische Christentum stand da zwischen 
massiver Bilderanbetung durch das Volk 
einerseits, denVorwürfen andererseits, die der 
bildlose Islam dem hier scheinbar insHeiden- 
tum zurücksinkenden Christentum machte. 


Sondern bei dem von Geffcken dargestell¬ 
ten Streit handelt es sich um eine immer¬ 
hin lebhafte Diskussion zwischen religiösen 
Denkern der spätgriechischeu Welt. Hatte 
zunächst die Religionsphilosophie im Zu¬ 
sammenhang mit fortschreitender Verinner¬ 
lichung und Vergeistigung die bildliche Dar¬ 
stellung des Göttlichen und vollends die 
Verehrung von Götterbildern mehr und 
mehr verworfen, so wird später unter dem 
Einfluß der Volksfrömmigkeit und des Neu¬ 
platonismus jene sinnlichere Denkweise 
immer unbedenklicher gerechtfertigt — eine 
Entwicklung, die Geffcken historisch dar¬ 
stellt, die wir sicher nicht oder mindestens 
nicht nur als Ergänzung des Idealismus 
durch gesunden Realismus beurteilen wer¬ 
den, sondern zum guten Teil einfach als 
Erlahmen der geistigen Kraft gegenüber 
bunter Phantastik und gegenüber den Ge¬ 
wöhnungen der Masse. Scheftelowitz 
behandelt den Seelen- und Unsterblichkeits¬ 
glauben des Alten Testaments, in Gegen¬ 
satz zur landläufigen Meinung, wonach Un¬ 
sterblichkeitsglaube dem alten Israel fremd 
gewesen und erst im Judentum der letzten 
vorchristlichen Jahrhunderte namentlich un¬ 
ter persischen Einflüssen aufgekommen sei. 
Gewiß kann man betonen, daß ein Fort¬ 
leben der Seelen in der Scheol, dem Schat¬ 
tenreich, doch schon zur Gedankenwelt der 
alten Israeliten gehört, was übrigens kaum 
bestritten wird; nur ist solch schattenhaftes 
Hindämmern von der Unsterblichkeit recht 
verschieden, die im Platonismus, und voll¬ 
ends von der Fleischesauferstehung, die im 
Spätjudentum erhofft wird. Außer diesen 
größeren Aufsätzen enthält das Archiv eine 
Anzahl kleinerer und zusammenfassende 
Berichte über die einschlägige Literatur 
der letzten Jahre, von Schwally über die 
zur semitischen Religion, von Oskar Holtz- 
mann über die zum Spätjudentum, von 
Günter über Hagiographisches, beson¬ 
ders über Delehayes Origines du culte des 
martyrs, die Lucius’ Meinung berichtigen, 
es seien die christlichen Heiligen zum guten 
Teil christianisierte Heidengötter, und über 
Anrichs Hagios Nikolaos (Anrich hat dar¬ 
getan, daß der namentlich im Morgenland 
überaus beliebte hl. Nikolaos zusammen¬ 
gewachsen ist aus zwei geschichtlichen Per¬ 
sonen, einem kleinasiatischen Bischof wohl 
des 4. und einem gleichnamigen Abt des 
6. Jahrh.), endlich von Werminghoff über 
Literatur zur mittleren und neueren Kircben- 


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Zeitschriftenschau 


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geschichte. Weinreich beurteilt die bei 
Diederichs erscheinende Sammlung Reli¬ 
giöse Stimmen der Völker, und daß Oester¬ 
reich Rudolf Ottos Buch das Heilige einer 
gesonderten Besprechung unterzieht, ist bei 
der Bedeutung dieses Werkes des Marbur- 
ger Theologen durchaus angemessen. 1 ) 

Sind im übrigen, obwohl in neuerer Zeit 
erfreulicherweise bei verschiedenen Anlässen 
Theologen verschiedener Bekenntnisse in 
steigendem Maße Zusammenarbeiten, die 
theologischen Zeitschriften von Haus aus 
konfessionell gesondert, so beginnen wir 
wiederum mit zwei katholischen. Die schon 
im vorigen Jahre hier erwähnte Theolo¬ 
gische Quartalschrift, herausgegeben 
von Sägmüller, Rießler, Rohr, Bihlmeyer, 
Schilling, Professoren in Tübingen (Tübingen, 
Laupp), ist in ihren hundertsten Jahrgang ge¬ 
treten, dessen 1. Heft berechtigterweise als 
Festgabe gestaltet ist. Ein Vorwort blickt 
auf das hundertjährige Bestehen der Zeit¬ 
schrift zurück, an der berühmte Männer wie 
Möhler, Hirscher, Hefele, Funk mitgearbeitet 
haben. Wenn die jetzigen Herausgeber über¬ 
zeugt sind, im alten Geiste zu arbeiten, und 
daß das ursprüngliche Programm der Zeit¬ 
schrift im wesentlichen heute noch gelte, so 
entspricht das durchaus ihrem katholischen 
Empfinden; dem ferner Stehenden wird es 
allerdings erlaubt sein, auszusprechen, daß 
im Katholizismus die Bewegungsfreiheit vor 
hundert Jahren größer war als heute, nach¬ 
dem namentlich Pius X. den Kampf gegen 
jeden Modernismus*so rücksichtslos geführt 
und den Ton stärker auf Autorität und Über¬ 
lieferung gelegt hat. Um so offener darf 
anerkannt werden, daß auch in diesem Jahr¬ 
gang der Quartalschrift ernste wissenschaft¬ 
liche Arbeit vorliegt. Das Urteil über Ein¬ 
zelfragen wird dabei natürlich noch oft aus¬ 
einandergehen. Z. B. bleibt mir Rießlers 
neue Deutung des Hohenliedes gerade auch 

1) Inhalt von Bd. XIX Heft 4: F. v. Duhn, 
Bemerkungen zur Orientierung von Kirchen 
und Gräbern. Wiedemann, Beiträge zur 
ägyptischen Religion II. C. Ritter, Pla¬ 
tons Gedanken über Gott usw. II. Wer- 
minghoff, Neuerscheinungen zur Reli- 
gions- und Kirchengeschichte des Mittel¬ 
alters und der Neuzeit. Van derLeeuw, 
Das neuentdeckte Osirisheiligtum in Aby- 
dos. Fehrle, Das Sieb im Volksglauben. 
Kern, Kabiriaka. Boll, Der Adler als 
Mystengrad. Oesterreich, Das Heilige. 
Weinreich, Die religionsgeschichtliche Bi¬ 
bliographie. 


beim Lesen der von ihm gegebenen Über¬ 
setzung fremd. Bekanntlich hat man über 
die eigentümliche Tatsache, daß eine Samm¬ 
lung von Liebesliedern, dem Salomo zu¬ 
geschrieben, in die heiligen Schriften der 
Israeliten gekommen ist, sich dadurch hin¬ 
wegzuhelfen gesucht, daß man sie allego¬ 
risch deutete, etwa auf Jahwe und Israel. 
Christliche Theologen, so auch Luther in 
seinen Kapitelüberschriften, fanden hier das 
Verhältnis Christi zur Kirche als seiner Braut 
versinnbildlicht. Rießler meint, die Braut 
sei vielmehr eine religiöse Gemeinschaft von 
der Art der ordensähnlichen Genossenschaf¬ 
ten im Spätjudentum, der Essener oder der 
nur von Philo geschilderten Therapeuten. 
Es gibt nun zwar seltsame Allegorien, nicht 
nur gewaltsame allegorische Deutungen, son¬ 
dern auch Gedichte, die von vornherein als 
Allegorien gemeint sind, obwohl uns Bild 
und Deutung himmelweit auseinander zu 
liegen scheinen. Aber hier ist im Text der 
Charakter wirklicher orientalischer Liebes- 
poesie zu bestimmt ausgeprägt, als daß man 
solche geistliche Deutungen versuchen dürfte. 
Rohr behandelt die Humanitätsidee im Zeit¬ 
alter Jesu d. h. besonders die Bedeutung 
solcher neutestamentlicher Stücke wie der 
Geschichte vom barmherzigen Samariter für 
den Ausgleich nationaler und ständischer 
Gegensätze, für die Besserung der Lage der 
Sklaven, Frauen usw. Sägmüller erörtert 
die Stellung der kirchlichen Rechtsgeschichte 
in der akademischen Disziplin des Kirchen- 
rechts gegenüber der Forderung von Stutz, 
der die kirchliche Rechtsgeschichte geson¬ 
dert behandelt sehen will. Für eine histo¬ 
rische neben der rechtsdogmatischen Vor¬ 
lesung ist aber in dem bei uns üblichen 
Studiengang kein Raum; so bleibt nach Säg¬ 
müller nur übrig, daß man in der Vorlesung 
über das Kirchenrecht einleitungsweise und 
sonst den geschichtlichen Stoff nicht zu knapp 
mitteile. Schilling bespricht das Zins¬ 
problem. Bekanntlich ist von der katho¬ 
lischen Kirche vergangener Jahrhunderte das 
Zinsnehmen verboten, dies Verbot aber nie 
ganz durchgesetzt worden. Neuere katho¬ 
lische Theologen haben auf verschiedene 
Art das Nehmen eines mäßigen Zinses zu 
rechtfertigen gesucht, so zuletzt Landner 
durch den Hinweis darauf, daß das Geld im 
Laufe der Zeit an Wert langsam einbüßt, 
die Ware teurer zu werden pflegt. Einer¬ 
seits wird auch jeder nichtkatholische Ethiker 
anerkennen müssen, daß, wenn man jenes 


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Zeitschriftenschau 


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Verbot einfach als unmöglich bezeichnet und 
das wirtschaftliche Leben seinen eigenen 
Gesetzen überlassen will wie etwa auch die 
Politik, damit die sittlichen Fragen auf die¬ 
sem Gebiet keineswegs gelöst sind, viel¬ 
mehr nur eine Art Anarchie der mensch¬ 
lichen Triebe proklamiert ist. Suchen wir 
überhaupt sittliche Grundsätze und sollen 
sie unsere höchsten Grundsätze sein, so 
wird auch die wirtschaftliche Selbstsucht 
sich Einschränkungen gefallen lassen müs¬ 
sen nicht nur vom wirtschaftlichen Gebiet 
selbst her. Andererseits werden, wenn 
Schilling in Übereinstimmung mit der heu¬ 
tigen katholischen Moral und dem neuen, 
vom jetzigen Papst erlassenen Codex iuris 
canonici einen mäßigen Zins rechtfertigt, 
Nichtkatholiken doch die Unterscheidung, 
die er hierbei macht, kaum ebenso betonen 
wie er; er erklärt, der Darlehnsgeber dürfe 
sich einen mäßigen Zins ausbedingen „durch¬ 
aus nicht, weil er dem anderen die Mög¬ 
lichkeit, Gewinn zu machen, verschafft, son¬ 
dern lediglich, weil er“ (der Geldgeber) „auf 
die Möglichkeit, Gewinn zu machen, ver¬ 
zichtet“ (die er haben würde, wenn er das 
Geld inzwischen selbst irgendwie verwen¬ 
dete). Den Schluß bildet eine Darlegung 
Bihlmeyers über Möhler als Kirchenhisto¬ 
riker, seine Leistungen und seine Methode, 
die Bihlmeyer lehrreich in den Entwick¬ 
lungsgang der deutschen historischen For¬ 
schung im 19 Jahrh. hineinstellt. Im fol¬ 
genden Doppelheft (dem letzten, das mir 
vorliegt) wendet sich Witzei gegen eine 
von dem Benediktiner Landersdorfer im 
Anschluß an den Engländer Langdon be¬ 
hauptete weitgehende Analogie zwischen 
einem sumerischen Text und der biblischen 
Paradieses- und Sintflutgeschichte. Zwar 
gehen die namentlich seit Friedr. Delitzsch 
vielbeachteten babylonisch-assyrischen dem 
Alten Testament verwandten Texte wahr¬ 
scheinlich zum Teil auf sumerische zurück, 
es bleibt aber bei Witzeis Übersetzung, deren 
Recht gegenüber der anderen ich nicht nach¬ 
prüfen kann, fast nichts von Parallelen übrig.’) 


2) Inhalt des 2. und 3. Quartalhefts 1919: 
Witzei, Angebliche sumerische Parallelen 
zur biblischen Urgeschichte. Slaby, Gene¬ 
sis 50, 2—10 im Lichte der altägyptischen 
Denkmäler. Baur, Duplikate in Mignes 
Patrologia graeca. Minges, Skotistisches 
bei Richard von Mediavilla. Waldmann, 
Zur inneren Begründungder läßlichenSünde. 
Rezensionen. Analekten. 


Wie die Theologische Quartalschrift von 
der katholisch-theologischen Fakultät in Tü¬ 
bingen, so wird die Monatschrift Theolo¬ 
gie und Glaube von den Professoren des 
Priesterseminars zu Paderborn herausgege¬ 
ben, Peters, Poggel, Bartmann, Müller, Funke, 
Tenckhoff, Fuchs, Feldmann, Schneider (Pa¬ 
derborn, Schöningh). Der soeben erwähnte 
Landersdorfer berichtet hier über das 
hethitische Problem und die Bibel. Im zwei¬ 
ten Jahrtausend v. Chr. besaßen die Hethiter 
in Kleinasien, Syrien und Nordmesopota¬ 
mien ein großes Reich, das hernach nicht 
nur zerstört, sondern fast vergessen worden 
ist. An der Entzifferung der hethitischen 
Inschriften arbeitet die Forschung jetzt. Ver¬ 
mischt hat sich dieses Volk auch mit den 
Israeliten, was, wenn die Hethiter Indoger¬ 
manen waren, von besonderem Interesse ist. 
Der Geschichte des sog. comma Iohanneum 
geht Bischof Bludau von Ermland, früher 
Professor in Münster, in zwei Aufsätzen 
nach; es handelt sich um eine Stelle im 
1. Joh.-Brief, die als Beleg dafür, daß die 
Dreieinigkeitslehre schon im Urchristentum 
vorhanden gewesen wäre, von Bedeutung 
sein würde, aber unecht ist. Bludau zeigt, 
daß man die Verwendung der Stelle in ei¬ 
nem nordafrikanischen Glaubensbekenntnis 
des 5. Jahrh. nicht überschätzen darf und 
daß sie Augustin unbekannt war; diese Dar¬ 
legungen sind auch deshalb von Interesse, 
weil die Inquisitionskongregation in Rom 
1897 verboten hat, die Echtheit jener Stelle 
in Zweifel zu ziehen; derartige Dekrete 
päpstlicher Behörden stehen zur wissen¬ 
schaftlichen Arbeit katholischer Theologen 
in seltsamem Mißverhältnis. Altaner be¬ 
handelt den Armutsgedanken bei Domini¬ 
kus, dem Stifter des Dominikanerordens. 
Für Dominikus war das Ideal der Armut 
nicht so bedeutsam wie für seinen Zeit¬ 
genossen Franz von Assisi; dafür war die 
Form, in der er es vertrat, dauerhafter. Der 
Würzburger Philosoph Stölzle berichtet 
über Intrigen, die es veranlaßten, daß der 
bekannte mildgesinnte Sailer, nachmals Bi¬ 
schof von Regensburg, 1819 von Rom als 
Kandidat für den Augsburger Bischofsstuli! 
abgelehnt wurde. Eingehend wird über 
solche Erscheinungen der Gegenwart be¬ 
richtet, die für die kirchliche Praxis bedeut¬ 
sam sind, so über die Volkshochschulen. 
Liese beschreibt die in Freiburg neuer¬ 
dings begründete Caritasschule, eine Anstalt 
zur planmäßigen Weiterbildung der auf den 


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Zeitschriftenschau 


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verschiedenen Gebieten der kirchlichen Lie¬ 
bestätigkeit arbeitenden Katholiken. Das 
starke soziale Interesse der deutschen Ka¬ 
tholiken ist mit bemerkenswerter Organisa¬ 
tionsgabe verbunden. Namentlich der länd¬ 
lichen Wohlfahrtspflege wendet man stei¬ 
gende Aufmerksamkeit zu. Neben der Ca¬ 
ritasschule steht in Freiburg ein Missions¬ 
institut, das nichts mit Heidenmission zu 
tun hat, sondern Mission bezeichnet hier 
planmäßige religiöse Beeinflussung nament¬ 
lich solcher, die der Kirche entfremdet oder 
doch kirchenfeindlichen Einwirkungen aus¬ 
gesetzt sind. Jenes Institut gibt den Prie¬ 
stern Anleitung, besonders auch je nach der 
Verschiedenheit der Stände solche Mission 
zu treiben, wie der Franziskaner Schulte 
darlegt. Freilich wird es der Nichtkatholik 
bisweilen beklagen, daß zu allen möglichen, 
nicht etwa protestantischen, sondern inter¬ 
konfessionellen Unternehmungen katholi¬ 
sche Parallelen geschaffen werden. Katho¬ 
lisch-soziale Frauenschulen mag es geben, 
wie und weil es evangelische gibt, aber es 
tritt z. B. auch dem Wandervogel eine ähn- 
lidie katholische Bewegung, Quickborn, zur 
Seite oder entgegen. Die katholischen 
Schüler höherer Lehranstalten sucht gegen¬ 
über deutschnationalen und anderen Jugend¬ 
bünden der schon sehr verbreitete Bund 
Neu-Deutschland zusammenzufassen, über 
den sein Geschäftsführer, der Jesuit Esch, 
berichtet. Den Schluß jeder Nummer bil¬ 
den Literaturberichte von verschiedenen 
Gebieten und eine kurze Umschau in Welt 
und Kirche. ’) 

Neben oder vielmehr dem Alter nach vor 
der Zeitschrift „Theologie und Glaube“ wäre 
hier „Der Katholik“ zu würdigen gewesen, 
das Organ der Mainzer Theologen, fast so 
alt wie die Tübinger „Theologische Quartal¬ 
schrift“, aber in seiner langen Geschichte oft 
einem anderen Geiste dienend: war Tü¬ 
bingen ein Hauptsitz einer historischen und 

3) Inhalt von Heft 7/8 des 11. Jahrgangs: 
Müller, ZurVolkshochschulbewegung. Eit- 
ner, Pfarrkartotheken. Stiglmayr, Man¬ 
nigfache Bedeutungen von „Theologie“ und 
„Theologen“. Schulte, Das Missionsinsti¬ 
tut in Freiburg. Doergens, Griechische 
Welt- und Lebensanschauung in ihrem Ver¬ 
hältnis zum Christentum. Stölzle, Warum 
Sailer 1819 nicht Bischof von Augsburg 
wurde. Höflin, Quickborn. Gspann, Das 
Vaterunser des Philosophen. Erlasse und 
Entscheidungen. Aus der Theologie der 
Gegenwart usw. 


innerhalb der Grenzen des katholischen Den¬ 
kens auch kritischen Theologie, so Mainz 
eine Stätte der Neuscholastik. Nur darf man 
keineswegs die gesamte theologische Ar¬ 
beit dieser Zeitschrift damit abstempeln 
wollen. Indes verschiebe ich die Würdi¬ 
gung dieses Organs, das, bei Kirchheim in 
Mainz erscheinend, zuletzt von den dortigen 
Professoren Becker und Selbst herausgege¬ 
ben wurde, auf später, da es zu Beginn 
des Jahres 1919 sein Erscheinen bis auf 
weiteres einstellen mußte. Andere katho¬ 
lisch-theologische Zeitschriften gleichfalls 
einem künftigen Berichte vorbehaltend, gehe 
ich zu protestantischen über. 

Die bereits im vorigen Jahre hier charak¬ 
terisierten „TheologischenStudienund 
Kritiken“, herausgegeben von den Pro¬ 
fessoren Kattenbusch und Loofs in Halle 
(Gotha, F. A. Perthes), bringen in ihrem 
92. Jahrgang größere Aufsätze von Preisker, 
Ernst, Hering und Hölscher. Preisker be¬ 
handelt die Art und Tragweite der Lebens¬ 
lehre Jesu, d. h. die seit einem Menschen¬ 
alter besonders lebhaft verhandelte Frage, 
wie sich die Ethik Jesu zur heutigen Kultur 
verhält, ob sie uns noch heute die Grund¬ 
linien gesunder kultureller Betätigung gibt 
oder vielmehr, weil wesentlich durch die 
Erwartung baldigen Weitendes bestimmt, 
für uns unbrauchbar ist oder uns doch in 
starke Spannung zur heutigen Kultur bringt; 
solche Spannung könnte ja in mancher Be¬ 
ziehung heilsam sein, ist in gewissem Sinne 
mit aller lebendigen Religion gegeben; wer 
überweltliche Güter ahnt, sucht, kennt, wird 
nicht kulturselig werden. Preisker betont 
stärker als die Erwartung baldigen Weit¬ 
endes das, was er den Individualismus Jesu 
nennt — ob der Ausdruck glücklich ist, mag 
umstritten bleiben; es handelt sich um die 
Verinnerlichung, Vertiefung, persönliche Zu¬ 
spitzung der religiös-ethischen Hauptgedan¬ 
ken, die in dieser Form dann durchaus ihre 
Bedeutung für uns behalten. Ernst stellt 
die Frömmigkeit des Erasmus dar, dessen 
in vielem modern anmutende Denkweise 
heute wieder Gegenstand stärkeren Inter¬ 
esses ist, unter anderem in einem wertvollen 
Buch des leider gefallenen jungen Theolo¬ 
gen Mestwerdt behandelt wurde. Erasmus 
erscheint als Vertreter eines von der plato¬ 
nisch-stoischen Philosophie beeinflußten, 
biblisch begründeten, moralistisch gerichte¬ 
ten Christentums. Soweit er trotz scharfer 
Kritik, die er an dem herkömmlichen kirch- 


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Zeitschriftenschau 


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liehen Betrieb übt, doch schließlich in den 
Bahnen des überlieferten Katholizismus 
bleibt, fragt man sich, ob er da ehrlich war. 
Ernst bejaht das, und findet, daß dieser 
Typus der immer nach dem Guten streben¬ 
den, dabei ungebrochenen, weil sich nidit 
brechenlassenden Menschennatur bleibende 
Bedeutung hat, auch auf protestantischem 
Boden; im Rationalismus der Aufklärungs¬ 
zeit gewann diese Art der Frömmigkeit be¬ 
sondere Macht. Aber den höheren Wert 
erkennt Ernst doch der ganz anderen Art 
Luthers zu, der sich ganz Gott hingab, von 
da aus dann aber Welt und Zeit wirklich 
umzugestalten vermochte. Hering, der Se¬ 
nior der hallischen theologischen Fakultät, 
hat die Forschung nach Schleiermachers 
Vorfahren, in deren Seelen zum Teil schon 
eigentümliche religiöse Kämpfe wahrzuneh¬ 
men sind, in dankenswerter Weise weiter¬ 
geführt, indem er einen Zusammenhang 
zwischen dem ältesten bisher bekannten, 
einem Ratsschöffen in Gemünden in Nieder¬ 
hessen um 17C0, und der in Wildungen schon 
im 16. Jahrh. ansässigen Familie gleichen 
Namens fast sicher macht. Hölscher, Pro¬ 
fessor in Halle, geht der Entstehung des 
Buches Daniel nach. Diese Schrift wird 
immer allgemeiner wesentlich in die Zeit 
der Bedrückung gesetzt, die das jüdische 
Volk unter Antiochus IV. Epiphanes um 165 
v. Chr. erlitt. Die Einheitlichkeit des Buchs 
mußte aber schon deshalb zweifelhaft sein, 
weil es nur zum Teil hebräisch, zum Teil 
dagegen aramäisch geschrieben ist. Hölscher 
führt eine zuerst von Spinoza, in unseren 
Tagen von Sellin vorgenommene Scheidung 
weiter, wonach der erste Teil des Buchs 
doch älter ist, aus dem 3. Jahrh. stammt — 
aber also auch nicht etwa, wie der Text 
glauben machen will, aus der Zeit Nebu- 
kadnezars — die Kapitel von 8 an dagegen 
aus der soeben angegebenen Zeit; im ein¬ 
zelnen seien noch Einschübe und Nachträge 
kenntlich. Es folgt eine Reihe kürzerer Bei¬ 
träge. 4 ) 

4) Inhalt des 2. Hefts 1919: Hering, 
Schleiermachers Familienheimat und Vor¬ 
fahren väterlicherseits. Hölscher, Die Ent¬ 
stehung des Buches Daniel. Brüne, Das 
Zeugnis des Josephus über Christus. Moe- 
ring, Egenomen en pneumati. Mulert, 
Die angeblich älteste Schrift Schleiermachers. 
Stephan, Zwei ungedruckte Briefe Schleier¬ 
machers. v. Rohden, Eine neue Apologe¬ 
tik. Hering, Schleiermachers Braut. Kat- 


Von Zeitschriften, die allen Gebieten der 
wissenschaftlichen Theologie dienen, sind 
im vorigen Jahre hier außer den „Studien 
und Kritiken“ die „Protestantischen Monats¬ 
hefte“ und die „Neue kirchliche Zeitschrift“ 
gewürdigt worden. Neben diesen Organen, 
die der Theologie überhaupt dienen, haben 
— übrigens auch auf katholischer Seite — 
schon längst eine Anzahl spezieller Fach¬ 
zeitschriften gestanden, für biblische oder 
kirchengeschichtliche Forschung, für syste¬ 
matische und für die verschiedenen Zweige 
der praktischen Theologie, kirchliche Kunst, 
Kirchenrecht, Religionsunterricht; auch die 
obengenannten Missionszeitschriften gehö¬ 
ren hierher. Ober einige von ihnen sei 
hier noch kurz berichtet, die neutestament- 
liche, die kirchengeschichtliche und, da ge¬ 
rade in den letzten Jahren im Zusammen¬ 
hang mit der Revolution einige Probleme 
der kirchlichen Praxis, der Kirchenverfas¬ 
sungsreform besonders hervortraten, über 
zwei praktisch-theologische. 

Die „Zeitschrift für neutestament- 
liche Wissenschaft und Kunde des Ur¬ 
christentums“, herausgegeben von Preuschen 
(Gießen, Töpelmann), liegt im 19. Jahrgang 
vor, von dem bei Abfassung dieses Berichts 
das 1. Heft erschienen war. Hier finden 
wir rein gelehrte Forschung ohne Hinblick 
auf Tagesereignisse. Corssen wendet sich 
gegen Reitzensteins Meinung, Paulus hätte 
mit seinen Gleichnissen vom Spiegel und 
sich spiegeln (1. Kor. 13 und 2. Kor. 3) Ge¬ 
danken ausgesprochen, die mit solchen des 
Porphyrius, eines neuplatonischen Gegners 
des Christentums im 3. Jahrh., so verwandt 
seien, daß wir eine gemeinsame Quelle ver¬ 
muten müßten. Corssen sucht zu zeigen, daß 
die Denkweise beider hier doch sehr ver¬ 
schieden sei, die Gedanken des Paulus seien 
wesentlich durch die alttestamentliche Über¬ 
lieferung bestimmt. Hadorn deutet die 
vielbesprochene Stelle in der Offenbarung 
Johannis, in der als Zahl des Tieres 666 an¬ 
gegeben wird, auf den Kaiser Trajan; nach 
verbreiteter Meinung wird da in der Tat ein 
Name zahlensymbolisch angedeutet, natür¬ 
lich der eines Christenfeindes; meist hat 
man an Nero gedacht. Carl Sachsse er¬ 
örtert die Lage der Kreuzigungsstätte Jesu 
(die der englische General Gordon nicht dort 
suchte, wo auf Grund einer bis in Konstan¬ 
tenbusch, Schleiermachers Wohnung in 
Halle. 


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tins Zeiten zurückreichenden Überlieferung 
die Grabeskirche steht, sondern auf einem 
in der Tat schädelähnlichen weiter außer¬ 
halb liegenden Hügel; Golgatha bedeutet 
Schädel) und der Stelle, wo der Prozeß vor 
Pilatus stattfand. Hertlein lehnt Kuhnerts 
Versuch ab, Jesu Selbstbezeichnung Men¬ 
schensohn in Anknüpfung an hellenistische 
Ehrentitel (hyios Laodikeon Wohltäter — 
man möchte fast sagen; Ehrenbürger — von 
Laodicea) als Wohltäter der Menschheit zu 
deuten. 8 ) 

Die von dem als Professor in Leipzig ver¬ 
storbenen Brieger begründete „Zeitschrift 
für Kirchengeschichte“ (Gotha, F. A. 
Perthes) ist mit ihrem 38. Band neu orga¬ 
nisiert worden; hinter ihr steht jetzt eine 
deutsche Gesellschaft für Kirchengeschichte, 
Herausgeber ist Prof. Zscharnack in Ber¬ 
lin geworden. Im 1. Heft beginnt Th. Zahn, 
der Erlanger Altmeister, eine Untersuchung 
über die verschiedenen Ammonius (der 
Name war in Ägypten häufig, bekannt ist 
der Begründer des Neuplatonismus, Ammo¬ 
nius Sakkas; dann sind Stücke aus Bibel¬ 
auslegungen unter dem Namen eines oder 
mehrerer A. überliefert). Holl zeigt, wie 
der Streit, den Paulus gemäß seiner Erzäh¬ 
lung im Galaterbrief mit Petrus in Antiochia 
hatte, Luther in den Jahren, in denen er 
sich zum Reformator entwickelte, wieder¬ 
holt beschäftigt hat; den von römischer 
Seite behaupteten Vorrang des Petrus vor 
den übrigen Aposteln mußte auch diese Er¬ 
zählung dem Reformator unsicher machen. 
Prof. Stuhlfauth regt an, bei der Samm¬ 
lung für kirchliche Kunst an der Berliner 
Universität eine solche von Reproduktionen 
der Bilder aller kirchengeschichtlich bedeut¬ 
samen Personen zu schaffen. Fischer 
macht Vorschläge für die Ausgestaltung der 
kirchen- und kulturgeschichtlich wichtigen 
Pfarrerverzeichnisse. Ein wichtiger Beitrag 
dazu wäre, wie Pallas darlegt, der weitere 
Drude des sog. Wittenberger Ordinierten- 
buchs, von dem erst der Anfang allgemein 
zugänglich ist. Aus dem übrigen Inhalt 
des Heftes sei Schaumkeils Aufsatz über 


5) Inhalt von Heft 1 des 19. Jahrgangs: 
Corssen, Paulus und Porphyrius. Hadorn, 
Die Zahl 666, ein Hinweis auf Trajan. 
Sachsse, Golgatha und das Prätorium des 
Pilatus. Erbes, Was bedeutet allotrioepi- 
skopus 1. Ps. 4, 15? Alt, Zu Epiphanios 
Panarion 51, 30. Hertlein, Ho hyios tu 
anthropu. 


Richard Rothes Beurteilung Luthers und der 
Reformation genannt, die mit Rothes Ge¬ 
danken zusammenhängt, das Ziel der Ent¬ 
wicklung sei Verchristlichung der Welt und 
Aufhören der Kirche, die in einem christ¬ 
lichen Kulturstaat aufgehen sollte; die Re¬ 
formation erscheint bei Rothe als ein wich¬ 
tiger Schritt auf dem Wege dorthin. Den 
Abschluß bildet ein lehrreicher Bericht Carl 
Clemens über die religionsgeschichtliche 
Literatur der letzten Jahre. 0 ) 

Aus den Zeitschriften, die der praktischen 
Theologie dienen, bleiben solche Stücke, 
die lediglich Interesse für die kirchliche 
Praxis haben, hier unerwähnt; die beiden 
Blätter aber, über die jetzt noch berichtet 
werden soll, pflegen zugleich beachtens¬ 
werte grundsätzliche, zum Teil auch ge¬ 
schichtliche Darlegungen zu enthalten. Die 
Monatschrift für Pastoraltheologie, 
herausgegeben von Prof. Wurster in Tü¬ 
bingen und Generalsuperintendent Sc ho eil 
in Reutlingen, jetzt im 16. Jahrgang (bisher 
Berlin, Reuther & Reichard, nun Göttingen, 
Vandenhoeck & Ruprecht), brachte nach der 
Revolution Aufsätze von Wurster und Prof. 
Eger in Halle: Was nun mit unserer Kirche? 
Was Wurster im Interesse der Erhaltung 
des Volkskirchentums fordert, ist im wesent¬ 
lichen durch die Weimarer Verfassung zu¬ 
gesagt oder doch ermöglicht worden. Wenn 
er zunächst hoffte, die Neuregelung werde 
durch die Länder, nicht durch das Reich 
erfolgen, so hat man es inzwischen auf 
kirchlicher Seite gewiß überwiegend als Er¬ 
leichterung empfunden, daß die Dinge in 
Weimar einheitlich geregelt wurden. Denn 
sonst hätte zwar in manchen Gebieten die 
katholische Kirche ihren Willen durchgesetzt. 


6) Inhalt von Heft 1 des 38. Jahrganges: 
Zahn, Der Exeget Ammonius. Holl, Der 
Streit zwischen Petrus und Paulus in seiner 
Bedeutung für Luthers Entwicklung. Stuhl¬ 
fauth, Eine kirchengeschichtliche Bildnis- 
zentrale. Fischer, Presbyterologien. Pal¬ 
las, Das Wittenberger Ordiniertenbuch. 
Schremmer, Kirchengeschidite in der 
Schule. Bernoulli, Ein Reisebüchlein für 
Jerusalemspilger. Hugo Koch, Zum nova- 
tianischenSchrifttum. Hugo Lehmann, Zum 
Briefwechsel zwischen Spener und Land¬ 
graf Ernst von Hessen-Rheinfels. Schaum¬ 
keil, Rothes Beurteilung Luthers. Zschar¬ 
nack, Zur Geschichte und Aufgabe der 
deutschen evangel. kirchengeschichtlichen 
Organisationen. Einzelberichte: CI einen, 
Christentum und andere Religionen. 


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Zeitschriftenschau 


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anderwärts aber, in Sachsen, Thüringen, 
Hamburg, hätte eine sozialdemokratische 
Mehrheit freie Hand, die Kirchen an die 
Wand zu drücken. Daß verschiedene Teile 
unseres Vaterlandes in ihrer Kulturpolitik 
allzuweit auseinandergehen, ist jedoch schon 
im Interesse des nationalen Zusammenhalts 
unerwünscht. Eger lehnt u. a. den Plan 
ab, innerhalb der Volkskirche den wirklich 
tätigen Mitgliedern eine bevorrechtete Stel¬ 
lung zu geben; durch solche Scheidung 
von Ganzen und Halben mache man die 
letzteren erst recht gleichgültig gegen die 
Kirche. Nicht unwichtig zur Erklärung da¬ 
für, daß schließlich in der Heimat das staats¬ 
bürgerliche Pflichtbewußtsein zusammen¬ 
brach, ist vielleicht, was Jehle hervorhebt: 
früher wurden die antiken Vorbilder un¬ 
bedingter Pflichttreue gegen den Staat auf 
den höheren Schulen den jungen Gemütern 
eingeprägt; hat das Zurücktreten der huma¬ 
nistischen Bildung etwa hier eine unerwar¬ 
tete üble Nebenwirkung gehabt? Lehrreich 
sind die Berichte aus dem Leben evange¬ 
lischer Kirchgemeinden während des 
Kriegs, aus Kurhessen, Westpreußen usw.; 
zum Teil sieht man deutlich die unzufrie¬ 
dene, schließlich revolutionäre Stimmung 
auch unter sonst konservativen Bauern ent¬ 
stehen und wachsen. Dabei erzählt ein 
Pfarrer ganz harmlos, ein Gemeindeabend 
habe der Vaterlandspartei 50 neue Mitglie¬ 
der zugeführt 1 Zu besserer Scheidung von 
Religion und Politik, als sie hier vorliegt, 
leitet der Berliner Prediger Stäglich an. 
Einen kräftigen Reformvorschlag macht Pfar¬ 
rer Völter in Eßlingen: Die Tragik der 
Kirche. Hier redet ein in seinem Amt er¬ 
grauter Mann von den Gelegenheiten, bei 
denen es die Kirche verpaßt habe, das Wort 
zu sprechen, das die Volksseele verlangte. 
Es werde viel zu viel gepredigt; statt des¬ 
sen solle etwa jeden zweiten Sonntag eine 
Gemeindeversammlung mit Aussprache statt¬ 
finden, eine Nachhilfsstunde für Lebens¬ 
schüler, wie Schrempf sagt, eine Christen¬ 
lehre für Erwachsene, wenn das nicht zu 
pastoral oder schulmüßig klingt. Busch 
zeigt anregend, wie er auch den Konfir¬ 
mandenunterricht als Arbeiisunterricht ge¬ 
staltet, d. h. praktisch in steter Fühlung mit 
dem wirklichen Leben hält, Witte berich¬ 
tet lehrreich über Staat und Kirche in Japan, 
die 1868 sozusagen getrennt wurden; d. h. 
die Vorrechte des Buddhismus wurden auf¬ 
gehoben und in allen Schulen Moralunter¬ 


richt eingeführt, später freilich die Schinto- 
religion staatlich begünstigt. Heute nun 
widerstrebt der inzwischen mächtiger ge¬ 
wordene Buddhismus einer neuen Verbin¬ 
dung mit dem Staat, der dem Christentum 
nicht unfreundlich gegenübersteht. Gauß 
behandelt die Stellung der Kirche zu den 
sog. Gemeinschaften, mit guten psychologi¬ 
schen Einsichten in die Motive des immer 
wiederkehrenden engeren Zusammenschlus¬ 
ses gleichgesinnter Frommer. Der Aufsatz 
ist fromm und frei: «Die Kirche kann das 
Religiöse nicht für ihr Monopol erklären.“ Hin¬ 
zu kommen geschichtliche Artikel, Bücher¬ 
besprechungen (z. B. eine ausführliche Wür¬ 
digung von Heilers bedeutsamem Werk 
über das Gebet durch Saathoff).’) 

Wesentlich den gleichen Aufgaben dient, 
aber eine ausgesprochener „moderne“ Hal¬ 
tung hat die „Monatsschrift für die kirch¬ 
liche Praxis in der gegenwärtigen Kultur“, 
die seit 1901 Professor Baumgarten in 
Kiel herausgibt, seit 1907 mit dem Ober¬ 
titel Evangelische Freiheit (Tübingen, 
Mohr; nicht zu verwechseln mit der Christ¬ 
lichen Freiheit, dem früheren Evangelischen 
Gemeindeblatt für Rheinland und Westfalen, 
einer, seit Gottfried Traub sie herausgab, 
auch über diese Provinzen hinaus verbrei¬ 
teten Wochenschrift, die scharf im Sinne des 
freien Protestantismus, seit dem Kriege aber 
zugleich immer mehr im Sinne der Vater¬ 
landspartei arbeitete, wie denn der Heraus¬ 
geber sich vom Anhänger Naumanns und 
fortschrittlichen Abgeordneten hinüber ent¬ 
wickelte zum deutschnationalen Wortführer, 
ja zum Mitarbeiter Kapps). Baumgartens 
Monatsschrift hat von vornherein einen stark 
persönlichen Charakter gehabt. Die Mit¬ 
herausgeber — jetzt Professor Niebergall 
in Heidelberg und die Pfarrer Jüngst in 
Stettin und Ja eger in Freiburg — kommen 
in charakteristischer Weise zum Wort, na¬ 
mentlich Niebergall mit Aufsätzen über Nöte 
und Aufgaben der Pfarrer, aber für die Ge¬ 
samthaltung des Blattes ist bestimmend ge¬ 
worden die in jeder Nummer von Baum¬ 
garten geschriebene kirchliche Chronik, 

7) Inhalt des letzten Heftes des 15. Jahr¬ 
gangs: Saat hoff, Anregungen für den Kon¬ 
firmandenunterricht. Schöllkopf, Die An¬ 
fänge der Menschheit als apologetisches 
Problem. Knolle, Luthers Predigt im Ver¬ 
hältnis zum Text. Bücherbesprechungen. 
Aus Zeitschriften. Aus der neuesten theo¬ 
logischen Literatur. 


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Zeitschriftenschau 


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wobei nur das Wort »kirchlich“ nicht zu 
eng gefaßt werden darf. Nicht nur die Zu¬ 
sammenhänge zwischen der Kirchenpolitik 
und sonstigen politischen Vorgängen, son¬ 
dern auch die Verflechtung der Schicksale 
der religiösen Bewegungen mit der allge¬ 
meinen kulturellen Lage, den sonstigen gei¬ 
stigen, auch den wirtschaftlichen Strömungen 
hat Baumgarten immer betont, politisch 
lange Zeit nationalliberal, jetzt Demokrat, 
kirchlich immer für den freien Protestantis¬ 
mus wirkend, aber nie parteimäßig gebun¬ 
den: wie ihn von jeher sein starkes sozial¬ 
politisches Interesse nach »links“ zog, so 
unterschied ihn seine Gegnerschaft gegen 
Gleichmacherei der Bildung stets vom vul¬ 
gären Liberalismus. Bei den jetzigen Post¬ 
verhältnissen kann eine Zeitschrift, die in 
Kiel geschrieben oder zusammengestellt, 
aber in Tübingen gedruckt wird, oft nicht 
aktuell sein. Aber mag auch manches aus 
Baumgartens Chroniken in unserer ereignis¬ 
reichen Zeit, wenn es zu den Lesern kommt, 
überholt sein, diese charaktervollen Dar¬ 
legungen sind von vielen nachdenklichen 
und ernsten Kulturpolitikern immer gern 
gelesen worden, wobei man ja fragen kann, 
ob es zweckmäßig ist, daß sie in einer Zeit¬ 
schrift für Pfarrer enthalten, d. h. für viele 
andere, die dergleichen auch gern lesen 
würden, vergraben sind. 

Die Chroniken des letzten Jahrgangs han¬ 
deln von den Wandlungen der politischen 
Lage, der Wahlbewegung, den Weimarer 
Beschlüssen über Staat, Kirche und Schule, 
Baumgartens Tätigkeit bei der Friedens¬ 
kommission und den Folgen des Versailler 
Friedens, dem Dresdner Kirchentag u. dgl. 
Aber auch außerhalb der Chronik ist viel 
von Tagesfragen die Rede. Von der neuen 
Lage des Religionsunterrichts in Preußen 
berichtet Seminardirektor Plath; von kirch¬ 
lichen Feiern des 1. Mai sind zwei Anspra¬ 
chen mitgeteilt, eine von Baumgarten, eine 
von dem sozialistischen Pfarrer Dehn in 
Berlin-Moabit. Eine kräftige Predigt gegen 
die Arbeitsscheu liefert der Charlottenburger 
Pfarrer Siems. Eine längere Aussprache 
hat der Vorschlag hervorgerufen, künftig 
Laienhelfern einen größeren Teil der Ge¬ 
schäfte zu übertragen, die bisher die Pfarrer 
hatten. Nach dem Tode Friedrich Naumanns 
sind außer einer Chronik, in der Baum¬ 
garten ihn würdigt, die an seinem Sarg ge¬ 
haltene Rede von Johannes Naumann (dem 
Bruder) und eine Gedächtnispredigt von 


Jaeger in Freiburg mitgeteilt. Eingeleitet 
wird jede Nummer dieser Zeitschrift durch 
eine Reihe kurzer Buchbesprechungen, „No¬ 
tizen“. Einer Frage, die schon lange vor¬ 
handen war, aber jetzt besonders bedeut¬ 
sam ist, gilt des Herausgebers Vortrag über 
die Mitarbeit der Frauen bei der Bekämpfung 
der öffentlichen Unsittlichkeit. Beiträge aus 
früheren Jahrgängen werden fortgesetzt in 
der praktischen Auslegung der Geschichten 
vom Propheten Elisa, die Gunkel gibt, und 
dem „theologischen Krebsbüchlein“, einer 
anonymen Sammlung viel beachteter und 
in der Tat oft sehr treffender Satiren auf 
kirchliche Mißbräuche und pastorale Un¬ 
sitten. Wenn doch alle Stände so scharfe 
Selbstkritik üben wollten, und wenn doch 
die Theologen die hier geübte befolgen 
wollten! 8 ) 

Dem Nichttheologen, der religiös interes¬ 
siert ist, werden Fachzeitschriften dieser 
Art natürlich nicht so nahe liegen wie 
Blätter, die mehr auf die allgemeinen Fra¬ 
gen des religiösen und kirchlichen Lebens 
in der heutigen Welt eingehen. Von den 
Zeitschriften dieser Art sei zum Schlüsse 
hier die bereits im vorigen Jahre charak¬ 
terisierte Christliche Welt noch einmal 
erwähnt, herausgegeben von Professor Rade 
(Marburg a. d. Lahn, Verlag der Christi. 
Welt), während andere, die sich gleichfalls 
an weitere Kreise wenden, seien sie nun 
mehr kirchenpolitisch interessiert, oder aber 
mehr auf religiöse Klärung bedacht unter 
Absehen von den kirchenpolitischen Tages¬ 
kämpfen, im nächsten Bericht gewürdigt 
werden sollen. Freilich ist der Gesamtein¬ 
drude eines Jahrgangs der Christlichen Welt 
— früher über tausend Spalten Großquart, 
jetzt etwas weniger — nicht einfach und 
kurz zu kennzeichnen. Geht eine Wodien- 
schrift nicht nur auf die verschiedensten 
religiösen und theologischen Fragen von 
bleibender Bedeutung ein, sondern zugleich 
auf die Tagesereignisse, und sucht sie, was 
irgend aus unserem Kulturleben in bedeut¬ 
same, sei es freundliche, sei es feindliche 
Beziehung zum Christentum tritt, vom Stand¬ 
punkt einer freien Frömmigkeit aus zu be- 


8) Inhalt des Nov.-Dez.-Heftes 1919: No¬ 
tizen. — Ein Prophet. Predigt von Jaeger. 

Aus dem theologischen Krebsbüchlein. — 
Elisa-Geschichten. Von Gunkel. — Kirche 
und Sozialdemokratie. Von Taube. — Kirch¬ 
liche Chronik. Von Baumgarten. 


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leuchten, so müssen solcher Fülle von Stoff 

gegenüber die Interessen der Leser ausein¬ 
andergehen. Ein erhebliches Maß überein¬ 
stimmender Gesinnung kann, wer schärfer 
zusieht, im Kreise der Mitarbeiter doch wahr¬ 
nehmen, so gewiß viele Stimmungen und 
Urteile etwa den sozialistischen Solinger 
PfarrerHartmann einerseits,Baumgarten 
andererseits scheiden, der in einer Aufsatz- 
reihe die Bedeutung des Protestantismus 
für das deutsche Volk dahin kennzeichnet, 
daß der Protestantismus gegenüber Katho¬ 
lizismus und Sozialismus, die beide zu Mas¬ 
senwirkungen geeigneter seien, im Kerne 
individualistisch und insofern eine Sache 
weniger bleiben werde, die höher streben. 
Viel verhandelt werden auch hier die Fra¬ 
gen der Neugestaltung unserer Kirchenver¬ 
fassungen, auf die Rade als Mitglied der 
preußischen Nationalversammlung Einfluß 
ausgeübt hat; aber nicht nur Kirchenleute im 
engeren Sinne äußern sich dazu, sondern 
es schrieb z. B. die Dichterin Auguste Sup¬ 
per, die dem Dresdner Kirchentag angehört 
hat, über ihn ein sehr anziehendes kritisches 
Stimmungsbild. Um nur noch an vier Bei¬ 
spielen die Mannigfaltigkeit des Gebotenen 
zu illustrieren: Haseroth berichtet von neu¬ 
eren Forschungen über das apostolische 
Glaubensbekenntnis, W. E. Schmidt aus 
genauer Kenntnis heraus über Masaryk, den 
tschechischen Präsidenten, W. Hoffmann 
über die Mystik im Weltkriege, R. Otto 
gibt Anregungen zur Sammlung neuerer 
religiöser Lyrik.*') 

Nicht selten finden sich wertvolle Auf¬ 
sätze über religiöse und religionswissen¬ 
schaftliche Fragen auch in Zeitschriften all¬ 
gemeineren Inhalts wie den Preußischen 
Jahrbüchern. Überhaupt kann bei der Man¬ 
nigfaltigkeit der Beziehungen zwischen Re¬ 
ligion und Kultur, bei der Spezialisierung 


9) Inhalt der ersten Nr. 1920: Förster, 
Gott, die Dinge und wir. Witte, Natio¬ 
nalistisches oder weltweites Christentum? 
Rade, Vom kirchenpolitischen Kriegsschau- 

S latz. Kirchenpolitisches aus Preußen. H. 
> ose, Prudens Hahnemeyer. Verschiedenes. 



der religionswissenschaftlichen^Forschung 

und der Buntheit des religiöSGtt Lebens 
in Deutschland — auch die Religionsfeind¬ 
schaft . trägt bei uns z.-T. noch religiöse 
Züge — jede theologische Zeitschriftenschau 
auf begrenztem Raum nur einen Ausschnitt 
des Vorhandenen würdigen. Aber nicht.da- 
von soll hier weiter die Rede sein, sondern 
es sei zum Schluß noch einmal auf attfe 
bereits oben erwähnte Schwierigkeit hinge¬ 
wiesen. Zeitschriften lesen will jeder, wenn 
ihr Inhalt interessant ist oder seine Kennt¬ 
nis ihn in seiner Berufsarbeit fördert. Zeit¬ 
schriften halten und bezahlen fällt vielen 
schwer. Vielen wirklich nicht aus Geiz, 
sondern wegen der Verteuerung der gan¬ 
zen Lebenshaltung. Und doch gilt: fühlen 
wir überhaupt die Verpflichtung, das deut¬ 
sche Geisteserbe aus vergangenen Tagen 
durch diese dunklen Jahre hinüberzuretten 
in eine bessere Zukunft, dann gehört dazu 
auch dies, daß wir die wertvolleren von 
unseren Zeitschriften nicht untergehen lassen. 
Je schwerer es auch für unsere Bibliotheken 
wird, noch ausländische Zeitschriften zir be¬ 
ziehen, um so dringlicher wird die Pflicht, 
von den inländischen die wertvolleren wei¬ 
terbestehen zu lassen. Wir wollen nicht 
müde werden, dafür zu werben, daß, wer 
irgend helfen kann, auch die Verpflichtung 
fühle, zu helfen, sei es, indem er durch die 
gegebenen Organisationen die eigentlich 
wissenschaftlichen Zeitschriften mit Geld 
unterstützt, sei es — und das werden die 
meisten lieber tun — indem er sich den 
Vorteil verschafft, neben denTageszeitungen 
gemeinverständliche Zeitschriften zu bezie¬ 
hen, die ihm den Ertrag wissenschaftlicher 
Forschung vermitteln. Die Zeit der Not 
soll das Volk der Denker nicht ganz stumpf 
machen. Denken und Lesen aber, so tri¬ 
vial das klingen mag, gehören zusammen. 
Sollen Ideen leben und wirken, so müssen 
sie verbreitet werden. Hier liegt die höchste 
Aufgabe unserer Zeitschriften, und hier liegt 
unsere Verpflichtung gegen sie. 

Kiel, April 1920. 

H. Mulert* 




Für die Sdiriftleitung verantwortlich: Professor Dr. Max Cornicelius, Berlin W 30, Luitpoldstr&Be 4. 

Druck von B. G. Teubner ln Leipzig. 


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PR1NCET0N UNLVERSL 




INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT 

FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK 

14. JAHRGANG HEFT 8 AUG./SEPT. 1920 


Die ethnographischen Verhältnisse Rußlands. 


Von M. 

3. 

Über die übrigen Völker will ich nur 
das allerwichtigste bemerken und da¬ 
bei nicht systematisch nach einzelnen 
Sprachgruppen vorgehen, sondern zu¬ 
erst die Randgebiete, die am meisten 
interessieren, erwähnen. 

Finnland gehört geographisch nicht zu 
Rußland, kam aber 1809 von Schweden 
an das russische Reich, mit dem es 
durch eine Personalunion verbunden 
war, bis gegen Ende des vorigen Jahr¬ 
hunderts bureaukratische und militäri¬ 
sche sich nationalistisch gebärdende 
Imperialisten, denen ein solcher Staat 
im Staate ein Dorn im Auge war, seine 
Rechte zu vergewaltigen begannen. Die 
Mehrzahl der Bevölkerung besteht aus 
lutherischen Finnen (2200000 im J. 
1897, was auch für alle übrigen Zah¬ 
len gilt), die ehemaligen Herren, die 
Schweden (350000), leben hauptsäch¬ 
lich an der Küste. Finnland wird in Zu¬ 
kunft wohl einen Pufferstaat bilden, 
der wie die übrigen nordischen Staa¬ 
ten "äuf seine Neutralität stark bedacht 
sein dürfte. 

Teile der Finnen, wie die der ortho¬ 
doxen Religion angehörenden Karelier, 
leben in den angrenzenden und zer¬ 
streut auch in entfernten Gebieten Ru߬ 
lands, andere Splitter in den Gouver¬ 
nements Olonec (die Wepsen) und Pe¬ 
tersburg am Finnischen Meerbusen. 
Eine größere Einheit bilden unter den 

*) Siehe Heft 7. 


Murko. *) 

baltischen Finnen nach den Finnlän¬ 
dern nur noch die lutherischen Esthen 
(900000) in Esthland, im nördlichen 
Livland und auf der Insel Oesel, die nun 
einen besonderen Staat bilden werden. 
Von den alten Liven gibt es Reste 
nur noch in Kurland (bei 2000). 

Dann folgen die gleichfalls lutheri¬ 
schen, aber bereits indogermanischen 
Letten (1436000) im südlichen Liv¬ 
land, in Kurland und in den drei west¬ 
lichen Kreisen des Gouvernements 
Witebsk. Ob auch letztere zum neuen 
Lettland gehören werden, entzieht sich 
noch der Beurteilung. 

Unter den Esthen und Letten bilden 
zahlreiche Deutsche (1897 ungefähr 
10% der Gesamtbevölkerung) als Gro߬ 
grundbesitzer, Geistliche und überhaupt 
Vertreter der Intelligenz sowie Städter 
eine Oberschicht, die eine bedeutende 
Vergangenheit hat, aber infolge der 
auch dort immer stärker hervortreten¬ 
den demokratischen und sozialen Ideen 
in den Hintergrund gedrängt wird. 
Solche Fragen sind überall nicht bloß 
nationaler, sondern auch sozialer Na¬ 
tur; so richtet sich in Rußland die Re¬ 
volution auch gegen den Adel, obwohl 
er dieselbe Sprache spricht. 

Dieselbe Rolle wie die Deutschen un¬ 
ter den Letten und Esthen spielen die 
Polen unter den katholischen Li¬ 
tauern (1800000), die hauptsächlich 
an der Wilja und im Unterlauf des 
Niemen wohnen, im Gouvernement 
Kowno, in der westlichen Hälfte von 

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M. Murko, Die ethnographischen Verhältnisse Rußlands 


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Wilna und einem Teil von Grodno. 
sodann im Gouvernement Suwalki 
(Kongreß-Polen). Das Lettische und Li¬ 
tauische bilden mit dem ausgestorbenen 
Preußischen eine besondere baltische 
Sprachgruppe, die mit den slawischen 
Sprachen besonders nahe verwandt ist. 
Das Litauische ist von größtem Wert 
für die vergleichende Sprachwissen¬ 
schaft; es ist so altertümlich, daß es 
mit Recht ein Mammut unter den indo¬ 
germanischen Sprachen genannt wurde. 
Die Litauer standen Jahrhunderte voll¬ 
ständig unter polnischem Kulturein¬ 
fluß, der russische machte sich erst im 
letzten Jahrhundert durch die Verwal¬ 
tung geltend, außerdem studierten zahl¬ 
reiche Litauer an den russischen Uni¬ 
versitäten und wendeten die dort ge¬ 
holten freiheitlichen Ideen in dem Sinne 
an, daß sie ihr Volk in gleicher Weise 
von den Russen wie von den Polen zu 
emanzipieren suchten. 

Die genannten baltischen Gebiete ge¬ 
hören geographisch zu Rußland und 
sind für dasselbe von größter Bedeu¬ 
tung wegen ihrer Häfen. Vielleicht wer¬ 
den auch diese neuen Staaten es für 
vorteilhaft halten, mit Rußland in ir¬ 
gendeine nähere Beziehung zu treten, 
denn.sonst werden Lettland und Esth- 
land allzusehr unter englischen Einfluß 
geraten; Litauen möchte aber auch das 
neue Polen wieder für eine Union ge¬ 
winnen. Die Grenzen Litauens sind von 
größter Wichtigkeit für die Frage, ob 
Deutschland unmittelbare Berührung 
mit Rußland haben wird oder nicht. 

Das bisherige Polen, wie es der Wiener 
Kongreß geschaffen hatte, mit 9455943 
Einwohnern, von denen die Polen 
71,8o/o bildeten, gehörte geographisch 
nicht zu Rußland und trieb sich wie 
ein Keil nach Mitteleuropa. Mit seinem 
Verluste gewinnt Rußland eine stark 
verkürzte, fast gerade Verteidigungs¬ 


linie; die zentralrussischen Gouverne¬ 
ments werden auch den Wegfall der 
mit ihnen sehr stark konkurrierenden 
polnischen Industrie nicht beklagen, 
wohl wird aber diese den unerme߬ 
lichen russischen Markt schwer vermis¬ 
sen. Die Grenzen nach dem Osten sind 
zwar noch nicht bestimmt und hängen 
zum Teil davon ab, ob Polen der En¬ 
tente noch gute Dienste gegen den 
Bolschewismus leisten kann, doch wer¬ 
den sich alle Parteien Rußlands kaum 
viel von den ehemaligen weiß- und 
kleinrussischen Provinzen Polens neh¬ 
men lassen, und jede größere Annexion 
wäre auf die Dauer unhaltbar, denn 
die polnisch-russische Geschichte würde 
bei den bisherigen Anschauungen von 
neuem beginnen. Auf jeden Fall wird 
aber ein großer Teil der polnischen 
Oberschicht in russischen Gebieten den 
starken Rückhalt des Mutterlandes, wie 
sie ihn bisher inr^er’ .slb des russischen 
Reiches hatte, verlieren. Begreiflicher¬ 
weise wird es daher im neuen Polen 
außer den Sozialdemokraten noch an¬ 
dere Kreise geben, die auf gute Be¬ 
ziehungen mit Rußland Gewicht legen 
werden. 

In Polen und in allen einst polni¬ 
schen, litauischen, weiß- und kleinrus¬ 
sischen Provinzen sind hauptsächlich 
in Städten und Märkten ungemein stark 
die Juden vertreten. 1897 gab es ihrer 
in Rußland 5200000, in Galizien unge¬ 
fähr 815 000, in der Bukowina 100000, 
also schon damals unter Polen und 
Russen mehr als 6 Millionen. Gegen 
90o/o dieser ganzen jüdischen Bevöl¬ 
kerung sind besitzlose Massen, wahre 
Proletarier, die in Armut und in un¬ 
hygienischen Verhältnissen leben. Ein 
Drittel von ihnen widmet sich dem 
Handwerk, ein zweites Drittel dem Han¬ 
del, was ein ganz unnatürliches Ver¬ 
hältnis ist; 10% bilden Taglöhner, 


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M. Murko, Die ethnographischen Verhältnisse Rußlands 


2,1% Fabrikarbeiter, 2°/o Landwirte, 
18,8% Arme, die den Gemeinden zur 
Last fallen.“) Diese Juden sprechen 
einen aus Deutschland mitgebrachten 
verdorbenen, mit hebräischen und son¬ 
stigen Elementen gemischten fränki¬ 
schen Dialekt („Jiddisch, Jargon“), ge¬ 
ben Bücher, Zeitschriften und Zeitun¬ 
gen nicht bloß hebräisch, sondern auch 
in diesem Dialekt mit hebräischen Let¬ 
tern heraus, haben überhaupt eine Li¬ 
teratur, die zu den großen russischen 
Schriftstellern als ihren Lehrmeistern 
emporblickt, und ein sehr realistisches 
Theater. Das alles macht es begreiflich, 
daß diese polnischen und russischen 
Juden eine Assimilation größtenteils ab¬ 
lehnen, sich als eine besondere Nation 
betrachten und auch entsprechende 
Rechte verlangen. In dem ersten ukra¬ 
inischen Kabinett und auch in eini¬ 
gen folgenden gab es (Jäher sogar einen 
Minister für jüdisch&^jAngelegenheiten. 
Einen Ausfluß dieses Nationalismus 
bildet auch der Zionismus, dem nun 
Palästina zugewiesen werden soll, das 
jedoch bei weitem nicht genügen wird. 
Natürlich fanden bei den Juden auch 
sozialistische und revolutionäre Ideen 
einen besonders fruchtbaren Boden und 
der „Allgemeine jüdische Arbeiterbund 
in Rußland, Polen und Litauen“, kurz 
„Bund“ genannt, ist sehr bekannt ge¬ 
worden. Außerhalb des „Ansiedlungs¬ 
rayons“ konnten sich früher Juden nur 
als Kaufleute erster Gilde, in akademi¬ 
schen Berufen und als Handwerker au.f- 
halten, was allerdings vielfach umgan¬ 
gen wurde. In der Krim und auf dem 
Kaukasus gibt es aber davon verschie¬ 
dene, nicht zahlreiche Juden, die Ka- 
raimen, welche vollberechtigt sind. 

Bevor wir vom Westen scheiden, 
müssen wir auch der zahlreichen deut¬ 


9) Jos.Melnik, Russen über Rußland,567. 


sehen Kolonisten in Polen, in den 
Gouvernements Wolhynien, Beßara- 
bien, Cherson und Taurien und an der 
Wolga gedenken. Durch den Krieg ha¬ 
ben nur die an der österreichischen 
Grenze gelegenen Kolonien besonders 
gelitten. Im allgemeinen leben aber die 
deutschen Kolonisten in sehr guten 
Verhältnissen. Als Beispiel können die 
Kolonien im Gouvernement Taurien 
dienen. Dort wurde zu Ende des 18. 
und zu Anfang des 19. Jahrh. den 
Deutschen Land in der Hälfte der Re¬ 
publik Sachsen zugewiesen, heute be¬ 
sitzen sie das dreifache Sachsen. Die 
durchweg reichen Bauern, die 10—12 
Schweine schlachten, „sind stolz wie 
Herrscher, selbständig wie Könige“ (aus 
dem Vortrag eines Kriegsteilnehmers). 
Besonders stark sind die Kolonien an 
der Wolga, wo es auch viele Katholiken 
gibt. Ganz erstaunt war ich in Saratov 
über eine katholische Kathedrale im 
gotischen Stil. Das Bistum Tyraspol hat 
seinen Namen nach einem Ort der 
Krim aber die Regierung meinte, es 
sei bei den Deutschen an der Wolga 
besser aufgehoben. Nun sollen auch 
Kommunisten aus Deutschland dahin 
wandern, dürften sich aber mit den 
dortigen selbstbewußten Bauern an¬ 
fangs schlecht verstehen und könnten 
dort „katholisch“ gemacht werden. 
Während des Krieges sprach und 
schrieb man öfters von einer Rückwan¬ 
derung der deutschen Kolonisten, ins¬ 
besondere von einer Verpflanzung nach 
Kurland. 10 ) Ich mußte dabei immer be¬ 
denklich den Kopf schütteln: der Über¬ 
gang dieser Bauern von einer exten¬ 
siven Wirtschaft im Steppengebiet zu 
einer intensiven im Waldland wäre 
nicht so einfach, auch wenn sie dazu 
Lust hätten. 


10) Sogar Hettner, Rußland, 302. 

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M. Murko, Die ethnographischen Verhältnisse Rußlands 


Deutsche gibt es auch sonst überall 
in Rußland, namentlich in den beiden 
Hauptstädten. In Petersburg besitzen 
sie im hervorragendsten Stadtteil zwei 
höhere Schulen. Die Zahl aller Deut¬ 
schen in Rußland wurde von Florinskij 
1907 auf 2 Millionen geschätzt. 

Geographisch nicht zu Rußland ge¬ 
hört das ein besonderes Verwaltungs¬ 
gebiet bildende Kaukasien. Dieses 
wird jedoch kaum zur Hälfte verloren 
gehen, denn diesseits des Kaukasus 
wohnen ja meist Russen. Im Hochge¬ 
birge selbst und jenseits des Kaukasus 
finden wir aber eine Menge kleiner, 
oft nur auf einzelne Täler beschränk¬ 
ter verschiedenartiger Völkerschaften, 
deren Organisierung ungemein schwer 
fallen wird. Auf Rittichs Karte werden 
für sie elf Farben verwendet und dazu 
noch eine zwölfte für „andere kleinere 
Stämme“. 

Da gibt es vor allem indogermani¬ 
sche Völker, die der iranischen S^rach- 
gruppe angehören. Am zahlreichsten 
sind die Armenier (bei 1200000), 
zerstreut in den Gouvernements Eri¬ 
wan (50%), Elizavetpol (35%) und 
Tiflis (25%), auch sonst am Kaukasus 
und am Schwarzen Meere. Sie sind un- 
gemein regsam und geschäftstüchtig, 
die „Kapitalisten“ und die „Juden“ des 
Kaukasus, welche sie aber ebenso wie 
die Griechen übertreffen sollen. Das 
Oberhaupt ihrer alten Nationalkirche, 
der Katholikos aller Armenier, hatte 
seit 1878 seinen Sitz in Rußland, in 
Etschmiadzin. Weiter gehören zur ira¬ 
nischen Sprachgruppe die Taten 
(125000) und Talaschinzen (unge¬ 
fähr 50000) im Gouvernement Baku, 
Kurden (bei 100000), die mit ihren 
Stammesgenossen in der Türkei als 
Mohammedaner die ärgsten Gegner der 
Armenier sind, und Ossetinen (bei 
70000) im mittleren Hochgebirge. 


Weiter gibt es eine Gruppe kaukasi¬ 
scher Völkerschaften, unter denen die 
Georgier (russ. Grusinen) im Gou¬ 
vernement Tiflis (bei 400000), Ime- 
retier und Kurier (bei 500000) in 
Kutais, Mingrelier in Kutais und 
Lasen in Batum (bei 220000), Les- 
ginen (bei 600000) in Dagestan und 
eine Reihe kleinerer Stämme, die wohl 
im neuen Staat Georgien vereinigt 
sein werden. Was mit anderen Völker¬ 
splittern wie Tschetschenzen, Tscherkes- 
sen und Abchasiern geschehen soll, ist 
mir nicht klar. 

Verhältnismäßig stark sind am Kau¬ 
kasus die Tataren, vor allem die 
Aderbendzaner (diese Schreibung 
gibt die Aussprache ebenso ungenau 
wieder wie die andere: Aserbeid- 
schaner, 1250000), die nach Flo¬ 
rinskij Nachkommen der seldschuki- 
schen Türken, nach Fr. Müller und der 
Karte von Haardt aber iranische Tür¬ 
ken sein sollen. Weiter sind zu nennen 
Nogaische Türken, hauptsächlich 
im Gouvernement Stavropol, Kuray- 
ken, Osmanen usw. 

Vom Pariser Rat ist ebenso wie Ar¬ 
menien, dessen größerer Teil aber 
der Türkei genommen werden soll, und 
Georgien auch ein selbständiger 
Staat Aderbendzan anerkannt wor¬ 
den, der aber nur die im südlichen 
Kaukasien gelegenen Tataren umfas¬ 
sen kann. Ein schweres Leben wird Ar¬ 
menien haben, das Türken und Ta¬ 
taren nicht bloß als Nachbarn, son¬ 
dern auch innerhalb seiner Grenzen 
zählen wird. Man sehe sich auf einer 
ethnographischen Karte nur die Lage 
von Eriwan an, das die Hauptstadt sein 
soll. Überdies ist zu erwägen, daß kein 
Volk durch den Krieg so viel Menschen 
verloren hat wie die Armenier durch 
Massakers und „Internierungen“ in der 
Wüste, wo sie eben zugrunde gingen. 


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M. Murko, Die ethnographischen Verhältnisse Rußlands 


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Die Zahl solcher Opfer soll 1,2 Millio¬ 
nen betragen haben, d. h. so viel wie 
es Armenier in Rußland gab. Wer wird 
so zersplitterte Teile vereinigen, Zu¬ 
sammenhalten und verteidigen? Der 
südliche Kaukasus kann dem Völker¬ 
bund viel zu schaffen geben, oder die 
neuen Staaten werden bei den Gro߬ 
mächten Rückhalt suchen, und da 
kommt natürlich auch Rußland wieder 
in Betracht, so daß sich die Geschichte 
von Georgien und Armenien bis zu 
einem gewissen Grade wiederholen 
kann. 

Auf dem Kaukasus und am Schwar¬ 
zen Meer gibt es auch Griechen (bei 
190000). Sonst verdienen im Gebiet des 
Schwarzen Meeres Erwähnung noch 
Rumänen am linken Dniestrufer und 
bulgarische Kolonisten (im ganzen 
bei 200000), die sich nach den russi¬ 
schen Türkenkriegen, meist erst im 19. 
Jahrh. angesiedelt haben. Interessant ist 
die Tatsache, daß um die Mitte des 18. 
Jahrh. in den Gouvernements Jekate- 
rinoslaw und Cherson zahlreiche Ser¬ 
ben aus Ungarn eingewandert sind, 
die ein besonderes Territorium erhiel¬ 
ten, heute aber trotzdem zum größten 
Teil in den sie umgebenden Kleinrus¬ 
sen aufgegangen sind, was bei der gro¬ 
ßen Sprachverwandtschaft und der 
Gleichheit der Religion leicht begreif¬ 
lich ist. 

In der Krim gibt es noch 150000 der 
ehemals mächtigen und viel zahlrei¬ 
cheren, aber durch starke Auswande¬ 
rungen geschwächten Krim-Tata¬ 
ren, in denen auch Griechen, Genuesen 
und Goten aufgegangen sind. Um Jalta 
herum sieht man es so manchem Ta¬ 
taren deutlich an, daß er ein Nach¬ 
komme der Männer ist, bei denen Iphi¬ 
genie Priesterin war, ebenso erinnern 
daran Namen wie Ai Petri, Ai Todor 
(aus hagios = heilig). 


4. 

Über die Völker im Innern und Osten 
von Rußland können wir uns kurz 
fassen. 

Vor allem sind neben den baltischen 
Finnen zu nennen finnische Völ¬ 
kerschaften an der Wolga und 
Kama. Die Wolgagruppe bilden die 
Tscheremissen (bei-400000), haupt¬ 
sächlich im Gouvernement Kasan, und 
Mordwinen (ungefähr 1000000) in 
verschiedenen Gouvernements rechts 
und links der Wolga. Eine Million 
scheint nach westeuropäischen Begrif¬ 
fen schon ziemlich viel, aber man muß 
bedenken, daß die Mordwinen in klei¬ 
nen Gruppen weit herum zwischen Rus¬ 
sen und Tataren eingesprengt erschei¬ 
nen. Da beide Völker orthodoxe Chri¬ 
sten sind, allerdings oft nur halbe, so 
nehmen sie russische Einrichtungen 
und Gebräuche und zuletzt auch die 
Sprache sehr leicht an, ja sie werden 
zum engeren Anschluß an die Russen 
sogar gezwungen, wenn sie neben Be- 
kennern des selbstherrlichen und sogar 
offensiven Islams wohnen. An der 
Kama finden wir die Wotjaken (bei 
400000) im Gouvernement Wjatka, 
Permjaken (nur noch 90000), ge¬ 
nannt nach der Gouvernementsstadt 
Perm, und Zyrjanen (z tönendes s) 
im Norden (170000). Auch diese Split¬ 
ter nehmen die russische Kultur gern 
an. Daß sie es weit bringen können, 
ersieht man daraus, daß die Zyrjanen 
die Juden des Nordens genannt wer¬ 
den, was viel bedeutet, wenn man be¬ 
denkt, daß sich der Großrusse selber 
auf Geschäfte sehr gut versteht. Die 
Exploitierung der stammverwandten 
Samojeden ist allerdings auch keine 
besonders schwierige Sache. 

Von der ugrofinnischen Gruppe gibt 
es nur noch kleine Reste. Schon am 
Ural wohnen die Wogulen (ungefähr 


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M. Murko, Die ethnographischen Verhältnisse Rußlands 


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7000) und im nordwestlichen Sibirien 
die Ostjaken (25000), die nächsten 
Sprachverwandten der Magyaren in Un¬ 
garn. 

Im hohen Norden Rußlands und 
Westsibiriens leben verschiedene Zweige 
der im Rückgang befindlichen Samo¬ 
jeden (bei 20000). 

Der finnischen Völkerschaften wegen 
kann also Rußland ruhig schlafen. Mehr 
Bedeutung haben die Völker der al- 
tai sehen Sprachgruppe: Türken, 
Mongolen und Tungusen. 

Türken gab es gegen 12 Millionen 
(1897 bildeten sie 10,8°/o der Gesamt¬ 
bevölkerung, die Finnen nur 2,72<>/o), 
die in verschiedenen Stämmen von der 
Wolga bis Ostsibirien, von Transkau- 
kasien bis zum Polarkreis zerstreut 
wohnen. Diese türkischen Völker waren 
Nomaden und sind es meist noch heute, 
doch viele Stämme sind schon ganz 
seßhaft geworden und sogar zum 
Ackerbau übergegangen; man kann 
auch innerhalb eines und desselben 
Stammes verschiedene Zwischenstufen 
beobachten. Die Tataren des Kau¬ 
kasus und die Reste der Krimtataren 
haben wir schon erwähnt. Die fortge¬ 
schrittensten sind die Wolgatata¬ 
ren (1350000), die in allen Gouverne¬ 
ments weit und breit rechts und links 
der Wolga bis Astrachan zerstreut sind. 
Das sind die eigentlichen Reste jener 
Tataren, die einst Rußland beherrsch¬ 
ten. Sehr wenig! Nach dem Untergang 
ihrer Reiche sind die höheren Kreise 
Christen geworden, um sich eine privi¬ 
legierte Stellung zu sichern, und in 
den Russen aufgegangen, weshalb der 
Titel „Fürst“ ( Knjaz ) ganz herabsank 
(in russischen Städten nennt man noch 
heute so die herumziehenden tatari¬ 
schen Händler), größere Massen sind 
aber nach dem Süden und Osten ge¬ 
zogen, um später wieder unter russi¬ 


sche Herrschaft zu geraten. Anderseits 
haben aber Tataren finnische Völker¬ 
schaften assimiliert. So sind ein Ge¬ 
misch von Finnen und Tataren die 
Tschuwaschen (bei 650000), haupt¬ 
sächlich in den Gouvernements Kasan 
rechts der Wolga und Simbirsk. Ihrer 
finnischen Vorfahren gedenken noch die 
Meschtscherjaken (bei 130000) und 
Teptaren (über 300000) in den Gou¬ 
vernements Ufa und Orenburg, zum Teil 
auch in Samara, Perm und Wjatka. 
die man schon zu den Baschkiren rech¬ 
net. Die Baschkiren selbst (über 
1300000) in den Gouvernements Ufa 
und Orenburg, teilweise auch in Sa¬ 
mara, Perm und Wjatka werden schon 
von arabischen Schriftstellern des 10. 
bis 12. Jahrh. erwähnt, wurden bereits 
1556 Moskau angegliedert und bieten 
das Beispiel des allmählichen Rück¬ 
ganges eines Steppenvolkes, das zum 
Teil gewaltsam zu Bauern gemacht 
wurde. 

Besser haben ihre Nomadenverfas¬ 
sung die Stämme jenseits des Urals be¬ 
wahrt. Am stärksten sind die Kir¬ 
gisen (Kirgis-Kajsaken), die über drei 
Millionen Seelen zählen und seit dem 
18. Jahrh. in drei Horden geteilt sind, 
in eine große, mittlere und kleine, von 
denen aber die kleine die zahlreichste 
ist; sie bevölkern das weite Steppen¬ 
gebiet vom Bassin des Balchaschsees 
und der Vorgebirge von Tian-Schan bis 
zum Kaspischen Meere und den Nie¬ 
derungen der Wolga. Die Kleine Horde 
wandert bis zum Kaspischen Meere, 
und von ihr hat sich 1801 eine „innere“ 
Horde abgetrennt, die vom Ural bis zur 
Wolga im Gouvernement Astrachan no¬ 
madisiert. Südlich von den Kirgisen 
sind vom Osten nach Westen gelagert 
die Karakirgisen (bei 350000), Us¬ 
beken (bei 600000), Sarten (bei 
700000), ein ursprünglich iranischer 


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M. Murko, Die ethnographischen Verhältnisse Rußlands 


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Stamm, im russischen Turkestan (noch 
heute sind daselbst Iranier die Tad¬ 
schiken), Tarantschen (bei 50 000) 
und Turkmenen (bei 600000). 

Im nördlichen Sibirien gibt es zahl¬ 
reiche kleinere Stämme, die zum Teil 
ursprünglich Finnen waren. Bedeutung 
haben nur die Jakuten (bei 230000) 
in Ostsibirien, hauptsächlich im Bassin 
der Lena, deren Sprache den alttürki¬ 
schen Charakter am besten bewahrt hat 
und dem Sanskrit unter den indoger¬ 
manischen Sprachen verglichen wird. 
Sie geben sich aber mit Viehzucht, 
Ackerbau und Handel ab (man nennt 
sie die Juden von Ostsibirien), halten 
an ihren alten Sitten und ihrer Sprache 
fest, sind offiziell orientalische Chri¬ 
sten, doch gibt es unter ihnen auch 
noch Anhänger des Schamenentums. 
Ebenso sind die Tschuwaschen an der 
Wolga erst im 18. Jahrh. halbe Chri¬ 
sten geworden, unter den Wolgatataren 
gibt es nur wenige getaufte, alle üb¬ 
rigen türkischen Völker sind aber 
Bekenner des Islam; am meisten 
orthodox sind die Wolgatataren, die 
mit den Sarten in Zentralasien auch 
die meiste Geistlichkeit den weniger 
glaubenseifrigen Steppenvölkem liefern. 

Zur mongolischen Gruppe gehören 
die Kalmücken (bei 202000) im Gou¬ 
vernement Astrachan am rechten Ufer 
der Wolga und Stavropol am Kauka¬ 
sus, außerdem noch in anderen Ge¬ 
bieten des europäischen und asiatischen 
Rußland zerstreut. In Ostsibirien fin¬ 
den wir um den Baikalsee die Bur¬ 
jaten (bei 270000). Beide Stämme ge¬ 
hören den Buddhisten an. Man kann 
also Anhänger des Dalai Lama auch 
in Europa studieren, wenn man eine 
Wolgafahrt bis zur Mündung macht 
oder vom Schwarzen Meer über Ro- 
stov am Don einen Abstecher zu den 
Kalmücken unternimmt. 


Tungusen (bei 44000) nomadisieren 
auf den Riesenflächen vom Jenissei 
und den nördlichen Tundren bis zum 
Ochotskischen Meer und Amur. Klei¬ 
nere Völker dieser Gruppe zählen nur 
nach Tausenden, zahlreicher sind schon 
Chinesen, Koreaner und Japaner auf 
russischem Boden; im Nordosten gibt 
es aber wieder nur nach einigen Tau¬ 
senden oder sogar Hunderten zählende 
Völker, über deren Zugehörigkeit man 
sich gar nicht klar ist oder die schon 
zur amerikanischen Gruppe gehören. 
Bei den Kamtschadalen auf Kam¬ 
tschatka hat man am Ende des 18. 
Jahrh. noch das Steinzeitalter vorge¬ 
funden, bei den Tschuktschen aber 
noch spät im 19. 

Man sieht, daß die 100 und mehr 
Völker, die man in Rußland zählt, im 
ganzen Osten ohne besondere Bedeu¬ 
tung sind. Eine Macht können nur die 
verhältnismäßig zahlreichen türkischen 
Völker durch das vereinigende Band 
des Islams werden, aber auch sie sind 
auf Riesenflächen zerstreut, zersplittert 
und schwach gegenüber den Errungen¬ 
schaften der modernen Kultur, über 
die Rußland durch seine Zivil- und 
Militärorganisation, durch seine Eisen¬ 
bahnen und seinen Handel verfügt. Man 
muß auch zugeben, daß es die Russen 
verstehen ihre asiatischen Völker zu be¬ 
handeln, ja es gibt Panasiatisten unter 
den Russen, die ihrem Volk besondere 
Fähigkeiten für ein besseres Verständnis 
des Orients zuschreiben. Nur zwei Bei¬ 
spiele für diese Behauptungen. Nach 
mehr als 30 Jahren erinnere ich mich 
noch lebhaft eines Vortrages in der 
Petersburger Geographischen Gesell¬ 
schaft, wo ein Reisender berichtete, 
wie es irgendwo bei den Kirgisen keine 
Gotteshäuser gab. Auf eine Frage der 
Behörden, welchem Glauben sie ange¬ 
hören, erklärten die Bewohner, sie seien 


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Wilhelm Abb, Persönliche Erinnerungen an Friedrich Althoff 


688 


Mohammedaner. Darauf baute ihnen 
Rußland Moscheen, aber die offenbar 
nur scheinbar zum Islam Bekehrten be¬ 
suchten sie nicht und die Verwaltungs¬ 
behörde geriet auf den Einfall, sie 
durch Gendarmen hineinzutreiben. Das 
heilige Rußland im Dienste Moham¬ 
meds! Auch die ältesten kleinen und 
hohen Exzellenzen brachen da in ein 
schallendes Gelächter aus. Ebenso selt¬ 
sam ist folgendes. In Ostsibirien gab 
und gibt es noch Heiden, unter denen 
Schamanen ihr Unwesen treiben. Da die 
russische Kirche wenig missionsfähig 
ist, empfahlen Orientalisten wie Pozd- 
neev die Einführung des Buddhismus 
als Surrogat für das Christentum, was 
sich in der Tat bei den Burjaten be¬ 
währte. Daß sich auch die Bolschewi¬ 
sten ganz besonders auf die Gewinnung 
asiatischer Völker verstehen, zeigen die 
Ereignisse aus jüngster Zeit. 

Meine Ausführungen waren etwas 
lang, um so kürzer kann der Schluß 
sein. Ich glaube durch Vorführung der 
wichtigsten Tatsachen gezeigt zu ha¬ 
ben, daß Rußland, mag kommen was 
immer, ein großes und mächtiges Reich 


bleiben und auch nach den stärksten 
Amputationen über 150 Millionen Ein¬ 
wohner zählen wird. Wenn es geo¬ 
graphisch gar nicht zu ihm gehörige 
Gebiete wie Finnland, Polen und den 
südlichen Kaukasus verliert, so ist es 
nirgends in seinem .Lebensnerv getrof¬ 
fen, im Gegenteil, es wird manche 
Schwierigkeiten los, gewinnt an Ein¬ 
heitlichkeit, das herrschende Element 
wird noch mächtiger und sein tausend¬ 
jähriges Reich kann sich mit um so 
größerem Erfolg seinen Aufgaben im 
Innern und im Osten zuwenden. Nach 
dem Gesetz der Anziehungskraft gro¬ 
ßer Massen auf kleinere kann Rußland 
sogar Gebiete bewahren, die verloren 
zu sein scheinen, oder auch seinen 
Machteinfluß erweitern, namentlich 
wenn es ihm gelingt sich zu einer ge¬ 
ordneten Föderativrepublik umzugestal¬ 
ten. Auf jeden Fall braucht die Welt 
aus wirtschaftlichen, kulturellen und 
politischen Gründen ein freies demokra¬ 
tisches Rußland, das namentlich in 
einem wirklichen Völkerbund ebenso¬ 
wenig entbehrlich ist wie Deutschland. 


Persönliche Erinnerungen an Friedrich Althoff. 

Von Wilhelm Abb. 


Von Friedrich Althoff und seiner Le¬ 
bensarbeit ein Gesamtbild zu schaffen, 
ist seinem Biographen noch Vorbehal¬ 
ten. Einzelne Skizzen der originalen 
Persönlichkeit und ihrer kraftvollen Be¬ 
tätigung sind bereits von berufenen 
Federn dargeboten worden (den Lesern 
dieser Zeitschrift zuletzt gelegentlich 
der zehnjährigen Wiederkehr seines To¬ 
destages im Oktober 1918 von P. Kehr). 
Dem mir nahe gelegten Wunsche, aus 
meinem Verkehr mit Althoff einige per¬ 
sönliche Erinnerungen aufzuzeichnen, 
entspreche ich gern in der Hoffnung, 


durch die Beleuchtung seines Bildes 
aus der Perspektive eines früheren Un¬ 
tergebenen zum Verständnis seines We¬ 
sens und Wirkens beitragen zu kön¬ 
nen. War es mir doch vergönnt, ihm 
von 1884 bis 1888 als Expedient und 
Kalkulator zur Seite zu stehen und mit 
ihm bis an sein Lebensende in dienst¬ 
lichen und freundschaftlichen Beziehun¬ 
gen zu bleiben. 

1 . 

Friedrich Althoff wurde im Oktober 
1882 in das preußische Kultusmini- 


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Wilhelm Abb, Persönliche Erinnerungen an Friedrich Althoff 


690 


sterium berufen. Seine eigenartige Per¬ 
sönlichkeit machte hier bald viel von 
sich reden. Er war so ganz anders als 
die übrigen Vortragenden Räte, in sei¬ 
ner äußeren Erscheinung wie in seinem 
Wesen. Original in jeder Beziehung, 
fragte er nicht nach dem Herkömm¬ 
lichen. Er war ein Feind des Schemas 
und folgte nur der eigenen Empfin¬ 
dung und Überlegung ohne Rücksicht 
auf Bequemlichkeit, ohne Furcht vor 
abfälliger Kritik und unerwünschten 
Folgen seines Handelns. Sein höfliches, 
zuvorkommendes Benehmen, auch im 
Verkehr mit Untergebenen, fiel ange¬ 
nehm auf. Die ihm zugewiesenen Ex¬ 
pedienten behandelte er auf gleicher 
gesellschaftlicher Stufe als „Mitarbei¬ 
ter“, wie er sie mit Vorliebe zu be¬ 
zeichnen pflegte, und machte ihnen bei 
seinem Dienstantritt einen häuslichen 
Besuch. Wo sich Gelegenheit bot, 
suchte er sich in seinem neuen Wir¬ 
kungskreise persönlich zu orientieren. 
Den einzelnen Beamten trat er dabei 
menschlich näher, indem er an ihren 
persönlichen Verhältnissen Interesse be¬ 
kundete. Seine „Mitarbeiter“ suchte er 
bei gründlicher Besprechung der ge¬ 
schäftlichen Sachen in seine Gedanken¬ 
welt einzuführen und zu selbständiger 
Auffassung und gewissenhafter Arbeit 
anzuspornen. Selbst immer im Dienst 
und mit dienstlichen Aufgaben be¬ 
schäftigt, erwartete er auch von ande¬ 
ren, daß sie ihre volle Kraft und Zeit 
ihren Dienstpflichten zuwendeten. Lei¬ 
der machte sich bei ihm ein Mangel 
an richtiger Zeiteinteilung bemerkbar. 
Eine bestimmte Arbeits-, Essens- und 
Ruhezeit gab es für ihn nicht. Er be¬ 
nutzte sein Arbeitszimmer weit über die 
übliche Zeit hinaus, in der die unum¬ 
schränkte Besenherrschaft der Scheuer¬ 
frauen in ihre Rechte tritt, und scheute 
nicht vor späten Abend- und Nacht¬ 


stunden zurück. Dies machte ihn für 
seine Umgebung unbequem und führte 
anfänglich zu häufigerem Personal¬ 
wechsel. Althoff hielt selbst Umschau 
unter den jüngeren Kräften des Sekre¬ 
tariats, um eine persönliche Wahl zu 
treffen. Auf einer solchen Suche nach 
einem neuen „Mitarbeiter“ stieß er auf 
mich, der ich mich nicht gerade zu 
ihm hingezogen fühlte, da ich außer¬ 
halb Berlins wohnte und dadurch auf 
pünktliche Innehaltung der Arbeitszeit 
angewiesen war. Im Laufe der Unter¬ 
redung verlangte Althoff von mir eine 
offene Antwort, weshalb ich anschei¬ 
nend mit ihm nichts zu tun haben 
wollte. Meine freimütige Erwiderung, 
daß seine übermäßigen Anforderungen 
an Kraft und Zeit und die darauf zu¬ 
rückzuführende teilweise Erkrankung 
seiner Beamten die Beschäftigung in 
seinem Referat nicht begehrenswert er¬ 
scheinen ließen, hatten den unerwarte¬ 
ten Erfolg, daß Althoff, wie er sagte, 
nun besonderen Wert darauf legte, mir 
eine bessere Meinung von sich beizu¬ 
bringen. Alle Einwendungen nützten 
nichts. Mein Schicksal war entschieden. 

Das anfänglich nur korrekte Verhält¬ 
nis zwischen uns gestaltete sich bei 
näherer Bekanntschaft schrittweise im¬ 
mer wärmer. Der Einblick in die gei¬ 
stige Werkstatt des hervorragenden 
Mannes zwang zur höchsten Achtung; 
Vorbild, Belehrung und Vertrauen zu 
meinem Können weckten Interesse und 
Arbeitslust. Egoistische Regungen mu߬ 
ten in der Althoffschen Atmosphäre 
von Edelsinn und Herzensgüte verküm¬ 
mern. Mit den befürchteten unregelmä¬ 
ßigen Tischzeiten hatte es allerdings 
nach meiner Übersiedelung nach Ber¬ 
lin seine Richtigkeit. Althoffs wachsende 
Arbeitslast machte es seiner Umge¬ 
bung oft tagelang unmöglich, seiner zur 
Erledigung der laufenden Dienstge- 


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Wilhelm Abb, Persönliche Erinnerungen an Friedrich Althof! 


692 


schäfte habhaft zu werden. Führte eine 
glückliche Fügung ihn mit einer Frage 
zu mir, gelang es der angewandten 
List nur selten, ihn zur Besprechung an¬ 
derer Sachen zu fesseln. Bald merkte 
er die Absicht und wurde — unsichtbar. 
Zur Abwehr derartiger Überfälle ver¬ 
fügte er über eine in reicher Erfah¬ 
rung angeeignete verblüffende Taktik. 
Aus dem anfänglich festgehaltenen 
Bureauschluß um drei Uhr wurde es 
vier, fünf, auch sechs Uhr. Dann hieß 
es oft: „jetzt geht es nicht mehr. Viel¬ 
leicht versuchen wir es heute abend 
oder morgen früh oder kommen Sie 
mit mir zu Tisch. Sie können ja Ihrer 
Frau Gemahlin eine Rohrpostkarte 
schreiben." Einmal überraschte uns die 
Morgensonne gegen fünf oder sechs 
Uhr in seiner Wohnung. Nach minde¬ 
stens achtstündiger Arbeitszeit auf dem 
Bureau waf ich seiner Einladung zu 
Tisch gefolgt. Das behagliche Mahl mit 
selbstbereiteter Bowle und einer Ha¬ 
vanna hatte den Hausherrn derart ge¬ 
stärkt und angeregt, daß er gleich 
einen zweiten Normalarbeitstag darauf 
folgen ließ. Während der Nacht wurde 
mehrfach aus dem Schlafzimmer ener¬ 
gisch geschellt, die Mahnungen der 
Gattin zum Schlußmachen lösten aber 
nur ein ärgerliches „ich komme ja 
schon" aus, und bei Sonnenschein er¬ 
folgte der aufmunternde Scheidegruß: 
„So gegen elf Uhr sehen wir uns wohl 
auf dem Ministerium, vielleicht haben 
wir dann schon etwas von den be¬ 
sprochenen Sachen fertig.“ 

Althoffs Wartezimmer war der 
Schrecken seiner zahlreichen Besucher, 
die gut daran taten, mit einigen Stun¬ 
den Wartezeit zu rechnen und sich ent¬ 
sprechend mit Lektüre und Proviant 
zu versehen. Wer gewohnt oder ge¬ 
zwungen war, mit seiner Zeit haus¬ 
hälterisch umzugehen, empfand eine er¬ 


klärliche Scheu, es öfter, als unbedingt 
nötig, in Anspruch zu nehmen. Die 
Hoffnung aber, das Interesse des All¬ 
gewaltigen für einen Wunsch zu fin¬ 
den, und das Bewußtsein, dann auf die 
kräftigste und wohlwollendste Förde¬ 
rung rechnen zu können, zogen mit ma¬ 
gischer Gewalt immer wieder hin zu 
dem oft verwünschten Orte schwerer 
Geduldsproben. 

Trotz aller Arbeitsüberlastung war 
Althoff nicht nervös. Er kannte kein 
Überhasten und hatte Zeit und Ruhe 
bei allem, was er vornahm. Bei Ver¬ 
handlungen wie bei Unterhaltungen, bet 
der Arbeit wie bei der Erholung war 
er stets ganz bei der Sache und ließ 
an Gründlichkeit nichts zu wünschen 
übrig. Mit der Fassung eines Schrift¬ 
stücks oder Briefes war er nicht eher 
zufrieden, bis er den Eindruck hatte, 
besser und korrekter könne der beab¬ 
sichtigte Inhalt nicht zum Ausdruck 
kommen. So mancher junge Doktor, 
der von ihm gelegentlich eines Be¬ 
suches zu einer Dienstleistung heran¬ 
gezogen wurde, hat Blut und Wasser ge¬ 
schwitzt, ehe er die Zufriedenheit des 
Meisters erlangte, auch wenn es sich 
nur um eine symmetrisch geordnete 
Adresse auf einem Briefumschläge han¬ 
delte. Althoff selbst schrieb eine deut¬ 
liche, fast zierliche Schrift und war 
darin als Kraftnatur nicht zu erken¬ 
nen. Unleserliche Schrift oder gar Na¬ 
mensunterschrift wurde von ihm als 
brutale Rücksichtslosigkeit gegen Emp¬ 
fänger und Leser gegeißelt. Die Füh¬ 
rung der mannigfachen Notiz- und 
Merkzettel, Repertorien und Registra¬ 
turen für seine umfangreiche, die Zif¬ 
fer von 3000 jährlich erreichende pri¬ 
vatdienstliche Korrespondenz zeugte 
von einer für jeden Registrator vor¬ 
bildlichen peinlichen Sorgfalt. Sein 
Handwerkszeug an Federn, Bleistiften 


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Wilhelm Abb, Persönliche Erinnerungen an Friedrich Althoff 


Er sagte, alle uns für Universitäts¬ 
und wissenschaftliche Zwecke anver¬ 
trauten Geldmittel müßten gewissen¬ 
haft verwaltet, aber in vollem Umfange 
verbraucht werden, da die Aufgaben 
erheblich größer als die verfügbaren 
Fonds wären. In der Ersparnis von Gel¬ 
dern erblicke er den Vorwurf für 
sich und die beteiligten Beamten, 
durch Unvermögen oder Trägheit 
verfügbar gewesene Mittel ihrer Zweck¬ 
bestimmung entzogen zu haben. Er 
sähe in mir seinen Finanzminister, 
dessen Sache es sei, die etatsrechtliche 
Form zu finden, um diesem Vorwurfe 
zu begegnen. Tatsächlich erreichte Alt¬ 
hoff, daß z. B. größere Ersparnisse bei 
den Professoren-Besoldungsfonds, die 
vorher zur Staatskasse zurückflossen, 
alljährlich indirekt zur Verstärkung des 
an chronischer Erschöpfung leidenden 
Privatdozenten-Stipendienfonds verwen¬ 
det wurden, wodurch mancher hoff¬ 
nungsvolle junge Gelehrte vor Not be¬ 
wahrt werden konnte. Althoffs gutes 
Herz kam bei solchen Bewilligungen 
oft in drastischer Weise zur Geltung, 
besonders jungen Gelehrten gegenüber, 
die sich mit zäher Energie unter schwie¬ 
rigen äußeren Lebensbedingungen zur 
akademischen Laufbahn durchgerungen 
hatten. Bei den persönlichen Verhand¬ 
lungen mit einem früheren Elementar¬ 
lehrer, der ein naturwissenschaftliches 
Extraordinariat erhalten sollte, schraubte 
Althoff das zu vereinbarende Gehalt 
bis zur zulässigen Höchstgrenze her¬ 
auf. Dann kam unvermittelt die Frage: 
„Sie haben doch Schulden?“ Als dies 
zur Abwehr eines vermeintlichen Vor¬ 
wurfes energisch verneint wurde, 
wandte sich Althoff an mich: „Solche 
Antwort muß man nicht so wörtlich 
nehmen. Ich kenne das. Als Familien¬ 
vater hat er sicher kleine Schulden, 
von denen wir ihn freimachen müssen. 


Können wir ihm nicht einmalig wenig¬ 
stens 300, 400 oder besser 500 Mark 
geben, damit er ohne Druck seine ganze 
Kraft in den Dienst seines neuen Amtes 
stellen kann?“ Zuweilen widerfuhr es 
Althoff allerdings, daß er mehr in Aus¬ 
sicht stellte, als sich nachher verwirk¬ 
lichen ließ. Dann wunderte er sich, 
daß statt der immer noch berechtigten 
Dankesempfindung eine erklärliche Un¬ 
zufriedenheit Platz griff. 

Althoff hatte ein vorzügliches Ge¬ 
dächtnis und eine staunenswerte Per¬ 
sonalkenntnis unter den Dozenten der 
Hochschulen. Er war nicht nur über 
ihre Schriften und Leistungen eingehend 
unterrichtet, sondern vielfach auch über 
ihren Werdegang und ihre Persönlich¬ 
keit. Er benutzte jede sich mündlich 
oder schriftlich bietende Gelegenheit, 
nach dieser Richtung hin sein Wissen 
zu vervollkommnen. Sein Votum für 
die Besetzung vakanter Lehrstühle er¬ 
folgte erst nach gründlichsten Erkun¬ 
digungen und Erwägungen. Er ließ 
sich in seinem Urteil nicht leicht ein¬ 
seitig beeinflussen, obwohl ihm Autori¬ 
tät über Majorität ging. Geltend ge¬ 
machte Schwächen suchte er durch Be¬ 
tonung der starken Seiten der Kandida¬ 
ten auszugleichen. Über menschliche 
Verfehlungen dachte er nachsichtig, 
stets bereit, Gestrauchelten seine hel¬ 
fende Hand zu reichen. 

Althoff war jederzeit ein Optimist 
und voll Vertrauen, eine Sache zum gu¬ 
ten Ende zu führen. Von hoher Warte 
aus übersah er die an ihn herantreten¬ 
den Fragen. Sein Gedankenreichtum 
zeigte ihm gewöhnlich gleich mehrere 
gangbare Wege zu ihrer Lösung. Je 
größer die Hindernisse und Schwierig¬ 
keiten, desto mehr Anreiz für seine 
Kraftnatur, sie mit Energie zu über¬ 
winden. In der Verfolgung des sach¬ 
lichen Zieles ließ er Bedenken persön- 


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licher oder formaler Art zurücktreten, 
auch wenn dadurch die gewohnte Ord¬ 
nung gestört, die Referatsgrenzen über¬ 
schritten oder Empfindlichkeiten an¬ 
derer ausgelöst wurden. Ein Beispiel 
dafür ist die ihm so glänzend ge¬ 
lungene Lösung der Charit6frage. An 
dem Niedergang des einstigen Muster¬ 
instituts des Berliner Charitfe-Kranken- 
hauses und der mit ihm verbundenen 
Universitätskliniken nahm Althoff 
schmerzlichen Anteil. Langjährige Vor¬ 
verhandlungen mit dem Finanzmini¬ 
sterium und der Stadt Berlin wegen 
des Baulandes für die Erweiterungs¬ 
pläne waren auf dem toten Punkt an¬ 
gelangt. Obwohl er an der zur Medi¬ 
zinalverwaltung gehörigen Sache nur 
als Korreferent beteiligt war, entschloß 
er sich, sie persönlich in die Hand zu 
nehmen. Eines Tages ging er mit mir 
zum Charitedirektor, der die Situation 
klarlegte, aber keinerlei Hoffnung auf 
einen Ausweg aus der Sackgasse 
machte. Etwas gönnerhaft stellte er da¬ 
bei Althoff ein Denkmal in der Charitö 
in Aussicht, falls ihm Erfolg beschie- 
den wäre. Auf dem Heimwege meinte 
Althoff, das wäre so eine Aufgabe für 
uns, des Schweißes der Edlen wert, 
und beurlaubte mich auf drei Tage zum 
gründlichen Aktenstudium. Der daraus 
hervorgegangene Vorschlag einer neuen 
Verhandlungsbasis war von Erfolg ge¬ 
krönt. Als aber das Projekt schließlich 
an den mehr als 10 Millionen betra¬ 
genden Kosten zu scheitern drohte und 
Althoff mit der Frage beschäftigt war, 
die durch Mangel an Licht und Luft 
bedrohte Zukunft des Botanischen Gar¬ 
tens in Schöneberg zu sichern, kam er 
eines Abends auf mein Bureau mit 
dem freudigen Ausruf: „BvQt]xa\ ich 
habe die einfachste Lösung der beiden 
großen Fragen gefunden. Wir verlegen 
den Botanischen Garten nach Dahlem 


698 


— die alte Staatsdomäne wird uns der 
Finanzminister sicher freigeben —, ver¬ 
kaufen den Schöneberger Grund und 
Boden und decken aus den vielen Mil¬ 
lionen die Kosten der Verlegung des 
Botanischen Gartens und des Umbaues 
der Charitö.“ Mit seinen listigen Augen 
blinzelnd setzte er noch hinzu: „Es ist 
zwar sehr schade, daß die gute Lunge 
verloren geht; die Schöneberger kön¬ 
nen ja aber tüchtig schreien und ein 
mehr oder weniger großes Stück des 
Botanischen Gartens als Parkanlage zu 
erhalten suchen. Das ist dann Sache 
des Finanzministers und der Stadt 
Schöneberg und geht uns nichts an.“ 
Bei der bald darauf erfolgenden ge¬ 
meinsamen Besichtigung des Dahlemer 
Terrains sagte er noch: „Was meinen 
Sie wohl, um wie viele Millionen die 
vor uns liegenden Privatgrundstücke 
als Umgebung des künftigen Botani¬ 
schen Gartens steigen werden? Wenn 
wir nun ordinäre Menschen wären, 
könnten wir durch unsere Wissen¬ 
schaft eine große Spekulation machen 
und mehrfache Millionäre werden.“ 
Althoff liebte es, seine Gedanken und 
Pläne zunächst vertraulich zu bespre¬ 
chen und die Meinung anderer zu hö¬ 
ren. Seine anfänglich weitgreifenden 
Gedanken wurden bis zur Gestaltung 
als Projekt auf ein gesundes Maß zu¬ 
rückgeführt. So wollte er das in Dah¬ 
lem gewonnene Bauland zunächst mit 
weiteren Universitätsinstituten und 
staatlichen Behörden in einem Umfange 
besiedeln, daß die Reichshauptstadt in 
Gefahr kam, von allen öffentlichen Ge¬ 
bäuden entblößt zu werden. Oft habe 
ich dabei beobachten können, wie gut 
Althoff eine entgegengesetzte Ansicht 
vertrug und wie er nach objektiver 
Erörterung des Für und Wider verhält¬ 
nismäßig leicht einer Änderung zu¬ 
stimmte. Daß diese Erfahrung von sei- 


Wilhelm Abb, Persönliche Erinnerungen an Friedrich Althoff 


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Wilhelm Abb, Persönliche Erinnerungen an Friedrich Althoff 


700 



nen Vorgesetzten nicht immer gemacht 
sein mußte, bemerkte ich zuerst, als 
der sonst sehr auf Würde und Sub¬ 
ordination haltende Ministerialdirektor 
G. mich als jungen Expedienten zu sich 
kommen ließ, damit ich Althoff in einer 
dienstlichen Sache nach einer bestimm¬ 
ten Richtung hin beeinflußte, weil, wie 
er sagte, der Herr Geheimrat dann we¬ 
niger schwierig sei, als wenn er die 
Empfindung habe, es solle ihm die Mei¬ 
nung eines Vorgesetzten aufgenötigt 
werden. Vielleicht hing die verschie¬ 
denartige Beobachtung etwas auch da¬ 
mit zusammen, daß das Gefühl eige¬ 
ner geistiger Unterlegenheit, das ihm 
gegenüber mehr oder weniger wohl 
jeden überkam, von Untergebenen leich¬ 
ter und ohne Stachel empfunden wird. 
Hatte Althoff eine Sache glücklich zu 
Ende geführt, suchte er sich der An¬ 
erkennung seiner Verdienste zu ent¬ 
ziehen und sie auf seine Mitarbeiter 
in einer für sie oft beschämenden Weise 
abzuleiten. Das war seine Auffassung 
der justitia distributiva, auf die er sich 
gern berief. 

3. 

Ais überzeugter Monarchist ist Alt¬ 
hoff ein treuer Diener seines kaiser¬ 
lichen Herrn gewesen. Der Kaiser, der 
ihn zuerst gelegentlich der Vorträge 
und Verhandlungen über die Schul¬ 
reform kennen und schätzen lernte, 
hatte neben der ihm vielfach bezeigten 
Anerkennung seiner großen Verdienste 
ein herzliches Wohlgefallen an seiner 
Persönlichkeit, obwohl oder vielleicht 
weil er kein eigentlicher Hofmann war 
und sich über die Formen des höfi¬ 
schen Verkehrs hinwegsetzte. Auch der 
Kaiserin, der Althoff in ihrer Eigen¬ 
schaft als Protektorin der von ihm mit 
ins Leben gerufenen Bekämpfung der 
Volkskrankheiten und der Säuglings¬ 


sterblichkeit nähertreten durfte, hat er 
persönlich durch manchen Dienst als 
Ratgeber seine Verehrung und Bewun¬ 
derung betätigt. Noch auf dem Sterbe¬ 
bett hat er sich mit der Frage der juri¬ 
stischen Vorbildung eines kaiserlichen 
Sohnes eingehend beschäftigt. Auf Ein¬ 
ladung des Kaisers begleitete Althoff 
diesen 1905 auf der Mittelmeerfahrt 
an Bord des Hamburg-Amerika-Damp- 
fers „Hamburg“ von Cuxhaven nach 
Neapel. Beim Antritt der Reise begrüßte 
der Kaiser ihn herzlichst und bemerkte 
dann zu den umstehenden Herren: 
„Sieht er nicht aus wie der leibhaftige 
Seelotse von Cuxhaven?" Der marine¬ 
blaue Dreß, der einer sogenannten 
Schifferkrause ähnelnde Bart und die 
seemännische, etwas schwerfällige Hal¬ 
tung Althoffs forderten zu diesem Ver¬ 
gleich heraus. Die Geräumigkeit des 
Schiffes gestattete die Erfüllung jedes 
Wunsches nach Quartierverlegung und 
-erweiterung. Das war etwas für Alt¬ 
hoff und sein Freizügigkeitsgefühl! 
Wohl viermal wechselte er seine Ka¬ 
bine. Sein Freundschaftsverhältnis zu 
mir betätigte er auch an Bord. Wenn 
er auch dem Kaiser erzählt hatte, daß 
seine Frau sich über meine Anwesen¬ 
heit freue, weil ich dafür sorgen werde, 
daß er nicht allzu große Dummheiten 
mache, so folgte er doch meinem Rate 
nicht, den bei Hofe üblichen Abstand 
zwischen „Kavalier“ und „Beamten" 
mehr zu wahren. Einmal ließ er sich 
sogar von der Kaisertafel dispensieren 
und meldete sich in der Beamtenmesse 
zu Tisch an, durch sein joviales Wesen 
und seine treffliche Unterhaltungsgabe 
alle Teilnehmer an dem Festmahle er¬ 
freuend. 

Bei der offiziellen Landung des Kai¬ 
sers in Tanger lud Althoff mich zu 
einer privaten Landung ein. Bei der 
Unsicherheit, wie lange der Kaiseraus- 









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702 


Wilhelm Abb, Persönliche Erinnerungen an Friedrich Althoff 


bleiben würde, der unruhigen See, dem 
Fehlen der bereits an Land gefahrenen 
Pinassen und in Ermangelung von Lan¬ 
desmünze machte ich Bedenken gel¬ 
tend. Er aber winkte als Antwort eins 
der unser Schiff umkreisenden Boote 
mit eingeborener Bemannung heran, 
und wir fuhren gemeinsam an Land. 
Eine Handvoll deutscher Silbermünze 
wirkte vollbefriedigend auf die marok¬ 
kanischen Gemüter, die bei der Wie¬ 
derabfahrt sich lebhaft gestikulierend 
wieder zur Verfügung stellten. Bei der 
Besichtigung von Land und Leuten, 
dem Einkauf kleiner Erinnerungen für 
die Daheimgebliebenen ging alles gut. 
Nur als Althoff eine Moschee mit un¬ 
geschützten Stiefeln zu betreten ver¬ 
suchte, schienen die Aufsichtsbeamten 
nicht gleich das richtige Verständnis 
für die Eigenart seiner Persönlichkeit 
zu entwickeln und nicht übel Lust zu 
haben, unserem Ziel ein jähes Ende zu 
bereiten. Unbeabsichtigt waren wir zum 
Gouvernementsgebäude gelangt, wo 
eine festliche Versammlung der Hono¬ 
ratioren von Tanger das Erscheinen 
des Kaisers erwartete. Althoff war 
durch das sich bietende interessante 
Bild überrascht und machte der in hel¬ 
ler Gewandung auf dem Dache postier¬ 
ten marokkanischen Damenwelt durch 
lebhaftes Schwenken seiner Mütze seine 
Reverenz. Laute Rufe der Freude dank¬ 
ten dem vermeintlichen Herolde des 
Allerhöchsten Herrn. Bewegung und 
Erregung über den im Programm nicht 
vorgesehenen Vorakt entstand in der 
Versammlung, Zweifel an der Legiti¬ 
mation des Herolds machten sich be¬ 
merkbar und der Kaiser konnte jeden 
Augenblick eintreffen. Die etwas be¬ 
denkliche Situation ließ es geraten er¬ 
scheinen, auf nähere Bekanntschaften 
zu verzichten und den Ort der offiziel¬ 
len Feier schnell wieder zu verlassen. 


Bei der Rückkehr zum Hafen gab es 
kurz vor dem ihn von der Innenstadt 
abschließenden Tore einen Aufenthalt, 
um den Kaiser und sein Gefolge zu 
Pferde vorbeipassieren zu lassen. Als 
der Kaiser Althoff mitten unter der 
schaulustigen Menge der Eingeborenen 
erblickte, rief er ihm zu, sich zu beeilen, 
da die Anker gleich gelichtet würden. 
Unter den Püffen der mit Stöcken be¬ 
wehrten Polizeimannschaften gelang es 
denn auch mit genauer Not, das Tor 
hinter dem kaiserlichen Gefolge zu 
durcheilen und den schwankenden Hei¬ 
matsboden mittels Motorbootes noch 
rechtzeitig zu erreichen. 

Althoff blieb in seiner unbefangenen 
Haltung immer derselbe, ob er vor 
Souveränen stand oder sich mit einem 
Arbeiter oder Kinde unterhielt. Nicht 
einmal das süffisante Lächeln eines 
hochherrschaftlichen Lakaien konnte 
ihn in Verlegenheit bringen, wenn er 
in Gedanken nach seiner Bureau¬ 
gewohnheit beim Ablegen der Garde¬ 
robe auch seine Röllchen abstreifte, an 
denen er wie am Vorhemd grundsätz¬ 
lich festhielt. 

Ein Mann von Althoffs hoher un¬ 
eigennütziger Gesinnung konnte auch 
ungefährdet mit Krösussen in Verbin¬ 
dung treten. Er dachte so erhaben über 
den Mammon, daß der Millionenbe¬ 
sitz anderer in ihm nur den einen 
Wunsch erzeugte, die Besitzer zum 
Nutzen der Allgemeinheit von ihrer 
großen Verantwortlichkeit zu ent¬ 
lasten. Die von Andrew Carnegie pro¬ 
klamierte und in die Tat umgesetzte 
Auffassung von der Pflicht der Rei¬ 
chen, die gesammelten Schätze der 
Mitwelt zu menschheitsfördernden 
Zwecken noch bei Lebzeiten wieder zu¬ 
zuführen, hatte auf Althoff einen tiefen 
Eindruck gemacht. Neben der Förde¬ 
rung seiner eigenen Ziele und Gedan- 


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Wilhelm Abb, Persönliche Erinnerungen an Friedrich Althoff 


704 


ken wollte er dem Vorbilde Carnegies 
auch in Deutschland Nacheiferung er¬ 
wecken. In gewissem Umfange haben 
seine Bemühungen auch erfreuliche Er¬ 
folge erzielt. Daß dabei setine geistige 
Gegengabe für die Wohltäter der 
Menschheit doch noch wertvoller war 
als die geopferten Millionen, erfuhr ich 
bei Althoffs Begräbnis aus dem Munde 
eines treuen Verehrers, als er mir trä¬ 
nenden Auges sagte, von dem Ver¬ 
ewigten habe er es erst gelernt, sein 
Leben lebenswert zu machen. Wem für 
eine solche Gesinnung der Resonanz¬ 
boden fehlte, konnte die Althoffschen 
Anregungen nur naiv finden und sich 
von.dem für seinen Schatz so gefähr¬ 
lichen Manne zurückziehen. Kam es den 
Nabobs aber in erster Linie auf die 
Erlangung einer äußeren Anerkennung 
an, so merkten sie bald, billig würden 
sie durch seine Vermittlung nicht zum 
Ziel gelangen. Er trat nur für diejenigen 
ein, die sich durch Entäußerung eines 
wesentlichen Teils ihres Vermögens 
tatsächlich große Verdienste um Staat 
und Allgemeinheit erworben hatten, 
dann allerdings mit der ganzen Wärme 
seines dankbaren Herzens. 

Oft kam es vor, daß Althoff zur För¬ 
derung ihn interessierender Unterneh¬ 
mungen unter eigenem Namen große 
Summen zeichnete und vertrauensvoll 
die Aufbringung derselben durch an¬ 
dere als cura posterior behandelte. So 
hat er nach dieser Methode auf seinem 
Sterbebette zugunsten von Personen 
und Vereinigungen, die ihm am Her¬ 
zen lagen, einfach testiert und dann 
einen wohlhabenden Herrn seiner Be¬ 
kanntschaft schriftlich bitten lassen, die 
Legate in seinem Namen auszuzahlen, 
was auch in richtiger Würdigung des 
Testators und seines Vetdrauensbewei- 
ses anstandslos geschah. 


4. 

Anderen zu helfen und Aufmerksam¬ 
keiten zu erweisen, war Althoffs größte 
Freude. Er bezeichnete dieses Bedürf¬ 
nis seines Herzens deshalb gelegent¬ 
lich als reinen, aber erlaubten Egois¬ 
mus. Da er dabei auf Dank nicht rech¬ 
nete, wurde er vor Enttäuschung und 
Verbitterung bewahrt. Die Fürsorge für 
die Witwen und Waisen des Universi¬ 
tätsressorts hat Althoff von Übernahme 
seines Referats an erfolgreich beschäf¬ 
tigt. Viele wohltätige und gemein¬ 
nützige Stiftungen und Bestrebungen 
verdanken diesem Althoffschen „Egois¬ 
mus“ ihr Leben. Eine derselben stund 
als Zeichen opferbereiter Dankbarkeit 
eines begüterten Freundes seinem Her¬ 
zen besonders nahe, sie führt auf kai¬ 
serliche Initiative hin Althoffs Namen 
und wirkt im Segen zur Abhilfe be¬ 
sonderer Notfälle unter den wissen¬ 
schaftlichen Universitätsbeamten und 
Oberlehrern und deren Hinterbliebenen. 

Unermüdlich war Althoff auch im 
Erweisen persönlicher Aufmerksamkei¬ 
ten. Wieviel Bücher und Spielsachen 
hat er wohl in seinem Leben ver¬ 
schenkt? Wieviel Empfehlungen und 
Glückwünsche für andere geschrieben? 
Aber bei Büchern und Spielsachen blieb 
es nicht, auch Gold, Silber und Blu¬ 
men wurden nicht gespart. Und wie 
schenkte er? Mit feinsinniger Berück¬ 
sichtigung der subjektiven Erforder¬ 
nisse des Einzelfalles, am liebsten un¬ 
ter persönlicher Übergabe der Ge¬ 
schenke, besonders an Kinder. Wer Alt¬ 
hoff beobachtete, wenn er sich mit den 
Kindern unterhielt und freute, bekam 
den Eindruck, daß dieser große Kin¬ 
derfreund über viel Liebe und viel — 
Zeit verfügte. Es war nicht möglich, 
sein Schenkbedürfnis einzuschränken, 
ohne ihm wehe zu tun, obwohl er sei- 


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706 


705 Wilhelm Abb, Persönliche Erinnerungen an Friedrich Althoff 


ber doch keineswegs in guten Vermö¬ 
gensverhaltnissen lebte. Besonderes 
Interesse brachte er den Söhnen seines 
Bekanntenkreises entgegen. Ob es sich 
um die Förderung ihrer Gesundheit, 
ihre Ausbildung auf Schule und Uni¬ 
versität oder um die Wahl eines Be¬ 
rufes handelte, stets stand er mit Rat 
und Tat gern zur Verfügung. Vielen 
hat er durch seine reifen Erfahrungen 
und Ansichten zu ihrem Lebensglück 
verholfen und sie auf den rechten Weg 
geführt. Schon in seiner Straßburger 
Zeit war er als „Studentenvater“ rühm- 
lichst bekannt. Auf diesen Ehrentitel 
war er besonders stolz. Um so größer 
sein Schmerz, als er gerade auf diesem 
Gebiete eine Zeitlang angefeindet wurde. 
Er, der in seinem ganzen Leben der 
ewig junge Korpsstudent im besten 
Sinne des Wortes geblieben war, sollte 
die Freiheit der akademischen Jugend 
beschneiden oder beseitigen wollen. 
Der ihm damals zuteil gewordene kai¬ 
serliche Trost in Gestalt des Kaiser¬ 
bildnisses mit der Unterschrift: „Es 
sind die schlechtesten Früchte nicht, 
an denen die Wespen nagen“ hatte ihm 
wohlgetan. 

Die Schlagfertigkeit Althoffs konnte 
sich gegenüber unvorsichtigen Äuße¬ 
rungen anderer leicht scharf und spitz 
bemerkbar machen, besonders wenn 
diese aus Gefühlen der Uberhebung 
hervorgegangen zu sein schienen. Dies 
mußte auch ein hoher Staatswürden¬ 
träger an einem Begrüßungsabend zu 
einer offiziellen Einweihungsfeier er¬ 
fahren. Als er im Laufe der Unterhal¬ 
tung die Hälfte eines etwas bedenk¬ 
lichen Klapphomverses zitiert hatte, 
neckte er Althoff, der den Zusammen¬ 
hang nicht verstand, mit der Bemer¬ 
kung: „Ich hätte Sie doch für sattel¬ 
fester in der Literatur gehalten, fragen 
Sie einmal Ihren Nachbarn, der hat 

Internationale Monatsschrift 



mich sicher verstanden.“ Als ich Alt¬ 
hoff die unterdrückte Hälfte des Verses 
zugeflüstert hatte, erfolgte die scharfe 
Abfuhr: „Sie haben ganz recht, Exzel¬ 
lenz, auf dem Gebiet der Zote war 
ich nie zu Hause, da lasse ich dem 
Herrn Staatsminister gern und gehor- 
samst den Vorrang.“ 

Und in der Tat, Althoff war ein Feind 
der Zote, so gern er einen geistvollen 
Witz und ein kräftiges, natürliches 
Wort hörte oder selbst in den Mund 
nahm. In seiner Gegenwart war eine 
schlüpfrige Herrenabend-Unterhaltung 
ausgeschlossen. Etwaige Versuche 
würde er bald abzubrechen oder auf 
ein höheres Niveau überzuleiten ge¬ 
wußt haben. Meist beherrschte Althoff 
das Gespräch mit seinen fesselnden Er¬ 
zählungen, seinen scharfsinnig pointier¬ 
ten Anekdoten und seinem urwüchsigen 
Humor. Wenn er bei einem Glase 
Wein, den er nach Art und Herkunft 
sicher erkannte, in behagliche Stim¬ 
mung kam und aus seinem studenti¬ 
schen Leben erzählte, war es eine Lust, 
ihm zuzuhören und einen Blick in das 
sonnige Gemüt zu tun, das auch un¬ 
liebsame Ereignisse in der Erinnerung 
zu verklären und humoristisch zu ge¬ 
stalten wußte. 

Althoff war an sich kein Verächter 
der Tafelfreuden und war gern fröh¬ 
lich mit den Fröhlichen. Die Genüsse 
durften aber nicht Selbstzweck sein, es 
mußte, wie er zu sagen pflegte, bei sol¬ 
chen Zusammenkünften immer etwas 
herausspringen. Einladungen zu bloßen 
„Abfütterungen" nahm er grundsätzlich 
nicht an. Wie viele dienstliche Bespre¬ 
chungen und Vereinbarungen hat er da¬ 
gegen beim Glase Wein abgemacht, 
häufig lud er die im Ministerium nicht 
abgefertigten Professoren und Instituts¬ 
leiter zur gründlichen Erörterung ihrer 
Anliegen kurzerhand in ein Wein- 

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Wilhelm Abb. Persönliche Erinnerungen an Friedrich Altholf 


708 


lokal oder nach Haus zu Tisch. Ich 
bin oft sein Gast gewesen und habe es 
dankbar empfunden, daß er bei un¬ 
seren gemeinsamen Mahlzeiten in der 
Stadt oder in Potsdam zuweilen auch 
mir die Rechte des Wirtes überließ. 

An seinem Geburtstage durfte ich 
ihn oft schon am frühen Morgen be¬ 
suchen, ihm meine Glückwünsche aus¬ 
sprechen und zusammen mit ihm nach 
Berlin fahren. Meist traf ich ihn noch 
beim ersten Frühstück. Im Hinblick 
auf meine Warnungen vor den Folgen 
unregelmäßiger Lebensweise scherzteer 
einmal selbst, ich könne mich nun per¬ 
sönlich davon überzeugen, daß er wie 
ein Kamel vor Antritt einer Wüsten¬ 
fahrt seinen Magen bis zur Überfülle 
belaste — es war tatsächlich eine ganz 
hervorragende Massen leistung, die ich 
zu sehen bekam -, um dann getrost 
acht bis zehn Stunden bis zur nächsten 
Mahlzeit auszuhalten. Alle Warnungen 
vor solchen Mißhandlungen des Magens 
nützten nichts. Letzten Endes trugen 
sie dazu bei, daß sein von Natur mit 
zäher Gesundheit ausgestatteter Kör¬ 
per leider verhältnismäßig früh den 
Dienst versagte. Neben Aithoffs be¬ 
handelnden Ärzten hat sich sein treuer 
Freund und unermüdlicher Mitarbeiter 
auf dem Gebiet der Tuberkulosebe¬ 
kämpfung, der Laryngologe B. Fr., um 
sein leibliches Wohl besonders verdient 
gemacht. Die Pforten seines gastlichen 
Hauses standen Althoff — gewisser¬ 
maßen als sein Berliner Absteigequar¬ 
tier — jederzeit offen. 


Als Althoff auf dringenden ärztlichen 
Rat sich entschloß, von seinem Amte 
zurückzutreten, bezeichnete er es mehr¬ 
fach als seinen Wunsch, zwischen Zeit 
und Ewigkeit noch eine Spanne der 
Ruhe und inneren Sammlung zu ge¬ 
winnen. Sie ist nur recht kurz ausge¬ 
fallen. Die Arbeit, seine treuste Freun¬ 
din, hat ihn aus ihren Armen nicht 
loslassen wollen. Bei einem Kranken¬ 
besuche verneinte Althoff einst meine 
Frage, ob ihm in den Tagen der er¬ 
zwungenen Untätigkeit der Gedanke 
an das viele Gute, das ihm im Leben zu 
tun vergönnt gewesen, nicht ange¬ 
nehm und tröstlich gewesen sei, und 
meinte, davon hätte er nichts bemerkt, 
wohl aber seien ihm das viele Böse 
und das unterlassene Gute recht deut¬ 
lich und mahnend vor Augen getre¬ 
ten. Daß er auf seinem Sterbebett über 
sein Lebenswerk besser und mit be¬ 
rechtigtem Stolz gedacht hat, bezeugt 
sein letzter Wunsch, auf dem Grund 
und Roden des Botanischen Gartens, 
seiner Lieblingsschöpfung, ausruhen zu 
dürfen von aller Mühe und Arbeit sei¬ 
nes köstlichen Lebens. 

So ideal und großzügig wie der 
Wunsch ist auch seine Erfüllung ge¬ 
worden. Wer, wie ich, dem Verewigten 
im Leben nahe gestanden, wird freudi¬ 
gen Dank für die ungewöhnliche Ehrung 
empfinden, wenn er an der selten schö¬ 
nen Ruhe- und Erinnerungsstätte in 
treuer Verehrung des edlen Menschen 
gedenkt, der in seinem Leben soviel 
Licht und Wärme ausgestrahlt hat. 


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Neue Aufgaben der öffentlichen Kunstpflege. 

Von O. Wulff. 


Niemand kann heute noch darüber 
im Zweifel sein, daß der Kunstpflege 
an den seit dem Vorjahr einsetzenden 
Bestrebungen zur Erweiterung und Ver¬ 
tiefung der Volksbildung bedeutsamste 
Mitarbeit zufällt. Da heißt es für alle 
dazu Berufenen, sich über ihre Auf¬ 
gaben Rechenschaft abzulegen. Tau¬ 
chen doch an jedem Wendepunkte des 
Kulturfortschritts — und an einem sol¬ 
chen stehen wir heute — neue Ziele 
vor uns auf und die alten rücken bei¬ 
seite. So sei hier die Aufmerksamkeit des 
Lesers für den Gedankengang eines im 
Zentralinstitut für Erziehung und Un¬ 
terricht während des Pädagogischen 
Osterkursus gehaltenen Vortrags in An¬ 
spruch genommen, in dem die aufge¬ 
stellte Frage vom Gesichtspunkt des 
Kunstunterrichts einerseits und unseres 
Museumswesens andererseits erörtert 
wurde. 

Das höchste Ideal der Volkserziehung 
werden wir fortan im Volksgedanken 
selbst erblicken, wie der Unterstaats¬ 
sekretär C. H. Becker in seiner wege¬ 
weisenden Schrift über „die kulturpoli¬ 
tischen Aufgaben des Reiches“ überzeu¬ 
gend ausgeführt hat. Seine politische 
Tragkraft hat dieser Gedanke bereits 
bewährt und das Reich, in dem er ge¬ 
wachsen ist, bislang vor dem Zerfall 
bewahrt. Und doch bedarf das Volks¬ 
bewußtsein noch der Kräftigung, nicht 
so sehr gegen die schon verminderte 
Gefahr der Stammesunterschiede und 
der konfessionellen Spaltung, als ge¬ 
gen den ungleich bedrohlicheren Zwie¬ 
spalt, der unser Volk nach seiner Er¬ 
werbstätigkeit und gesamten Lebens¬ 
anschauung in zwei einander fremde 
große Lager scheidet; Er kann nur 


durch Überbrückung und besseren Aus¬ 
gleich der Bildungsgegensätze und 
nicht allein durch Umgestaltung des 
Wirtschaftslebens geschlichtet werden. 
Vor allem gilt es, der von der Scholle 
und damit von der heimatlichen Über¬ 
lieferung gelösten großstädtischen Ar¬ 
beiterschaft den Zugang zu den ihr un¬ 
bekannten Schätzen unserer Geisteskul¬ 
tur weiter als bisher zu öffnen. Als 
Leitstern leuchtet uns Schillers Wort 
wieder auf: „Nur durch das Morgentor 
des Schönen drangst du in der Er¬ 
kenntnis Land.“ Ist es doch die Kunst, 
die den Höhenflug des menschlichen 
Geistes am deutlichsten spiegelt und 
die sittlichen Güter der Vergangenheit 
in bleibender Gestalt nachkommenden 
Geschlechtern bewahrt und, solange 
schöpferische Kräfte in ihr walten, im¬ 
mer neue geistige Werte schafft. Der 
Kunstpflege erwächst daraus die zwie¬ 
fache Aufgabe, jene Schätze, die sie 
hütet, dem ganzen Volke zu erschließen, 
und die lebendige Kunst der Gegen¬ 
wart zu fördern und zu leiten, die Dop¬ 
pelaufgabe der Kunsterziehung und 
der Künstlererziehung. Hier soll 
vorwiegend von der ersteren die Rede 
sein, aber auch die zweite nicht außer 
acht gelassen werden. Wie uns die heu¬ 
tige Lage auf allen Lebensgebieten zur 
Zusammenfassung der Kräfte drängt, so 
werden sich uns vielleicht ein paar 
fruchtbare Anregungen für ihr Inein¬ 
andergreifen und Zusammenarbeiten zu 
gegenseitiger Förderung ergeben. 

1 . 

In den Brennpunkt der Kunsterzie- 
hung wird in Zukunft so gut wie im 
sprachkundlichen Unterricht die Be- 

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0. Wulff, Neue Aufgaben der öffentlichen Kunstpflege 


trachtung des eigenen Volkstums tre¬ 
ten. Mittelalter, Renaissance und das 
vorige Jahrhundert haben uns ein über¬ 
reiches Kunsterbe hinterlassen, das 
auch die gebildeten Volkskreise noch 
lange nicht zu vollem innerem Besitz er¬ 
worben haben. Gleichwohl wäre es ver¬ 
fehlt, den volkstümlichen Kunstunter¬ 
richt auf die Einführung in die vater¬ 
ländische Kunst zu beschränken. Denn 
die Dinge liegen da nicht anders als 
auf anderen Gebieten des deutschen 
Geisteslebens der Vergangenheit. So 
wenig wie in der Dichtung oder in der 
kirchlichen und weltlichen Prosalitera¬ 
tur läßt sich das Volkstümliche rein¬ 
lich von dem fremden Lehngut abson¬ 
dern. Daß ein Wolfram und selbst Wal¬ 
ter v. d. Vogelweide vielfach nur wel¬ 
sche Vorlagen in deutschem Geiste 
nachgedichtet haben, wußten wir längst. 
Wieviel auch die Mystiker des 14. und 
die Prosaiker des 15. bis 17. Jahrhun¬ 
derts ihren griechischen, lateinischen 
und vor allem italienischen Quellen 
verdanken, darüber hat uns Konrad 
Burdachs tiefgründige Würdigung der 
Renaissancekultur belehrt. Ebenso aber 
hat die bildende Kunst im Laufe ihrer 
Entwicklung manches fremde Pfropf¬ 
reis angesetzt und sich dadurch so reich 
entfaltet. Deutsche Geistesart mit ihren 
stärkeren persönlichen Gefühlswerten 
spricht um so vernehmlicher zu uns 
aus den Stifterstatuen des Naumbur- 
ger Domes oder aus den Blättern 
Albrecht Dürers, wenn sich der ver¬ 
gleichenden Betrachtung Ausblicke auf 
die vorbildlichen Typen der gotischen 
Plastik Frankreichs sowie auf die Kup¬ 
ferstiche Mantegnas bieten, unter deren 
Einfluß die Zeichenkunst des deutschen 
Meisters ausgereift ist. Aber auch auf 
die künstlerischen Eigenwerte der Re¬ 
naissance kann der volkstümliche Kunst¬ 
unterricht so wenig als auf die der 


Antike verzichten, wenn er auch Sinn 
und Freude für die Darstellung des 
natürlichen Menschen wecken soll. 

Kunsterziehung ist Erziehung zum 
Verständnis aller bildenden Kunst; sie 
muß also wie bisher das Gesamtgebiet 
der Kunstgeschichte umfassen. Begriff 
und Betrieb dieser Bewegung haben 
seit etwa zwei Jahrzehnten vor allem 
dank A. Liehtwarks Vorgang in Deutsch¬ 
land die weiteste Verbreitung gewon¬ 
nen. Auch die Arbeiterschaft ist in den 
Großstädten, zumal in Berlin, durch die 
Volkswohlfahrtpflege schon hereingezo¬ 
gen worden. Einen Fortschritt bedeutet 
nur die Aufnahme dieser Bestrebungen 
in die neue Volkshochschule. Damit 
wächst aber die Schwierigkeit der Lehr¬ 
aufgaben, und sie kann nur von Fall 
zu Fall nach den besonderen Voraus¬ 
setzungen gelöst werden. Ein allgemei¬ 
nes Bild von diesen Anfängen haben 
wir noch nicht. In Berlin ist eine sehr 
zweckmäßige Verbindung zwischen der 
akademischen Beratungstelle der Volks¬ 
hochschule und den Staatsmuseen her¬ 
gestellt worden, an denen bereits Füh¬ 
rungen nach freier Vereinbarung mit ein¬ 
zelnen Arbeiterverbänden veranstaltet 
worden waren. Das Hauptgewicht wird 
zunächst mit Recht auf abendliche Lehr¬ 
gänge von Lidhtbildervorträgen gelegt, 
da die Heranführung einer ganz unvor- 
gebildeten Hörerschaft an die Kunst¬ 
werke leicht einen völligen Mißerfolg 
ergeben kann. Kunstgeschichtliche Be¬ 
lehrung soll jedoch möglichst ausge¬ 
schlossen bleiben. Das Gegenständliche 
mit kulturgeschichtlicher Erläuterung 
bietet wohl den glücklichsten Ausgangs¬ 
punkt, z. B. die Vorführung der antiken 
Götterwelt und die Wandlung,der christ¬ 
lichen Idealgestalten. Der griechische 
Tempel und der mittelalterliche Dom mit 
ihren Bildwerken sollen geschildert wer¬ 
den. Erzählende Bilder- und Blätterfolgen 


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0. Wulff, Neue Aufgaben der öffentlichen Kunstpflege 


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der Großmeister der Malerei und Zeich¬ 
nung mögen sich anschließen. Die ästhe¬ 
tischen Werte sollen vorwiegend durch 
die Anschauung selbst und nicht durch 
das Wort vermittelt werden. 

Die Volkshochschule kann viel dazu 
beitragen, den Lebensgenuß der auf¬ 
steigenden Volksschichten noch auf der 
Höhe des Lebensalters durch Hebung 
des Kunstverständnisses mehr als bis¬ 
her zu durchgeistigen und ihre Ab¬ 
schließung gegen den gebildeten Mit¬ 
telstand im Laufe der Jahre zu über¬ 
winden. Allein einen befriedigenden 
Ausgleich werden wir kaum von der 
unmittelbaren, sondern erst von der 
mittelbaren, d. h. von der Kunsterzie¬ 
hung des heranwachsenden Geschlechts 
durch die Schule und die Lehrerschaft 
erhoffen dürfen. Schon auf der neuen 
gemeinsamen Grundschule muß damit 
begonnen und auf der Mittelschule so 
gut wie auf der höheren fortgefahren 
werden. Aber weder hier noch dort darf 
Kunstgeschichte einen besonderen Lehr¬ 
gegenstand ausmachen. In jener bietet 
vor allem die Heimatkunde den gege¬ 
benen Anknüpfungspunkt zur Belebung 
der Freude und Liebe am Kunstwerk. 
Kirchen und andere Baudenkmäler soll¬ 
ten noch fleißiger als bisher besucht 
werden, wo Sammlungen bestehen, 
auch diese. Während des Unterrichts 
wären dann verwandte bedeutendere 
Kunstschöpfungen im Bilde vorzuzei¬ 
gen. Zumal in der höheren Schule 
würde dazu die Geschichtsstunde und 
die Behandlung der deutschen Dich¬ 
tung in der Sprachkunde reiche Ge¬ 
legenheit gewähren, wie Burdach es 
fordert, der in beiden Fächern die kul¬ 
turgeschichtliche Betrachtung eifriger 
gepflegt sehen will. Ist aber der Lehrer¬ 
stand für diese Aufgaben schon aus¬ 
reichend vorbereitet? Man wird das im 
allgemeinen leider wohl verneinen müs¬ 


sen. Wenn in der Schule auch keine 
Kunstgeschichte vorgetragen werden 
soll, so bedarf es doch zu solchem Füh¬ 
reramt der Beherrschung ihrer großen 
Entwicklungszusammenhänge und einer 
näheren Vertrautheit vor allem mit den 
vaterländischen Denkmälerschätzen. 

Daraus ergeben sich neue Forderungen 
für die Lehrervorbildung einerseits und 
für den akademischen Lehrbetrieb an¬ 
dererseits. Neuere Kunstgeschichte muß, 
wie die der Antike bei den Altphilolo¬ 
gen, in den oben genannten Unterrichts¬ 
zweigen zum pflichtmäßigen Neben¬ 
fach bei der Staatsprüfung für das 
Oberlehreramt erhoben und als solches 
auch an den die Lehrerseminare er¬ 
setzenden Lehrinstituten der Zukunft 
eingeführt werden, wenngleich hier wohl 
in engerer, aber nicht strenger Beschrän¬ 
kung auf die deutsche Kunst und vorge¬ 
schichtliche Altertumskunde. Ferien¬ 
kurse, wie sie an unseren Universitäten 
und Museen schon vor dem Kriege 
öfters abgehalten wurden, können 
allein diesen gesteigerten Ansprüchen 
nicht genügen, vielmehr muß der aka¬ 
demische Lehrbetrieb auch mehr in der 
Richtung der neuen Aufgaben des Leh¬ 
rerstandes ausgestaltet werden. Und das 
kann auf ihn nur befruchtend wirken. 
Die planmäßige Pflege der zusammen¬ 
fassenden Betrachtung ganzer Zeitalter 
und des Stilwandels in allen Künsten 
wird dadurch zum Haupterfordemis, 
wie sie vor allem von Wölfflin wieder 
aufgenommen worden ist, aber mit ein¬ 
dringlicherer Vertiefung in den kultur¬ 
geschichtlichen Gehalt. Überwiegen doch 
im Lehrplan noch immer die auf die 
fachwissenschaftliche Denkmälerfor¬ 
schung gerichteten Vorlesungen über 
die einzelnen Künste und Künstler ne¬ 
ben öffentlichen schöngeistigen Licht¬ 
bildervorträgen. Wie diese dem allge¬ 
meinen Bildungsbedürfnis, so dienen 


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0. Wulff, Neue Aufgaben der öffentlichen Kunstpflege 


jene der Heranbildung des Nachwuchses 
von Kunsthistorikern für unsere Hoch¬ 
schulen und Museen, in denen sie dann 
gründlichere Schulung für Einzelge¬ 
biete der Sammlungen finden. Erwor¬ 
ben wird dabei in der Regel nur ein 
Stückwissen, bestenfalls eine gewisse 
Kennerschaft. Der wachsende Zudrang 
zum Studium der Kunstgeschichte 
mußte schon seit einem guten Jahr¬ 
zehnt Bedenken erwecken, weil er of¬ 
fensichtlich ein Überangebot an solchen 
Hilfskräften zeitigte, das auch die Neu¬ 
gründungen von städtischen und Pro¬ 
vinzialmuseen nicht aufzunehmen ver¬ 
mochten. Immer häufiger wandten sich 
die frisch gebackenen Doktoren nach 
ein oder zwei Lehrjahren an den haupt¬ 
städtischen Sammlungen nicht nur der 
Kunstschriftstellerei oder freier Lehrtä¬ 
tigkeit, sondern auch dem Kunsthandel 
zu. Dieser aber bedient nicht mehr wie 
im vorigen Jahrhundert die öffentliche 
Sammelarbeit, ist vielmehr längst ihr 
gefährlichster Nebenbuhler geworden, 
der z. B. bei den letzten großen Ver¬ 
steigerungen bedeutender Privatsamm¬ 
lungen in Berlin manchen sehr er¬ 
wünschten Ankauf durch die unge¬ 
heuerliche Preistreiberei vereitelt hat. 
Heute müssen alle wahren Freunde der 
Kunst geradezu staatliche Schutzma߬ 
nahmen und Sperrgesetze gegen die 
bisherige Unterstellung unseres in Pri¬ 
vathänden befindlichen Kunstbesitzes 
unter ein unbeschränktes Warenrecht 
verlangen. Die Gefahr ist aber um so 
größer, als der Kunsthandel neuerdings 
sogar tüchtigere Mitarbeiter unseren 
Museen durch seine lockenden Gewinst¬ 
anteile und ungleich höheren Gehalts¬ 
sätze abwendig macht. 

Dieser ungesunden Entwicklung kann 
außer einer strengen Einschränkung des 
Kunsthandels zumal mit dem Anslande 
vor allem eine Umgestaltung des akade¬ 


mischen Unterrichts steuern. Er muß sich 
fortan mehr an eine auf ideale Aufgaben 
gerichtete Hörerschaft wenden. Und eine 
solche wächst ihm durch die oben 
aufgestellte Forderung im Lehrerstande 
zu, während die verminderten Anstel¬ 
lungsaussichten von selbst den Zu¬ 
drang freiwilliger oder gar bezahlter 
Hilfskräfte zu den Museen und damit 
auch zum fachwissenschaftlichen Stu¬ 
dium der Kunstgeschichte eindämmen 
müssen. Auch der Wissenschaft kann 
dafür eine kunstgeschichtliche Schulung 
der Lehrerschaft nutzbar gemacht wer¬ 
den, wenn dadurch deren Anteilnahme 
an der heimatlichen Denkmalpflege und 
Kunstforschung gefördert würde, wie 
sie in Italien in vorbildlicher Weise 
von manchem Pfarrer oder Lehrer im 
Nebenberuf ausgeübt wird. 

Zu alledem würde freilich eine rein 
theoretische Vorbildung nicht ausrei¬ 
chen. Das kunstgeschichtliche Urteil muß 
auch am Kunstwerk selbst kritisch ge¬ 
schult werden. Daraus ergibt sich dann 
die zweite im bisherigen akademischen 
Lehrbetrieb noch nicht genügenderfüllte 
Forderung. Er muß eine innigere Ver¬ 
bindung mit unseren Museen eingehen, 
die bis heute auffallend wenig von ihm 
in Anspruch genommen werden. Die 
Erklärung dafür wird man zum guten 
Teil in dem Umstande erblicken dürfen, 
daß sich ihm gerade während des ste¬ 
tigen Wachstums der öffentlichen 
Kunstsammlungen das Lichtbild als be¬ 
quemes Hilfsmittel darbet, um die An¬ 
schauung jedes Kunstwerkes unmittel¬ 
bar mit dem Wort verbinden zu kön¬ 
nen. Diesem Vorteil steht freilich der 
weit größere Nachteil gegenüber, daß 
das Lichtbild die Form nur unzurei¬ 
chend und die Farbe gar nicht wieder¬ 
gibt. 


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O. Wulff, Neue Aufgaben der öffentlichen Kunstpflege 


2 . 

Aber hier erhebt sich nun auch die 
schwerwiegende Frage, ob die Museen 
in ihrer heutigen Zusammensetzung 
schon ihre Bestimmung als Lehrstätten 
vollauf zu erfüllen vermögen. Sie ha¬ 
ben im letzten Menschenalter in den 
Haupt- und anderen Großstädten 
Deutschlands eine unschätzbare Berei¬ 
cherung erfahren. Und doch wird man 
sich bei aller Bewunderung für die füh¬ 
renden Persönlichkeiten eingestehen dür¬ 
fen, daß sie in der angedeuteten Rich¬ 
tung noch ergänzungsbedürftig sind. Mit 
dem Ausbau gewählter Schausammlun¬ 
gen hat die seinerzeit allgemein ver¬ 
langte Einrichtung von Lehrsammlun¬ 
gen nicht gleichen Schritt gehalten. Am 
klarsten, wenngleich noch ziemlich gün¬ 
stig liegen die Dinge für die Plastik, aber 
auch da sehr ungleich in den verschie¬ 
denen Gebieten. Die Gipssammlungen, 
deren es zur Veranschaulichung der 
Hauptwerke jedes Zeitalters, zumal der 
monumentalen, neben der gegebenen 
Auslese von Urbildern der Stein- und 
Tonbildnerei sowie der Holzschnitzerei 
und Kleinplastik bedarf, sind bei der 
Antike wohl am vollständigsten er¬ 
gänzt worden, von Bildwerken der Re¬ 
naissance ist selbst in größeren Provin¬ 
zialmuseen wie in Köln und Braun¬ 
schweig nur eine nicht allzu reichliche 
Auswahl und nicht einmal in Berlin 
und Dresden der lückenlose Bestand 
der in der Charlottenburger Formerei 
vorrätigen, geschweige denn der bei 
Lelli in Florenz erhältlichen Abgüsse 
vorhanden. Das Gleiche gilt von der 
Monumentalplastik des deutschen Mit¬ 
telalters. Weder das Germanische Mu¬ 
seum in Nürnberg noch das Bayrische 
Nationalmuseum noch das Kaiser- 
Friedrich-Museum besitzt eine voll¬ 
ständige und wohlgeordnete Abgu߬ 
sammlung, wenn auch hier neuerdings 


mehr für ihre baldige Ergänzung ge¬ 
schehen ist. Auch steht hier bereits 
eine durchgreifende Neuordnung der 
Sammlung bei ihrer Überführung nach 
dem in der Entstehung begriffenen 
Deutschen Museum über Jahr und Tag 
in erfreulicher Aussicht. Wie in die¬ 
sem Falle, so müssen wir überhaupt 
an dem bisher in unseren deutschen 
Museen befolgten Grundsatz fesihalten, 
daß jeder Abteilung ihre besondere 
Lehrsammlung von Gipsabgüssen an¬ 
zugliedern ist. Mit ihrer Vereinigung 
in einem weiter abgelegenen eigenen 
Museum wie im Pariser Trocadero 
wäre dem Lehrzweck wenig gedient. 
Denn gerade wo einzelne Arbeiten gro¬ 
ßer Meister wie Donatello oder Michel¬ 
angelo, Peter Vischer oder Adam Krafft 
vorhanden sind, muß auch die An¬ 
schauung ihrer Hauptwerke im Abguß 
leicht mit jenen verknüpft werden kön¬ 
nen. Zur Forderung des planmäßigen 
Ausbaues der Abgußsammlungen kommt 
aber eine weitere hinzu, die schon vor 
Jahren lebhaft erörtert und völlig ge¬ 
klärt worden ist. Die Gipse sollen dem 
Beschauer nicht in ihrer kreidigen Na¬ 
turfarbe, sondern in einer den Stoff der 
Urbilder wiedergebenden oder doch an¬ 
deutenden Tönung, vor allem Bronze- 
bildwerke in ihrem Metallcharakter, dar¬ 
geboten werden. Bei der Wiederauf¬ 
stellung der Renaissanceabgüsse im 
Kaiser-Friedrich-Museum hat sich die¬ 
ses Verfahren vor einigen Jahren durch¬ 
aus bewährt. 

Ungleich mehr als bei der Plastik 
ist für die Lehrsammlungen bei der 
Malerei nachzuholen, obgleich der 
Reichtum unserer großstädtischen Ge¬ 
mäldegalerien auf den ersten Blick aus¬ 
reichenden Lehrstoff darzubieten 
scheint. Allein gerade der Überfluß hat 
hier zu einer vom Gesichtspunkt der 
Kunsterziehung nicht ganz einwand- 


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720 


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719 0. Wulf!, Neue Aufgaben der öffentlichen Kunstpflege 


freien Ausgestaltung der Schausamm¬ 
lungen geführt. Sie umfassen eine vor¬ 
zugsweise den verwöhnten Geschmack 
des Kunstkenners vollauf befriedigende 
Auslese künstlerischer Höchstleistun¬ 
gen, während geringere Arbeiten weni¬ 
ger bekannter Künstler, und zumal das 
namenlose Schulgut größtenteils in den 
unausgestellten Bestand oder als Leih¬ 
gaben an Provinzialmuseen verwiesen 
sind. Zur Veranschaulichung einzelner 
Schulen und Stilphasen, zumal der äl¬ 
teren Malerei, kann der Hochschullehrer 
vielfach die Belege nur aus diesem 
Vorrat herausgreifen. Eigentliche Lehr¬ 
sammlungen sind aber bisher nur an 
ein paar kleineren Universitäten aus 
solchen Leihstücken zusammengestellt 
worden, wo sie jedoch z. T. nur als 
verstreute Proben, z. T. wieder in über¬ 
flüssiger Anhäufung gleichartiger Ar¬ 
beiten ihren Zweck nur mangelhaft er¬ 
füllen können. Einen viel höheren Wert 
als in solcher Verzettelung würden sie 
als Hilfsmittel des fachwissenschaft¬ 
lichen und gelegentlich auch des allge¬ 
meinen Kunstunterrichts in geschlosse¬ 
ner Vereinigung in einer hauptstädti¬ 
schen Lehrsammlung gewinnen. Die 
letztere darf keinesfalls um der auswär¬ 
tigen willen benachteiligt werden, 
ohne daß jene darum gänzlich der Leih¬ 
gaben beraubt zu werden brauchen. 
In den öffentlichen Provinzialmuseen 
verfehlen sie freilich ihren Zweck nur 
allzu leicht und führen oft zu falscher 
Bewertung der älteren Kunst. Da wä¬ 
ren sie besser durch hochwertige Ko¬ 
pien hervorragender Meisterwerke zu 
ersetzen, wie solche z. B. bei der Er¬ 
werbung bedeutender Gemälde im Auf¬ 
träge unserer Museen deren früheren 
Besitzern wiederholt als Ersatzstücke 
nach Italien und nach Spanien gelie¬ 
fert worden sind. Auf alle Fälle tut 
eine baldige Neusichtung der ausge¬ 


liehenen Bestände und eine Zusammen¬ 
fassung des wertvollsten Schulguts in 
einer hauptstädtischen Lehrsammlung 
not. 

Es bleibt aber noch eine breitere 
Lücke in unseren Museen zu schließen, 
wenn man ihre höhere Aufgabe darin 
erblickt, daß sie ein möglichst umfas¬ 
sendes Bild der allgemeinen Kunstent¬ 
wicklung geben sollen. Diesen An¬ 
spruch müssen wir aber zum minde¬ 
sten bei den Hauptmuseen Deutsch¬ 
lands erheben. So wenig die Lehrsamm- 
sammlungen der Gipsabgüsse für die 
Plastik, können sie guter farbiger Ko¬ 
pien zur Veranschaulichung der monu¬ 
mentalen Malerei entraten, da wir in 
manchen Kunstkreisen von ihr die ein¬ 
zigen oder doch die weitaus bedeu¬ 
tendsten malerischen Überreste besitzen. 
Auf den verschiedenen Forschungsge¬ 
bieten wird man dabei nicht nach dem 
gleichen Plan, sondern nach dem 
Grundsatz vorgehen müssen, daß den 
Lehrsammlungen eine um so reich¬ 
lichere Folge von Nachbildungen hin¬ 
zuzufügen sei, je spärlicher die Zahl 
der erhaltenen Denkmäler ist oder je 
schwerer sie uns zugänglich sind. Über¬ 
all, wo erst die Archäologie diese sozu¬ 
sagen an das Tageslicht zieht, handelt 
es sich meist zugleich um ein Ret¬ 
tungswerk. ln dieser Richtung konnte 
beispielsweise in der altchristlichen und 
byzantinischen Abteilung des Kaiser- 
Friedrich-Museums im Laufe der Jahre 
dank günstiger Gelegenheit eine lehr¬ 
reiche Kopienfolge angelegt werden, 
die ihrer späteren Ausstellung nach 
Freiwerden der heute noch von den 
deutschen Bildwerken besetzten Räume 
harrt. Den Hauptbestand bilden die von 
zwei wohlbekannten Berliner Künst¬ 
lern während der Ausgrabungen in Mi¬ 
let unter Th. Wiegands Leitung auf¬ 
genommenen Höhlenmalereien griechi- 


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72 ! 


O. Wulff, Neue Aufgaben der öffentlichen Kunstpflege 


722 


scher Einsiedler aus dem Latmosge- 
birge. Ihnen schließen sich einige Auf¬ 
nahmen jüngerer kirchlicher Wandge¬ 
mälde an, die bei Gelegenheit des maze¬ 
donischen Feldzuges von einem der 
deutschen Truppe zugeteilten Architek¬ 
ten mit Hilfe eines Malers ausgeführt 
worden sind. Ausgestellt ist bereits seit 
kurzem eine Anzahl in der Technik der 
Vorbilder angefertigter Nachbildungen 
altchristlicher Wandmosaiken aus Rom 
und Ravenna. In einem soeben in der 
Museumskunde erscheinenden Aufsatz 
wird die Bedeutung dieser Lehrsamm¬ 
lung näher gewürdigt. 

Ähnliche, aber umfangreichere Pflich¬ 
ten der Denkmalpflege bleiben noch un¬ 
seren großen Museen vaterländischer 
Kunst in Nürnberg, Berlin und Mün¬ 
chen zu erfüllen. Da gilt es, sich ge¬ 
genseitig ergänzende Sammlungen ge¬ 
nauer farbiger Aufnahmen der nicht 
allzu zahlreichen Überreste deutscher 
mittelalterlicher Monumentalmalerei an¬ 
zulegen, wie das für die der Rheinpro¬ 
vinz in Bonn geschehen ist. Sind doch 
diese unersetzlichen Denkmäler von der 
Gefahr zufälliger Vernichtung bedroht 
und z. T. sogar sicherem, wenngleich 
langsamem Verfall durch äußere Ein¬ 
flüsse geweiht. Photographische Auf¬ 
nahmen werden ihrer dekorativen Far¬ 
benwirkung und meist, ihres viel zu 
kleinen Maßstabes wegen, nicht einmal 
der zeichnerischen gerecht. Die Gesamt¬ 
aufnahmen brauchen zwar keineswegs 
durchweg in der Größe der Urbilder 
hergestellt zu werden, aber doch immer 
noch in einem wirkungsvollen Ma߬ 
stabe. Die schönsten Bilder aber oder 
wenigstens Ausschnitte und Hauptge¬ 
stalten aus diesen sollten auch in dieser 
Hinsicht in der Lehrsammlung getreue 
Wiedergabe finden. Bescheidung bei 
gleichem Verfahren erscheint gegenüber 
der Wandmalerei des übrigen abend¬ 


ländischen Kunstkreises geboten und 
zulässig. Kommen doch alle Kultur¬ 
länder selbst für die Denkmalpflege 
auf. Dagegen werden wir nicht darauf 
verzichten dürfen, bei gegebener Ge¬ 
legenheit Aufnahmen einzelner Haupt¬ 
werke des Monumentalstils aus Frank¬ 
reich, dem Mutterlande der Gotik, und 
aus Italien zu beschaffen, wo sich nach 
wiederholten Anleihen bei der griechi¬ 
schen Mosaik- und Freskomalerei im 
9., 11. und 13. Jahrhundert aus deren 
Kreuzung mit der gotischen Kunstströ¬ 
mung die neue nationale Stilbildung 
vollzieht und wo die Wandmalerei bis 
in das Cinquecento dem Maler die höch¬ 
sten Aufgaben stellt. Warum sollten 
wir nicht beispielsweise von Giottos 
Tanz der Salome und von Masac- 
cios Zinsgroschen sowie den Schöp¬ 
fungsszenen der Sixtinischen Decke, 
der Disputa und Schule von Athen Ge¬ 
samtaufnahmen etwa in halber Größe 
und Bildausschnitte im Maßstabe der 
Urbilder unseren Lehrsammlungen ein- 
fügen? Im Southkensington-Museum in 
London ist das längst geschehen. Nur 
werden wir heute weit höhere Ansprüche 
an die stilgetreue Wiedergabe dieser 
Meisterwerke stellen. Die Vorführung 
der gesamten Bilderfolgen kann dem 
Bildwerfer überlassen bleiben. Aber 
selbst wenn die Farbenphotographie zu 
größerer Leistungsfähigkeit als vor dem 
Weltkriege vervollkommnet werden 
sollte, sind uns solche Nachbildungen 
zu dauernder Betrachtung zum minde¬ 
sten sehr erwünscht. Das Hauptgewicht 
wird dabei immer auf die ältere Kunst 
zu legen sein. Und vor dem Barock 
wird man im allgemeinen haltmachen 
dürfen, nicht nur, weil wir aus diesem 
Zeitalter selbst auf deutschem Boden 
noch beträchtliche Kunstschätze bewah¬ 
ren, sondern auch, weil der Monumen¬ 
talstil dieser Zeit den geschlossenen 


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723 0- Wulff, Neue Aufgaben 


und gehaltvollen Bildcharakter der rein 
dekorativen Wirkung zuliebe mehr und 
mehr aufgibt. 

3. 

Gegen diese Vorschläge wird sich 
ohne Zweifel mancher Widerspruch er¬ 
heben — auch aus den Kreisen der zu 
ihrer Verwirklichung Berufenen. Man 
wird sie vielleicht mit einem heute be¬ 
liebten Schlagwort als „uferlos“ abtun 
zu dürfen glauben. Solchen Behauptun¬ 
gen läßt sich die Spitze leicht im vor¬ 
aus abbrechen durch Widerlegung der 
zu erwartenden beiden Haupteinwände. 
Es wären erstens dazu beträchtliche 
Raumerweiterungen erforderlich, und 
wir litten doch ohnehin an Raumman¬ 
gel in unseren Museen. Allein es wird 
dessen in den meisten Fällen keines¬ 
wegs bedürfen. Vielmehr vermögen die 
schon bestehenden Gipsabteilungen eine 
Anzahl größerer Kopien von Wandge¬ 
mälden aufzunehmen, die über den Ab¬ 
güssen gerade den ihnen zukommenden 
Platz erhalten und in die Lehrsamm¬ 
lung eine anregende Abwechslung brin¬ 
gen würden, wie sie in den Schau¬ 
sammlungen seit 15 Jahren nach dem 
Vorbilde des Kaiser-Friedrich-Mu¬ 
seums allenthalben erstrebt und erzielt 
wird. Die kleineren Gesamtaufnahmen 
aber ließen sich teilweise in den frei 
bleibenden Zwischenräumen in Augen¬ 
höhe des Beschauers, z.T. aber auch in 
den Studiensälen unterbringen. Daß 
jede Hauptabteilung des Museumseinen 
solchen Raum besitzen muß, in dem 
nicht nur den Hilfsarbeitern desselben, 
sondern auch jedem andern, der einen 
ernsten Arbeitszweck verfolgt, erlaubt 
sein soll, seine Beschäftigung mit den 
Kunstwerken an Ort und Stelle durch 
literarische Arbeit zu ergänzen, ist 
aber ebenfalls eine nachdrücklich zu 
erhebende und nicht allzu schwer er- 


der öffentlichen Kunstpflege 


füllbare Forderung. Es braucht nicht 
überall ein so geräumiger Saal zu sein, 
wie ihn das Berliner Museum glück¬ 
licherweise schon besitzt. Mit aller Ent¬ 
schiedenheit aber muß der naheliegende 
Gegenvorschlag abgelehnt werden, die 
gesamten Lehrsammlungen den Uni¬ 
versitäten zu überlassen. Nur an klei¬ 
neren ( Universitätsstädten, wo neben 
diesen keine öffentlichen Kunstmuseen 
vorhanden sind, wäre ihre Erweiterung 
auf dem bezeichneten Wege freudig 
zu begrüßet. In unseren Großstädten 
hingegen würde sie eine unfruchtbare 
Trennung der stilverwandten Denkmä¬ 
ler und Nachbildungen und überdies 
entweder eine Überfüllung der verfüg¬ 
baren akademischen Räumlichkeiten 
oder eine unnötige Vermehrung der 
erforderlichen Gebäude beanspruchen. 
In Berlin kann nur die äußerste Raum¬ 
not und die Nähe der Universität die 
schon erfolgte Abtrennung der Gips¬ 
sammlung von den antiken Bildwerken 
rechtfertigen. Und doch haben schon 
hier die der ersteren angewiesenen Teile 
des neuen Flügelgebäudes nur ausge¬ 
reicht, um die vorhellenistische Kunst 
in allerdings vorbildlicher Weise auf¬ 
zustellen, während die jüngere und 
vollends die römische Zeit schon etwas 
zu kurz gekommen ist. Der Neubau 
des Deutschen Museums wird glück¬ 
licherweise die Zusammenfassung der 
Lehr- und Schausammlungen des christ¬ 
lichen Zeitalters in diesen und in den 
frei werdenden Räumen des Kaiser- 
Friedrich-Museums ermöglichen. Wer 
die höchste Aufgabe der Museen nicht 
nur in der Darbietung der besten 
Kunstschöpfungen der Vergangenheit 
für den Kunstgenuß und die Allge¬ 
meinbildung des lebenden Geschlechts 
erblickt, sondern sie als Schatzhäuser 
der wichtigsten Kulturzeugnisse der 
Geistesgeschichte ansieht, die ihre Ent- 



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725 


726 


O. Wulff, Neue Aufgaben der öffentlichen Kunstpflege 


stehung und ihr Wachstum der fort¬ 
gesetzten Arbeit der Wissenschaft ver¬ 
danken und ihr deshalb auch ein aus¬ 
giebiges Gastrecht ein räumen müssen, 
wird diese Lösung allein gutheißen 
können. 

Als zweites Bedenken gegen die oben 
verlangte Ausgestaltung der Lehrsamm¬ 
lungen wird man wohl die schon ein¬ 
getretene Beschränkung der Geldmittel 
vor allem der staatlichen Museen gel¬ 
tend machen. Sie müßten in Zukunft 
erst recht der Vervollständigung der 
Sammlungen durch Original werke Vor¬ 
behalten bleiben. Daß dies nach wie 
vor unsere erste Sorge sein muß, soll 
jedoch durchaus nicht bestritten wer¬ 
den, — aber nicht unsere einzige darf 
sie sein. Auf Jahre hinaus wird es kaum 
möglich sein, bei dem Stande unserer 
Währung und der ungemessenen Preis¬ 
steigerung bedeutende Ankäufe zumal 
auf dem ausländischen Kunstmarkt zu 
bewerkstelligen. Die meisten Abteilun¬ 
gen der öffentlichen Museen werden da¬ 
her — am besten noch mit Ausnahme 
der Sammlung deutscher Kunst — wohl 
jn die Lage kommen, einen Teil deraus- 
geworfenen Jahresbeträge sparen zu 
können. Diese Ersparnisse aber würden 
besser zur Erhöhung ihres Lehrwerts 
angewandt, als für unbestimmte Zwecke 
aufgespeichert. Dazu kommt, daß der 
Ausbau der Gipssammlungen der 
Staatsmuseen nicht viel mehr als die 
Deckung der Selbstkosten der Charlot¬ 
tenburger Formerei erfordern und zu¬ 
gleich der Förderung ihres Betriebes 
dienen würde. Kopien von Wandma¬ 
lereien werden im freien Angebot nicht 
viele Käufer anlocken und deshalb 
schwerlich große Opfer benötigen. 
Auch soll sich die Ergänzung der Lehr¬ 
sammlungen in dieser Richtung über 
eine Reihe von Jahren erstrecken. Und 
dazu eröffnet sich ein Weg, der den 


Museen die Erwerbung solcher Nach¬ 
bildungen mit ziemlich geringen Un¬ 
kosten gestatten würde. Wiegands Vor¬ 
gehen bei der Aufnahme der Latmos- 
fresken bietet die Anregung, an den 
Hochschulen für bildende Kunst eine 
regelmäßige Elinrichtung zu schaffen, 
wie sie besonders in Rußland der Wis¬ 
senschaft und den Kunstsammlungen 
schon seit Jahren wertvolle Dienste ge¬ 
leistethat. Die Erteilung von Reisestipen¬ 
dien an die Zöglinge der Petersburger 
Kunstakademie nach vollendeter Aus¬ 
bildung ist dort wiederholt mit dem 
Aufträge verknüpft worden, stilgetreue 
Aufnahmen wichtiger Denkmäler des 
byzantinischen Monumentalstils heim¬ 
zubringen. Dieses Verfahren erscheint 
durchaus nachahmenswert, wenn den 
jungen Künstlern dabei ein gewisser 
Spielraum in der Auswahl der aufzu¬ 
nehmenden Kunstwerke belassen bliebe. 
Damit berühren wir einen anderen 
Zweig der öffentlichen Kunstpflege, 
dem noch eine kurze Erörterung ge¬ 
widmet sei. 

4. 

Für die Künstlererziehung, mit 
der es diese letzten Ausführungen zu tun 
haben, scheint der eben ausgesprochene 
Gedanke vielleicht auf den ersten Blick 
eine überflüssige Belastung zu bedeu¬ 
ten. Die Malerei der Gegenwart haftet 
ja fast ausschließlich am Tafelbilde und 
bewegt sich in einer viel freieren Na¬ 
turanschauung als aller strenge Monu¬ 
mentalstil der älteren Kunst. Und doch 
führt eine schärfere Prüfung der Sach¬ 
lage zur gegenteiligen Erkenntnis. Im 
Kulturwandel jeder Zeit treffen eben 
stets gleichartige Bestrebungen zusam¬ 
men. Die neueste Kunstentwicklung war 
bereits seit einem Jahrzehnt zu einer 
gewissen Erschöpfung des malerischen 
Illusionismus der impressionistischen 


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O. Wulff, Neue Aufgaben der öffentlichen Kunstpflege 


728 


Strömung gelangt. Vorbereitet durch 
die koloristischen Wirkungen des soge¬ 
nannten Neoimpressionismus, trat um 
1910 die neue Richtung des Expressio¬ 
nismus mit ihren gegensätzlichen künst¬ 
lerischen Absichten geschlossen hervor. 
Weite Kreise der Kunstfreunde stehen 
ihr noch heute mit nicht ganz unberech¬ 
tigtem Mißtrauen gegenüber. Krankt sie 
doch noch an viel Theorie und gewalt¬ 
samem Sichzurückschrauben auf künst¬ 
lerische Urformen. Trotzdem bezeichnet 
sie eine Wendung des Kunstwollens 
zu einer wohlberechtigten künstleri¬ 
schen Gesinnung, die nach freier Phan¬ 
tasiegestaltung drängt und an Stelle 
beobachtender Naturnachahmung die 
Wiedergabe inneren Schauens setzt. Sie 
unterwirft die Erscheinungswelt einer 
Stilisierung durch lineare und koloristi¬ 
sche Gefühlssymbole, wie es die Kunst 
früherer Zeitalter wiederholt mehr oder 
weniger bewußt getan hat, so z. B. auch 
die altchristliche Mosaikmalerei und der 
byzantinische Monumentalstil. Gerade 
die deutsche Kunst neigt von jeher 
dazu, und zwar nicht nur die mittel¬ 
alterliche. Altdorfer und Grünewald, 
Schwind und Böcklin verfolgen und 
verwirklichen expressionistische Ab¬ 
sichten. Die reiche dichterische Bild¬ 
phantasie unserer jüngeren deutschen 
Künstler, allen voran Max Klingers, 
sucht auch mit Vorliebe ihren Aus¬ 
druck im Zeichnerischen. Wir erfreuen 
uns zur Zeit eines Wiederaufblühens 
der bescheideneren zeichnenden Künste 
des Holzschnittes unter der Führung 
der Expressionisten, aber auch der 
schlichten Silhouettenkunst. Eine Aus¬ 
stellung im Kupferstichkabinett zeigt 
uns Arbeiten von jenen, die Schatten¬ 
bilder Dieffenbachs u. a. begegnen uns 
oft als beliebter Wandschmuck im 
Hause des gebildeten Mittelstandes. Alle 
diese Bestrebungen sind innerlich mit¬ 


einander, aber auch mit der Monumen¬ 
talmalerei verwandt, deren Flächenstil 
der Linie den weitesten Spielraum und 
die stärksten Wirkungen gewährt. Sie 
in die Bahnen einer gesunden Entwick¬ 
lung zu leiten, ist eine Hauptaufgabe 
der Kunstpflege und, wie das geschehen 
kann, eine Hauptfrage der Künstler¬ 
erziehung. 

Um die Vorbildung der Künstler ist 
in den letzten Jahren lebhaft gestritten 
worden. Gegen einen in der „Woche" 
1916 ausgesprochenen Vorschlag W. 
v. Bodes, daß in Zukunft alle Künstler 
zuerst auf Kunstgewerbeschulen aus¬ 
gebildet werden und nur die Meister¬ 
ateliers der Akademien für die zur 
hohen Kunst begabten bestehen blei¬ 
ben sollten, trat A. Kampf ebenda für 
das Daseinsrecht der Kunstakademien 
ein. In einer durch W. v. Seidlitz ver¬ 
anstalteten Umfrage vereinigte sich die 
Mehrzahl der Künstler und Kunstge¬ 
lehrten auf die Forderung einer gemein¬ 
samen Vorschule, in der neben dem 
Zeichenunterricht und einer vorwiegend 
handwerklichen technischen Ausbildung 
Raum-, Formen- und Farbenlehre vor¬ 
getragen werden sollte. Aber mit Recht 
verlangten einsichtsvolle Künstler, vor 
allem Gr. Kalckreuth, H. Olde und 
Bantzer auf der einen und von den 
Kunstgewerblern R. Meyer und B. Paul 
auf der anderen Seite, größtmögliche 
Freiheit der Betätigung der Schüler in 
dieser Elementarklasse. Und einzelne 
der ersteren befürworteten auch mit 
Kampf die Erhaltung der akademischen 
Fachklassen. Nach Beendigung der Vor¬ 
schule seien die verschiedenen Bega¬ 
bungen diesen oder einer Kunstge¬ 
werbeschule zuzuführen. 

In der Tat ist es zwar eine verbreitete, 
aber durchaus irrige Annahme, daß die 
Begabung für hohe Kunst nur eine höhere 
Stufe der Begabung für angewandte, d.h. 


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729 


O. Wulff, Neue Aufgaben der öffentlichen Kunstpflege 


730 


dekorative, Kunst sei. Sie beruht auf 
einer unbegründeten Verallgemeinerung 
der kunstgeschichtlichen Tatsache, daß 
die großen Meister der Frührenaissance 
noch aus den handwerklichen Künst¬ 
lerzünften des Mittelalters hervorgegan- 
sind und daß ein Ghiberti und Ver- 
rocchio und vielleicht sogar Dürer sich 
noch im Kunstgewerbe betätigt haben 
und daß sie und selbst Michelangelo 
sowohl gemalt als auch modelliert ha¬ 
ben. Allein in seiner Anschauungsweise 
bleibt doch ein jeder von ihnen entweder 
Bildhauer oder Maler wie heutigenta- 
ges ein Klinger. Dem Handwerk verdan¬ 
ken sie nur das technische Können, 
während ein B. Cellini auch in seinen 
großen Arbeiten den dekorativen Klein¬ 
meister verrät. Die klassische Malerei 
und Plastik des Cinquecento und voll¬ 
ends die Kunst desi Barock wurzelt be¬ 
reits in der durch Lionardo und Michel¬ 
angelo angebahnten unmittelbaren Er¬ 
ziehung zur freien Kunst. 

Wenn die Unterschiede der Kunstbe¬ 
gabung von so vielen Künstlern und 
Kunstgelehrten verkannt werden, so liegt 
das freilich auch an der mangelhaften 
Einsicht in die psychologischen Grundla¬ 
gen des künstlerischen Schaffens, die bei 
diesen wie bei jenen nodh heute herrscht. 
Hier hat die Pädagogik durch die von 
der Kunstwissenschaft noch ganz ver¬ 
nachlässigte Beschäftigung mit der Kin¬ 
derkunst den Vorsprung gewonnen. 
Den Untersuchungen des Psychologen 
William Stern und des Pädagogen 
Georg Kerschensteiner u. a. m. verdan¬ 
ken wir neben anderen wichtigen Auf¬ 
schlüssen, auf die schon der metho¬ 
dische Zeichenunterricht in den Schu¬ 
len begründet werden konnte, die Er¬ 
kenntnis, daß sich bereits auf früher 
Altersstufe deutlich mehrere Bega¬ 
bungstypen sondern, und zwar eine 
reine Gedächtnisbegabung von der star¬ 


ken Befähigung zur Auffassung des 
Naturvorbildes sowie von einer die Er¬ 
innerungsbilder frei umgestaltenden 
Phantasiebegabung. Diesen drei sowohl 
in der zeichnerischen wie in der bild¬ 
nerischen Betätigung hervortretenden 
Richtungen steht wieder eine — beim 
weiblichen Geschlecht überwiegende — 
dekorative bzw. ornamentale Sonderbe¬ 
gabung gegenüber. Es kann also schon 
in der Schule die Berufsberatung für den 
angehenden Künstler auf der Oberstufe 
des Zeichenunterrichts stattfinden. Die 
Scheidung der verschiedenen Bega¬ 
bungsrichtungen in der gemeinsamen 
Vorschule der Akademien und der Kunst¬ 
gewerbeschulen erscheint danach kei¬ 
neswegs so schwierig, wie von einzel¬ 
nen Künstlern in der Umfrage befürch¬ 
tet wurde, vorausgesetzt, daß ihr Leiter 
die erforderliche Vertrautheit mit den 
Ergebnissen der psychologischen und 
der Kinderkunstforschung besitzt. Die 
Kunsterziehung muß daher für die Her¬ 
anbildung solcher Zeichenlehrer durch 
Lehraufträge für systematische Kunst¬ 
wissenschaft an den Universitäten und 
Kunstakademien Sorge tragen. Eine Mi߬ 
leitung in der Elementarklasse könnte 
sehr viel Unheil anrichten, denn es wird 
niemals gelingen, die zur freien Kunst 
Begabten zu tüchtigen Kunstgewerblern 
zu erziehen und umgekehrt und so das 
Kunstproletariat der Unbegabten aus¬ 
zurotten, wie schon Max Klinger aus¬ 
gesprochen hat. 

Besonders wichtig erscheint nun für 
die nächste Zukunft das Herausfinden 
und die zielbewußte Ausbildung der 
schöpferischen Phantasiebegabungen für 
die Monumentalmalerei. Nur dadurch 
können die eigenbrötlerischen Verirrun¬ 
gen des Expressionismus überwunden 
werden. Dazu genügt aber nicht Kompo¬ 
sitionslehre und technische Schulung. 
Sind doch sogar unsere größten Dich- 


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731 


0. Wulff, Neue Aufgaben der öffentlichen Kunstpflege 


732 


termaler Böcklin und Thoma wiederholt 
an der Aufgabe der Wandmalerei ge¬ 
scheitert, während Feuerbachs Gastmahl 
des Plato seine monumentale Wirkung 
noch dem Zusammenhang mit der künst¬ 
lerischen Überlieferung des Kartonstils 
der Klassiker und Romantiker verdankt. 
Auch die zeitgenössische Gedanken¬ 
kunst muß wieder an das Vorbild und 
die Grundsätze der großen Meister¬ 
werke des Monumentalstils aller Zeit¬ 
alter anknüpfen, um die fruchtbaren 
Ansätze zu einem neuen Flächenstil zu 
entwickeln. Daraus ergibt sich, daß die 
Aufträge, die unsere öffentliche Kunst¬ 
pflege den werdenden Künstlern auch 
zu Nutz und Frommen der Wissen¬ 
schaft und Kunsterziehung zu stellen 
hätte, durchaus in der Richtung der 
jüngsten Kunstentwicklung liegen. 

Kunsterziehung und Künstlererzie¬ 
hung reichen einander hier die Hand. 
Die Pflichten der staatlichen Fürsorge 
für beide würden in den oben gezo¬ 
genen Grenzen ihre Erfüllung finden. 
Allein der schaffenden Kunst der Ge¬ 
genwart wäre damit noch nicht ge¬ 
nügt. Und wozu soll alle Bemühung 
um den Monumentalstil dienen, wird 
man zweifelnd fragen, wenn ihm doch 
keine großen Aufträge zuteil werden 
können? In der Tat, am rechten Felde 
der Betätigung hat es der expressio¬ 
nistischen Kunstrichtung bis heute ge¬ 
fehlt. Erst auf großen Wandflächen 
würden die Liniensprache und die Far¬ 
benklänge der Phantasiegebilde und der 
Ideallandschaften eines Pechstein und 
Nolde zu ihrer vollen Wirkung kom¬ 
men. Im Tafelbilde wirken sie nur 
allzuleidit wie grillenhafte Einfälle. 
Aber auch die höheren Aufgaben mü߬ 
ten den Künstlern von einem Auftrag¬ 
geber gestellt werden. Jeder Monumen¬ 
talstil der Vergangenheit ist auf dieser 
gesunden Grundlage erwachsen. Hätte 


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der Weltkrieg einen siegreichen Aus-, 
gang für uns genommen, so wäre*i.wohl 
der Kunst mancher schöne Staatsiiuf- 
trag zugefallen. Der Gewaltfried« _ha_t 
auch sie um die besten Hoff. 
betrogen. Von einem unterdrückte 
verarmten Staat darf sie keine gro߬ 
mütige Förderung beanspruchen. Auch 
die Kirche kann ihr keine reichere Be¬ 
schäftigung geben, üben doch ihre 
Idealgestalten nur in den katholischen 
Gebieten unseres Vaterlandes auf die 
Volksseele eine tiefere Wirkung. 

Und doch fehlt es uns so wenig an dem 
gemeinsamen Ideal wie an zeugenden 
Kräften zu seiner künstlerischen Ge¬ 
staltung. Aus dem Volkstum entsprin¬ 
gen diese, und im Volkstum ist jenes 
beschlossen. Zu seiner Pflege aber sind 
an erster Stelle die Gemeinden beru¬ 
fen. Wie Preußen nach dem Zusam¬ 
menbruch von 1806 durch den Frei¬ 
herrn v. Stein auf dem Wege ihrer 
Verselbständigung wiederaufgerichtet 
wurde, so muß auch heute von ihnen 
die Gesundung des Wirtschaftslebens 
und der Gesellschaftsordnung aus¬ 
gehen. Sie werden durch gerechte 
steuerliche Erfassung der steigenden 
Bodenwerte zuerst imstande sein, ihren 
Haushalt ins Gleichgewicht zu bringen 
und größere Mittel für die öffentliche 
Kunstpllege bereitzustellen, die dem 
Volksgedanken dienen soll. Ihre kräf¬ 
tige Unterstützung verdient vor allem 
Hand in Hand mit dem Volkshochschul¬ 
wesen eine schon im letzten Kriegsjahr 
erwachte, leider aber durch die Not 
der Zeit heut schwer gehemmte Bewe¬ 
gung. Es ist der Volkshausbund, der den 
Gemeinden schon das richtige Ziel ge¬ 
wiesen hat, Lehr- und Kunststätten zu 
schaffen, in denen unserem Volke ne¬ 
ben wissenschaftlicher Bildung die 
Schätze der deutschen Dichtung und 
Tonkunst geboten und erschlossen 


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sen wer- 

. . ..I 





733 


Oskar Walzel, Tragik nach Schopenhauer und von heute 


734 


den sollen. Das ist der Platz, an dem 
auch die bildende Kunst in der schlich¬ 
ten, aber eindrucksvollen Sprache der 
Wandmalerei am vernehmlichsten zu 

frechen ^ nn - Von ihrem Auftrag- 
"° . der Gemeinde, ist damit auch 

ihre höhere Aufgabe bereits gestellt. 
Zum Volke sprechen soll sie von ihm 
selbst, von allem, was es bewegt, von 
seiner Arbeit und von seinen Freu¬ 
den. Von allen heimatlichen Erinne¬ 
rungen und von der Schönheit der 
deutschen Heimat, auch von seinen Lei¬ 
den und seinem Heldenkampfe soll sie 
nicht schweigen, des Blutopfers un¬ 
serer Jugend auf den Schlachtfeldern 
Flanderns wollen wir nicht vergessen. 
Wenn sich die tiefsten Wunden'un¬ 
seres Vaterlandes erst geschlossen ha¬ 
ben, wird auch die Wandmalerei von 
dem Ringen um unsere Selbstbehaup¬ 
tung in höherem Tone sprechen kön¬ 
nen als auf den Kriegsausstellungen, 
'die so wenig von idealistischer Auffas¬ 
sung des Kampfes ausstrahlten. Vor 
allem aber soll die Kunst in den Volks- 
häusem die Gestaltenwelt unserer gro¬ 
ßen Dichter schildern, deren Worte in 
denselben Räumen an das Ohr des 
Volkes schlagen. Aus der „Glocke“ und 
aus „Hermann und Dorothea“, aus 
„Reineke Fuchs“ und aus dem deut¬ 
schen Märchen kann sie noch immer 


frische Bildgedanken schöpfen, von 
Siegfried und von Hermann, von Tann¬ 
häuser und Lohengrin, von Teils und 
von Götzens Taten erzählen, von dem 
Großen Kurfürsten und von Friedrich 
berichten, die Erinnerung an die Be¬ 
freiungskriege und an des Reiches 
Gründung wiederbeleben. Keinen un¬ 
serer großen Führer soll sie verleug¬ 
nen. am wenigsten aber der Geistes¬ 
helden Luther und Lessing, Kant und 
Fichte vergessen. In der Verkörperung 
ihrer Gestalten für die Volkshäuser er¬ 
wachsen auch der Bildnerei neue Auf¬ 
gaben. Wenn wir vor dem drohenden 
Niedergange unserer Geisteskultur be¬ 
wahrt bleiben wollen, so muß dieser 
geistige Besitz mit seinen sittlichen Wer¬ 
ten Gemeingut aller Berufsklassen wer¬ 
den. In den Volkshäusern soll das Bür¬ 
gertum und die Arbeiterschaft wieder 
zusammenwachsen zu einem Volkskör¬ 
per. Dazu soll uns die Volkshochschule 
und die Kunst verhelfen. Daß sie es ver¬ 
mag, solche Macht über die Geister der 
Masse zu gewinnen, dessen mögen uns 
wiederum Schillers Worte an „die 
Künstler“ getrosten: 

„die von dem Ton, dem Stein bescheiden 
aufgestiegen, 

die schöpferische Kunst umschließt mit stil¬ 
len Siegen 

des Geistes ungemess'nes Reich.“ 


Tragik nach Schopenhauer und von heute. 

Von Oskar Walzel. 


Dichtung der Ausdruckskunst bedeutet 
Rückkehr zu Anschauungen Schopenhauers. 
Mitleid mit dem Menschen, Mitgefühl mit 
dem Tiere beherrschen einen guten Teil dör 
Dichterbekenntnisse von heute. Aufgegeben 
ist die Lehre vom Übermenschen. Vor kur¬ 
zer Zeit konnten deutsche Dramatiker gar 
nicht oft genug Gewaltnaturen aus der Re¬ 
naissance, wie Nietzsche sie nahm und an¬ 
erkannte, in den Mittelpunkt ihrer Stücke 
stellen. Lieblingsfigur des Tragikers ist jetzt 


der Mensch, der, bereit sich für andere auf¬ 
zuopfern, Verzicht auf Ichsucht, Aufgehen 
des Einzel-Ichs im Ganzen der Menschheit 
(nicht etwa bloß eines Volks) verkündet. 
Er tut es zuweilen mit der Gebärde des Bu߬ 
predigers. 

Paul Claudel leitete seine deutschen Be¬ 
wunderer auf solche Wege eines Spiritua¬ 
lismus, der den Willen zum Leben und 
dessen Verwirklichung auf Kosten anderer 
ablehnt. Aus der großen Schar neuster 


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Oskar Walzel, Tragik nach Schopenhauer und von heute 


Dramen nur einen Beleg für solche Hin¬ 
wendung zu Schopenhauers Weltbild zu 
nennen, sei hingewiesen auf Julius Maria 
Beckers „Letztes Gericht“ und auf die Ent¬ 
hüllungen, die hier der „Geist der Mensch¬ 
heit“ einem Sucher macht: Wohl haben im 
Krieg viele ihr karges Ich großmütig preis¬ 
gegeben und sind im Ich des Volkes zu 
höherer Bedeutung aufgegangen. Aber dies 
Völker-Ich blieb Summierung all der bar» 
barischen Wildheiten der einzelnen. Mit 
grenzenlosen Umrissen erwuchs das Ich des 
Ganzen, hassenswert nicht minder als jeg¬ 
liches Ich. Ein zweiter Sturm ist nötig, der 
die Völker mit ihrem Ich aufgehen läßt im 
Ganzen der Menschheit. Oder Friedrich 
Wolfs „Das bist du“, das Drama der ver¬ 
söhnenden Opfertat, nimmt den Begriff des 
„Tat twam asi“ ausdrücklich auf und in ihm 
einen der entscheidenden Gedanken von 
Schopenhauers Sittlichkeit. Wolfs Spiel trifft 
auch mit Schopenhauers Ansicht vom Tra¬ 
gischen überein, indem es sich mit Schopen¬ 
hauer zu dem Satz bekennt, das Leben sei 
der Güter höchstes nicht. Lösung tragischer 
Gegensätze fand ja Schopenhauer nicht in 
irgendwelcher Betätigung poetischer Ge¬ 
rechtigkeit, sondern in dem Verzicht auf 
die Genüsse des Lebens. Der Held büße 
so die Erbsünde ab: die Schuld des Da¬ 
seins. Calderons Worte „Pues el delito 
mayor del hombre es haber nacido“ nahm 
Schopenhauer für solche Bestimmung des 
Tragischen in Anspruch. 

Allein neuste Dichtung und auch neuste 
Dramatik bleiben nicht immer stehen bei 
der unbedingten Verneinung dieser Welt. 
Es ist ein Irrtum, die Ausdruckskunst schlecht¬ 
hin wie Abkehr von aller bejahenden Tat 
zu fassen. Sie will nicht bloß Bestehendes 
zerstören, sie will in diesem Leben zugleich 
Neues aufbauen, eine Welt des Geists an 
die Stelle einer Welt des Stoffs setzen. Und 
wenn solches Streben in seiner Verwirk¬ 
lichung. den jungen Dichtern auch schon 
schwere Enttäuschung, sogar Schlimmeres 
eingetragen hat, so besteht trotzdem nach wie 
vor im Kreise der Ausdruckskunst neben 
weltflüchtiger auch eine wenn nicht unbe¬ 
dingt weltbejahende, doch weltgestaltende 
Richtung. 

Von Schopenhauer geht das ab. Oder 
mindestens bedürfte es neuer Erfassung und 
Deutung vereinzelter Gedanken Schopen¬ 
hauers, die nicht völlig im Zuge seiner 
Grundüberzeugungen sich bewegen, wenn 


von dieser Stelle jüngster dichterischer 
Betätigung ein Weg zu Schopenhauer, auf¬ 
getan werden soll. Ich aber möchte über¬ 
haupt nicht bei den großen Linien stehen 
bleiben, an denen so Übereinstimmung der 
unmittelbaren Gegenwart mit Schopenhauer 
wie Gegensatz beider sich bemerklich ma¬ 
chen. Audi ein Vergleich der ganzen neuen 
tragischen Dichtung mit Schopenhauers An¬ 
sicht vom Tragischen ist nicht meine Ab¬ 
sicht. Sondern nur ein Punkt sei näher be¬ 
leuchtet, an dem sich unzweideutig die Tra¬ 
gik unserer Zeit von Schopenhauer abkehrt. 

In § 51 des vierten Buchs seines Haupt¬ 
werks scheidet Schopenhauer drei Möglich¬ 
keiten des Tragischen. Die beiden ersten 
sind leicht zu erfassen. Entweder wird tra¬ 
gisches Leid wachgerufen von außerordent¬ 
licher Bosheit des Charakters oder durch 
blindes Schicksal, also durch Irrtum oder 
Zufall. Die erste Art findet Schopenhauer 
wieder in der „Antigone“ und zwar in der 
Betätigung Kreons, bei Shakespeare in 
Richard III., in Jago, auch in Shylock, fer¬ 
ner in Franz Moor. Noch die Phädra des 
Euripides holt er heran. Die zweite Art 
verkörpern ihm der „König Ödipus“ 8es 
Sophokles, dann überhaupt die Mehrzahl 
der antiken Tragödien, ferner „Romeo und 
Julie“, Voltaires „Tankred“ und die „Braut 
von Messina“. Wieweit er mit solcher 
Einreihung das Rechte trifft oder nicht, ist 
hier gleichgültig. 

Schwieriger wird ihm die Umschreibung 
der dritten tragischen Möglichkeit. Sie grün¬ 
det das Unglück bloß auf die Stellung der 
Personen zueinander, auf die Verhältnisse. 
Weder bedarf es eines Ungeheuern Irrtums 
noch eines unerhörten Zufalls noch eines 
Bösewichts. Sondern Charaktere, wie sie 
in sittlicher Hinsicht gewöhnlich sind, wer¬ 
den unter Umständen, wie sie häufig ein- 
treten, so gegeneinander gestellt, daß ihre 
Lage sie zwingt, sich gegenseitig, wissend 
und sehend, das größte Unheil zu bereiten. 
Unrecht besteht nicht bloß auf der einen 
Seite. 

Schopenhauer reicht dieser dritten Art 
der Tragik die Palme. Denn sie zeige das 
größte Unglück nicht wie eine Ausnahme, 
sondern lasse es, ohne seltener Umstände 
oder ungewöhnlicher Menschen zu bedürfen, 
leicht und von selbst fast wie etwas We¬ 
sentliches hervorgehen aus dem Tun und 
aus den Charakteren der Menschen. Un¬ 
geheures Schicksal und entsetzliche Bos- 


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737 Oskar Walzel, Tragik nach Schopenhauer und von heute 738 


heit empfinden wir als schreckliche, aber die jünger ist als Schopenhauers Hauptwerk, 

nur aus großer Ferne drohende Mächte. Heute stünden viel mehr Belege für Scho- 

Aber die Tragik der dritten Art zeigt, wie penhauers dritte Art des Tragischen zur 

Glück und Leben zerstört werden auf We- Verfügung als am Schluß des zweiten Jahr¬ 
gen, die jeden Augenblick zu uns führen zehnts des 19. Jahrhunderts, 

können. Die wesentlichen Züge solcher Gegen das Ende des Jahrhunderts hin 
Verflechtungen kann auch unser Schicksal erreichte die Tragik, die ohne Bösewicht 

annehmen. Solche Handlungen zu begehen, und nicht durch Zufall oder Irrtum tragische 

wären auch wir fähig. Diese Tragik emp- Gegensätze erzielen will, immer mehr eine 

fiehlt eindringlicher als jede andere, zur beherrschende Stellung. Wie in allem an- 

Entsagung zu flüchten. dem, kehrt sich jüngste Kunst auch hier ab 

Von Grundüberzeugungen aus gelangt von den Bräuchen, die sie vorfindet. Der 
Schopenhauer zu seiner Wertung. Wie ihm böse Mensch lebt im Trauerspiel wieder 
um seiner Weltverleugnung willen die Tra- auf. Scharf und groß wird wieder der Ge- 
gödie zum Kunstwerk der Lebensvernei- gensatz zwischen den Persönlichkeiten, für 
nung wird, so schätzt er die eine tragische die der Dichter sich einsetzt und die er als 
Abart am höchsten, die unbedingt und ohne gut empfindet, und ihren Gegenspielern, die 

Möglichkeit einer Ausflucht die Gefahren als Verkörperungen des Bösen gefaßt wer- 

des Lebens aufdeckt. den. Walter HasencleversDrama„DerSohn“ 

Schopenhauer weiß, daß dergleichen Tra- von 1914 dürfte einer der ersten deutschen 
gik nicht leicht zu erbringen ist. Mit dem Versuche sein, dem Bösewicht seine alte 
geringsten Aufwand von Mitteln, bloß durch Stellung in der tragischen Verwicklung Zu¬ 
stellung und Verteilung soll sie die größte rückzugeben, ihn auch ausdrücklich als ei- 
Wirkung erzielen. Daher sei selbst in den nen Bösewicht hinzustellen. Im ersten Auf¬ 
besten Trauerspielen die Schwierigkeit nur tritt des fünften Aufzugs ist der Vater em- 
umgangen. Wirklich hat Schopenhauer bloß pört, daß in einer Versammlung einer gegen 
ein einziges vollkommenes Muster zu nen- die Väter gesprochen hat. Ein Polizeikom- 
nen: Goethes „Clavigo“. Er führt noch „Ham- missar sucht ihn zu beruhigen mit der Be- 
let“ an, meint aber nuj Hamlets Beziehun- merkung, der Vortrag sei nur gegen die 
gen zu Laertes und Ophelia. Ebenso hebt unmoralischen Väter gerichtet gewesen. Der 
er aus dem „Faust“ (der ihm bei der Ab- Vater antwortet höhnisch (so verlangt es aus- 
fassung seines Hauptwerks nur mit dem drücklich die Bühnenanweisung), fordert 
ersten Teil vorlag) bloß die sogenannte äußerste Strenge gegen ein Vorgehen, das 
Gretchentragödie heraus. Wenn er endlich er als einen Verrat an der eigenen Familie 
neben Corneilles „Cid“ noch „Wallenstein“ empfindet, und kennzeichnet sich selbst da- 
heranholt, so hat er natürlich auch nur Max mit als einen der unmoralischen Väter. Der 
und Thekla im Sinn. Schluß des Stücks macht kein Hehl daraus, 

Im 15. Buch von „Dichtung und Wahr- daß der Dichter den Untergang dieses Va- 
heit“ sagt an oftangerufener Stelle Goethe, ters wie einen Sieg der guten Sache emp- 
wie sein „Clavigo“ gemeint war. Der Böse- findet. Den Weg von Hasenclevers „Sohn“ 
wichter müde, die aus Rache, Haß oder begingen inzwischen viele Vertreter der 
kleinlichen Absichten sich einer edlen Na- Ausdruckskunst. 

tur entgegensetzen und sie zugrunde rieh- Schopenhauer aber wurde, im Sinn seiner 
ten, wollte er in Carlos reinen Weltverstand Rangordnung der tragischen Möglichkeiten 
mit wahrer Freundschaft gegen Leiden- fortschreitend, immer unduldsamer gegen 
Schaft, Neigung und äußere Bedrängnis Dramatiker, die zwischen ihre Gestalten 
wirken lassen. Das erhärtet die Richtigkeit weite Abstände sittlichen Verhaltens legen, 
von Schopenhauers Deutung. Schon im 37. Kapitel des zweiten Bands 

Goethes „Clavigo“ tut einen wichtigen der „Welt als Wille und Vorstellung“ kehrt 
Schritt hinaus über die nur wenig ältere er sich gegen Dramen, die ihren Menschen 
..Emilia Galotti“, die des Bösewichts Mari- zu viel Edelmut einimpfen. Er nennt Les- 
nelli bedarf, um Tragik in die Wege zu sings „Minna von Barnhelm“. Er versichert 
leiten. „Clavigo" ist der Ausgangspunkt ironisch, so viel Edelmut wie der einzige 
einet langen Reihe von Dramen, die auf Marquis Posa darbiete, sei in Goethes sämt- 
den Bösewicht verzichten. Sie gehören liehen Werken zusammengenommen nicht 
allerdings zum großen Teil einer Zeit an, I aufzutreiben. Die „Parerga und Paralipo- 
Intemationule Monatsschrift. 24 


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Oskar Walzel. Tragik nach Schopenhauer und von heute 


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mena“ steigern das zu dem Vorwurf, der In einer späten Äußerung, in der Be- 
seitdem ihnen immer wieder nachgespro- sprechung von G. G. Gervinus’ „Geschichte 
dien worden ist: Schiller scheide seine Per- des neunzehnten Jahrhunderts“, schrieb 1862 
sonen ziemlich scharf in schwarze und Hebbel den Satz hin, von dem dramatischen 

weiße, in Engel und Teufel. Shakespeare Dichter sei es bekannt, daß er um so we- 

hingegen zeige Menschen im Spiegel der niger tauge, je mehr Bösewichte er brauche. 

Dichtkunst, nicht moralische Karikaturen. Er „Wie schwarz ist der Teufel bei den klei¬ 
habe in die Welt hineingesehen, Schiller nen Talenten, wie oft wird er zitiert, und 

hingegen in die „Kritik der praktischen wie weiß Shakespeare selbst seine furcht- 

Vernunft“. An anderer Stelle verdenken die barsten Charaktere auf Naturbedingungen 

„Parerga und Paralipomena“ es Schiller, zurückzuführen, die ihnen die Existenzbe- 

daß er den Teufel gern schwarz male, und rechtigung sichern!“ Das stimmt genau zu 

daß seine sittliche Billigung oder Mißbilli- Schopenhauers Ansicht. Lange ehe Hebbel 

gung der von ihm dargestellten Charaktere einen Blick in Schopenhauers Schriften ge- 
durch ihre Worte durchklinge. Bei Shake- worfen hatte, war er zu solcher Überzeu- 

speare habe jeder, während er dasteht und gung gelangt. Er hatte auch schon wich- 

redet, vollkommen recht, und wäre er der tige Bekenntnisse über seine Auffassung 

Teufel selbst. Auch bei Goethe; Schopen- des Tragischen veröffentlicht, als er im 

hauer empfiehlt, den Herzog Alba von Goe- März 1844 zu Paris entdeckte, daß Hegels 

thes „Egmont“ mit dem Herzog Alba des tragischer Schuldbegriff und Hegels Bestim- 

„Don Carlos“ zu vergleichen. Dabei ist mung echtester Tragik mit seinen eigenen 

Schopenhauer sich wohlbewußt, daß Shake- Annahmen übereinträfen, 

speares Menschen, besonders in den Histo- Der § 140 von Hegels Rechtsphilosophie, 
rien, durch Eigennutz und Bosheit geleitet der von Hebbel angeführt wird, berührt sich 

werden, mit wenigen und nicht zu grell an entscheidender Stelle mit Schopenhauer, 

abstechenden Ausnahmen. Ihn stört nur der Auch Hegel verficht eine Tragik, in der 

Bösewicht, der von vornherein wie etwas auf keiner Seite volles Unrecht besteht. Er 

Verwerfliches in ein Drama hinein- und dem fordert gleichberechtigte sittliche Mächte, 

guten Menschen entgegengesetzt wird. Von die sich Sittlichem entgegensetzen, also 

Jago und von Richard III. sagt er freilich beide recht und unrecht haben. Die wahre 

hier kein Wort, auch nicht von Shylock, Sittlichkeit gehe dann zuletzt als Siegerin 

den er doch bei der Scheidung der drei über Einseitigkeit, versöhnt mit uns, hervor. 

Arten des Tragischen zu den Bösewichten Wir erheben uns an dem Triumph des 

des Trauerspiels zählt. Wahren und müssen nicht den Untergang 

Schopenhauer war nicht der erste, der in des Besten miterleben. Das ist nach Hegel 
Deutschland gegen den Bösewicht im tra- das wahrhafte reinsittliche Interesse der an¬ 
gischen Spiel Bedenken hatte. Lessing, der tiken Tragödie. 

Schöpfer Marinellis, kommt in der „Ham- Diese Ansicht wurzelt so tief in Hegels 
burgischen Dramaturgie“ mehrfach auf den Überzeugung, daß sie schon in der „Phä- 
Bösewicht zu sprechen, weist ihn zwar nicht nomenologie des Geistes“ von 1807 sich an¬ 
völlig aus der Tragödie hinaus, hat indes kündigt; nur zu greifbarerer Darlegung ge- 

eine Fülle von Bedenken gegen die Bösen langt sie in den „Grundlinien der Philoso- 

bei Corneille, auch gegen die Gestalt, die phie des Rechts“, die 1821 zum erstenmal, 
sein Jugendfreund Christian Felix Weiße dann in der Gesamtausgabe seiner Schrif- 
in einer Umstilisierung von Shakespeares ten als achter Band, herausgegeben von 
Stück dem dritten Richard gab. Besonders Ed. Gans, in erster Auflage 1833, in zweiter 

fordert er, daß der Bösewicht sein laster- 1840 veröffentlicht wurden. Unnötig ist, 

haftes Tun für unvermeidlich und notwen- noch besonders hervorzuheben, daß Hegel 

dig halte. Da kündigt sich leise an, was dank seinem Weltbild auch hier von ganz 
durch „Clavigo“ zum Durchbruch kam: die andern Voraussetzungen ausgeht als Scho- 
Neigung, vom Bösewicht im Trauerspiel penhauer. Durchaus stimmen sie überein 
abzusehen oder mindestens dem Bösewicht in der Wertschätzung einer Tragik, die 
engere Grenzen zu ziehen und ihm seine gleichmäßig Recht und Unrecht auf Spieler 
einseitigsten Züge zu nehmen. Zu voller und Gegenspieler verteilt. 

Ausprägung gelangte das bald nach Scho- Wie enge Hebbels Ansicht vom Tragi- 
penhauers Hauptwerk durch Hebbel. sehen mit Hegels Auffassung zusammen- 


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741 Oskar Walzel, Tragik nach Schopenhauer und von heute 


hängt, gesteht Hebbel, sonst geneigt, Hegel 
zu befehden und Hegels Worte abzulehnen, 
im Tagebuch vom 25. März 1844 unzwei¬ 
deutig genug ein. Seinen Fingerzeig hat 
die Forschung schon längst sich zu Herzen 
genommen. Wir wissen heute, daß Hebbel 
in seinen Dramen des Bösewichts entraten 
konnte, weil er wie Hegel ein dialek¬ 
tisch geordnetes Aufsteigen der Sittlich¬ 
keit in der Entwicklung der Menschheit er¬ 
blickte. Die Gegensätze des dialektischen 
Ablaufs verteilte Hebbel auf die Menschen, 
die sich in seinen Dramen gegensätzlich 
gegenüberstehen. Der eine vertritt eine äl¬ 
tere, der andere eine jüngere Stufe sittlicher 
Entwicklung der Menschheit. Und da sol¬ 
ches Zusammentreffen zweier Entwicklungs¬ 
schichten der Menschheit für Hebbel unent¬ 
behrlich ist, holt er seine tragischen Stoffe 
aus den Zeiten, in denen sich das Rad der 
Welt zu einer neuen Drehung anschickt, 
also aus Übergangszeiten. Einseitiges trifft 
auf Einseitiges; beide aber sind bedingt 
durch die Zeit, nicht durch persönliche Bös¬ 
willigkeit. Wer dann wie Kandaules im Wi¬ 
derstreit erliegt, im Bewußtsein, trotz allem 
Unrecht, das er begangen hat, doch einen 
Vorstoß im Sinn kommender Sittlichkeit 
gewagt zu haben, darf sich trösten mit dem 
Bewußtsein: „Die Zeit wird einmal kom¬ 
men, wo alles denkt wie ich.“ Sein Tun 
war nicht absolut, aber relativ berechtigt. 
Allein wer wie Hebbel und wie Hegel Sitt¬ 
lichkeit als etwas Entwicklungsfähiges faßt, 
für den ist jede irdische Stufe des Sittlichen 
bloß etwas Relativberechtigtes. Absolute 
Sittlichkeit liegt als fernes Ziel unerreich¬ 
bar vor uns, ein Ideal, dem man sich nähern, 
das man nie völlig verwirklichen kann. 

Ein Schritt zur Anerkennung des sitt¬ 
lichen Relativismus, aber noch lange nicht 
der sittliche Relativismus, der im weitern 
Ablauf des 19. Jahrhunderts auch auf dem 
Feld dramatischer Dichtung sich durchsetzen 
sollte. Immerhin trennt sich Hebbel mit 
Hegel schon fühlbarvon Schillers kantisch ge¬ 
dachtem absolutem sittlichem Wertmaßstab. 
Undenkbar wäre zwischen Wallenstein und 
Max die Erörterung der Frage, ob Wallen¬ 
steins Verrat an Oesterreich morgen oder 
übermorgen ein anderes sittliches Urteil zu 
gewärtigen hätte als heute. Schillers Wallen¬ 
stein könnte nie mit irgendeinem Anschein 
des Rechts behaupten, die Zeit werde ein¬ 
mal kommen, wo alles denke wie er. Don 
Cesar gibt freiwillig sein Leben hin, um 


742 


schwere Schuld zu büßen. Doch nicht von 
ferne denkt er an die Möglichkeit, nur unter 
dem Druck einer Sittlichkeit zu stehen, die 
durch die Zeit bedingt ist und mit der Zeit 
sich wandeln, einer künftigen besseren Sitt¬ 
lichkeit Raum geben müsse. Etwa der Sitt¬ 
lichkeit des Machtmenschen, für den sich, 
was von Kant verneint wird, in Bejahtes 
umsetzt. 

Es fragt sich, ob Ibsen auf dem Weg re¬ 
lativistischer Sittlichkeit weiter vorgedrungen 
ist als Hebbel, mit dem er die Überzeugung 
teilt, daß Sittlichkeit im Lauf der Zeiten sich 
verändere. Des Bösewichts entriet er si¬ 
cherlich immer mehr und mehr. Rektor 
Kroll in „Rosmersholm“ vertritt zwar als 
Gegenspieler eine sittliche Macht, die das 
Recht für sich in Anspruch nimmt, die über¬ 
dies — wie Hegel es meint — der Sittlich¬ 
keit Rosmers und Rebekkas gleichberechtigt 
ist. Doch Pastor Rosmer und Rebekka kom¬ 
men nahe an Schillers Don Cesar heran, 
wenn sie freiwillig ihr Leben hingeben, um 
für begangene Schuld zu büßen. Sie be¬ 
gründen ihren letzten Schritt freilich nicht 
durch den Hinweis auf den kategorischen 
Imperativ. Bestehen aber bleibt etwas von 
dem großen gigantischen Schicksal, das den 
Menschen erhebt, wenn es ihn zermalmt. 
Wie Schiller, getragen von Kants Sitten¬ 
lehre, es für die Tragödie forderte, erwirkt 
sich am Ende der Eindruck des Tragisch¬ 
erhabenen durch einen Entschluß, der aus 
freier Selbstbestimmung gefaßt wird. Am 
wenigsten ist Ibsen geneigt, die sittliche 
Schuld, die in dem Vorgehen Rebekkas 
liegt, schlechthin zu vergeben. Er läßt diese 
Schuld durch Worte Rebekkas begreiflicher 
werden. Er macht sie entschuldbarer, als 
vielleicht Schiller es getan hätte. Er lauscht 
der Seele des Menschen und ihrem Unter¬ 
bewußtsein Geheimnisse ab, um die sich 
Schiller kaum kümmert. Allein Erklärung, 
die aus der vertieften Kenntnis der Seele 
schöpft, erhebt hier nicht den Anspruch, 
von den sittlichen Pflichten zu entbinden, 
die dem Menschen auferlegt sind in seinem 
Verhalten zum Mitmenschen. 

Den Eindruck relativistischer Sittlichkeit, 
einer Sittlichkeit, die gleichmäßig zwei völlig 
entgegengesetzten Richtungen des Wollens 
und Handelns gerecht wird, gewinnt weit 
weniger der Betrachter eines einzelnen Dra¬ 
mas von Ibsen, als wer eine Reihe zeitlich 
aufeinander folgender Stücke Ibsens vor¬ 
nimmt. Längst habe ich versucht, dasEigene 

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Oskar Walzel, Tragik nach Schopenhauer und von heute 


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des Nacheinanders von Ibsens Schöpfungen 
als ein Fortschreiten in dialektischen Ge¬ 
gensätzen zu bezeichnen. Seine sittliche 
Selbstbesinnung stellte immer wieder neue 
Ziele auf und erkannte immer wieder, wie¬ 
viel Täuschung dabei unterlief. Wenn er 
ein Werk beendete, hatte er sich meist ent¬ 
schlossen, den Gedanken, zu dessen künst¬ 
lerischer Verklärung das Werk dienen sollte, 
abzulehnen und nur noch wie eine Quelle 
tragischen Leids zu fassen. Im ganzen 
Zusammenhang seines Schaffens bedingte 
dies Verfahren, daß ein neues Werk wirken 
konnte wie Absage an das unmittelbar 
vorangehende. „Puppenheim“ und „Ge¬ 
spenster“ oder „Volksfeind" und „Wild¬ 
ente“ können als solche gegensätzliche 
Paare gefaßt werden. Es ist, als nähme 
in jedem dieser Paare das zweite Stück 
zurück, was im ersten zum Ausdruck ge¬ 
langt ist. Doch nicht das Bedürfnis, sittliche 
Gegensätze zu begreifen und verständlich 
zu machen, sondern ruhelose und stets un¬ 
befriedigte Selbstprüfung, ein rastloser sitt¬ 
licher Drang lebte sich in Ibsens Schaffen 
aus. 

Gerhart Hauptmanns „Einsame Menschen“ 
greifen mit neuen Mitteln und von neuem 
Standpunkt die Tragik von „Rosmersholm“ 
auf. Das Ende zeigt nicht einen Menschen, 
der, sein eigener Richter, aus freiem Ent¬ 
schluß in den Tod geht, sondern ein weicher 
und widerstandsloser Mensch, der unter dem 
Druck eines schweren Erlebens sich gelbst 
mit fester Hand zu führen verlernt hat, 
dessen sittliche Selbstbestimmung vernich¬ 
tet ist, taumelt in den Selbstmord hinein. 
Von Ibsens Bedürfnis, Gerichtstag über sein 
eigenes Ich zu halten, ist so wenig zu ver¬ 
spüren wie gleich darauf am Schlüsse der 
„Versunkenen Glocke“. Und wie auf dem 
Wege von Ibsen zu Hauptmann Sittliches 
sich erweicht, so verlieren auch die tragi¬ 
schen Gegensätze an Schärfe und Wucht. 
Folge ist ein noch unbedingteres Bekennt¬ 
nis zu der tragischen Art, die als dritte von 
Schopenhauer bezeichnet und als beste 
bewertet wird, zu der Tragik des „Clavigo“, 
zu Hegels und Hebbels Anschauung, daß 
gleichwertige Mächte von ebenbürtiger Sitt¬ 
lichkeit Zusammentreffen sollen im Trauer¬ 
spiel. Könnte in Rebekka West noch etwas 
von bösem Wollen entdeckt werden, ist sie 
in jungen Jahren von der Verbrechernatur 
ihres Vaters zu unsittlicher Lebensführung 
erzogen worden, so hat Anna Mahr bloß 


alle Kennzeichen eines guten Menschen. 
Gütig sind auch ihre Gegenspieler. Ganz 
wie Schopenhauer es wünscht, wird Un¬ 
glück in den „Einsamen Menschen“ nicht 
herbeigeführt durch einen ungewöhnlichen 
Charakter, sondern leicht und von selbst, 
fast wesentlich notwendig geht aus dem 
Tun und aus der Beschaffenheit von Men¬ 
schen, die so gut wie nichts Ungemeines 
an sich haben, tragische Verwicklung her¬ 
vor. 

Tragik, die aus kleinsten Gegensätzen 
keimt, zwischen deren Trägern keinerlei 
unvereinbare sittliche Widersprüche be¬ 
stehen, wurde durch Hauptmann auf viele 
Jahre hinaus Lieblingsaufgabe deutscher 
Dramatiker. Vielleicht noch weiter alsHaupt- 
mann gelangte auf dessen Spuren der Wie¬ 
ner Arthur Schnitzler. In den „Einsamen 
Menschen“ treffen immer noch hebbelisch 
alte und neue Zeit aufeinander. Im „Zwi¬ 
schenspiel“ Schnitzlers kommt es zu tragi¬ 
scher Entfremdung zweier Menschen, die 
beide gleichmäßig neue vorurteilslose Sitt¬ 
lichkeit und Verzicht auf alte, scheinbar ent¬ 
wertete und abgenutzte sittliche Bedenken 
anstreben. Möglichkeit gleicher tragischer 
Entzweiung tut sich — wie Schopenhauer 
verlangt — hier auf, vielleicht nicht für je¬ 
den andern, aber gewiß für die vielen, die 
so frei über die Sitte der Vergangenheit 
wegblicken wie Martn und Frau im „Zwi¬ 
schenspiel“, Naturen von hoher seelischer 
Bildung, Menschen, die sich bewußt sind, 
das Beste ihrer Zeit in sich zu verkörpern. 

Und wie Schnitzler aus kleinsten Gegen¬ 
sätzen Tragik ableitet, so denkt er auch 
nicht daran, über seine Menschen zu rich¬ 
ten. Er will sie verstehen. Er möchte re¬ 
lativistisch Handlungen begreifen, die vor 
strengerem Gericht schlechthin als unrecht, 
wohl gar als unsittlich befunden werden 
könnten. Nicht wesentlich anders hatte 
Hauptmann es gemeint. 

Ihm aber ergab sich noch eine Steige¬ 
rung sittlich relativistischer Tragik: eine 
Tragik, deren Leid es ist, Menschen und 
ihr Handeln nicht begreifen zu können, sie 
für unsittlich halten zu müssen. Wenn 
endlich Verständnis sich ermöglicht, wenn 
das Schwerbegreifliche endlich begriffen ist, 
dann ist auch das tragische Leid überwun¬ 
den. Versöhnlich klingt das Stück aus. 

Hauptmanns „Michael Kramer“ stattet in 
den beiden ersten Aufzügen, also in der er¬ 
sten Hälfte des Dramas, den Sohn Kramers 


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Oskar Walzel, Tragik nach Schopenhauer und von heute 


aus mit Merkmalen, wie sie der junge 
Schiller kaum ausgiebiger seinen Bösewich¬ 
ten geliehen hätte. Im ersten Aufzug, wenn 
Arnold Kramer mit seiner Mutter spricht, 
vollends im zweiten, wenn der Sohn den 
Vater unbedenklich belügt. Michael Kra¬ 
mer schreit qualvoll auf: „Du bist nicht mein 
Sohn! — Du kannst nicht mein Sohn sein! 
Geh! Geh! Mich ekelt’s! Du ekelst mich 
an!!“ 

Bloß ganz leise ist in den beiden ersten 
Aufzügen angedeutet, daß Arnold Kramer 
ein hochbegabter, aber tiefunglücklicher 
Mensch ist, ein echter Künstler, der schwer 
an den Hemmungen seiner Seele leidet. 
Beinahe ist dem Darsteller überlassen, die 
gewinnenden Züge stärker zu betonen, da¬ 
mit die Wendung begreiflicher werde, die 
sich in der zweiten Hälfte des Stücks voll¬ 
zieht. Schon im dritten Aufzuge gewinnt 
Arnold das Mitgefühl des Zuschauers, so¬ 
bald er zu zotigen Philistern in Widerstreit 
gelangt. Wenn im vierten Aufzug Michael 
Kramer vor dem toten Sohn steht, ist alles 
wie weggelöscht, was jemals zwischen 
beiden eine unübersteigliche Mauer errich¬ 
tet hatte. Endlich meint Kramer den Sohn 
recht zu verstehen, den nicht begreifen zu 
können, den verurteilen zu müssen das Leid 
seines Lebens gewesen war. Er beugt sich 
vor ihm. Er bekennt: „Ich war die Hülse, 
dort liegt der Kern.“ Es klagt sich selbst 
an, den Sohn gequält, diese Pflanze viel¬ 
leicht erstickt zu haben. „Und nun ist er 
mir so ins Erhabne gewachsen.“ 

Was Kramer über seinen toten Sohn zu 
sagen hat, nimmt so viel Raum in Anspruch 
innerhalb des wenig umfangreichen Stücks, 
daß der Schwerpunkt nodi unverkennbarer 
hinrückt zu der Frage des Begreifens. Der 
sittliche Zusammenprall löst sich auf in ei¬ 
nem Licht, das die verwerflichen Züge ei¬ 
nes Menschen wegleuchtet und die Hinder¬ 
nisse tilgt, die vollem Verstehen im Wege 
sind. Dies Licht strahlt der Tod aus. 

Fast gleich im Ausgang und in der Be¬ 
deutung, die auf tragischer Bühne dem Be¬ 
greifen zugemessen wird, ist dem Spiel von 
Arnold Kramer das Legendenspiel „Kaiser 
Karls Geisel“. Wie Michael an seinem 
Sohn, leidet der alternde Kaiser an dem 
Dirnlein Gersuind, das aussieht wie eine 
Heilige und unheiliges Wort im Munde 
führt, unheilige Tat begeht. Den blonden 
Irrwisch, das sehr aberwitzige Ding möchte 
der Kaiser veredeln. Sowenig sie geneigt 


ist, von diesem Mann anderes zu verlangen 
als von allen übrigen, Kaiser Karl kann 
doch noch am Ende des zweiten Aufzugs 
sie entlassen mit dem Wunsche: „Eile! 
deine Seele entsühne, bade sie von Flecken 
rein!“ Im nächsten Aufzug eröffnen sich 
ihm freilich Blicke in Gersuinds Treiben, 
die ihn zwingen, sie mit ähnlicher Ge¬ 
bärde von sich zu weisen wie Michael 
Kramer den lügnerischen Sohn: „Stehst du 
noch immer da? Die Peitsche denn . . .“ 
Des Spielzeugs ist er müde. Wie Michael 
Kramer leidet er minder an dem sittlichen 
Gegensatz, der zwischen ihm und einem 
andern Menschen klafft, als an der Un¬ 
fähigkeit, die Stelle zu finden, von der aus 
ihm eine unverständliche Seele begreiflich 
wird. Und wie dort ersteht auch hier die 
Möglichkeit des Begreifens, sänftigend und 
erlösend, wenn diese unbegreifliche Seele 
dahingegangen ist. 

Ein Vergleich mit Grillparzers „Jüdin von 
Toledo“ läßt das Wesentliche von „Kaiser 
Karls Geisel“, läßt überhaupt die Eigenart 
solcher Tragik des Nichtverstehenkönnens 
noch fester erfassen. Die beiden Stücke 
sind miteinander engverwandt, aber an ent¬ 
scheidender Stelle grundverschieden. Da 
wie dort ist ein König, das eine Mal ein 
alternder, das andere Mal ein junger, um¬ 
strickt von dem Liebreiz eines leichtherzi¬ 
gen, sinnlich bezaubernden Geschöpfs. Da 
wie dort fühlt der Mann in dem Mädchen 
etwas sittlich Minderwertiges. Der junge 
Fürst leert die Schale, die der alte nicht an 
die Lippen zu setzen wagt. Doch auch 
dem Kaiser Karl drängt sich in dem Erleb¬ 
nis etwas so Übermächtiges auf, daß er 
wie König Alfons seines Reiches vergißt 
und Fürstenpflicht versäumt. Daher schaffen 
die Würdenträger des Landes das Hinder¬ 
nis beiseite. Sie töten das Mädchen. Wenn 
jedoch Kaiser Karl angesichts der Ermor¬ 
deten zum erstenmal ihr Wesen ganz zu 
fassen meint, so erwirkt in König Alfons 
der Anblick der Getöteten genau das Ge¬ 
genteil. Das Böse, das in ihr sleckte, offen¬ 
bart sich ihm. Er streift von sich ab, was 
er wie eine Befleckung empfindet. Er ent¬ 
scheidet sich sittlich gegen sie. Und wäh¬ 
rend Kaiser Karl gerade durch das Bewußt¬ 
sein, jetzt endlich ganz begriffen und ver¬ 
ziehen zu haben, Mut zu frischem Auf¬ 
schwung und zu neuer Herrscher- und Hel¬ 
dentat gewinnt, ersteht gleiches in Alfons 
dank der entgegengesetzten Erkenntnis; er 


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Oskar Walzel, Tragik nach Schopenhauer und von heute 


wirft das Erlebte von sich, um in sittlicher 

Selbstbescheidung sein ganzes künftiges 
Leben dienstbar zu machen tatkräftiger Buße 
für das Begangene. 

Sittliche Entscheidung und bloßes Be¬ 
greifenwollen stehen da einander gegen¬ 
über. Grillparzer trifft die Wahl zwischen 
Gut und Böse. Hauptmann läßt in einem 
Menschenkind, das fast allen für böse gilt, 
zuletzt noch etwas Gutes erkennen. Hart 
wirkt der Wiener Grillparzer neben Haupt¬ 
mann. Man hat dem Dichter der „Jüdin 
von Toledo“ verdacht, daß er seinem Kö¬ 
nig es so leicht mache, die Pflichten gegen 
die Tote loszuwerden. War das nicht auch 
schon das Urteil einer Zeit, die in sittlichen 
Dingen immer mehr einer relativistischen 
Wertung zuneigte? Sicherlich übersah sie, 
auf welcher Seite in dem Zusammenstoß 
von Pflichten, den der König Grillparzers 
in sich erlebt, die ernstere und heiligere 
Verpflichtung liegt. 

Hauptmann jedoch setzt sich durch 
die weiche Empfänglichkeit, die er wie 
seinem Michael Kramer so auch seinem 
Kaiser Karl leiht, der Mißdeutung aus. 
Könnte nicht ein williger Zweifler einwen¬ 
den, beide fühlten sich versöhnt mit dem 
Menschen, der ihnen seelisches Leid wegen 
seines sittlichen Verhaltens bereitet hat, so¬ 
bald der Tod diesem Menschen unmöglich 
macht, von neuem den Gegensatz zu be¬ 
währen, der zwischen ihm und anspruchs¬ 
vollem sittlichen Förderern besteht? Emp¬ 
finden vielleicht Michael Kramer und Kaiser 
Karl wirklich nur deshalb in sich keinen 
Widerspruch mehr zu den Toten, weil die 
Toten ihnen nicht mehr widersprechen 
können? Besonders aus den Worten Kaiser 
Karls geht wenig klar hervor, was ihn ei¬ 
gentlich ermächtigt, Gersuind zuletzt wie 
eine Verklärte zu sehen. Wie immer, wenn 
Hauptmann in letzter tiefaufgewühlter Rede 
einen Menschen aussprechen läßt, was wie 
ein schwer deutbares Geheimnis endlich sich 
enthüllt hat, versagen ihm die Worte. „Gott 
zerschellte an dem Engel, den er schuf — 
von Menschenmacht ganz zu geschweigen 
und von mir!“ Vernehmlicher als eine 
endlich erzielte Deutung des Rätsels Ger¬ 
suind klingt aus Kaiser Karl das Geständ¬ 
nis: „Was ich ihr streng verschwieg, das 
sag ich euch: ich liebte sie!“ Tritt da an 
die Stelle relativistischen sittlichen Werfens 
nicht vollends bloß allesverzeihende, alle 
Bedenken wegschwemmende Liebe? 


Die Gefahr, die einer relativistisch wer¬ 
tenden Tragik droht, erfüllt sich in beiden 
Stücken Hauptmanns: der sittliche Konflikt 
verliert den Boden unter den Füßen. Diese 
Gefahr wurde schon vor dem Erscheinen 
„Michael Kramers“, also lange vor „Kaiser 
Karls Geisel“ gekennzeichnet durch Haupt¬ 
manns Gegenfüßler Paul Ernst. Sein Auf¬ 
satz „Das Drama und die moderne Welt¬ 
anschauung“ von 1898 ist inzwischen über¬ 
gegangen in das Buch „Der Weg zur Form“. 
Er bezeichnet als die schlimmste Gefahr 
des Tragischen die Ansicht von der Rela¬ 
tivität aller Sittlichkeit. Wenn es keine ob¬ 
jektiven, allgemeinen und unter allen Um¬ 
ständen gültigen Regeln der Sittlichkeit 
gebe, dann gebe es nur noch ein Verstehen, 
sagte Ernst. Er nahm mit dieser Behaup¬ 
tung Stücke von der Art der beiden Dramen 
Hauptmanns im Gedanken vorweg. Er war 
sich bewußt, daß naturalistisches Drama 
auf dieses Ziel losgehe. Er beschuldigte 
Euripides, durch den sittlich relativistisch 
gedachten Satz, dieselbe Handlung könne 
je nach Person und Umständen gut und 
böse sein, der griechischen Tragödie das 
Ende bereitet zu haben. Er führte den sitt¬ 
lichen Relativismus des Euripides zurück 
auf die Sophisten des Altertums und nannte 
sie die Zerstörer des antiken Dramas. Er 
stellte fest, daß der soziologische Positivis¬ 
mus des 19. Jahrhunderts, in dem die rela¬ 
tivistische Sittlichkeit des naturalistischen 
Zeitalters und des naturalistischen Dramas 
wurzelt, übereinstimme mit der alten So- 
phistik. Er stützte die Behauptung auf den 
Versuch des Positivisten Ernst Laas, den 
Sophisten Protagoras vom Standpunkt des 
Positivismus zu rechtfertigen. 

Ernst eröffnete einer Tragödie wieder 
die Bahn, die nicht bloß auf Verstehen, 
sondern auf sittliches'.Werten ausgeht. Wie 
in anderm wurde auch in dieser Wendung 
Ernst Wegweiser einer neuen Kunst, Weg¬ 
bereiter des sogenannten Expressionismus. 
Als einer der ersten kündigte er die Um¬ 
kehr an, die sich seitdem wie auf dem Feld 
der Dichtung auf dem Feld philosophischer 
Selbstbesinnung vollzogen hat. Das ist ja 
das Große des Augenblicks, daß sich Kunst 
gemeinsam und einhellig mit Weltanschau- 
ungslehre zu Neuem durchringt. Beide 
wollen zurückkehren zu einem Bekenntnis, 
das dem Weltbild jüngster Vergangenheit 
widerspricht und ältere Überzeugungen neu 
belebt. 


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Oskar Walzel, Tragik nach Schopenhauer und von heute 


Die große Wandlung spiegelt sich in 
einem Denker, der vor kurzem dahinging, 
in sich aber noch die Umkehr erlebte, die 
über philosophisches Denken gekommen ist. 
Georg Simmel war vor einem Menschen¬ 
alter der unbedingteste Vorkämpfer relati¬ 
vistischer Sittlichkeit. Als er starb, war er 
auf dem Wege zu dem entgegengesetzten 
Ende. 

Als Simmel vor etwa einem Menschen¬ 
alter seine „Einleitung in die Moralwissen¬ 
schaft“ schrieb, lehnte er ausdrücklich ab, 
der Wissenschaft die Aufgabe einer Fest¬ 
setzung sittlicher Vorschriften zuzuweisen. 
Nicht sie habe Ideale aufzustellen. Viel¬ 
mehr bescheide sie sich, das vorhandene 
sittliche Leben zu beschreiben, ohne zu 
ihm eine wertende Stellung einzuneh¬ 
men. Wissenschaft blieb damals für Simmel 
die Erforschung sittlicher Tatsachen nur so 
lange, wie sie die Begriffe Altruismus, Ego¬ 
ismus, sittliches Verdienst, sittliche Schuld, 
Glückseligkeit, kategorischer Imperativ, 
Zweck, Freiheit und Verwandtes vom Stand¬ 
punkt der Ergründung des Seelenlebens 
zergliederte. Simmel nannte daher jeden 
Versuch, sittliche Normen aufzustellen, un¬ 
wissenschaftlich. 

Die letzte Folgerung aus den Grund¬ 
sätzen relativistischer Auffassung des Lebens 
war mit dieser Entscheidung für die Lehre 
von der Sittlichkeit gezogen. Doch wie 
Philosophie um 1S00 überhaupt vom Rela¬ 
tivismus sich abzuwenden begann, so war 
auch bei Simmel Abkehr von den Ansich¬ 
ten zu verspüren, die er zu Beginn der 
neunziger Jahre vertreten hatte. Gleich¬ 
gültig ist hier, die Männer zu nennen, die 
ihn zu einer Sinnesänderung bewogen ha¬ 
ben mögen. Wichtig bleibt nur, daß er 
eines Tages der Wissenschaft das Recht, 
Sittliches zu werten, wieder zuerkannte. 

Die Bedeutung, die für Simmel selbst 
wie für seine Zeit solche Wandlung hatte, 
ist erfolgreich herausgestellt in dem Nach¬ 
ruf, den im 24. Band der „Kantstudien“ ihm 
Max Frischeisen-Köhler stiftete. Simmel, 
für die Welt einst schlechthin ausgeprägter 
Verfechter des Relativismus, scheinbar be¬ 
strebt, den Relativismus zur äußersten Sub¬ 
jektivität der Moderne zu steigern, drang 
zuletzt zu einem neuen Absolutismus durch. 
Frischeisen-Köhler nennt es einen Gewinn, 
der einer kom menden systematischen Epoche 
unserer Philosophie nicht verloren gehen 
kann, daß Simmel schließlich zu all¬ 


gemeinsten metaphysischen Überlegungen 
gelangte, die unmittelbar in die deutsche 
Spekulation und in die Fragestellungen un¬ 
serer Zeit einmündeten, ln einem der gei¬ 
stig Beweglichsten setzte sich das Bedürf¬ 
nis des Gemüts nach absolutem Halt durch. 
So wurde für Simmel der Relativismus, der 
das letzte Wort aller Kritik zu sein schien, 
zu einer bloß vorletzten Ansicht. 

In Simmels Verhalten spiegelt sich, was 
gleichzeitig der deutschen geistigen Welt 
zum Erlebnis geworden ist. Ein eindrucks¬ 
voller Redner, ein vielgelesener Schrift¬ 
steller, hat Simmel die Wandlung mitbe¬ 
stimmt, die sich in den jüngstvergangenen 
Jahren auch außerhalb philosophischer 
Kreise ergab. Wenn er einst deutsche Dich¬ 
ter zum Relativismus erzog und seinen 
starken Anteil hatte an einer Kunst, die 
begreifen und nicht werten wollte, wo es 
sich um Fragen sittlichen Lebens drehte: 
so wurde er auch zum Wegweiser einer 
neuen Jugend, die an die Stelle des bloßen 
Begreifens das Werten wieder einsetzte 
und vor allem der Tragödie sittliche Ent¬ 
scheidung, zugleich erneute Trennung von 
Gut und Böse zuführte. 

Wie sich seit Hasenclevers „Sohn“ Ab¬ 
solutismus der Sittlichkeit in deutscher dra¬ 
matischer Dichtung immer mehr durchsetzt, 
will meine „Deutsche Dichtung seit Goe¬ 
thes Tod“ erweisen. In dem Sammelwerk 
„Zur Einführung in die Kunst der Gegen¬ 
wart“, das zuerst im Sommer 1919 hervor¬ 
trat, suchte ich einen Teil der Zusammen¬ 
hänge, die hier erwogen werden, schon 
(S. 33 ff.) anzudeuten. Füglich darf jetzt 
darauf verzichtet werden, weitere Belege 
für die Stellung heranzuholen, die zu rela¬ 
tivistischem Begreifen und zu absolutem 
Werten Strebungen und Taten neuster Dich¬ 
tung einnehmen. 

Wenn indes hier von Anfang an der Ge¬ 
gensatz zwischen jüngster deutscher Dich¬ 
tung und Schopenhauer ins Auge gefaßt 
worden ist, so muß nunmehr zugestanden 
werden, daß solcher Gegensatz nicht be¬ 
steht, soweit es wieder zurückgeht zu nicht- 
relativistischer Sittlichkeit. Zwar nimmt man 
und nahm man besonders auf der Dresdner 
Schopenhauertagung in den Pfingsttagen 
dieses Jahres Schopenhauer für alles Mög¬ 
liche in Anspruch, was um 1900 sich im 
deutschen Denken ergeben hat. Allein wer 
wagte wohl, Schopenhauer zum sittlichen 
Relativisten zu machen? Der Gegensatz 


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Oskar Walzel, Tragik nach Schopenhauer und von heute 752 


zwischen Schopenhauer und der Tragödie 
von heute besteht bloß, soweit Schopen¬ 
hauer für seine dritte Art des Tragischen 
eintritt und in ihr die höchste Leistung 
tragischer Kunst erkennt. Die Kräfte, die 
heute in der Tragödie zusammenprallen, be¬ 
deuten nicht ein gleiches Maß von Recht 
und Unrecht. Wieder liebt man es, das 
Unrecht auf einer der beiden Seiten min¬ 
destens beträchtlich überwiegen zu lassen. 
Wieder nimmt der Dichter Partei für die 
eine und gegen die andre seiner Gestalten. 

Strindberg allerdings, in dem mit Recht 
ein wichtiger Anreger unserer Neusten er¬ 
blickt wird, soll nach Hans Taubs Schrift 
von 1918 über das „Traumspiel“ (S. 53 f.) 
in diesem Bekenntnis den Standpunkt durch¬ 
aus wahren, den die dritte Art des Tragi¬ 
schen nach Schopenhauer einnimmt. Wie¬ 
weit Taub zuzustimmen ist, sei nicht weiter 
erwogen. Daß Strindberg sonst auch mit 
ungleichmäßigerer Verteilung von Recht 
und Unrecht arbeitet, ist wohl genug be¬ 
kannt. Und gerade diesem Strindberg, der 
wieder zu bösen Menschen auf der Bühne 
gelangte, leistete das neue deutsche Drama 
Gefolgschaft, ln Strindbergs Dramen ist 
überdies viel, was nicht bloß von der scho- 
penhauerisch gemeinten Tragik des „Cla- 
vigo“ oder Hebbels abgeht, auch von deren 
relativistischer Übersteigerung, die sich in 
der Tragik des bloßen Begreifens bei Haupt¬ 
mann oder bei Schnitzler ergab. 

Denn nur eine Übersteigerung der An¬ 
sicht, die hier auf ihrem Wege von Goethe 
über Hegel, Schopenhauer und Hebbel zu 
Ibsen verfolgt wurde, ist und nicht auf Scho¬ 
penhauer berufen darf sich eine Tragik, die 
nicht mehr zwischen Gut und Böse schei¬ 
den, sondern nur noch verstehen will; eine 
Tragik, der tragisches Leid nicht so sehr 
aus sittlichen Gegensätzen als aus der Un¬ 
fähigkeit des Begreifens ersteht. Eine Über¬ 
steigerung, doch auch eine letzte Folgerung. 
Ein geschlossenes Ganzes bedeutet sicher¬ 
lich tragische Dichtung von „Clavigo“ bis 
zu „Kaiser Karls Geisel“; ja noch etwas 
über „Clavigo“ zurück und etwas über 
Hauptmanns Drama von Gersuind hinaus 
reicht dieser Zusammenhang. Das ergibt 
sich dem Betrachter von heute, wenn er 
feststellen muß, wie in entschiedener Ab¬ 
kehr von diesem geschlossenen Ganzen, 
das durch ungefähr zwei Jahrhunderte die 
Führung auf der Bühne für sich in An¬ 
spruch nahm, es heute zurückgeht zu einer 


Tragik, die vor dem Erstehen dieses Gan¬ 
zen ihre Geltung in der Weltliteratur hatte. 

Als eine Einheit von eigenen Gesetzen 
enthüllte sich dies Ganze schon vor Jahren, 
und ehe noch von Ausdruckskunst, also 
auch von einem Abschluß und von An¬ 
sätzen zu einer gegensätzlichen Entwick¬ 
lung die Rede war, dem ungarischen Den¬ 
ker Georg von Lukäcs. Er hatte in seiner 
Muttersprache am Ende des ersten Jahr¬ 
zehnts dieses Jahrhunderts ein Werk über die 
Entwicklungsgeschichte des neuern Dramas 
niedergeschrieben. Aus den einleitenden 
Kapiteln des Buchs geschöpft ist der Auf¬ 
satz „Zur Soziologie des modernen Dramas“, 
der 1914 im „Archiv für Sozialwissenschaft 
und Sozialpolitik“ (38 , 303 ff. 662 ff.) er¬ 
schien. Er müßte hier erwähnt werden, 
weil er sich ausdrücklich auf Schopenhauers 
Worte über dessen dritte Art der Tragik be¬ 
zieht, auch wenn die lichtvolle Darlegung 
von Lukäcs nicht überdies eine vertiefte 
Erfassung der hier betrachteten Zusammen¬ 
hänge ermöglichte. 

Lukäcs stellt in den jüngsten zwei Jahr¬ 
hunderten eine Verbürgerlichung des Dra¬ 
mas fest. Durch das bürgerliche Drama des 
Engländers George Lillo, das von Dide¬ 
rot in die französische, von Lessings „Miß 
Sara Sampson“ in die deutsche Dichtung 
übertragen wurde, kam in fast alle neuere 
Dramatik, auch in Stücke aus nichtbürger¬ 
licher Schicht und aus ferner Vergangen¬ 
heit ein bürgerlicher Zug. Ihn weisen eben¬ 
so „Iphigenie auf Tauris“ und „Torquato 
Tasso“ wie Hebbels „Gyges“. Am vollsten 
entfaltete er sich in der Zeit der Eindrucks¬ 
kunst. 

Ihn bezeichnet fortschreitende Intellektu¬ 
alisierung. Unreligiös war der Ursprung 
dieses verbürgerlichten Dramas, im Gegen¬ 
satz zu dem Drama älterer Weltliteratur. 
Begriffsbestimmung und Zergliederung tra¬ 
ten an die Stelle von Symbolen. Nicht 
Leidenschaften prallten fortan zusammen, 
sondern Ansichten. Nicht Menschen schlecht¬ 
weg, sondern Vertreter bestimmter Schich¬ 
ten der Gesellschaft trafen in der Tragödie 
aufeinander, und zwar mit Vorliebe Ver¬ 
treter gegensätzlicher Schichten. Abhängiger 
als je zuvor wurden die tragischen Gestal¬ 
ten von ihrer Umwelt, zugleich aber immer 
individualistischer. Das ging bis zum Krank¬ 
haften schon bei Goethes Orest oder Tasso. 

Eine der bedeutsamsten Wendungen, die 
durch die Intellektualisierung erbracht wur- 


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Oskar Walzel, Tragik nach Schopenhauer und von heute 


de, war eine Objektivität, die sich in man¬ 
nigfachster Form durchsetzte. Die Men¬ 
schen gingen nicht mehr in ihren eigenen 
Taten auf, sondern erlebten sie aus einer 
gewissen Entfernung. Aller Gegensatz wur¬ 
de ins Begriffliche gewandelt. Der Kampf 
näherte sich dem Streitgespräch, das ja 
von vornherein Ausgleichung, Überzeugung 
des andern, Einsicht in die relative Richtig¬ 
keit von dessen Wahrheiten nicht aus¬ 
schaltet. 

Lukäcs’ schlagendstes Beispiel istHebbels 
Herzog Ernst; er macht den eigenen Sohn 
zum Richter in einem Streit, der zwischen 
ihm und diesem Sohn waltet. So sehr ist 
der Herzog überzeugt von seinem Recht 
und von der Möglichkeit, daß auch sein 
Sohn und Gegner zu gleicher Überzeugung 
gelangen müsse. Er vertraut dem Verstän¬ 
de und hofft, daß dieser Verstand über 
Leidenschaft siegen werde. Er behält recht. 

Selbstverständlich gedenkt Lukäcs der 
Worte, mit denen Hebbel den Bösewicht 
aus dem Trauerspiel hinausweist. Dann 
aber auch der Ansicht Schopenhauers, die 
Tragödie ersteige ihre höchste Stufe, wenn 
Menschen in unausweichlicher Folgerung 
aus ihrer gegenseitigen Lage einander zu¬ 
grunde richten. Er hat die Stelle des Haupt¬ 
werks im Auge, von der hier ausgegangen 
worden ist. 

Schopenhauer also ein Anwalt der ver¬ 
bürgerlichten Tragik der jüngsten zwei Jahr¬ 
hunderte. Sein Eintreten für eine Tragik, 
die nicht vom Bösewicht und nicht vom 
Schicksal erweckt wird, nur der Ausfluß 
einer Wandlung des Dramas, die zu Beginn 
des 18. Jahrhunderts einsetzt und auf die 
Verbürgerlichung der Welt zurückgeht. Ei¬ 
ner Wandlung, die für Lukäcs, den Gesin¬ 
nungsgenossen und Freund Paul Ernsts, 
gleichkommt einer Zerstörung des eigent¬ 
lich Tragischen. 

Widerspricht dieser Einstellung nicht 
der Einwand, der von Schopenhauers 
Hauptwerk im 37. Kapitel des zweiten Ban¬ 
des gegen das bürgerliche Drama erhoben 
wird? Nicht im ersten Anlauf, nur in zwei¬ 
ter Bearbeitung fand Schopenhauer für die¬ 
sen Einwand das Wort: den bürgerlichen 
Personen fehlt es an Fallhöhe. 

Es wäre zu bequem, diesen Widerspruch 
beseitigen zu wollen durch den Hinweis, 
Lukäcs denke ja nicht bloß an das bürger¬ 
liche Drama im geläufigen und strengen 
Sinn des Worts, sondern an das ganze 


neuere Drama, das er verbürgerlicht findet. 
Das bürgerliche Schauspiel bleibt gewiß 
die ausgeprägteste Gestalt des verbürger¬ 
lichten Dramas. Vielmehr besteht Wider¬ 
spruch nicht zwischen Schopenhauer und 
Lukäcs, sondern zwischen den beiden Äu¬ 
ßerungen des Hauptwerks. 

Schopenhauer findet im bürgerlichen Dra¬ 
ma zu wenig Fallhöhe, weil nur das Un¬ 
glück der Menschen von großer Macht und 
von großem Ansehen genug Größe habe, 
um furchtbar zu erscheinen. Er tritt also 
ein für eine gewisse Entfernung zwischen 
den Bühnengestalten und den Zuschauern. 
Dort indes, wo er für seine dritte Art des 
Tragischen ficht, legt er alles Gewicht auf 
die Möglichkeit, daß der Zuschauer das 
Leid der Bühnengestalten seinen eigenen 
Lebensmöglichkeiten recht nahverwandt 
empfindet. Um erleichterte Einfühlung ist 
ihm zu tun. Das Wort von der ungenü¬ 
genden Fallhöhe legt hingegen das Ge¬ 
wicht auf die überwältigende Wirkung 
eines Ungeheuern Erlebnisses, das durch 
seine Wucht auch dann erschüttert, wenn 
der Zuschauer das Leid der Bühnengestal¬ 
ten nicht als sein eigenes empfindet. Es 
ist der Gegensatz, den man in die Begriffe 
Einfühlung und Abstraktion zu fassen ver¬ 
sucht. 

Zwei Pole des Tragischen erblicke ich in 
diesem Gegensatz. Die eine Tragik bleibt 
dem Leben nahe, sie ist mit Willen bürger¬ 
lich, sie bringt Erlebnisse, wie der Alitag 
sie bietet, sie wirkt durch die Entdeckung 
tragischer Möglichkeit in dem Gewohnten, 
in dem Leben, wie es jeder führt. Die 
andere geht hinaus über das Alltägliche, 
ihre Spannungen sind stärker als die des 
gewohnten Daseins, sie erweckt die Schauer 
eines fernen und fremden Erhabenen. 

Die erste Art, die Einfühlungstragik, 
waltet in der verbürgerlichten Welt, kenn¬ 
zeichnet sich am stärksten im Drama der 
Eindruckskunst, bei Hauptmann und bei 
Schnitzler; aber auch Lessing, dann Goethe 
nähert sich ihr, ja schon Euripides. Die an¬ 
dere Art heißt Aisdiylos und Sophokles, 
auch Shakespeare, heißt sogar Schiller, mag 
Schiller immerhin Sohn der verbürgerlichten 
Zeit sein. Sie muß wieder erwachen, 
wenn nicht Rembrandts gedämpfte, dem 
Leben verwandte Kunst, sondern die eksta¬ 
tische Gotik Matthias Grünewalds dem Ge¬ 
fühl des Zeitalters entspricht. Darum mel¬ 
det sie sich jetzt wieder an; und zurück 


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Nachrichten und Mitteilungen 


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tritt die verbürgerlichte Einfühlungstragik 
der jüngsten Jahrhunderte. 

Wieder ist man darauf aus, Imaginatives 
in der Dichtung zu verwirklichen. Goethe 
hingegen ging mit Bewußtsein den ent¬ 
gegengesetzten Weg. Schon Goethes Name 
bezeugt den hohen Bildungswert, der sol¬ 
cher nichtimaginativen, gedämpften Kunst 
innewohnt. Mag sie — wie Paul Ernst und 
Lukäcs sagen — der Tragik ihre beste. Kraft 
geraubt haben, sie hat im Rahmen der 
bürgerlichen Kultur Großes geleistet, hat 
eine Kunst der kleinen Gegensätze und 
Menschen gezeitigt, die fähig waren, auch 
das Schwere kleiner Gegensätze zu erfühlen. 
Jetzt geht es wieder zurück zum dröhnen- 
deren Zusammenprall entgegengesetzterer 
Kräfte. Schärfere Scheidung setzt sich durch. 
Allein heißt das nicht, manchen schönen 
seelischen Gewinn aufgeben? Muß nicht auf 
Werte verzichtet werden, die aufzugeben 
Verlust bedeutet? 

Doch die Kunst der kleinen Gegensätze 


hat augenscheinlich ihre letzten und äs- 
ßersten Möglichkeiten ausgeschöpft. Nach¬ 
dem sie zuerst den Bösewicht aus der Tra¬ 
gödie hinausgewiesen, war sie noch einen 
Schritt weitergegangen und hatte ihn we¬ 
der aufgenommen, nicht um ihn zu verur¬ 
teilen, nur um ihn zu begreifen; hatte sie 
die Tragik bloß noch in dem Menschen ge¬ 
sucht, dem dies Begreifen schwer wird. 
Umkehr also ist nötig geworden, wie immer, 
nachdem eine Entwicklung ihre letzten Fol¬ 
gerungen gezogen hat. 

Schopenhauer aber bewährt sich als Sohr 
der verbürgerlichten Zeit, soweit er seine 
Tragik dritter Art verficht. Er wächst über 
seine Zeit empor, indem er der Gegenwart 
seine Mitleidsittlichkeit schenkt. Er nähert 
sich ebenso der Gegenwart durch der 
Wunsch, Tragödien von beträchtlicher Fall¬ 
höhe auf der Bühne zu sehen. Wie alle 
Großen ist er nicht bloß Ausdruck seines 
Zeitalters, auch über seine Zeit hinaus 
Führer in eine andersgeartete Zukunft. 


Nachrichten und Mitteilungen. 


August Raps. 

In der Nacht vom 19. zum 20. April d. Js. 
starb im 56. Lebensjahre das langjährige Mit¬ 
glied des Vorstandes der Siemens & Halske- 
A.-G., Direktor des Wernerwerkes, Prof. 
Dr. August Raps. Mit ihm ist einer der be¬ 
deutenden Führer der deutschen Elektro¬ 
technik dahingegangen, ein vornehmer 
Kämpfer der alten Schule für Deutschlands 
Ruhm und Ehre, der die neuen Verhältnisse, 
in denen jeder einzelne nur noch egoisti¬ 
sche Ansprüche kennt, nicht begreifen und 
die Selbstvernichtung des deutschen Volkes 
nicht ertragen konnte. 

August Raps war der Sohn eines Malers, 
von dem er den Sinn für Kunst und guten 
Geschmack geerbt hatte. Er verlor den 
Vater bereits in seinem 9. Lebensjahre, so 
daß die Mutter, an der er mit großer Innig¬ 
keit hing, in der Hauptsache für die Aus¬ 
bildung seines Charakters maßgebend ge¬ 
worden ist. Seiner Vaterstadt Cöln ver¬ 
dankte er die Veranlagung zu einem ge¬ 
sunden Humor. Gern kehrte er, wenn 
Dienstreisen nach dem Westen es ihm ge¬ 
statteten, für kurze Zeit in das gastliche 
Haus der Mutter ein, in dem sich die ge¬ 
samte jugendliche Verwandtschaft ein Stell¬ 
dichein gab. Da saß er mit Behagen am 
Fenster, betrachtete wie einst in den Jugend¬ 


jahren den Straßenverkehr und stellte mit 
Befriedigung fest, daß es noch das gleiche 
cölnsche Leben sei, wenn er auch die Per¬ 
sonen nicht mehr kannte. 

Bereits in der Schule kam das Interesse 
für das Praktische bei Raps zum Ausdruck. 
Schon damals wußte er die Mutter zu be¬ 
wegen, ihm eine Drehbank zu kaufen - 
sie blieb ihm sein Leben lang ein teurer 
Gegenstand — und ihm bei einem Mecha¬ 
niker gründlichen Unterricht erteilen zu 
lassen. Diese frühzeitige Bekanntschaft mit 
der Präzisionsarbeit hat ihm ein sicheres 
Urteil für technische Leistungen anderer 
und für die Ansprüche, die man stellen 
kann, gegeben. Studiert hat Raps in Bonn 
und Berlin. Auf der Berliner Universität 
hörte er bei Helmholtz und Kundt; bei dem 
letzteren war er Assistent, ihm ist er be¬ 
sonders nahegetreten. Das ist nicht wun¬ 
derbar, weil Kundt, der ausgesprochene Ex¬ 
perimentator, die praktische Veranlagung 
von Raps besonders zu schätzen und zu 
fördern vermochte. Ein jeder, der das Glück 
gehabt hat, einem bedeutenden Manne in 
der Studienzeit als Lehrer oder überhaupt 
im Leben näherzutreten, weiß, welch un¬ 
geheuren Einfluß das auf den Charakter 
und das Wesen des Schülers ausübt. Raps' 
Arbeiten aus seiner Universitätszeit behan- 


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Nachrichten und Mitteilungen 


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dein zwar auch rein wissenschaftliche Pro¬ 
bleme, besonders aus der Optik und Aku¬ 
stik, aber auch sie weisen auf die prakti¬ 
sche Anwendung hin; aus dieser Zeit stammt 
auch die Erfindung der Rapsschen Expan¬ 
sionsluftpumpe, die die Anerkennung der 
Technik gefunden hat. 

Raps ist eine ganze Reihe von Jahren 
Dozent an der Berliner Universität gewesen 
und hat hier auch den Professortitel erhal¬ 
ten; einen Ruf als Professor an die Tech¬ 
nische Hochschule in Dresden, als Zweiund- 
dreißigjähriger, lehnte er ab, weil er sein 
Lebensziel in der reinen Technik sah. Den 
Weg dahin eröffnete ihm Wilhelm Von 
Siemens, der ihm eine Beschäftigung im 
Berliner Werk des Hauses Siemens & Halske 
anbot. Mit dem Entschluß, diesem Ruf zu 
folgen, begründete Raps seine Lebensauf¬ 
gabe; es war im Jahre 1893. Schon wenige 
Jahre danach übernahm er zunächst ver¬ 
tretungsweise für den erkrankten Direktor 
des Werkes Hermann Siemens und nach 
dessen Tode endgültig die Leitung dieses 
Werkes, die er zunächst allein und vom 
Jahre 1898 ab gemeinsam mit Adolf Franke 
geführt hat. Als das Haus Siemens & Halske 
dem Zuge der Zeit folgend aus finanziellen 
Gründen Aktiengesellschaft wurde, erhielt 
das Werk den Sfamen Wernerwerk, dem 
Begründer des Hauses Werner v. Siemens 
zu Ehren; denn im Wernerwerk wurden 
und werden diejenigen Arbeiten und Pro¬ 
bleme gefördert, mit denen Werner v. Sie¬ 
mens den Grund für den Ruf des Hauses 
gelegt hatte, darunter diejenigen der Tele¬ 
graphie; im allgemeinen bezeichnen wir 
diese Teile der Elektrotechnik als Schwach¬ 
stromtechnik. 

Als Raps die Leitung des Berliner Werkes 
übernahm, waren etwa 1000 Angestellte und 
Arbeiter dort tätig, bei seinem Tode etwa 
12000; ein großer Teil der Beschäftigten wa¬ 
ren und sind gut durchgebildete und tüchtige 
Mechaniker. Sehr vielseitig waren stets die 
Aufgaben und dementsprechend die Auf¬ 
träge, die im Wernerwerk zu erledigen 
sind. Raps erklärte eines Tages auf die 
Frage eines Wißbegierigen, wieviel ver¬ 
schiedenartige Apparate im Wernerwerk 
hergestellt würden, es sei unmöglich, diese 
Anzahl zu bestimmen, da täglich neue Ap¬ 
parate hergestellt würden, jedenfalls seien 
es viele Tausende. Und doch war diese 
Vielseitigkeit keine Verzettelung; das ver¬ 
hinderte Raps’ praktische Veranlagung und 


sein glänzendes Organisationstalent. Die 
Technik löst nicht nur Aufgaben, sondern 
sie sucht auch selber diejenigen heraus, die 
das praktische Leben in vielen Exempla¬ 
ren braucht; für diese hat sie besondere 
Herstellungsmethoden und Maschinen nötig, 
und hier wußte Raps stets mit klarem Blick 
die richtigen Wege zu weisen. 

Er hatte die schöne Eigenschaft, seine 
Mitarbeiter mit großer Selbständigkeit und 
Freiheit ihre Aufgaben entwickeln zu las¬ 
sen, wodurch er die Freude an der Arbeit 
und damit die Sache selbst förderte. Es 
seien hier einige der Arbeiten genannt, bei 
denen Raps persönlich auch um Einzelhei¬ 
ten sich gekümmert hat. Er war sich voll¬ 
kommen bewußt, daß seine Kräfte nicht 
ausreichten, sich um alles zu kümmern; er 
bedauerte oft lebhaft, wie traurig es für 
ihn sei, daß er sich an manchen wissenschaft¬ 
lich hoch interessanten Problemen, Über¬ 
legungen, Messungen, Konstruktionen nicht 
selbst beteiligen könne. Das geht natürlich 
einem jeden, der in seiner Stellung wächst, 
ebenso, und das ist ein Glück; denn nur 
dadurch ist die Erzielung eines guten Nach¬ 
wuchses möglich. Hierher gehört die Ent¬ 
wickelung der technischen elektrischen Me߬ 
instrumente, der Minenzündapparate, des 
Lautsprechers, der Schiffskommandoappa¬ 
rate — mit der deutschen Flotte ist ein 
wichtiges Lebenswerk von Raps zugrunde 
gegangen —, der Fernsprechzentralen, der 
Trinkwassersterilisation mittels Ozon, der 
Herstellung des als Düngemittel wichtig 
gewordenen Kalkstickstoffes. 

Ganz allgemein kann man von Raps 
sagen, daß er mit jugendlicher Begeiste¬ 
rung stets die Errungenschaften und Lei¬ 
stungen des Wernerwerks zu schildern ver¬ 
stand, ob dies in öffentlicher Sitzung oder 
im kleinen Kreise im Werk geschah; er 
hielt es für die Pflicht eines jeden Beam¬ 
ten, die Resultate würdiger Arbeiten auch 
in entsprechender Form zu schildern. Der 
Ausstellungsraum des Wernerwerks ist eine 
Bestätigung hierfür; dieser wurde von Raps 
zu einem Museum der lebenden modern¬ 
sten Schwachstromtechnik ausgestaltet. 

Daß Raps auch allgemeine Interessen der 
Technik stets im Auge gehabt hat, zeigen 
seine langjährigen Bemühungen um die 
Vereinheitlichung in der Fabrikation, die 
im Wernerwerk gründlich durchgebildet für 
die Allgemeinheit wertvolle Anhaltspunkte 
geben konnten. Dahin zu rechnen ist auch 


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Nachrichten und Mitteilungen 


seine Bemühung, eine gediegene Pflanz¬ 
stätte für die Ausbildung von Mechanikern 
zu schaffen; diese mit dem Wernerwerk 
eng verbundene Lehrlingswerkstatt kann 
als ein Muster einer derartigen Schule an¬ 
gesehen werden. 

An äußeren Anerkennungen hat es Raps 
nicht gefehlt. Von der Technischen Hoch¬ 
schule zu Danzig wurde er zum Dr. ing. e. h. 
ernannt; er war Mitglied des Kuratoriums 
der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt 
und Mitglied der Kaiser-Wilhelm-Gesell¬ 
schaft; außer anderen Orden und Ehren¬ 
zeichen wurde ihm das Eiserne Kreuz 2. Kl. 
am weiß-schwarzen Bande für seine wohl¬ 
verdienten Bemühungen um die Kaiserliche 
Marine zuteil. Wenn er solche Anerken¬ 
nungen auch mit einem gewissen Stolz ent¬ 
gegennahm, so war das in der Hauptsache 
lediglich die Freude, daß seine Leistungen 
und Bemühungen auch von der Öffentlich¬ 
keit anerkannt wurden; er war in seinem 
innersten Wesen außerordentlich bescheiden. 

Wenn man nun fragt, warum kann Raps 
zu den Führern der deutschen Elektro¬ 
technik und damit auch der deutschen Tech¬ 
nik im allgemeinen gerechnet werden, so 
soll darunter nicht verstanden werden, daß 
er einer der Direktoren eines großen Hau¬ 
ses gewesen ist, sondern daß er zu den 
Männern gehört hat, die mit gediegenem 
Wissen ausgerüstet als typische Charaktere 
deutscher Art ihrem Wirkungskreis den 
Stempel der Persönlichkeit aufgedrückt und 
den Ruf der deutschen Arbeit und der deut¬ 
schen Gründlichkeit gefördert haben. 
Charlottenburg. Dr. A. Ebeling. 

Lic. Dr. Wilhelm Erbt: Die deutsche Er¬ 
ziehung. Eine Geschichte der Le¬ 
benswerte unseresVolk es und ihrer 
Verwirklichung an seiner Jugend. 
Frankfurt a. M. 1920, Moritz Diesterweg. 
Geh. 7,70 M., geb. 9,50 M. 

Bis auf den heutigen Tag hat die Päd¬ 
agogik um ihre Anerkennung als Wissen¬ 
schaft zu kämpfen. Sie gilt vielen als eine 
bloße Theorie der Erziehungstechnik, die 
allenfalls durch ihre Beziehung zur Psycho¬ 
logie und Ethik eine gewisse wissenschaft¬ 
liche Färbung gewinne, der man aber sonst 
gern einen Platz außerhalb der echten Wis¬ 
senschaften anzuweisen geneigt ist. Und 
doch hat, wenn die Pädagogik bisher in 
der Entwicklung zurückgeblieben ist, dies 
nicht darin seinen Grund, daß sie zu ge- 


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ringe, sondern umgekehrt darin, daß sie 
sehr große Ansprüche an Wissenschaftlich¬ 
keit und Methode stellt. Denn die Päd¬ 
agogik ist nicht ein isolierbares Spezialfach, 
sondern ein Lebensgebiet, das seine Pro¬ 
bleme durch die mannigfaltigsten Beziehun¬ 
gen zu den verschiedensten Gebieten emp¬ 
fängt. So hat namentlich Eduard Spran- 
ger die Erziehung gedeutet: als einen Kul¬ 
turvorgang, der in den Zusammenhang des 
ganzen geistigen Lebens eingebettet ist, 
und danach die Pädagogik als eine Wissen¬ 
schaft, die in ihrem historischen, beschrei¬ 
benden und normativen Teil mit allen übri¬ 
gen Kulturgebieten eng verwoben ist. 

An dieser Schwierigkeit sind bisher so 
gut wie alle für den pädagogischen Sctiul- 
gebrauch bestimmten Darstellungen der Ge¬ 
schichte des Erziehungs- und Bildungswe¬ 
sens gescheitert. Es sind fast durchweg 
Biographien der großen Erzieher, die zu 
persönlicher Leistung verengen, was ganz 
nur durch die Gesamtbewegung des natio¬ 
nalen Lebens erklärbar wird. Uber diesen 
engen Standpunkt erhebt sich die neue Ge¬ 
schichte der Pädagogik, die Wilhelm Erbt, 
wesentlich zur Verwendung in Lehrer- und 
Lehrerinnenbildungsanstalten, uns jetzt ge¬ 
schenkt hat. ln diesem Buche ist die so¬ 
eben gekennzeichnete Auffassung von den 
Aufgaben der Pädagogik für die Darstel¬ 
lung ihres geschichtlichen Entwicklungs¬ 
ganges verwirklicht. Denn der Verfasser 
stellt die Geschichte der deutschen Erzie¬ 
hung und Bildung in den innigsten Zusam¬ 
menhang mit den treibenden Kräften, durch 
die die Entwicklung der deutschen Kultur 
getragen ist. Er verfügt über die weitrei¬ 
chende geistige Ausrüstung, die erforder¬ 
lich ist, um die vielfältigen Beziehungen 
aufzudecken, die Wirtschaft, Verfassung und 
Gesellschaft, Philosophie und Religion, Li¬ 
teratur, Kunst und Technik mit der Erzie¬ 
hung und Bildung des deutschen Volkes 
verbinden. Muß über dem Nachweis, daß 
diese Lebensgebiete mit den inneren Wand¬ 
lungen des deutschen Erziehungs- und Bil¬ 
dungswesens verflochten sind, auch manche 
pädagogische Einzelleistung zurücktreten, 
so bietet diese großzügige Betrachtung da¬ 
für ein um so eindrucksvolleres Bild der 
wechselnden Daseinsbedingungen und der 
beständigen Ergänzung und Berichtigung 
der Lebenswerte, um deren Verwirklichung 
jfdes neue Geschlecht, geführt von den 
großen Männern seiner Zeit, sich 


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Zeitschriftenschau 


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wieder müht. Diese Zusammenschau der 
inneren Beziehungen unseres nationalen 
Lebens erhöht ihre Wirkung vor allem 
auch durch das Gewand, in das sie gehüllt 
ist: eine in reinstem Deutsch sich bewegen¬ 
de Darstellungskunst. Wir stehen nicht an, 
das Buch Erbts dem Werke Paulsens: 
„Das deutsche Bildungswesen in seiner ge¬ 
schichtlichen Entwicklung“ (Aus Natur und 
Geisteswelt, Bd. 100, Leipzig, B. G. Teub- 
ner) an die Seite zu stellen, mit der Unter¬ 
scheidung, daß Erbt als schulmäßige Dar¬ 
stellung geleistet hat, was Paulsen unter An¬ 
nahme höherer Voraussetzungen schuf. H. R. 

J. Lepsius, Der Todesgang des armenischen 
Volkes. Bericht über das Schicksal des 
armenischen Volkes in der Türkei wäh¬ 
rend des Weltkrieges. Potsdam 1919 
Tempelverlag. XXIX, 309 S. 

Der Sammlung diplomatischer Akten¬ 
stücke über die Armenierverfolgungen (vgl. 
I. M. 1919, Sp. 831 f.) läßt Lepsius jetzt 
noch einen auf verschiedenen mündlichen 
und schriftlichen Informationen beruhenden 
Bericht folgen, den er nach seiner Rückkehr 
aus Konstantinopel 1916 verfaßt hat. In 
den wesentlichen Punkten stimmt dieser 
ältere Bericht mit der späteren Dokumen- 
tenpublikation überein, liefert also weitere 
wichtige Beiträge zur neuesten Geschichte 
der durch den Zusammenbruch der Türkei 
keineswegs gelösten armenischen Frage. 
Das Buch enthält auch einen Abschnitt über 
das Verhalten der deutschen Presse, der 
sich jedoch in der Hauptsache auf eine kri¬ 
tische Auseinandersetzung mit Bratters 
Kriegsbroschüre beschränkt. J. H. 

Hans von Kiesling: Damaskus. Altes und 
Neues aus Syrien. 126 S. mit Bildern und 
einer Kartenskizze. Leipzig 1919, Dieterich. 

Deutsche Kriegsleute in den Straßen von 
Damaskus! Wie der Traum einer überhitz¬ 
ten Phantasie könnte uns heute diese Vor¬ 
stellung anmuten und war doch fast gestern 
noch Wirklichkeit. Jene Landsleute, deren 
ganzes Leben sich auf engstem Raum ab¬ 


spielte, können das Gefühl der Wehmut 
kaum verstehen, mit dem wir alten Aus¬ 
ländsdeutschen, denen da draußen eine 
zweite Heimat versank, solche Bücher wie 
die vorliegende Schrift über Damaskus zur 
Hand nehmen. Für den Erdkundigen be¬ 
deuten Damaskus und der in den gelben 
Rahmen der Wüste gefaßte Topas der Ghuta 
unendlich viel, aber bei dem Kulturhistori¬ 
ker ist die alte Hauptstadt Syriens fast noch 
größerer Teilnahme sicher. Neben Babylon 
und Athen, Rom und Byzanz zählt sie zu 
den Stätten der Erde, über die sich jeder 
Gebildete immer wieder gern unterrichtet, 
namentlich dann, wenn ihm die Belehrung 
in so angenehmer Form geboten wird wie 
von diesem deutschen Kriegsmann. Ich 
weiß nicht, wie alt an Jahren der Verfasser 
ist. Jedenfalls schaute er mit dem großen, 
staunenden Auge der Jugend — in so mär¬ 
chenhafter Fremde wird auch der reife 
Mann wieder jung — in die ihm neue Welt, 
aber dennoch gibt er uns viel mehr als 
lebensvolle Stimmungsbilder. Um sich dar¬ 
auf zu beschränken, war der Generalstabs¬ 
offizier eines Colmar v. d. Goltz viel zu sehr 
an Methodik und Gründlichkeit gewöhnt. 
Während wir mit ihm von einem Baudenk¬ 
mal der Stadt zum andern pilgern, ziehen 
die einzelnen Abschnitte ihrer Geschichte 
an uns vorüber, und der Leser empfindet 
es nur angenehm, daß überall persönliche 
Erlebnisse den sachlichen Mitteilungen Fri¬ 
sche und Wärme verleihen. Schon als ich 
die nachdenkliche Einleitung über die Ge¬ 
schichte der Paulusstadt gelesen hatte, 
wußte ich, daß das schmale Bändchen einen 
reichen Inhalt berge. Von dem feinen Emp¬ 
finden des Verfassers zeugen auch die hüb¬ 
schen Bilder, unter denen wir das wunder¬ 
volle Türkenbild auf S. 71 besonders her¬ 
vorheben möchten. Gebe Gott, daß bald 
Zeiten wiederkehren, da diese deutsche Art, 
schönheits- und wissensdurstig, freie Bahn 
findet, um die weite Welt zu durchgeisti¬ 
gen und zu adeln. 

Deutsch-Eylau. Fritz Braun. 


Zeitschriftenschau. 


Aus englischen Zeitschriften 1919. 

Wer aus englischen Zeitschriften berich¬ 
ten will, muß von vornherein um Nachsicht 
bitten. Sind die Beschränkungen, die der 
Krieg mit sich brachte, endlich gefallen, so 
hat das Valutaelend der folgenden Zeit die 


Bibliotheken gezwungen, unter ihren aus¬ 
ländischen Zeitschriften fürchterliche Muste¬ 
rung zu halten. Für 1919 traf beides zu¬ 
sammen; die Folge ist, daß die hier ge¬ 
botene Übersicht auf Vollständigkeit keinen 
Anspruch machen kann: nicht jede Zeit- 


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763 


Zeitschriftenschau 

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schrift lag vollständig vor, manche, obwohl sehen Gymnasium“. Keine fruchtbringen¬ 
dem Namen nach noch gehalten, war nicht dere Einführung in die Anschauung des 
zugänglich. Menschen als Mitglied der menschlichen 

Im ganzen kann immerhin gesagt wer- Gesellschaft könne es für Englischsprechende 

den, daß die Literatur augenblicklich in den geben als wirkliches Verständnis ihrer gro- 

englischen Zeitschriften nur einen schmalen ßen Sprache und Literatur. Wahre Vater- 

Raum einnimmt: Politik, wirtschaftliche Fra- landsliebe müsse gegründet sein auf dem 

gen, der Krieg und was mit ihm zusam- Wissen, wofür England in der Vergangen- 

menhängt, all das steht im Vordergründe, heit eingestanden sei und wofür es jetzt 

und auch die Angelegenheiten der Kunst stehe, und diese Kenntnis vermittle nichts 

und Dichtung werden gelegentlich von besser als das Studium der großen Spre- 

einem Standpunkte betrachtet, der außer- eher des englischen Volkes seit Jahrhun- 

halb ihres engeren Bereiches liegt. Dahin derten. Gewiß sei der künstlerische Genuß 

gehört ein anonymer, „A Playgoer* gezeich- Hauptzweck der Dichtung, aber daneben 

neter Artikel des Novemberheftes der Con- sei sie doch der Mund der Geschichte, sie 

temporary Review, dessen Erörterungen erhalte die Vergangenheit und gerade den 
übrigens auch Sorgen berühren, die unsere Alltag der Vergangenheit im wachen Be- 
Theaterzustände wachzurufen nur zu ge- wußtsein und sei so das einigende Band 

eignet sind. Der Verfasser stellt der idealen zwischen den Geschlechtern eines Volkes. 

Bühne des Altertums und Mittelalters die Denselben Zweck erfülle das Sprachstudium, 

moderne Spekulationsbühne gegenüber; die indem es die Sprache als einen durch die 

Zeit rufe nach einer „reineren, sittlicheren, Jahrhunderte sich lebendig entwickelnden 

freudenbringenderen“ Verwendungder weit- Organismus erkennen lehre — der englische 
bedeutenden Bretter; dazu solle die in Unterricht sei also nicht Sache der Lehrer, 
Amerika entstandene „Kleintheaterbewe- sondern eines jeden und einer jeden, 
gung* helfen, die überall, nicht zuletzt auch Es ist anziehend zu sehen, in welcher 
auf dem Lande, kleine Bühnen für 60—600 Weise die Zeitschriften der Aufgabe die- 
Besucher schaffen wolle. Sie sollen den nen, den geistigen Besitz der Vergangen- 
Spieltrieb in der Bevölkerung wecken und heit in der Gegenwart lebendig zu erhal- 
so dazu helfen, daß die dramatische Kunst ten. Der größte Dichter des englischen 
lebendiger Besitz der breiten Schichten Volkes hat derartige Bemühungen wohl 
werde; in London werde man demnächst am wenigsten nötig, wenn vielleicht auch 
den ersten derartigen Versuch mit „ The Lessings bekanntes Klopstockepigramm das 
Everyman Theatre“ machen: ein Haus, das Verhältnis des Durchschnittsengländers zu 
allen modernen technischen Anforderungen ihm ganz gut bezeichnet: jedenfalls gilt 
genüge, sei vorhanden, die Truppe werde ihm nur ein Aufsatz aus der Feder seines 
sich aus für die Sache begeisterten Berufs- Biographen Sidney Lee ( Quarterly Rev. 
schauspielern, erprobten Dilettanten und Juli). Er wendet sich gegen einen von dem 
Theaterschülern zusammensetzen. Es ist Franzosen Abel Lefranc in einem zweibän- 
natürlich klar, daß von diesem Anfang, digen Buche auf Grund eines schon 1891 
dessen Art wohl durch die Londoner Ver- veröffentlichten Briefes von neuem präsen- 
hältnisse bedingt ist, bis zum vorschweben- tierten „wahren Shakespeare“, diesmal ist 
den Ziel noch ein weiter Weg ist, mag es William Stanley, sechster Graf von Der- 
der Verfasser schon von eifriger Nachfolge by; nach Lee hält Lefranc bei seiner ge- 
über ganz England, von einem endlich ge- ringen Kenntnis der elisabethinischen Lite- 
fundenen Mittel gegen die Flucht vom Lande ratur ein paar zufällige Übereinstimmungen 
und aus den kleinen Städten träumen. Je- für bezeichnend, während sie in Wirklich- 
denfalls darf man begierig auf die Erfolge keit alltäglich sind. Sicher haben in Aus- 
so schöner Pläne sein. gaben, Anthologien, Literaturgeschichten, 

Auch der im selben Heft abgedruckte Essais die Engländer viel dafür getan, die 
Vortrag, den Edith J. Morley vor der Zeit der Elisabeth jedem nahezubringen, 
Ortsgruppe Newcastle der English associa- der den guten Willen hat, sie kennen zu 
tion gehalten hat, trägt einen kulturpoliti- lernen; dagegen birgt das 17. Jahrhundert 
sehen Anstrich; sein Thema „die Stel- noch manchen zu Unrecht halbvergessenen 
lung des Studiums des Englischen Dichter: im Augustheft der Contemporary 
im Leben der Nation“ erinnert an den Rev. findet sich ein Aufsatz von C. Spender 
bei uns erhobenen Ruf nach dem „deut- über Richard Crashaw (1613—48J, einen 




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Zeitschriftenschau 


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mystisch-visionären Dichter mit der Gabe 
eindringlicher und deutlicher Rede, dessen 
Verse oft genug gar modern anmuten und 
für die müden, kriegssatten Menschen un¬ 
serer Zeit manche Botschaft haben. 

Wer England verstehen will, wird nicht 
zuletzt darauf achten, welche Schriftsteller 
der Vergangenheit dort noch heute nicht 
nur als klassisch gelten, sondern auch gelesen 
werden, und wird damit die Schätzung im 
eigenen Lande vergleichen. Wahrlich, wir 
haben genug englische Romanliteratur bei 
uns aufgenommen, aber wer kannte, wer 
kennt bei uns Jane Austen (1775—1817)? 
Dem Engländer gilt sie als eine der ersten 
Meisterinnen der Gattung und darüber hin¬ 
aus als große Persönlichkeit: eine französi¬ 
sche Doktoratsthese von Leonce Villard gibt 
einer entfernten Verwandten der Schrift¬ 
stellerin, Mary A. Austen Leigh, Veran¬ 
lassung, in der Quarterly Rev. (Oktober) von 
ihr n A personal aspect “ zu geben. Leider 
sei Jane Austens Briefwechsel in seinen 
wichtigsten Teilen unwiederbringlich ver¬ 
loren, aber ihre Romane seien als Doku¬ 
mente ihrer Persönlichkeit zu verwenden, 
und durch sie ziehe sich eine bezeichnende 
Gedankenreihe: stets verwebe sie mit der 
Handlung die Geschichte eines begangenen 
Fehltritts, darauf folgender Einsicht und auf 
ihr beruhender Besserung, mit einem Worte, 
sie sei die Dichterin der ethischen Bedeu¬ 
tung der Reue. Darauf beruhe der Austen 
tief sittlicher, ja religiöser Wert, und diese 
Seite ihrer Persönlichkeit habe die Franzö¬ 
sin gerade verkannt — worin sie denn 
übrigens mit einem sehr verbreiteten deut¬ 
schen Urteil zusammentrifft: in Engels 
Englischer Literaturgeschichte heißt 
es (7. Aufl. S. 381) von der Austen: „sie hat 
das Höchste erreicht, was ohne weiten Blick 
und ohne Herzenswärme geleistet werden 
kann.“ Im Gegensatz zu Jane Austen ist 
George Eliot bei uns wohlbekannt und 
gilt noch heute als Englands größte Ro¬ 
manschriftstellerin, mag die Zahl ihrer Le¬ 
ser auch kaum mehr sehr groß sein; in 
ihrem Heimatland scheint sie jetzt hinter 
der Austen und der Brontö zu stehen: ein 
Säkularartikel im Dezemberheft der Con¬ 
temporary Rev. von Th. Seccombe be¬ 
richtet wenigstens von dem seltsamen Zu¬ 
sammenbruch ihres einst überragenden 
Ruhmes; seit den neunziger Jahren seien ihr 
Name und Ruf verdunkelt, der Absatz ihrer 
Bücher zurückgegangen. Den Grund dafür 
sieht der Verfasser in einer Überschätzung 


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durch die Zeitgenossen und in ihrem allzu 
bewußten, tendenziösen Schaffen; nur die¬ 
jenigen ihrer Werke würden sich auf die 
Dauer als unabhängig von allen Zeitströ¬ 
mungen erweisen, die aus dem Erleben 
ihrer Jugend schöpften, die sich nährten 
aus dem Mutterboden des Eliotlandes, je¬ 
ner Gegend Mittelenglands, in der die Dich¬ 
terin wie einige ihrer Hauptgestalten zu 
Hause sind. 

Einem in England umstrittenen Dichter 
huldigt O. Burdett in der Dublin Review 
(Oktober/Dezember) in schier überschweng¬ 
licher Weise, nämlich Coventry Patmore 
(1823—96), von dessen Hauptwerk The Angel 
in the House, einem Epos von 24 Gesängen, 
Leon Kellner, wohl der einzige, der bei 
uns diesem Dichter etwas eingehendere 
Betrachtung geschenkt hat, sagt: „Noch nie 
ist auf einen so nichtigen Stoff soviel Ar¬ 
beit verwendet worden wie in diesem Ge¬ 
dichte“ (Die englische Literatur im 
Zeitalter der Königin Viktoria S.476). 
Aus Burdetts Aufsatz geht hervor, daß sol¬ 
che Urteile auch in England gefällt werden; 
Burdett aber spricht für die zahlreiche Pat- 
moregemeinde, für die ihr Dichter der ein¬ 
zige Epiker großen Stils in unserer Zeit ist, 
ein Mann, den man ohne Umstände mit 
Homer und Dante in einem Atem nennen 
kann. Er sei Fortsetzer und Vollender der 
großen epischen Überlieferung, Gipfel einer 
Kultur, im Gegensatz zu Milton, dem Sohn 
des Zusammenbruchs, der aus jener Über¬ 
lieferung herausfalle. Der Schöpfer des 
Angel in the House sei der Dichter der Liebe 
unserer Zeit, der rechtmäßigen Liebe, die 
ihr Glück in der Ehe finde. „Mit voller 
Absicht zog er die Dinge in den Bereich 
der Dichtung, die andere sorgfältig aus¬ 
schlossen. Da gibt es eine prächtige Rhap¬ 
sodie über die Kleidung, nach dem Essen 
kreist der Portwein, der Heiratsvertrag wird 
in den Einzelheiten erörtert ... Die Hand¬ 
lung beruht gänzlich auf dem Verlauf einer 
durchschnittlichen Liebeswerbung, und dar¬ 
um müssen die Vorfälle so alltäglich wie 
möglich sein.“ Die Gegner sprächen von 
der Prosa des Familienglückes der mittle¬ 
ren Schichten, aber sei solche Prosa nicht 
Ziel jedes einzelnen und sollen denn nicht 
Leben und Dichtung eins sein? Homer ver¬ 
kläre seine Gegenwart, Patmore die unsrige! 
Die irdische Liebe sei die unserm Erleben 
zugängliche Offenbarung der göttlichen 
Liebe, deren Sänger derselbe Patmore in 
seinen Oden sei: so biete sein Schaffen eine 


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großartige Einheit und bedeute die Über¬ 
windung der protestantisch-puritanischen 
Naturfeindschaft im christlichen Geist. 

Noch geringer ist der Raum, der für die 
nichtenglische Literatur übrigbleibt. Gott¬ 
fried Kellers hundertster Geburtstag ist 
nicht unbemerkt vorübergegangen: Alec 
W. G. Randall berichtet den Lesern der 
Contemporary Review (November) kurz über 
sein Leben und stellt von seinen Werken 
den Grünen Heinrich und die Leute 
von Seldwyla in den Vordergrund. Sehr 
tief gehen seine Bemerkungen nicht, natür¬ 
lich vergißt er nicht zu betonen, daß Keller 
Schweizer ist und daß die deutsche Litera¬ 
tur eine Reihe ihrer bezeichnendsten Werke 
der erzählenden Dichtung Landsleuten von 
ihm verdankt. Nicht uninteressant ist, daß 
eine Übersetzung von Romeo und Julia 
auf dem Dorfe während des Krieges er¬ 
schien (1915 von Edith Wharton). Weiter 
und tiefer greift ein Aufsatz von Arthur 
Mc. Dowall ( Quarterly Review, Oktober) 
über den französischen Roman, den 
ein Buch von Saintsbury über denselben 
Gegenstand angeregt hat. Der Verfasser 
bemüht sich zu zeigen, welche Züge die 
französische Erzählungskunst gegenüber der 
englischen charakterisieren: das natürliche 
Gefühl für eine den Bericht lohnende Ge¬ 
schichte, die gewandte Leichtigkeit der Dar¬ 
bietung, diesorgfältigeBehandlung derTech- 
nik seien hervorstechende Züge, im übrigen 
sei die Neigung der Franzosen dahin ge¬ 
gangen, ihre Gestalten lieber als Geschöpfe 
der Gesellschaft zu zeichnen und zu erklären, 
statt den Einzelmenschen seinem Geschick 
gegenüberzustellen und „jene letzten Fragen 
heraufzubeschwören, an die englische und 
russische Romanschriftsteller beständig erin¬ 
nern“. Freilich sei es nicht unwahrschein¬ 
lich, daß sidi das ändern werde: für die 
Zukunft des französischen Romans scheine 
Ch. L. Philipp es Wort maintenant il faut 
des barbares maßgebend zu sein, die neuen 
Schriftsteller erstrebten statt psychologischer 
Zergliederung der Beweggründe die E r- 
gründung des Bewußtseinsinhalts von innen 
heraus — das heißt also, der Expressionis¬ 
mus steht vor der Tür. 

Die altehrwürdige Westminster Review 
bringt einen Aufsatz zur klassischen Lite¬ 
ratur „Höhere Homerkritik“ von A.J. B. 
Wace, der sich gegen den immer noch an¬ 
dauernden Einfluß von Wolfs Lehren in 


England richtet: „die moderne Homerkri 
beginnt wie so vieles andere, das rein e 
reißend ist, in Deutschland“, bemerkt c 
Verf. liebenswürdig. Jedenfalls seien -n 
die Dinge durch die Ergebnisse der Ai 
grabungen in Troja, Mykene, auf Kreta 
ein neues — oder altes — Licht gerücl 
mit Wolfs Voraussetzung, daß die Griech 
zur Zeit der Entstehung der homerisch 
Gedichte noch nicht geschrieben hätte 
falle auch die Wichtigkeit der berühmt 
Textherstellung unter Pisistratus; Homer s 
kein Zeitgenosse seiner Helden gewese 
sondern ein Dichter, der seinen Stoff n 
bewußtem Streben nach dichterischer Ei: 
heit behandelte, und Ilias und Odyssc 
stammen, so wie sie sind, von Homer. Di 
Homerkritik kehre also zum Standpunkt de 
alten Aristarch zurück, nur daß wir ei 
sicheres Wissen von der Wirklichkeit die 
ser Städte und dieser Kultur haben, wäh 
rend Aristarch nur daran glaubte. 

Dem Gebiet der Literatur nahe steht end 
lieh noch ein gutgeschriebener, mit zahl 
reichen Belegen versehener Aufsatz in 
Oktoberheft der Contemporary Review vor 
Malcolm Letts über Reisen in derVer- 
gangenheit und die Entwicklung des 
Schönheitsgefühls. Er zeigt, wie we¬ 
sentlich die Möglichkeit, bequem und ge¬ 
fahrlos zu reisen, für die Empfindung land¬ 
schaftlicher Schönheit im Hochgebirge war. 
Bis ins 15. Jahrhundert dachte der Reisende 
vor allem an die glückliche Heimkehr, dann 
begann er zu sehen, zuerst allerdings nach 
dem, was nützlich war, und Nutzen wurde 
ihm ein wesentlicher Bestandteil der Schön¬ 
heit; erst ganz zuletzt erscheint der voll¬ 
kommene Reisende, der schlechthin glück¬ 
lich ist, wenn seine Augen Schönheit trin¬ 
ken. Diese Reihenfolge ist an sich nicht 
neu; nur sind wir in erster Linie gewohnt, 
die Entwicklung des Gefühls für landschaft¬ 
liche Schönheit an literarische Einflüsse 
(Rousseaus Neue Helo'fse, Goethes Werther) 
zu knüpfen; daneben sind zweifellos aber 
auch, vor allem für die allgemeine Empfäng¬ 
lichkeit gegenüber solchen Eindrücken, die 
äußeren Bedingungen nicht zu vergessen, 
auf die Letts aufmerksam macht — bei den 
Schwierigkeiten des Reisens in unserer Zeit 
wird man ja vielleicht, wenn die Dinge 
sich nicht ändern, Gelegenheit haben, eine 
Art von Probe aufs Exempel zu machen. 

Berlin, Mai 1920. Albert Ludwig. 


Für die Schriftleltung verantwortlich: Professor Dr. Max Cornicellus, Berlin W 30, LuitpolrtstmBe * 

Druck von B. O. Teubner in Leipzig. 


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